Und nun war Wahltagmorgen. Kurz vor acht erschien Lorenzen auf dem Schloß, um in Dubslavs schon auf der Rampe haltenden Kaleschewagen einzusteigen und mit nach Rheinsberg zu fahren. Der Alte, bereits gestiefelt und gespornt, empfing ihn mit gewohnter Herzlichkeit und guter Laune. »Das ist recht, Lorenzen. Und nun wollen wir auch gleich aufsteigen. Aber warum haben Sie mich nicht an Ihrem Pfarrgarten erwartet? Muß ja doch dran vorüber« - und dabei schob er ihm voll Sorglichkeit eine Decke zu, während die Pferde schon anrückten. »Übrigens freut es mich trotzdem (man widerspricht sich immer), daß Sie nicht so praktisch gewesen und doch lieber gekommen sind. Es is 'ne Politesse. Und die Menschen sind jetzt so schrecklich unpoliert und geradezu unmanierlich... Aber lassen wir's; ich kann es nicht ändern, und es grämt mich auch nicht.«
»Weil Sie gütig sind und jene Heiterkeit haben, die, menschlich angesehn, so ziemlich unser Bestes ist.«
Dubslav lachte. »Ja, so viel ist richtig; Kopfhängerei war nie meine Sache, und wäre das verdammte Geld nicht... Hören Sie, Lorenzen, das mit dem Mammon und dem Goldnen Kalb, das sind doch eigentlich alles sehr feine Sachen.«
»Gewiß, Herr von Stechlin.«
»... Und wäre das verdammte Geld nicht, so hätt' ich den Kopf noch weniger hängen lassen, als ich getan. Aber das Geld. Da war, noch unter Friedrich Wilhelm III., der alte General von der Marwitz auf Friedersdorf, von dem Sie gewiß mal gehört haben, der hat in seinen Memoiren irgendwo gesagt: er hätte sich aus dem Dienst gern schon früher zurückgezogen und sei bloß geblieben um des Schlechtesten willen, was es überhaupt gäbe, um des Geldes willen, - und das hat damals, als ich es las, einen großen Eindruck auf mich gemacht. Denn es gehört was dazu, das so ruhig auszusprechen. Die Menschen sind in allen Stücken so verlogen und unehrlich, auch in Geldsachen, fast noch mehr als in Tugend. Und das will was sagen. Ja, Lorenzen, so ist es... Na, lassen wir's, Sie wissen ja auch Bescheid. Und dann sind das schließlich auch keine Betrachtungen für heute, wo ich gewählt werden und den Triumphator spielen soll. Übrigens geh' ich einem totalen Kladderadatsch entgegen. Ich werde nicht gewählt.«
Lorenzen wurde verlegen, denn was Dubslav da zuletzt sagte, das stimmte nur zu sehr mit seiner eignen Meinung. Aber er mußte wohl oder übel, so schwer es ihm wurde, das Gegenteil versichern. »Ihre Wahl, Herr von Stechlin, steht, glaub' ich, fest; in unsrer Gegend wenigstens. Die Globsower und Dagower gehen mit gutem Beispiel voran. Lauter gute Leute.«
»Vielleicht. Aber schlechte Musikanten. Alle Menschen sind Wetterfahnen, ein bißchen mehr, ein bißchen weniger. Und wir selber machen's auch so. Schwapp, sind wir auf der andern Seite.«
»Ja, schwach ist jeder, und ich mag mich auch nicht für all und jeden verbergen. Aber in diesem speziellen Falle... Selbst Koseleger schien mir voll Zuversicht und Vertrauen, als er am Donnerstag noch mit mir plauderte.«
»Koseleger voll Vertrauen! Na, dann geht es gewiß in die Brüche. Wo Koseleger Amen sagt, das ist schon so gut wie Letzte Ölung. Er hat keine glückliche Hand, dieser Ihr Amtsbruder und Vorgesetzter.«
»Ich teile leider einigermaßen Ihre Bedenken gegen ihn. Aber was vielleicht mit ihm versöhnen kann, er hat angenehme Formen und durchaus etwas Verbindliches.«
»Das hat er. Und doch, so sehr ich sonst für Formen und Verbindlichkeiten bin, nicht für seine. Man soll einem Menschen nicht seinen Namen vorhalten. Aber Koseleger! Ich weiß immer nicht, ob er mehr Kose oder mehr Leger ist; vielleicht beides gleich. Er ist wie 'ne Balsertorte, süß, aber ungesund. Nein, Lorenzen, da bin ich doch mehr für Sie. Sie taugen auch nicht viel, aber Sie sind doch wenigstens ehrlich.«
»Vielleicht«, sagte Lorenzen. »Übrigens hat Koseleger inmitten seiner Verbindlichkeiten und schönen Worte doch auch wieder was Freies, beinah Gewagtes und ist mir da neulich mit Bekenntnissen gekommen, fast wie ein Charakter.«
Dubslav lachte hell auf. »Charakter. Aber Lorenzen. Wie können Sie sich so hinters Licht führen lassen. Ich verwette mich, er hat Ihnen irgendwas über Ihre Gaben, gesagt; das ist jetzt so Lieblingswort, das die Pastoren immer gegenseitig brauchen. Es soll bescheiden und unpersönlich klingen und sozusagen alles auf Inspiration zurückführen, für die man ja, wie für alles, was von oben kommt, am Ende nicht kann. Es ist aber gerade dadurch das Hochmütigste... War es so was? Hat er meinen klugen Lorenzen, eh er sich als Charakter ausspielte, durch solche Schmeicheleien eingefangen?«
»Es war nicht so, Herr von Stechlin. Sie tun ihm hier ausnahmsweise unrecht. Er sprach überhaupt nicht über mich, sondern über sich und machte mir dabei seine Confessions. Er gestand mir beispielsweise, daß er sich unglücklich fühle.«
»Warum?«
»Weil er in Quaden-Hennersdorf deplaciert sei.«
»Deplaciert. Das ist auch solch Wort; das kenn' ich. Wenn man durchaus will, ist jeder deplaciert, ich, Sie, Krippenstapel, Engelke. Ich müßte Präses von einem Stammtisch oder vielleicht auch ein Badedirektor sein, Sie Missionar am Kongo, Krippenstapel Kustos an einem märkischen Museum und Engelke, nun der müßte gleich selbst hinein, Nummer hundertdreizehn. Deplaciert! Alles bloß Eitelkeit und Größenwahn. Und dieser Koseleger mit dem Konsistorialratskinn! Er war Galopin bei 'ner Großfürstin; das kann er nicht vergessen, damit will er's nun zwingen, und in seinem Ärger und Unmut spielt er sich auf den Charakter aus und versteigt sich, wie Sie sagen, bis zu Confessions und Gewagtheiten. Und wenn er nun reüssierte (Gott verhüt' es), so haben Sie den Scheiterhaufenmann comme il faut. Und der erste, der rauf muß, das sind Sie. Denn er wird sofort das Bedürfnis spüren, seine Gewagtheiten von heute durch irgendein Brandopfer wieder wettzumachen.«
Unter diesem Gespräche waren sie schließlich aus dem Walde heraus und näherten sich einem beinah meilenlangen und bis an den Horizont sich ausdehnenden Stück Bruchland, über das mehrere mit Kropfweiden und Silberpappeln besetzte Wege strahlenförmig auf Rheinsberg zuliefen. Alle diese Wege waren belebt, meist mit Fußgängern, aber auch mit Fuhrwerken. Eins davon, aus gelblichem Holz, das hell in der Sonne blinkte, war leicht zu erkennen.
»Da fährt ja Katzler«, sagte Dubslav. »Überrascht mich beinah. Es ist nämlich, was Sie vielleicht noch nicht wissen werden, wieder was einpassiert; er schickte mir heute früh einen Boten mit der Nachricht davon, und daraus schloß ich, er würde nicht zur Wahl kommen, Aber Ermyntrud mit ihrer grandiosen Pflichtvorstellung wird ihn wohl wieder fortgeschickt haben.«
»Ist es wieder ein Mädchen?« fragte Lorenzen.
»Natürlich, und zwar das siebente. Bei sieben (freilich müssen es Jungens sein) darf man, glaub' ich, den Kaiser zu Gevatter laden. Übrigens sind mehrere bereits tot, und alles in allem ist es wohl möglich, daß sich Ermyntrud über das beständige bloß Mädchen allerlei Sorgen und Gedanken macht.«
Lorenzen nickte. »Kann mir's denken, daß die Prinzessin etwas wie eine zu leistende Sühne darin sieht, Sühne wegen des von ihr getanen Schrittes. Alles an ihr ist ein wenig überspannt. Und doch ist es eine sehr liebenswürdige Dame.«
»Wovon niemand überzeugter ist als ich«, sagte Dubslav. »Freilich bin ich bestochen, denn sie sagt mir immer das Schmeichelhafteste. Sie plaudre so gern mit mir, was auch am Ende wohl zutrifft. Und dabei wird sie dann jedesmal ganz ausgelassen, trotzdem sie eigentlich hochgradig sentimental ist. Sentimental, was nicht überraschen darf; denn aus Sentimentalität ist doch schließlich die ganze Katzlerei hervorgegangen. Bin übrigens ernstlich in Sorge, wo Hoheit den richtigen Taufnamen für das Jüngstgeborene hernehmen wird. In diesem Stücke, vielleicht dem einzigen, ist sie nämlich noch ganz und gar Prinzessin geblieben. Und Sie, lieber Lorenzen, werden dabei sicherlich mit zu Rate gezogen werden.«
»Was ich mir nicht schwierig denken kann.«
»Sagen Sie das nicht. Es gibt in diesem Falle viel weniger Brauchbares, als Sie sich vorzustellen scheinen. Prinzessinnennamen an und für sich, ohne weitere Zutat, ja, die gibt es genug. Aber damit ist Ermyntrud nicht zufrieden; sie verlangt ihrer Natur nach zu dem Dynastisch-Genealogischen auch noch etwas poetisch Märchenhaftes. Und das kompliziert die Sache ganz erheblich. Sie können das sehen, wenn Sie die Katzlersche Kinderstube durchmustern oder sich die Namen der bisher Getauften ins Gedächtnis zurückrufen. Die Katzlersche Kronprinzeß heißt natürlich auch Ermyntrud. Und dann kommen ebenso selbstverständlich Dagmar und Thyra. Und danach begegnen wir einer Inez und einer Maud und zuletzt einer Arabella. Aber bei Arabella können Sie schon deutlich eine gewisse Verlegenheit wahrnehmen. Ich würde ihr, wenn sie sich wegen des Jüngstgeborenen an mich wendete, was Altjüdisches vorschlagen; das ist schließlich immer das Beste. Was meinen Sie zu Rebekka?«
Lorenzen kam nicht mehr dazu, Dubslav diese Frage zu beantworten, denn eben jetzt waren sie durch das Stück Bruchland hindurch und rasselten bereits über einen ein weiteres Gespräch unmöglich machenden Steindamm weg, scharf auf Rheinsberg zu.
Dubslav war in ausgezeichneter Laune. Das prachtvolle Herbstwetter, dazu das bunte Leben, alles hatte seine Stimmung gehoben, am meisten aber, daß er unterwegs und beim Passieren der Hauptstraße bereits Gelegenheit gehabt hatte, verschiedene gute Freunde zu begrüßen. Von der Kirche her schlug es zehn, als er vor dem als Wahllokal etablierten Gasthause »Zum Prinzregenten« hielt, in dessen Front denn auch bereits etliche mehr oder weniger verwogen aussehende Wahlmänner standen, alle bemüht, ihre Zettel an mutmaßliche Parteigenossen auszuteilen.
Drinnen im Saal war der Wahlakt schon im Gange. Hinter der Urne präsidierte der alte Herr von Zühlen, ein guter Siebziger, der die groteskesten Feudalansichten mit ebenso grotesker Bonhomie zu verbinden wußte, was ihm, auch bei seinen politischen Gegnern, eine große Beliebtheit sicherte. Neben ihm, links und rechts, saßen Herr von Storbeck und Herr van dem Peerenboom, letzterer ein Holländer aus der Gegend von Delft, der vor wenig Jahren erst ein großes Gut im Ruppiner Kreise gekauft und sich seitdem zum Preußen und, was noch mehr sagen wollte, zum »Grafschaftler« herangebildet hatte. Man sah ihn aus allen möglichen Gründen - auch schon um seines »van« willen - nicht ganz für voll an, ließ aber nichts davon merken, weil er der bei den meisten Grafschaftlern stark ins Gewicht fallenden Haupteigenschaft eines vor soundso viel Jahren in Batavia geborenen holländisch-javanischen Kaffeehändlers nicht entbehrte. Seines Nachbarn von Storbeck Lebensgeschichte war durchschnittsmäßiger. Unter denen, die sonst noch am Komiteetisch saßen, befand sich auch Katzler, den Ermyntrud (wie Dubslav ganz richtig vermutet) mit der Bemerkung, »daß im modernen bürgerlichen Staate Wählen so gut wie Kämpfen sei«, von ihrem Wochenbette fortgeschickt hatte. »Das Kind wird inzwischen mein Engel sein, und das Gefühl erfüllter Pflicht soll mich bei Kraft erhalten.« Auch Gundermann, der immer mit dabei sein mußte, saß am Komiteetisch. Sein Benehmen hatte was Aufgeregtes, weil er - wie Lorenzen bereits angedeutet - wirklich im geheimen gegen Dubslav intrigiert hatte. Daß er selber unterliegen würde, war klar und beschäftigte ihn kaum noch, aber ihn erfüllte die Sorge, daß sein voraufgegangenes doppeltes Spiel vielleicht an den Tag kommen könne.