Elftes Kapitel.

Da es auch Leute gibt, die weniger für die körperliche Lust empfänglich sind, als sie sollten, und als solche der Vernunft nicht treu bleiben, so steht der Enthaltsame in der Mitte zwischen ihnen und den Unenthaltsamen. Der Unenthaltsame bleibt der Vernunft nicht treu wegen eines Zuviel, dieser wegen eines Zuwenig; der Enthaltsame aber bleibt ihr treu und läßt sich durch keines von beiden davon abbringen. Wenn anders aber die Enthaltsamkeit etwas gutes ist, so müssen die ihr entgegengesetzten Eigenschaften beide schlimm sein, und als solche erscheinen sie denn auch; weil aber die eine bei wenigen Menschen und in wenigen Fällen zu tage tritt, so scheint die Enthaltsamkeit nur das Gegenteil von der Unenthaltsamkeit zu sein, grade so wie die Mäßigkeit nur das Gegenteil der Unmäßigkeit.

Da aber die Sprache vieles nach der Ähnlichkeit benennt, so kommt es auch von der Ähnlichkeit, daß man von einer Enthaltsamkeit des Mäßigen spricht. Der Enthaltsame wie der Mäßige ist nämlich ein Mann, der nichts aus sinnlicher Lust der Vernunft zuwider tut, doch mit dem (1152a) Unterschied, daß der eine, der erste, böse Begierden hat, der andere nicht, und daß der zweite die Eigenschaft besitzt, keine Lust der Vernunft zuwider zu empfinden, während der erste so beschaffen ist, daß er sie zwar empfindet, aber sich von ihr nicht leiten läßt. Auch der Unenthaltsame und der Unmäßige sind sich ähnlich und doch wieder verschieden: beide gehen der sinnlichen Annehmlichkeit nach, jedoch der eine in der Meinung, daß es sich so gehöre, der andere ohne diese Meinung.

Derselbe Mensch kann ferner nicht zugleich klug und unenthaltsam sein. Wir haben gezeigt, daß der Kluge zugleich auch sittlich gut ist. Auch ist man nicht schon durch das Wissen klug, sondern erst durch die Fähigkeit und Neigung, entsprechend zu handeln, die dem Unenthaltsamen fehlt. Dagegen steht nichts im Wege, daß der Geschickte unenthaltsam sei, daher es auch mitunter den Anschein hat, als ob gewisse Leute klug aber unenthaltsam wären, weil sich die Geschicklichkeit von der Klugheit auf die in den früheren Erörterungen angezeigte Weise unterscheidet und beide hinsichtlich der Intelligenz verwandt, aber hinsichtlich des Vorsatzes verschieden sind.

Der Unenthaltsame ist auch nicht wie einer, der weiß und denkt, sondern wie einer, der schläft oder betrunken ist. Und er handelt zwar freiwillig, da er in gewisser Weise weiß, was er tut und weshalb er es tut, ist aber nicht schlecht; sein Vorsatz ist ja gut, und so ist er nur halb schlecht; und er ist nicht ungerecht; er handelt ja nicht mit vollkommener Überlegung. Denn die eine Klasse der Unenthaltsamen hat die Kraft nicht, ihrem Entschlusse treu zu bleiben, und die andere Klasse, das melancholische Temperament, bringt es überhaupt zu keiner Überlegung. Und so gleicht denn der Unenthaltsame einer Stadt, die alles Notwendige beschließt und vortreffliche Gesetze hat, dieselben aber nicht in Vollzug bringt, wie Anaxandrides1) spottete:

»die Stadt beschloß, die auf Gesetze doch nichts gibt.«

der Schlechte aber einer Stadt, die ihre Gesetze zwar in Vollzug bringt, aber schlechte Gesetze hat.

In der Unenthaltsamkeit und Enthaltsamkeit liegt ein Hinausgehen über den Habitus der großen Mehrheit: die eine bleibt ihrem Vorsatze mit mehr Entschiedenheit, die andere mit weniger treu, als der die meisten fähig sind. Die Unenthaltsamkeit, an der die melancholischen Charaktere kranken, ist leichter zu heilen als die Unenthaltsamkeit derer, die sich die Sache zwar überlegen, aber an ihren Entschließungen nicht festhalten, und leichter werden geheilt die in folge schlechter Gewohnheit unenthaltsam sind, als die es von Natur sind. Die Gewohnheit ist nämlich leichter zu ändern als die Natur. Denn nur darum wird auch die Gewohnheit so schwer geändert, weil sie der Natur gleicht, wie Euenus2) spricht:

»Lange, glaube mir, Freund, muß dauern die Übung; sie wird dann
Sich als die zweite Natur der Menschen am Ende erweisen.«

So wäre denn erklärt, was Enthaltsamkeit und Unenthaltsamkeit, was Abgehärtetheit und Weichlichkeit ist, und wie sich diese Eigenschaften zu einander verhalten.


  1. Anaxandrides, komischer Dichter aus Rhodus. Zurück
     
  2. Euenus, Spruchdichter aus Paros. Zurück

Vorige Seite Titelseite Nächste Seite