Zehntes Kapitel

Von dem Volke und von den höheren Ständen

»Das unsterbliche Volk!« rief der Diakonus. »Ja, dieser Ausdruck besagt das Richtige. Ich versichere Ihnen, mir wird allemal groß zumute, wenn ich der unabschwächbaren Erinnerungskraft, der nicht zu verwüstenden Gutmütigkeit und des geburtenreichen Vermögens denke, wodurch unser Volk sich von jeher erhalten und hergestellt hat. Rede ich aber von dem Volke in dieser Beziehung, so meine ich damit die besten unter den freien Bürgern und den ehrwürdigen, tätigen, wissenden, arbeitsamen Mittelstand. Diese also meine ich, und niemand anders vorderhand. Aus ihnen aber, und aus dieser ganzen Masse haucht es mich wie der Duft der aufgerißnen schwarzen Ackerscholle im Frühling an, und ich empfinde die Hoffnung ewigen Keimens, Wachsens, Gedeihens aus dem dunkeln, segenbrütenden Schoße. In ihm gebiert sich immer neu der wahre Ruhm, die Macht und die Herrlichkeit der Nation, die es ja nur ist durch ihre Sitte, durch den Hort ihres Gedankens und ihrer Kunst, und dann durch den sprungweise hervortretenden Heldenmut, wenn die Dinge einmal wieder an den abschüssigen Rand des Verderbens getrieben worden sind. Dieses Volk findet, wie ein Wunderkind, beständig Perlen und Edelsteine, aber es achtet ihrer nicht, sondern verbleibt bei seiner genügsamen Armut, dieses Volk ist ein Riese, welcher an dem seidenen Fädchen eines guten Wortes sich leiten läßt, es ist tiefsinnig, unschuldig, treu, tapfer, und hat alle diese Tugenden sich bewahrt unter Umständen, welche andere Völker oberflächlich, frech, treulos, feige gemacht haben.

Ich werde nicht, wie Levaillant die Tugenden der Hottentotten auf Kosten der europäischen Zivilisation herausstrich, den Lobredner idyllischer Rustizität und kleinbürgerlicher Enge machen, ich fühle sehr wohl, daß uns allen durch den Umschwung der Zeiten die Neigung zu glänzenden, geschmackvollen Dingen, zu einer Art von Aristokratie des Daseins mitangeboren ist, welche außerhalb der Mittelverhältnisse liegt, und von der wir uns, ohne an der Natürlichkeit unseres Wesens Einbuße zu leiden, nicht losmachen können, aber ich muß doch folgendes aus meiner eigenen Geschichte hier anführen. Ich war, da ich jenen jungen Vornehmen zu führen hatte, während ich noch selbst der Führung gar sehr bedürftig war, unter allen den geistreichen, eleganten, schillernden und schimmernden Gestalten der Kreise, die mir durch mein damaliges Amt zugewiesen waren, ebenso geistreich, halbiert, kritisch und ironisch geworden, wie viele; genial in meinen Ansprüchen, wenn auch nicht in dem, was ich leistete, unbefriedigt von irgend etwas Vorkommendem, und immer in eine blaue Weite strebend; kurz ich war dem schlimmeren Teile meines Wesens zufolge, ein Neuer, hatte Weltschmerz, wünschte eine andere Bibel, ein anderes Christentum, einen andern Staat, eine andere Familie, und mich selbst anders mit Haut und Haar. Mit einem Worte, ich war auf dem Wege zum Tollhaus, oder zur insipidesten Philisterei; denn diese beiden Ziele liegen meistens vor den Füßen der modernen Wanderer. Und da bin ich denn doch erst hier zwischen den wunderlichen aber achtbaren Originalen meiner Mittelstadt und unter diesen ländlichen Wehrfestern wieder zu mir selbst gekommen, habe Posto gefaßt, den Schaum der Zeit von mir weichen sehen und Mut bekommen, mir ein liebes häusliches Verhältnis zu gründen. Denn in dem Volke sind die Grundbezüge der Menschheit noch wach, da ist das richtige Verhältnis der Geschlechter noch fest ausgeprägt, da gilt das Geschwätz noch nichts, sondern das Gewerbe und der Beruf, den jeder hat, da folgt der Arbeit in gemessener Ordnung die Ruhe, da ist von den Vergnügungen das Vergnügen noch nicht verbannt. Hören Sie den Jubel in der Stadt oder auf dem Lande bei sonntäglichen Tänzen, bei Hochzeiten und Scheibenschießen, und urteilen Sie, ob der Spaß sobald in der Welt aussterben wird, wie die grämlichen Jünglinge der Gegenwart meinen? Es gibt Müßiggänger, schlechte Ehen und böse Weiber auch hier in Stadt und Land, aber sie heißen bei ihren und nicht bei vornehm umgebogenen Namen. Jene Mischungen von Langeweile und Begeisterung endlich, wie sie mir einst ein Freund treffend nannte, aus denen in den sublimierten Kreisen der Gesellschaft manches Perverse hervorgeht, und aus deren einer derselbe Freund auch die blutige Tat der armen, schönen, bejammernswerten Frau ableitete, deren Unglück darin bestand, einen mittelmäßigen Dichter und großen Selbstling geheiratet zu haben, liegen dem Volke ganz fern. Das ganze potenzierte und destillierte Genre, der Hermaphroditismus des Geistes und Gemütes, welchen die Muße eines langen Friedens hie und da erzeugt hat, wird dem Stock und Stamm der Gemeinschaft immer fremd bleiben.

In dieser orthopädischen Anstalt gerader und normaler Verhältnisse legten sich denn meine etwas verbogenen Glieder auch wieder zurecht. Freilich muß man in der Stille und Abgeschiedenheit von den brausenden Strömungen der Gegenwart auf sich wachen, denn die Gefahr des Verbauerns steht auch nahe, indessen noch hange ich durch stille aber feste Fäden mit dem Weltganzen zusammen, nur mit dem Unterschiede, daß sie sich jetzt bloß um die Gegenstände schlingen, zu denen mich ein geistiges Bedürfnis hinweist, während ich mir früher manches geistige Bedürfnis, wie es so manche unserer Zeitgenossen machen, einzubilden wußte.«

Der Jäger ging nach dieser Rede des Diakonus schweigend und mit gesenktem Haupte neben ihm her. »Was ist Ihnen?« fragte sein Bekannter nach einer Pause.

»Ach«, sagte jener, »Ihr Bild vom deutschen Volke ist wahr, und es macht mich nur traurig, daß teilweise über dieser Grundfläche ein so wenig entsprechender Gipfel steht. Dieses tüchtige Volk würde bei weitem mehr ausrichten, es würde weit entschiedener Front machen, wenn in den höheren Ständen eine gleiche Tüchtigkeit lebte! Schlimm, daß ich, ich selbst sagen muß: Dem ist nicht so.«

»Leider«, erwiderte der Diakonus, »sind unsre höheren Stände hinter dem Volke zurückgeblieben, um es kurz und deutlich auszusprechen. Daß es viele höchst ehrenwerte Ausnahmen von dieser Regel gebe, wer wollte es leugnen? Sie befestigen aber eben nur die Regel. Der Stand als Stand hat sich nicht in die Wogen der Bewegung, die mit Lessing begann und eine grenzenlose Erweiterung des gesamten deutschen Denkens, Wissens und Dichtens herbeiführte, getaucht. Statt daß vornehme Personen geboren sind, die Patrone alles Ausgezeichneten und Talentvollen zu sein, halten bei uns noch viele Große das Talent für ihren natürlichen Feind, oder doch für lästig und unbequem, gewiß aber für entbehrlich. Es gibt ganze Landstriche im deutschen Vaterlande, in welchen dem Adel, ein Buch zu lesen, noch immer für standeswidrig gilt, und er statt dessen lärmende, nichtige Tage abhetzt, wie in den Zeiten jener Bürgerschen Parforcejagd-Ballade. Das Auffallendste hiebei ist, daß selbst nach der ungeheuren Lehre, welche die Weltkriege den Privilegierten erteilt hatten, diese noch nicht eingesehen haben, es sei mit dem leeren Scheine nunmehr für immer vorbei, und der erste Stand müsse notwendig sich in sich selber gründlich fassen und restaurieren. Es war seine erste Obliegenheit, dies zu begreifen, es war die Lebensfrage für ihn, ob er sich mit dem Heiligtume deutscher Gesinnung und Gesittung nunmehr inniglich verbünden, allem wahrhaftquellenden geistigen Leben der Gegenwart Schirm und Schutz geben möchte, damit das Zauberbad dieses Lebens seine altersstarren Glieder verjünge. Er hat seine Stellung und diese Frage nicht verstanden, hat in allerhand kleinen Hausmittelchen seine Erkräftigung gesucht, und ist darüber obsolet geworden. Nie und zu keiner Zeit hat ein Stand anders als durch Ideen existiert. Auch den ersten haben Ideen geschaffen und erhalten, anfänglich die der Kampfestapferkeit und Lehnstreue, demnächst die der besondern Ehre. Gegenwärtig ist durch die Errettung des Vaterlandes, welche von allen Ständen ausging, die höchste Ehre ein Gemeingut geworden; weshalb denn die oberen Stände das Protektorat des Geistes hätten übernehmen müssen, wenn sie wieder etwas Besonderes sein und vorstellen wollten.«

»Ich habe«, sagte der Jäger kleinlaut, »in einer hohen und vornehmen Familie, die ich vor kurzem auf meinen Streifereien kennenlernte, die zwanzigjährigen Töchter auf gut schwäbisch mit der ›Iphigenia‹ bekanntmachen müssen, welche sie noch nie gelesen hatten, weil die Eltern Goethe für einen jugendverführerischen Schriftsteller hielten.«

»Und wer weiß, ob das Haupt dieser Familie, welche ich übrigens nicht kenne, nicht eine von den Figuren ist oder sein wird, welcher man Bahnen der Kultur anvertraut?« sagte der Diakonus. »Der unbefangene Beobachter hat in dieser Hinsicht zuweilen die erschreckendsten Kontraste anzuschauen. Nun müssen Sie einräumen, daß ein französischer Marquis oder Duc, von dem eine gleiche Barbarei gegen einen Klassiker seiner Nation verlautete, in der Pariser Sozietät für Lebenszeit verloren wäre.«

»Das Beispiel von Frankreich fordert hier von selbst zur Frage auf«, sagte der Jäger. »Wie kommt es nur, daß sich dort ganz natürlich gemacht hat, was bei uns nie zustande kommen will, nämlich: ein beständiger Kontakt der Großen mit den Geistern und mit dem Geiste der Nation, eine zarte Achtung vor dem geistigen Ruhme der Nation, und eine unbedingte Anerkennung der Literatur, als der eigentlichen Habe der Nation?«

»Die französische Nation, ihr Geist und ihre Literatur haben und sind Esprit«, versetzte der Diakonus. »Der Esprit ist ein Fluidum, welches die Natur unter den zu seiner Erzeugung günstigen Voraussetzungen an ganze Länder und Völker austeilen kann. Es ist also dort in Frankreich eine natürliche Brücke von dem Volksgeiste und von der Literatur zu dem Geiste der vornehmen Klassen geschlagen, letztere ergreifen in ihrem Interesse ohne Anstrengung nur das ihnen Gleichartige. Wir haben keinen Esprit. Unsere Literatur ist ein Produkt der Spekulation, der freiwaltenden Phantasie, der Vernunft, des mystischen Punkts im Menschen. Die Gaben dieser von Grund aus gehenden Arbeit des Geistes sich anzueignen sind eben nur wieder Geister, welche die Arbeit stählte, vermögend. Mit Leichtfertigkeit ist deutscher Art nicht beizukommen. Die Vornehmen arbeiten aber nicht gern, sie ziehen es bekanntlich vor, zu ernten, wo sie nicht gesäet haben. Deshalb ist es wieder natürlich - wenn auch das Verwerfungsurteil über die Barbarei des ersten Standes bei Kräften stehenbleibt - daß er locker mit deutschem Geiste zusammenhängt; zu einem näheren Bündnisse hätte er sich über Gebühr anstrengen müssen.«

»Zu leugnen ist doch auch nicht, daß gerade durch die Absonderung des deutschen Geistes von dem Atem der hohen Sozietät ihm manche Tugenden erhalten worden sind«, sagte der Jäger; »seine Frische, seine eigensinnige herbe Jungfräulichkeit, sein rücksichtsloses Um- und Vorgreifen. Denn jede Erfindung der schaffenden Seele, welche vor Augen haben muß, mit gewissen Forderungen der Gesellschaft zusammenzutreffen, wird notwendigerweise mechanisiert. Unsere Wissenschaft, unsere Philosophie, unsere Literatur sind Töchter Gottes und der Natur; mit welchen andern möchten sie einen Tausch solches Stammbaums eingehen?«

Hier wurden diese Gespräche von einem heftigen Schreien, ja Brüllen unterbrochen, welches sich an der Zinskarre erhob. Hinzueilend sahen sie den Küster in entsetzter Stellung, die Arme wie Wegweiser ausgebreitet, das Gesicht braun und weiß gesprenkelt, den Mund wie Laokoon aufgesperrt. Um ihn her standen die Frauenspersonen und der Kolonus, der seine Karre zum Stehen gebracht hatte. Die Küsterin klopfte dem Küster den Rücken, die Magd hatte ihm den Rock halb aufgeknöpft, aus welchem das Federkissen gefährlich hervorhing. Der Diakonus forschte nach der Ursache des Auftritts und erfuhr von seiner Magd, (denn der Küster war noch immer sprachlos) daß der Küster von der Karre abgestiegen sei, um, wie er gesagt, der lieben Verdauung wegen etwas zu gehen, da sei ein großer schwarzer Hund dicht an ihm vorbei quer über den Weg hinübergeschossen, der Küster habe aber sofort jenes Geschrei oder Gebrüll erhoben, so daß beinahe die Pferde scheu geworden seien.

In diesem Augenblicke gab die Küsterin ihrem Manne, bei dem das Klopfen nicht verfangen wollte, mit den Worten: »Wenn alles bei der Maulsperre vergebens ist, so hilft das!« aus Leibeskräften eine Ohrfeige. Alsbald flogen die Kinnbacken des entsetzten Mannes zusammen wie Torflügel, er wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte zu seiner Frau: »Ich danke dir, Gertrud, für diese Backpfeife, durch welche du mich von schweren Leiden kuriert hast.« Und zum Diakonus sich wendend: »Ja, Herr Diakonus, ein wütender, ein toller Hund! Schweif eingeklemmt, rote und dabei triefende Augen, Schaum vor der Schnauze, blaue Zunge, heraushängend, taumelnder Gang, kurz alle Kennzeichen der wasserscheuen Wut!«

»Um Gottes willen, wo hat er Euch gebissen?« rief der Diakonus erblassend.

»Nirgend, mein Herr Diakonus«, versetzte der Küster feierlich, »nirgend; dem Allmächtigen sei Dank dafür. Aber wie leichtlich hätte er mich beißen können. Ich habe das Ungeheuer, wie andere einen grimmen Wolf durch Geigenspiel in die Flucht schlugen, durch den Ton meiner Stimme, die mir Gott gegeben, verscheuchet und verjaget, als es eben im Anspringen auf mich begriffen war. Es stutzete und schwang sich seitwärts die Wallhecke hinauf. Mir aber blieben von der übermenschlichen Anstrengung jenes heilsamen Angstrufes die Kinnbacken in der Maulsperre verfangen und verfestiget, bis meine gute Ehefrau, wie Sie gesehen, mir die wirksame Backpfeife verordnete. Das ist ein Zinstag, an welchen ich gedenken werde!«

Der Diakonus und der Jäger hatten Mühe, ein Lachen zu verbeißen. Die Magd sagte, sie glaube nicht, daß der Hund toll gewesen sei, er möge wohl nur seinen Herrn verloren gehabt haben, in welchem Falle die Kreaturen sich immer sehr ungebärdig anstellten. Wirklich sah man den Hund in einiger Entfernung auf einem Feldwege ruhig und schweifwedelnd hinter einem Packenträger hergehen. Der Küster, dem diese Bemerkung mitgeteilt wurde, ließ sich nicht aus der Fassung bringen, sondern sprach ernsthaft: »Wie leichtlich hätte der Hund toll sein können!«

Der Diakonus ließ ihn und sein Fuhrwerk sich wieder in Bewegung setzen, und trennte sich an dieser Stelle von dem Jäger, da, wie er sagte, ihr Gespräch doch gestört sei, und der Kolonus es ihm verdenken werde, wenn er dessen Gesellschaft auf dem ganzen Heimwege meide. Bei dem Abschiede mußte der junge Schwabe seinem Bekannten das Versprechen geben, ihn auf einige Tage in der Stadt zu besuchen. Darauf gingen sie nach verschiedenen Richtungen auseinander.


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