Sechstes Kapitel

Wie der Dorfschulmeister Agesel durch eine deutsche Sprachlehre um seinen Verstand gebracht wurde, und sich seitdem Agesilaus nannte

Einigermaßen, wenn auch nicht genügend, wurde die Sehnsucht des alten Barons befriedigt, sie erhielt sozusagen, wie das Sprichwort lautet, eine Birne für den Durst, als der Schulmeister Agesilaus in seine Nähe kam. Dieser Mann, welcher früher Agesel geheißen hatte, und ein alter Bekannter des Barons war, bekleidete bis zu dem Umschwunge in seinem Schicksale das Amt, die Jugend eines benachbarten Dörfchens im Lesen und Schreiben zu unterrichten. Er wohnte in einer Hütte von Lehmwänden, die außer der Schulstube nur sein Schlafkämmerchen faßte, hatte dreißig Gulden jährlichen Gehalt, außerdem das Schulgeld; zwölf Kreuzer für den Knaben und sechs für das Mädchen, einen Grasfleck für ein Rind und das Recht, zwei Gänse in die Gemeindeweide mit einzutreiben. Er versah seinen Dienst ohne Tadel, lehrte die Jugend nach der alten Manier, so wie sie im Dorfe seit hundert und mehreren Jahren gebräuchlich war, buchstabieren: G-e-, Ge, s-u-n-d, sund, h-e-i-t, heit; Gesundheit - B-e-t, Bet, t-e-l, tel, Bettel, s-a-c-k, sack; Bettelsack u. s. w. und brachte die fähigsten Köpfe nicht selten soweit, daß sie Gedrucktes ohne sonderliche Anstrengung lesen lernten. Was das Schreiben anlangte, so ging auch aus seinen Händen dieser und jener hervor, der den eignen Namen zustande zu bringen wußte, wenn man ihn nicht übereilte, sondern ihm die nötige Zeit ließ.

In diesem Systeme war unser Schulmeister fünfzig Jahre alt geworden. Da ereignete es sich, daß die allgemeinen Steigerungen des Zeitalters auch einen neuen Lehrplan im Lande hervorriefen, der bis zu den Dorfschulmeistern umbildend durchgreifen sollte. Seine Vorgesetzten schickten ihm ein Lehrbuch der deutschen Sprache zu, eines von denen, welche die ABC-Wissenschaft tiefsinnig und philosophisch begründen wollen, und erteilten ihm die Weisung, seine bisherige rohe Empirie zu rationalisieren, sich selbst zuvörderst aus dem Buche zu unterrichten, und dann danach die veränderte Belehrung der Jugend anzufangen.

Der Schulmeister las das Buch durch, er las es noch einmal durch, er las es von hinten nach vorn, er las es aus der Mitte, und er wußte nicht, was er gelesen hatte. Denn es war darin gehandelt von Stimmlauten und Mitlauten, von Auf-, In- und Umlauten; er sollte daraus die Laute trüben und verdünnen lernen, er sollte durch Säuseln, Zischen, Pressen, durch Näseln und Gurgeln die Laute hervorbringen, er vernahm, daß die Sprache Wurzeln treibe und Seitenwurzeln, er erfuhr endlich daraus, daß das I der reine Urlaut sei, und daß dessen Erzeugung durch starkes Zusammendrücken des Kehlkopfes nach dem Gaumen hin geschehe.

Er bat Gott um Erleuchtung in diesen Finsternissen, aber sein Flehen prallte zurück von dem ehernen Himmel. Er setzte sich wieder vor das Buch, mit der Brille auf der Nase, um schärfer zu sehen, wiewohl er bei Tageslicht wohl noch ohne Gläser fertig werden konnte. Ach, nur deutlicher traten seinen bewaffneten Augen die furchtbaren Rätsel des Daseins, die Sause- Zisch- Preß- Nasen- und Gurgellaute entgegen! Darauf legte er das Buch weg, fütterte seine Gänse und gab einem Jungen, der gerade dazukam und sagte, der Vater wolle das Schulgeld nicht zahlen, zwei derbe Maulschellen, um durch das praktische Leben Aufschluß für die Theorie zu gewinnen. Umsonst. Er aß eine Knackwurst, sich körperlich zu stärken. Vergebens. Er leerte einen ganzen Senftopf, weil er gehört hatte, dieses Gewürz schärfe den Verstand. Eitles Bemühen!

Er legte das Buch abends vor dem Schlafengehen unter sein Kopfkissen. Leider fühlte er am andern Morgen, daß weder die Wurzeln, noch die Seitenwurzeln ihm in den Kopf gedrungen waren. Gern hätte er das Buch, wie Johannes jenes vom Engel getragne, auf die Gefahr der empfindlichsten Leibschmerzen hin, verschlungen, wäre er dadurch des Inhaltes Meister geworden; aber welche Hoffnungen konnte er nach dem Bisherigen von einem so gewagten Versuche hegen?

Die Schule stand still, die Kinder fingen Maikäfer, oder jagten die Enten in den Teich. Die Alten aber schüttelten den Kopf und sagten: »Mit dem Schulmeister hat es seine Richtigkeit nicht.« Eines Tages, nachdem er sich wieder in seinen verzweiflungsvollen Bemühungen um den Sinn der Dünnung und Trübung abgearbeitet hatte, rief er: »Wenn ich dieser Bestie von Buch nur erst an einem Flecke beigekommen bin, so gibt sich vielleicht das übrige von selbst!« - Er nahm sich vor, zuvörderst den reinen Urlaut I nach der Anweisung des Buchs zu erzeugen.

Er setzte sich daher auf seinen Grasfleck zum Rinde, welches dort, unbekümmert um rationelle Lauterzeugung, empirisch brummte, stemmte die Arme in die Seite, drückte den Kehlkopf stark nach dem Gaumen hin, und stieß nun die Töne hervor, welche sich auf solche Weise veranstalten lassen wollten. Sie waren höchst sonderbar, und so auffallend, daß selbst das Rind vom Grase emporblickte und seinen Herrn mitleidig ansah. Eine Menge Bauern hatte der Schall herbeigezogen; sie standen neugierig und verwundert um den Schulmeister her. »Gevattern!« rief dieser und ruhte einen Augenblick von seiner Anstrengung aus; »paßt einmal auf, ob es der reine Urlaut I wird?« Darauf gab er sich wieder an die Kehlkopf-Gaumendrückung. »Gott behüte!« riefen die Bauern, und gingen nach Hause, »der Schulmeister ist übergeschnappt, er quiekt schon wie ein Ferkel.«

Und wirklich stand der arme Schulmeister nahe an der Grenze, über welche die Bauern ihn bereits gesprungen glaubten. Die Frist war abgelaufen, welche man ihm zum Selbstunterrichte gesetzt hatte, er sollte jetzt nach dem Buche lesen lernen lassen, eine Visitation seiner Schule durch den Herrn Schulrat Thomasius nahte heran, die Verzweiflung trat ihm zum Herzen, und seine Gedanken begannen zu schwärmen. Andre sind durch das Brüten über der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria, oder über dem Geheimnisse der Trinität, oder von dem Gedanken an die Ewigkeit verrückt geworden; warum sollte ein Dorfschulmeisterlein nicht durch eine moderne Sprachlehre den Verstand verlieren können? Genug, ich erzähle es, und wer mir nicht glauben will, frage im Dorfe Hackelpfiffelsberg nach. Da hat sich die Geschichte zugetragen, und jedes Kind weiß dort davon.

Ein reisender Student kam in jenen Tagen durch Hackelpfiffelsberg, der kehrte in der Schenke ein, und vernahm von dem närrischgewordenen, oder närrischwerdenden Schulmeister. Es war ein feiner, denkender Kopf, der sich besonders auf Psychologie verlegt hatte, und der daher eine große Begierde verspürte, den Kranken kennenzulernen. Er fand ihn in leinenen Ärmeln sitzen, die behaarte Brust offen, eine große weiße Nachtmütze auf dem Kopfe. »Wie geht es, Meister?« fragte der Student. »So, so, Fremdling«, versetzte der Schulmeister. »Nicht wahr, die alten Spartaner waren Kerle? Keine müßige Gelehrsamkeit, keine Quälerei mit Umlauten, Inlauten, Brustlauten! Alles auf Tatkraft, auf das wirkliche Leben berechnet, den Körper abgehärtet, den Sinn zugespitzt zu Apophthegmen! Mich soll der Henker holen, wenn ich mir nicht alles in Zukunft lakedämonisch einrichte! Meine wackern Vorfahren! Denn was ist Agesel? Agesel ist nichts, verstümmelt, verdorben aus Agesilaus, dem tapfern Könige von Sparta. Die Türken vertrieben die Griechen, darunter waren natürlich die Nachkommen des Königs Agesilaus auch, und die haben sich allmählig bis hieher verzettelt, die Endsilbe ist aber unterweges verlorengegangen. O, man müßte nicht von den Wurzeln und den Ableitungen die Zeit her die Kränk' gekriegt haben, wenn man so etwas unglaublich finden wollte!«

»Hoho«, dachte der Student, »steht es dermaßen hier? Aber ein anziehender Fall! Ich muß ihn beobachten.« Er blieb den ganzen Tag über bei dem Schulmeister, und merkte durch viele Fragen aus seinen krausen Antworten endlich sich soviel ab, daß der Kranke in früheren Jahren eine alte Schwarte über die Sitten und Gebräuche jenes griechischen Freistaates gelesen hatte, schon damals von denselben höchlich entzückt gewesen war, daß nun gegenwärtig die gleichsam in Schlummer gelegenen Vorstellungen erwachten und ein fieberhaftes Leben in ihm gewannen. Abends trug der Student folgendes Notizenschema in seinem Tagebuche ein: »Paralysierung des Denkvermögens in einem beschränkten Geiste durch unverdaulichen Denkstoff.

Allmähliges Denk-Nichts.
Eintreten einer prägnanten antiken Idee im Vacuo.
Die Atome des aufgelösten Denkvermögens schießen an dieser Idee an.
Zustand des Rappelns.
Konsolidation des Rappelns.
Fixe Idee.
Außerdem vernünftiger Mensch.

NB. Nach der Ferienreise weiter auszuführen.«


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