Drittes Kapitel

Blätter aus Emerentias Tagebuche

»›Was Vorläufer! Es kommt uns niemand nachgelaufen‹ - und: ›Ich kenne keinen Größeren, diese Kondition gefällt mir nicht, ich setze mich auf meine eigene Hand.‹ - So hat denn also des Schicksals Zeichen recht. Blumenhut und Lauferschurz deuten nicht in die ungewisse Ferne, nein, in der nächsten Nähe hält sich, den meine Seele ewig lieben wird, mein Fürst, mein Freund, der Birmane von Nizza! Nach langen Prüfungsjahren schlägt die Stunde der Wiedervereinigung, die Augen meines Freundes suchen mich unter den Töchtern von Zion, und Sulamith schläft nicht, die Taube. Niemanden sendet er voraus, ›gleich kommt er selbst, er ist im Schlosse, denn es läuft ihm ja niemand nach‹ - er ist da, denn ›er kennt ja keinen Größeren‹. - Glückliche Emerentia!

 

Aber welcher von beiden ist's? - Ist's der Freiherr, oder bist du es, Karl? Hier prüfe, hier sei bedachtsam, hier zeige deinen ganzen Scharfsinn, Herz! -

 

Ach, das Herz ist stumm. Münchhausen und Karl sind mir beide gleichgültig. Das ist nun herrlich für die ferneren Beschlüsse des Geschicks, da ich dem Fürsten nur Freundin im reinsten Sinne des Wortes sein will, aber übel für den Augenblick.

 

Denn ich erkenne den Plan des Prätendenten von Hechelkram. Unter der Verkleidung will er seine Emerentia erforschen, und wie herrlich würde sie ihre Aufgabe lösen, wenn sie plötzlich vor den Wahren träte und spräche: ›Fürst, Sie sind erkannt; Liebe sieht mit Adlersblicken, Treue hält, was sie gefaßt, teuren Hauptes leisestes Nicken kündet den ersehnten Gast!‹

 

Daß mir beide so gleichgültig sind! - Eigenartige Qual, seltsame Verwirrung, festgeschürzter Knoten!

 

Ich glaube, der Freiherr ist's. Wir standen heute am Entenpfuhl, friedlich fischte das Gefieder nach dem grünen Flott zu unsern Füßen, ein erquickender Landregen fiel sanft vom grauen Himmel, der Freiherr erzählte mir eine seiner sinnigen Geschichten, wie er vorlängst durch ein Senfpflaster, auf das Haupt gelegt, und dessen Ziehkraft sich ein ausgefallenes Bein wieder eingerenkt habe - mein Busen wurde so weit, mir wurde so wohl und so weh, so - so -

Dumme Störung! Da werde ich gerufen, um Speck auszugeben. Wo die Lisbeth nur bleibt, die Landstreicherin, das unnütze Geschöpf? Kommt sie wieder, soll sie es entgelten.

 

Nein! Nein! Nein! Das Geheimnis ward offenbar, Karl ist Rucciopuccio! Da sitze ich in der tiefen Stille der Mitternacht auf meiner einsamen Kammer und vertraue euch stummen Blättern die wundersame Post. Ja, wundersam muß ich wohl diese Fügung nennen, welche zum zweiten Male den Nußknacker entscheidend in mein Leben blicken läßt.

Ich stand heute in der Frühe schon mit einer Fülle von Ahnungen von meinem Lager auf. Die Strümpfe sahen mich so bedeutend an, in den Pantoffeln war ein stilles Wesen und Weben, die lange Schnuppe des Nachtlichts, welches herabgebrannt war, wies tiefsinnige Figuren. Ist es mir doch einmal bestimmt, daß nichts gewöhnlich um mich sein kann, bin ich doch in allen meinen Tagen das Spielwerk dunkler, hoher Mächte gewesen!

Mein Haupt war wirr und wüst! Ich stieß das Fenster auf, die glühende Wange im Morgenwinde zu kühlen. Von Nizza hatte ich in der Nacht geträumt, vom Meer, von den Alpen. Die beiden Juden hatte ich auf dem höchsten Gipfel gesehen, die mich nach der schrecklichen Katastrophe den Eltern brachten. Sie standen in einer Glorie von Sonnenstrahlen, hatten Schmerz in den Zügen, und ich hörte den einen zum andern sagen: ›Daß man uns gemacht hat zu guten Staatsbürgern, das ist die Trauer von unsren Leuten in der Gegenwart, woraus sie malen Bilder und schreiben Verse. Die alte Zeit, die alte Zeit war besser, Jakob, wo wir rumliefen, wie unsre Väter in der Wüste Sin, die da lieget zwischen Elim und Sinai.‹

Ein bedeutender Traum, ein prophetischer Traum! Was weiß ich von der Wüste Sin, die da lieget zwischen Elim und Sinai? Im Traume lernte ich diese ebräischen Namen; die höhere Hand wollte mir einen Wink geben: ›Siehe, ich bin da und werde wirken ein Wunder in deiner Nähe.‹

Ich sah zum Fenster hinaus.

Karl trat unten in den Hof. ›Himmeltausend Sakrament!‹ rief er, ›kriege ich heute wieder nichts zu fressen?‹ - Entsetzliche Ausdrücke für das Tagebuch eines zarten Mädchens! aber ich muß ja alles treu mit den kleinsten Zügen berichten.

Der Laut jener Worte brachte mir alte Erinnerungen zugetragen. Wie aus weiter Ferne drang es, gleich der Stimme, die mir einst lieb war, in das Ohr! Diese sonderbare Ähnlichkeit der Töne, das Fluchen - der Fürst pflegte auch bisweilen zu fluchen, doch bediente er sich mehr der sogenannten schweren Angst - mein Traum von Nizza, die trauernden Juden, die Wüste Sin, die Zeichen am Nachtlicht, das Pantoffelwesen, die bedeutenden Strümpfe - - -

Karl setzte sich auf einen Stein im Hofe, sagte: ›Ich muß 'mal in den Taschen suchen‹ - suchte in der linken Jackentasche, rief: ›Na, wenigstens noch ein paar alter, überjähriger Nüsse gegen das Verhungern‹ - griff in die andere Tasche, zog daraus hervor - - -

Ich hielt mein Herz mit bebender Hand, ging in die Speisekammer und schnitt für Karln ein Butterbrot - -

Ich kann nicht weiter schreiben - die Erinnerung überwältigt mich - meine Pulse fliegen - -

 

Ich bin ruhiger. Gestern schwamm der Segen, der mir geworden, ein buntverwirrender Farbenschimmer vor meinen Augen, heute hat er sich zum entzückenden Landschaftsbilde auseinandergesetzt, in welchem jeder Baum spricht: ›Mein Schatten gehört dir‹, und die gemalte Quelle flüstert: ›Schwester, ruhe an meinem Borde!‹

Ich trat mit dem Butterbrote leise hinter Karl Buttervogel. Zum letzten Male stehe der Name in den Blättern! Er hatte mich nicht kommen hören und knackte ruhig mit dem Instrumente, welches er aus der rechten Jackentasche gezogen hatte, seine Nüsse auf.

Ich sah ihm über die Schulter. Aber ach! da wankten meine Kniee, ich ließ das Butterbrot fallen, Karl ließ den Nußknacker fallen, ich hob den Nußknacker auf und Karl hob das Butterbrot auf! Ich drückte den Nußknacker an meine Lippen. Er war es, er war es! - Der alte, treue Knacker, die erste, auf Rucciopuccio hindeutende Liebe! O ihn, ihn hatte ich gleich erkannt. Und hätte ich ihn denn auch verkennen können? des Menschen Antlitz und Gestalt wandelt sich leider mit den Jahren, ein Nußknacker bleibt, was er war.

Ach, bitter-schmerzlich war dennoch dieses Wiedersehen! Das teure Heiligtum meiner Jugend sah mich an, wie eine Ruine. Von dem Rot der Uniform war der brennende Glanz gewichen, die Farbe der Unterkleider ließ sich kaum noch erkennen, erloschen waren die schönen, grellblauen Augen, der Mund hatte durch das beständige Knacken seine beste Kraft verloren, einen Hut trug er kaum noch, nur den Schnurrbart hatte die Mißgunst der Zeiten verschont; er hing schwarz und voll wie in jenen goldenen Tagen über den alt und müde gewordenen Lippen.

Ein Strom von Tränen befreite die Brust. Dann faßte ich mich und dachte an mich und mein Geschick. Karl hatte das Butterbrot verzehrt und sah mich groß an. ›Gelt‹, rief er (ich muß ja seine eigenen Worte brauchen) ›das ist ein närrischer Kerl? - Ich habe den Schurken einmal vor vielen Jahren in einem italienischen Badenest auf'm Kehricht hinter'm Hause gefunden. Ich steckte ihn zu mir und brauche ihn seitdem fortwährend, und der Racker (ich erliege fast der Qual solche Worte zu schreiben) ist immer noch ganz. Dazumal diente ich bei vierzehn Berliner Edelleuten, die das Bad brauchten und sich zusammen einen Bedienten hielten.‹

›Fürst‹, sagte ich ernst und gehalten, ›verstellen Sie sich nicht länger. Weder Ihre Bedientenjacke noch die scheußlichen Ausdrücke, zu denen Sie Ihre edeln Lippen zwingen, um unerkannt zu bleiben, täuschen mich ferner. - ›Was Vorläufer! Es kommt uns niemand nachgelaufen‹, und: ›Ich kenne keinen Größeren‹, die bedeutenden Strümpfe, das Pantoffelwesen, die Zeichen an der Schnuppe des Nachtlichts, mein Traum von Nizza, die trauernden Juden, die Wüste Sin, die da lieget zwischen Elim und Sinai, das waren schon Symbole, welche nicht trügen konnten. Nun die Melodie Ihrer Stimme, Ihr Fluch, jetzt gar der geliebte Nußknacker in Ihrer Hand, und endlich, daß Sie von dem Kehricht wissen und von der finstern Tat meiner verklärten Mutter, welche Nußknackern in jenes Elend verstieß - - alles das - - mein Gott, leugnen Sie doch nicht weiter, häufen Sie nicht unnütze Qual auf ein armes Mädchen, die immer Ihrer wert geblieben ist! Sein Sie gut und liebevoll, lassen Sie die Maske fallen und sprechen Sie: Emerentia, ja, ich bin es.‹

›Was soll ich denn sein?‹ rief er. ›Ich bin kein es. Ich bin, was ich bin - Donnerwetter!‹

Seine rauhe Festigkeit machte mich doch einen Augenblick wieder zweifelhaft. ›Wenn Sie es nicht sind‹, sagte ich entschlossen, ›so ist es Ihr Herr, denn einer von Ihnen beiden muß es sein.‹

Ich wollte gehn. Karl hielt mich aber am Kleide zurück. Mein Mittel hatte gewirkt. ›Ich sehe wohl‹, sagte er, ›daß es Ihnen ein Ernst ist, wenn ich es bin. Also wollte ich Sie nur fragen, was daraus wird, wenn ich es bin?‹

›Wenn Sie es sind‹, versetzte ich, ›so bin ich Ihre Freundin im reinsten Sinne des Worts. Mein ganzes bisheriges Leben war eine Vorbereitung auf diesen großen Moment. Gnädigster Herr! In den Blütentagen der Jugend opferten wir der Leidenschaft auf dem Altare unserer Herzen! Für dieses Opfer ist uns der Weihrauch ausgegangen. Aber der Altar blieb stehen; lassen Sie uns auf demselben der Freundschaft ein Opfer entzünden, für welches ich ewig, Ihnen gegenüber Vorrat besitzen werde.‹

Karl kratzte sich am Kopfe (der Ungeheure! so tat er) und sagte: ›Ich denke nur immer noch, Sie haben mich bloß zum besten. Indessen aber will ich's versuchen, und wer mich anführt, den soll der Teufel holen. Das heißt also, Sie sind meine Freundin, heißt nämlich, wenn Sie meine Freundin sind, so müssen Sie auch dafür sorgen, daß ich mehr zu essen und zu trinken kriege. Wenn Sie auf diese Manier meine Freundin sind, so will ich's sein. Dann sehen Sie nur gleich heute zu, daß ich einmal ein rechtschaffen Stück Fleisch kriege.‹

Er spielte fürchterlich mit mir. Daß er seinen wilden Humor selbst in diesem großen Momente nicht ablegte! O Männer, Männer, wie geht Ihr mit uns um! - Eine Lustigkeit der Verzweiflung ergriff mich, und in den Bahnen seiner ausschweifenden Laune ihm folgend, rief ich: ›Sie sollen heute zwei Pfund Rindfleisch haben!‹

Das erschütterte ihn. Er sah mein Leiden, welches durch den Scherz schauerte. Tränen traten in sein Auge, er sagte: ›Sie sind doch sehr gut, und ich bin's denn also.‹ Er ging, übermannt von edler, menschlicher Rührung.

In seinen Tränen fand ihn mein Gefühl, wie mein Verstand ihn schon früher erkannt hatte. Seiner Rolle blieb er sonst treu. Mittags meldete er sich um die zwei Pfund Rindfleisch. Ich gab sie ihm und bereitete für uns einen Pfannkuchen, den Vater täuschend mit der Nachricht, die Katze habe das Fleisch gefressen. Er hat es rein aufgegessen; seine Verstellung muß ihm doch schwergefallen sein.


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