Der Freiherr bringt zwar die angefangne Geschichte nicht zu Ende, handelt aber von andern außerordentlichen Dingen
Münchhausen hob am folgenden Abende ohne Vorrede also an: »Der südamerikanische Indianerstamm, welcher uns gestern beschäftigte, bringt es bei seiner sauren Milchnahrung meistens zu einem sehr hohen Alter. Es ist unter ihnen gar nicht selten, daß Männer und Frauen das hundertste Jahr zurücklegen. Weil ihre Sinne und Säfte nun immer in der unmittelbarsten Gemeinschaft mit der Natur verblieben, so wissen sie auch durch ein richtiges Gefühl, wenn die Natur sich ihr Ziel gesetzt hat. Ein solcher Sterbegreis sagt daher ganz genau Stunde, Minute und Augenblick seines Todes voraus, flicht sich die Strohflasche, worin er sich zu bestatten gedenkt...«
»Die Strohflasche?« fragte der Schulmeister Agesilaus.
»Die Strohflasche«, erwiderte der Freiherr kaltblütig. »Wenn man mir von Anfang an zugehört hätte, so würde manche Frage zu sparen sein. Holz haben sie nicht, das sagte ich schon gestern, Särge können sie folglich nicht zimmern, sie müssen sich mit getrocknetem Grase oder Stroh helfen, um ihre Leichenfutterale zu fertigen. Ein solches Futteral hat die Form desjenigen Geflechts, worin der Maraschino von Triest verschickt wird, länglicht-viereckicht, oben mit einem kurzen, etwas engeren Halse. Dahinein kriecht nun der Sterbegreis, nachdem er von seinen Angehörigen Abschied genommen hat, und endet pünktlich in dem vorhergesagten Augenblicke. Sobald er verschieden ist, binden sie eine Blase über die Mündung, und dann setzt sich die ganze Familie im Kreise um das Sterbefutteral her und ißt zum Gedächtnis des Verewigten saure Milch. Hierauf tragen sie die Strohflasche nach der Felsenbank Pipirilipi, dem allgemeinen Begräbnisorte des Volks. Dort wird sie zu den übrigen gestellt. Ich habe jene Ruhestatt selbst gesehen; sie gewährt einen schönen Anblick. Wie auf Rayolen in einem wohlversehenen Keller stehen dort auf der Felsenbank viele tausend Flaschen nebeneinander, die Vorzeit des Volks ist sozusagen auf Stroh abgezogen.«
»Sie waren auch auf dem smaragdgrünen Plateau?« fragte das Fräulein einigermaßen befremdet.
»Liebe Seele, wo wäre ich nicht gewesen!« antwortete lächelnd der Freiherr. »Ich war vor einigen Jahren europamüde, warum? weiß ich selbst nicht, denn es hatte mir niemand etwas zuleide getan, aber ich war europamüde, wie man gegen eilf Uhr abends schlafmüde wird. Beschloß also, zu reisen, so weit weg, wie möglich. Weil aber heutzutage jeder Mensch, der in Betrachtung kommen will, absonderlich unterweges, interessant sein und den Spleen haben muß, reiste ich erst nach Berlin und ließ mich dort im Interessantsein unterrichten; dafür zahlte ich zwei Friedrichsd'or Honorar. Dann ging ich nach London, und lernte dort bei einem Master den Spleen; der Tausendsassa war aber teuer, ich mußte ihm, Sie mögen es mir glauben, oder nicht, zwanzig Guineen entrichten, und außerdem schwören, das Geheimnis nicht verraten zu wollen.
Nachdem ich so das Interessante und den Spleen weg hatte, glückte es mir überall recht sehr. Ich trug mich bald als Engländer, bald als Neugrieche, zuweilen lag ich als Dame auf dem Sofa und hatte Migräne; dabei redete ich ein Kauderwelsch von Französisch und Deutsch, wie es zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts während der großen Sprachverderbnis Mode war. In jenen wechselnden Kostümen, und in diesem Deutsch, gorge-de-pigeon, bestand das Interessante; was aber den Spleen angeht, so führte ich immer Kampfer bei mir, um das Geheimnis frisch zu erhalten. Davon bekommt man nämlich eine blasse Couleur; ich sah bald aus, als hätte ich schon zehn Jahre im Grabe gelegen. Als ich mich eines Tages in meinem Toilettenspiegel, deren ich damals, wo ich der Eitelkeit frönte, stets mehrere besaß, zu Gesichte bekam, und meine bleiche Farbe erblickte, ging mir ein lichter Gedanke im Kopfe auf. Sehe ich nicht wie eine Leiche aus? sagte ich zu mir selber. Ich will mich den Verstorbenen nennen. Gesagt, getan! Dieser Einfall hat Wunder gewirkt. Einen Verstorbenen hatten die Deutschen noch nicht gehabt. Und nun gar ein Verstorbener, der so traulich mit ihnen zu plaudern wußte, und ihnen tausend Geschichtchen erzählte, die ein Lebender allenfalls auch in jedem Klatschzimmer der Sozietät hätte auftreiben können! Jung und alt, Männer und Weiber, Gelehrte und Idioten drängten sich zu den Leichenspuren des Verstorbenen; die alte Fabel wurde wieder neu, welche das Volk hinter einem geschmückten Verwesten jubelnd herwandern läßt. Geheime Künste haben es aus der Gruft emporbeschworen, die Menge zu locken. Die Jünglinge drängen sich begehrlich heran, mit der buntgeschminkten Frau Venus zu tanzen; immer weiter lockt die pestdampfende Schönheit, welche ihnen wie Zibeth und Ambra riecht, die Lüsternen; endlich auf einem Kirchhofe fallen die Gewänder von den klappernden Gebeinen ab, und ein scheußliches Skelett faucht ihnen den Spruch zu: Sic transit gloria mundi. Aber mit mir kam es nicht so weit, vielmehr blieb ich, obgleich ein duftender Verstorbener, recht inmitten der Gloria Mundi. Nachdem ich so berühmt geworden war, strich ich durch die ganze Welt, kam auch im Vorbeigehen durch Afrika; in Algier wurde ich Arabisch mit allen Formalitäten, hatte dann gutes Logis bei Vizekönigs von Ägypten. Er wurde mein Duzbruder, und ich mußte ihm tausend Sachen erzählen, die er mir alle geglaubt hat. Weiter oberhalb nach Nubien zu, unfern der großen Katarakte, stieß mir ein hübsches Abenteuer mit einem Nilpferde auf. Ich sitze am Strom im Schilf, in naturalibus, wie mich der Herr geschaffen hat, denn anders bin ich in Afrika nie gegangen; esse mein Mittagsbrot in guter Ruhe, siehe da, schießt eine Bestie von Hippopotamos auf mich zu, und hat mich im Rachen, ehe ich noch rufen kann: Qui vive! Ich indessen nehme in der Geschwindigkeit mein bißchen Geistesgegenwart zusammen, schreie in dem Rachen, als das Vieh mich eben verschlucken will: Monsieur! Monsieur! avec permission, je suis son Altesse telle et telle! Was geschieht? Sie mögen es mir glauben oder nicht: Die gute Seele von Nilpferd spuckt mich auf der Stelle aus, wischt sich die Tränen aus den Augen...«
»Womit? Womit?« rief der Baron.
»... mit einem Palmblatte, welches die ehrliche Haut in die rechte Vorderpfote nimmt; errötet, und rennt beschämt davon. So weit haben es Vizekönigs schon in Ägypten gebracht, daß selbst die Hippopotamoi vor literarischen Sommitäten Respekt bezeigen.«
»Ich meine, das Nilpferd nähre sich nur von Vegetabilien, nicht von Fleisch«, wandte das Fräulein bescheiden ein.
»Es ist vermutlich kurzsichtig gewesen, und hat mich für eine Pflanze angesehen«, antwortete der Freiherr. »Ich weiß, was ich weiß; ich habe im Rachen drin gesteckt. Wahrheit muß Wahrheit bleiben, und ehrlich währt am längsten. Wo blieb ich stehen? Ja, in Afrika. Warum soll ich Sie aber mit solchen Kleinigkeiten aufhalten? Ich war bald afrikamüde, wie ich europamüde gewesen war, beschloß daher nach Amerika zu reisen, vorher aber einen Abstecher nach Deutschland und England zu machen, wohin mich verschiedne Gründe zuvor riefen.
Erstens hatte ich das Interessante und den Spleen etwas verlernt, und wollte daher wieder in Berlin und in London meinen Kursus machen. In Afrika sind die Leute gar nicht interessant, der Koran begünstigt diese Richtung nicht, eine arabische Schnauze ist wie die andre, und was den Spleen betrifft, so vertreibt den der Vizekönig von Ägypten durch die Bastonade; es gibt kein efficaceres Mittel gegen Schwermut, als sie. Einmal hatte ich mich mit ihm etwas brouilliert, wie das unter Freunden wohl kommen kann; da dachte ich an die möglichen Folgen für die Fußsohlen, und von dem Gedanken schon war aller Spleen weg, selbst bis auf die Erinnerung. Es kam zum Glück nicht zu jenen Folgen, wir versöhnten uns und aßen noch denselben Mittag Sauerkraut mit Schweineohren zusammen, denn er ist ein aufgeklärter Türke, und will nächstens in einer Schrift beweisen, daß Mahomet ein Produkt der Gläubigen sei. Wo blieb ich stehen? Ja so; bei dem Spleen. Nun, das Interesse hatte ich aus Mangel an Anschauungen in meiner Umgebung ebenfalls wieder eingebüßt. Ich mußte also schon deshalb nach Deutschland und England.
Diesmal war ich genötigt, in Berlin für den Unterricht im Interessanten eine Bonne zu nehmen, die Mère Oye, der es im Rückblick auf Personen und Zustände nicht gegangen war, wie Lots Weibe bei einer ähnlichen Gelegenheit. Denn, anstatt zur Salzsäule zu erstarren, war sie nur immer gesprächiger und merkurialischer geworden. Viele Leute wollten der guten Mère und Commère etwas am Zeuge flicken; sie sagten, all ihr Geistreicheln und Interessantisieren sei doch purer Waschschaum, aber ich muß die Mère Oye verteidigen. Auf hohe Ziele hat sie es überhaupt nicht abgesehen; sie gedenkt nur ihrer Ahnmütter, die urlängst durch Schnattern das Kapitol retteten. Und da übt sie nun mittlerweile ihr Organ, um bei Stimme zu sein, wenn dermaleinst das Kapitol des plattierten Liberalismus in Deutschland gefährdet werden sollte.«
»Warum gingen Sie aber nicht zu Ihrem alten Lehrer?« fragte der Baron.
»Der saß in Paris dazumal und las altfranzösische Manuskripte. Ich reiste von Algier über Toulon und jene Hauptstadt, und traf ihn auf der Bibliothek. Da sah ich nun ein wahres Wunder jetziger Bücherschnellfabrikation oder Schnellbücherfabrikation. Denn es ist gewiß; Sie mögen mir es glauben, oder nicht, mit der linken Hand schlug er die Blätter des pergamentenen Folianten um, der vor ihm lag, und mit der rechten schrieb er gleichzeitig ein Buch darüber oder daraus, so daß, wenn er links in Folio fertig gelesen hatte, ihm rechts ein Oktavband abgegangen war. Dazwischen diktierte er noch ein spirituelles Billett an eine Komödiantin, und unterhielt sich mit einem Arrondissementscommissair gründlich über das Pariser Grisettenwesen. Er blieb folglich nur drei Stadien hinter Cäsars Vielseitigkeit zurück.
Was aber der zweite Grund meines Abstechers nach Deutschland war, ich wollte mir dort wieder einen guten Bedienten mieten. Meinen bisherigen hatte ich abschaffen müssen; er wollte auch interessant sein, und hielt deshalb beständig Maulaffen feil. Als Interessanter von Distinktion glaubte ich Einspruch tun zu dürfen, aber da die Gewerbefreiheit überall herrschte, so war in der Sache nichts zu machen; jeder Lump durfte interessant sein.
Nur aus Deutschland wollte ich mir den Ersatzbedienten holen, denn jedes Land hat seine eigentümlichen Produkte, die man nirgends anders so gut bekommt. Spanien hat seine Weine, Italien den Gesang, England die Konstitution, Rußland den festesten Juchten, Frankreich die Revolution, und in Deutschland geraten die Bedienten am besten.«