25. Die Probleme und ihre Lösung

Was die Probleme und ihre Lösungen angeht, so dürfte wohl aus der folgenden Betrachtung deutlich werden, wieviele und was für Arten es davon gibt. Da der Dichter ein Nachahmer ist, wie ein Maler oder ein anderer bildender Künstler, muß er von drei Nachahmenswerten, die es gibt, stets eine befolgen: er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, daß sie seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten. All dies wiederum wird in einer sprachlichen Form ausgedrückt, in der Glossen und Metaphern und viele Veränderungen der Sprache enthalten sind; denn dies gestehen wir ja den Dichtern zu. Außerdem ist die Richtigkeit in der Dichtkunst nicht ebenso beschaffen wie in der Staatskunst, und überhaupt ist sie in der Dichtkunst nicht so beschaffen wie in irgendeiner anderen Disziplin. Im ganzen gibt es in der Dichtkunst zwei Arten von Fehlern: die eine bezieht sich auf die Dichtkunst an sich, die andere auf etwas, das die Dichtkunst nur zufällig berührt. Denn wenn sich ein Dichter etwas richtig vorgestellt hat, um es nachzuahmen, und er es aus Unfähigkeit nicht richtig nachahmt, dann liegt ein Fehler der Dichtkunst selber vor. Wenn er sich jedoch etwas nicht richtig vorgestellt hat, z. B. ein Pferd, das gleichzeitig seine beiden rechten Beine nach vorn wirft, oder wenn er nach Maßgabe einer bestimmten Disziplin, z. B. der Medizin oder einer anderen Wissenschaft, einen Fehler gemacht hat, oder wenn er irgendwelche Dinge dargestellt hat, die unmöglich sind, dann liegt kein Fehler in der Dichtkunst an sich vor. Von diesen Dingen muß man ausgehen, wenn man die Einwände widerlegen will, die in den Problemen enthalten sind. Zunächst die Fälle, die die Dichtkunst selbst betreffen. Wenn ein Dichter Unmögliches darstellt, liegt ein Fehler vor. Doch hat es hiermit gleichwohl seine Richtigkeit, wenn die Dichtung auf diese Weise den ihr eigentümlichen Zweck erreicht (wir haben ja diesen Zweck erwähnt), wenn sie so entweder dem betreffenden Teil selbst oder einem anderen Teil ein stärkeres Moment der Erschütterung verleiht. Ein Beispiel ist die Verfolgung Hektors. Wenn sich jedoch der Zweck ohne Verstoß gegen die jeweils zuständige Disziplin besser oder nicht schlechter hätte erreichen lassen, dann liegt eine Unrichtigkeit vor. Man soll nämlich, wenn möglich, überhaupt keinen Fehler begehen. Ferner: von welcher Art ist der Fehler; bezieht er sich auf die Dichtkunst selbst oder auf etwas anderes, das zufälligen Charakter hat! Der Fehler  ist nämlich geringer, wenn jemand nicht wußte, daß die Hirschkuh kein Geweih hat, als wenn er ein Gemälde angefertigt hat, das seinen Gegenstand schlecht nachahmt. Außerdem: wenn der Vorwurf erhoben wird, es sei etwas nicht wirklichkeitsgetreu dargestellt, dann kann man vielleicht einwenden, es sei dargestellt, wie es sein sollte; d. h., wie auch Sophokles erklärt hat, er selbst stelle Menschen dar, wie sie sein sollten, Euripides, wie sie seien, so muß man auch diesen Fall lösen. Wenn aber keines von beiden zutrifft, dann kann man einwenden, man stelle etwas so dar, wie es der allgemeinen Auffassung entspricht, z. B. bei den Geschichten von den Göttern. Denn vielleicht kann man weder, indem man sie als besser hinstellt, noch wirklichkeitsgetreu von ihnen reden, aber möglicherweise so, wie Xenophanes meint: man sagt eben so. Anderes kann man vielleicht nicht als besser hinstellen, aber so wiedergeben, wie es einmal war, z. B. bei der Bewaffnung. »Ihre Lanzen waren senkrecht auf dem Schaft aufgestellt«: so war es damals üblich, wie noch jetzt bei den Illyriern. Was die Frage betrifft, ob eine Rede oder Handlung einer Person rechtschaffen ist oder nicht, so muß man nicht nur auf die Handlung oder Rede selbst achten und prüfen, ob sie gut oder schlecht ist, sondern auch auf den Handelnden oder Redenden, an wen er sich wendet, oder wann oder für wen oder zu welchem Zweck er handelt oder redet, ob er z. B. ein größeres Gut erlangen oder ein größeres Übel vermeiden  Andere Probleme muß man im Hinblick auf die sprachliche Form lösen, etwa mit Hilfe von Glossen: ureas men prototz; denn vielleicht meint Homer nicht die Maultiere, sondern die Wächter. Und wenn er von Dolon sagt »der zwar häßlich war von Gestalt«, dann meint er keinen verwachsenen Körper, sondern ein häßliches Gesicht. Denn die Kreter verstehen unter »wohlgestaltet« ein schönes Gesicht. Und wenn es heißt: zoroteron de keraie, dann soll der Wein  nicht unvermischt gereicht werden, wie für Säufer, sondern schneller. Anderes ist metaphorisch gemeint, wie z. B : »Alle Götter und Menschen schliefen die ganze Nacht.« Denn an derselben Stelle sagt der Dichter: »Wenn er auf die troische Ebene blickte, (staunte er) über den Schall von Flöte und Syrinx.« »Alle« ist hier demnach metaphorisch statt »viele« verwendet; denn »alles« ist ein Fall von »viel«. Auch »er allein taucht nicht unter« ist metaphorisch; man spricht bei dem am besten Bekannten von »allein«. Manches muß man mit Hilfe der Betonung lösen; so erklärte Hippias von Thasos die Stellen didornen de hoi euchos aresthai und to men hu katapjthetai ombro. Manches löst man mit Hilfe einer Pause, wie bei Empedokles: »So entstanden schnell sterbliche Dinge, die sich zuvor unsterblich gewußt hatten, und, was unvermischt gewesen war zuvor, mischte sich«. Manches mit Hilfe einer Doppeldeutigkeit: »Es ist mehr von der Nacht vergangen«; das »mehr« ist nämlich doppeldeutig. Anderes wieder mit Hilfe des Sprachgebrauchs. So nennt man das aus Wein und Wasser bestehende Mischgetränk schlechtweg »Wein«, und der Dichter sagt »eine Beinschiene aus neugefertigtem Zinn«. Ferner nennt man diejenigen, die das Eisen bearbeiten, »Kupferschmied«, und von Ganymedes wird gesagt, er sei der »Weinschenk« des Zeus, obwohl die Götter keinen Wein trinken. Doch lassen sich diese Beispiele auch als Metaphern erklären. Wenn ein Wort etwas Widersinniges auszudrücken scheint, dann muß man prüfen, wieviele Bedeutungen es an der betreffenden Stelle haben kann. So muß man bei den Worten »dort wurde die eherne Lanze festgehalten« fragen, auf wievielerlei Weise sie dort festgehalten werden konnte, ob so oder so, wie man am ehesten vermuten möchte. Diese Methode ist der entgegengesetzt, von der Glaukon spricht: Einige gehen von einer unsinnigen Voraussetzung aus, und nachdem sie selber diese Voraussetzung gebilligt haben,  ziehen sie daraus ihre Schlüsse, und so rügen sie, was der Dichter ihrer Meinung nach gesagt hat, wenn das ihrer vorgefaßten Meinung widerspricht. Das ist im Falle des Ikarios eingetreten. Man glaubt nämlich, er sei Spartaner gewesen; es sei also sonderbar, daß Telemach ihn nicht getroffen habe, als er nach Sparta kam. Doch vielleicht verhält es sich hiermit so, wie die Kephallenier sagen; sie behaupten nämlich, Odysseus habe sich seine Frau von ihnen geholt, und der Vater der Frau heiße Ikadios, nicht Ikarios. Das Problem ist offensichtlich aus einer falschen Voraussetzung erwachsen. Aufs Ganze gesehen muß man das Unmögliche rechtfertigen, indem man entweder auf die Erfordernisse der Dichtung oder auf die Absicht, das Bessere darzustellen, oder auf die allgemeine Meinung zurückgreift. Was die Erfordernisse der Dichtung betrifft, so verdient das Unmögliche, das glaubwürdig ist, den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist. Und wenn es unmöglich sein mag, daß es solche Menschen gibt, wie sie Zeuxis gemalt hat, dann hat er sie eben zum Besseren hin gemalt; das Beispielhafte muß ja die Wirklichkeit übertreffen. Auf das, was die Leute sagen, muß man das Ungereimte zurückführen. Man kann ferner zeigen, daß das Ungereimte bisweilen nicht ungereimt ist; es ist ja wahrscheinlich, daß sich manches auch gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt. Die Stellen, die Widersinniges auszudrücken scheinen, muß man ebenso prüfen, wie man bei wissenschaftlichen Auseinandersetzungen die Gründe des Gegners prüft: ob es sich um dasselbe handelt, und ob sich eine Aussage auf denselben Gegenstand bezieht und ob sie im selben Sinne gilt. Erst dann darf man schließen, daß etwas im Widerspruch zu dem stehe, was entweder der Betreffende ausdrücklich sagt oder was ein vernünftiger Mensch als gegeben voraussetzt. Der Vorwurf der Ungereimtheit und Schlechtigkeit ist berechtigt, wenn ein Dichter ohne zwingenden Grund davon Gebrauch macht, wie Euripides im Falle des  Aigeus von Ungereimtem und wie im Falle des Menelaos im »Orestes« von Schlechtigkeit. Die Vorwürfe, die man zu erheben pflegt, lassen sich auf fünf Kategorien zurückführen: daß etwas unmöglich sei oder ungereimt oder sittlich schlecht oder widersinnig oder den Erfordernissen einer Disziplin entgegengesetzt. Die Lösungen lassen sich den angegebenen Gesichtspunkten zwölf an der Zahl - entnehmen.