Neuntes Kapitel.

Der Glückselige wird aber als Mensch auch in äußeren guten Verhältnissen leben müssen. Denn die Natur genügt sich selbst zum Denken nicht; dazu bedarf es auch der leiblichen Gesundheit, der Nahrung und alles andern, was zur Notdurft des Lebens gehört.

(1179a) Indessen darf man, wenn man ohne die äußeren Güter nicht glückselig sein kann, darum nicht meinen, daß dazu viele und große Güter erforderlich wären. Denn daß einer ein volles Genüge und die Möglichkeit der Betätigung habe, liegt nicht an Reichtum und Überfluß: man kann, auch ohne über Land und Meer zu herrschen, sittlich handeln; denn auch mit mäßigen Mitteln läßt sich der Tugend gemäß handeln. Man kann das deutlich daran sehen, daß die Privatleute den Fürsten im rechten und tugendhaften Handeln nicht nachzustehen, sondern eher voraus zu sein scheinen. Es genügt also, wenn dazu die nötigen Mittel vorhanden sind. Denn das Leben muß glückselig sein, wenn es in tugendgemäßer Tätigkeit verbracht wird.

Auch Solon1) hat die Frage, wer glückselig sei, wohl treffend beantwortet, wenn er sagte, glückselig seien diejenigen, die, mit äußeren Gütern mäßig bedacht, die nach seiner Ansicht schönsten Taten verrichtet und mäßig gelebt hätten. Denn auch mit bescheidenen Mitteln läßt sich pflichtgemäß handeln. Und Anaxagoras2) scheints hat sich den glückseligen Menschen nicht als Reichen oder Fürsten gedacht, wenn er sagte, ihn würde es nicht wunder nehmen, wenn derjenige, den er selbst für glückselig hielte, der Menge als ungeeignet für solche Bezeichnung erscheinen würde. Denn die Menge urteilt nach dem Äußeren, wofür sie allein Sinn hat. So stimmen denn die Ansichten der Weisen mit den von uns dargelegten Gründen überein, und zweifellos liegt in solchen Zeugnissen auch eine gewisse Beweiskraft. Doch muß man im Gebiet des Praktischen die Wahrheit nach den Werken und dem Leben beurteilen. Denn diese sind hier entscheidend. So muß man denn auch Aussprüche der Philosophen wie die vorhin angeführten in der Art prüfen, daß man sie mit ihrem Leben und ihren Werken vergleicht, und sie, falls sie damit zusammenstimmen, für wahr halten, falls sie aber damit in Widerspruch stehen, nur als leere Worte betrachten.

Wer aber denkend tätig ist und die Vernunft in sich pflegt, mag sich nicht nur der allerbesten Verfassung erfreuen, sondern auch von der Gottheit am meisten geliebt werden. Denn wenn die Götter, wie man doch allgemein glaubt, um unsere menschlichen Dinge irgend welche Sorge haben, muß man ja vernünftiger Weise urteilen, daß sie an dem Besten und ihnen Verwandtesten Freude haben – und das ist unsere Vernunft –, und daß sie denjenigen, die dasselbe am meisten lieben und hochachten, mit gutem vergelten, weil sie für das, was ihnen lieb ist, Sorge tragen und recht und löblich handeln. Es ist aber unverkennbar, daß dies alles vorzüglich bei dem Weisen zu finden ist. Mithin wird er von der Gottheit am meisten geliebt; wenn aber das, so muß er auch der Glückseligste sein. Somit wäre der Weise auch aus diesem Grunde der Glücklichste3).


  1. Solon führte diesen Gedanken in seiner Unterredung mit Krösus, König von Lydien, aus. Die bekannte Geschichte steht bei Herodot I, 30. Zurück
     
  2. Vgl. Eudemische Ethik I, 4. Zurück
     
  3. Vgl. VIII, Kap. 9, Anm. 2. – Man beachte auch, daß Ar. hier deutlich auf Kap. 8, vorletzter Absatz bezug nimmt. Dort redet er von der menschlichen Denktätigkeit als der der göttlichen Tätigkeit verwandtesten, suggenestath, hier von der Freude Gottes an dem ihm Verwandtesten, tv suggenestatw, dem nouV des Menschen. So kann denn in dem genannten Absatz unmöglich, wie Einige wollen, eine Lehre ausgesprochen sein, die jede Tätigkeit Gottes nach außen und somit jede Fürsorge für den Menschen ausschlösse. Vgl. Brentano, Offener Brief an Zeller, S. 29 f. Zurück

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