Siebentes Kapitel.
Dies möge als Umriß der Darstellung des höchsten Gutes gelten. Denn man muß
dasselbe wohl zunächst nach den Grundlinien beschreiben und darauf diese im einzelnen
ausführen1).
Sind erst die Grundlinien einer Sache vorhanden, so kann jeder daran weiter arbeiten und das
einzelne nachtragen, und die Zeit ist hierbei eine gute Finderin und Helferin. So erklärt sich
auch das Wachstum der Künste: das Fehlende dazutun kann jeder.
Man denke auch an die schon
oben2) gemachte
Bemerkung und verlange Genauigkeit nicht bei allen Gegenständen in gleichem Maße, sondern
immer nur nach Maßgabe des gegebenen Stoffes und nur soweit, als es zu dem jeweiligen Vorhaben
paßt. Der Zimmerman und der Geometriker suchen die gerade Linie in verschiedener Weise; der
eine nur, insofern er sie für seine Arbeit braucht, während der andere wissen will, was
und wie beschaffen sie ist; denn er betrachtet die Wahrheit. Ebenso ist auf allen anderen Gebieten
zu verfahren, damit nicht das Beiwerk zuletzt das Werk
überwuchert3).
(1098b) Man darf auch nicht unterschiedslos
überall nach der Ursache
fragen4). Bei einigem
genügt es vielmehr, das »daß« gehörig nachzuweisen, wie auch bei den
Prinzipien; das »daß« ist ja Erstes und Prinzip. Die Prinzipien selbst aber werden
teils durch Induktion erkannt, teils durch Wahrnehmung, teils durch eine Art Gewöhnung, teils
noch auf andere
Weise5). Man
muß sie also im einzelnen auf die ihrer Besonderheit entsprechende Art zu ermitteln suchen und
sich rechte Mühe geben, sie zutreffend zu bestimmen. Denn das Prinzip als Anfang dürfte
mehr als die Hälfte des Ganzen sein und schon von selbst vieles erklären, was man wissen
möchte6).
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Die genauere Bestimmung der Glückseligkeit folgt am Schlusse des ganzen
Werkes,
X, 6–9.
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Im Proömium, siehe Kapitel 1
Anm. 8.
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Ein solcher Fehler würde z. B. gemacht werden, wenn in dieser praktischen
Disziplin der Moral eigens und weitläufig Fragen der Psychologie, die eine theoretische
Disziplin ist, behandelt
würden.
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Wollte man von jedem, auch der Ursache, die Ursache wissen, so nähme das
Fragen kein Ende. In der Gotteslehre hat seit Kant die Außerachtlassung der
aristotelischen Warnung viel Verwirrung angerichtet und Unheil gestiftet. Gott, als höchste und
letzte Ursache, hat nicht wieder eine Ursache. Er ist auch nicht im positiven Sinne sich selbst
Ursache. So darf auch in der Glückseligkeitslehre, nachdem einmal festgestellt sein wird,
was die Glückseligkeit ist, nicht noch weiter gefragt werden, warum wir sie denn
begehren. Aristoteles sagt, »bei einigem«, en tisi,
genüge es, das »daß« anzugeben, d. i. bei den letzten Zwecken. Das
»daß«, gewisse Definitionen und Grundsätze, sind Prinzipien jeder
Wissenschaft.
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Durch Induktion kann man z. B. in der Mathematik finden, daß alle Zahlen
grade oder ungrade Zahlen sind; durch Wahrnehmung in der Physik, daß alles Lebendige der
Nahrung bedarf; durch Gewöhnung in der Moral, daß die Begierde durch Widerstand
geschwächt wird; noch auf andere Weise, durch Erfahrung nämlich, findet man im Handwerk
die Prinzipien, d. h. hier die Regeln, nach denen das Handwerk auszuüben ist. Nach
Thomas von
Aquin.
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Das Prinzip enthält, wie der Keim den ausgebildeten Organismus, so virtuell
die Folgesätze. Hier handelt es sich besonders um die Frage nach der Glückseligkeit als
menschlicher Endbestimmung. Denn von dieser Bestimmung hängt alles, was der Mensch zu tun und
zu lassen hat, also der ganze Inhalt der Sittenlehre und auch der Staatslehre,
ab.