Drittes Kapitel

Der Oberhof

»Westfalen bestund aus einzelnen Höfen, deren jeder seinen eigentümlichen und freien Besitzer hatte. Mehrere solcher Höfe machten eine Bauerschaft aus, die gewöhnlich den Namen des ältesten und vornehmsten Hofes führte. Es gründet sich in der ersten Anlage der Bauerschaften, daß der älteste Hof auch der erste im Range bleiben und der vornehmere werden mußte, wo von Zeit zu Zeit die davon ausgegangenen Kinder, Enkel, Hausgenossen zusammenkamen und einige Tage feierten und zechten. Der Anfang, oder das Ende des Sommers war die gewöhnliche Zeit dazu, wo jeder Hofbesitzer etwas von seinen gezogenen Früchten und auch wohl ein junges Stück Vieh zum Bauermahl mitbrachte. Man besprach sich über mannichfaltige Gegenstände und nahm Rücksprache, Heiraten wurden da geschlossen, Todesfälle angezeigt, und der Sohn als eingetretenes Haupt seines väterlichen Erbes erschien dann gewiß mit volleren Händen und ausgesuchterem Viehe bei seinem ersten Eintritt in die Versammlung. An Zwisten konnte es bei solchen Freudentagen nicht fehlen, dann trat der Vater als Haupt des ältesten Hofes in die Mitte und legte mit Einstimmung der übrigen den Zank bei. Wurden einige Hofbesitzer während der andern Jahrszeit irgendeiner Ursache halber uneins, so brachten beide bei der nächsten Versammlung ihre Beschwerde vor, und beide waren damit zufrieden, was ihre Mitgenossen für gut oder recht fanden. War alles aufgezehrt, der zur Feier bestimmte Baum ausgebrannt, so hatte das Fest, die Versammlung ein Ende. Jeder kehrte dann zurück, erzählte seinen zu Hause schon wartenden Hausgenossen die Begebenheiten des Festes und ward mit ihnen lebendige und stets fortdauernde Urkunde aller Vorfälle ihrer Bauerschaft.

Dergleichen Zusammenkünfte hießen Sprachen, Bauersprachen, weil sämtliche Hofbesitzer einer Bauerschaft, um sich zu besprechen, zusammenkamen, und Bauergerichte, weil hier die Irrungen der schon stillschweigend in einen Verein getretenen Männer beigelegt oder zurückgewiesen wurden. Da die Bauersprachen und Bauergerichte beim ältesten oder vornehmsten Hofe gehalten wurden, so hieß solcher Hof auch Richthof, und die Bauergerichte und Bauersprachen auch Hofsprachen und Hofgerichte, welche bis auf heutigen Tag noch nicht ganz verschwunden sind. Der älteste Hof, der Richthof ward nun im vorzüglicheren Sinne Hof genannt, womit man den Haupthof oder Oberhof in der Bauerschaft und dessen Besitzer als das Haupt oder den Hauptmann der übrigen bezeichnete.

So hätten wir ungefähr die Entstehung von dem ersten Vereine und den ersten Gerichtsanstalten der westfälischen Höfe oder Bauerschaften. Sie kann uns um desto weniger befremden, wenn man bedenket, daß Westfalens ehemalige Gestalt nur eine langsame Bevölkerung und allmähligen Anbau verstattete, und dieses allmählige Fortschreiten gerade so zu den simpeln und einförmigen Einrichtungen, als zu der gleichen Bildung, Sitte und Gewohnheit führte, die wir bei Westfalens alten Bewohnern antreffen.«

 

Diese Stelle aus Kindlingers »Münsterischen Beiträgen« führt uns auf den Schauplatz der Handlung. Sie verdeutlicht uns den Helden der letzteren, den Hofschulzen. Er war der Besitzer eines der größten und reichsten Haupt- oder Oberhöfe, welche in den dortigen Gegenden, freilich jetzt bis zu geringer Anzahl zusammengeschmolzen, liegen.

Über diese uralten Wehren freier Männer ist der Atem der Zeiten markenverrückend und rechtetilgend hingefahren. Die anfängliche germanische Genossenschaft, in welche jeder nur eintrat, Leibes und Lebens sicher zu werden, nicht, Leib und Leben zu verlieren, ist längst zerstört; der Vasallendienst hat an der Freiheit gerüttelt, die Ministerialität hat daran gerüttelt, und endlich sind die Trümmer eigenartiger Selbständigkeit in den großen Not- und Bergehafen des modernen Staats getrieben worden. In diesem schwimmen sie, (um dem Gleichnisse treu zu bleiben,) stoßen und prallen aneinander an, oder sind auch wohl seitwärts auf das Trockne geworfen. Dort verwittern sie, mit Tang, Flechten und Schneckenhäusern besetzt, nach und nach, während jener Überzug den Schein eines neuen Gebildes fortsetzt.

Aber es ist etwas Merkwürdiges um die ersten Stammerinnerungen, und die Völker haben ein so langes Gedächtnis, wie die einzelnen Menschen, denen ja auch die Eindrücke der frühesten Kinderzeit bis in das höchste Alter hinauf getreu zu bleiben pflegen. Erwägt man nun, daß eines Menschen Leben neunzig währen kann und darüber, daß der Völker Jahre aber Jahrhunderte sind, so ist es weiter nicht zu verwundern, daß in den Gegenden, in welche sich unsere Geschichte nunmehr begeben hat, manches noch hin und wieder aufstößt, welches nach der Zeit zurückweist, in welcher der große Frankenkaiser die eigensinnigen Sassen mit Feuer und Schwert zu bekehren wußte.

Weckt also die Natur da, wo sonst der oberste Richter und Erbe der Gegend wohnte, wieder einmal besondere Eigenschaften in einem Menschen auf, so kann an den jahrtausendalten Erinnerungen und zwischen den Grenzen und Gräben, die doch noch erkennbar sind, eine Gestalt erwachsen, wie unser Hofschulze, eine Gestalt, deren Geltung zwar von den Mächten der Gegenwart nicht anerkannt wird, welche aber für sich selbst und bei ihresgleichen einen längst verschwundenen Zustand auf einige Zeit wiederherstellt.

Doch das klingt für diese Arabeskengeschichte zu ernsthaft. Sehen wir uns lieber im Oberhofe selbst um! Wenn das Lob der Freunde immer ein sehr zweideutiges bleibt, so darf man dagegen dem Neide der Feinde vertrauen, und am glaubwürdigsten ist ein Pferdehändler, der die guten Umstände eines Bauern herausstreicht, mit welchem er nicht des Handels einig werden konnte. Zwar ließ sich von dem Hofe nicht, wie der Roßkamm Marx sagte, behaupten, es sei darin, als ob man sich bei einem Grafen befinde, dagegen nahm man, wohin man blickte, bäurischen Wohlstand und einen Segen wahr, welcher dem hungrigsten Menschen zurufen mußte: Hier kannst du dich mal satt essen, die Schüssel ist immerdar voll.

Der Hof lag ganz allein an der Grenze der fruchtbaren Börde, da wo sie in das Hügel- und Waldland übergeht. Die letzten Felder des Hofschulzen stiegen schon sacht die Anhöhen hinauf, und eine Meile von dort war Gebirg. Der nächste Nachbar der Bauerschaft wohnte eine Viertelstunde vom Hofe. Um diesen breitete sich alles Besitztum, welches eine große ländliche Wirtschaft nötig hat, aus; Feld, Wald, Wiese, unzerstückelt, in geschlossenem Zusammenhange.

Von der Anhöhe herab liefen die Felder durch die Ebene, bestens bestellt. Es war aber um die Zeit der Roggenblüte; der Rauch ging von den Ähren und wallte in den warmen Sommerlüften, ein Opfer der Scholle. Einzelne Reihen hochstämmiger Eschen oder knorrichter Rüstern, zu beiden Seiten der alten Grenzgräben gepflanzt, faßten einen Teil der Kornfelder ein und bezeichneten, von weitem her kenntlich, die Marken des Erbes, bestimmter als Steine und Pfähle vermögen. Ein tiefer Weg zwischen aufgeworfenen Erdwällen führte quer durch die Felder, mündete rechts und links an verschiedenen Orten in Seitenpfade aus und führte, wo das Getreide aufhörte, in ein kräftig bestandenes Eichenwäldchen, unter welchem sich erdgelagerte Säue gütlich taten, dessen Schatten aber auch für den Menschen erquicklich waren. Dieser Kamp, welcher dem Schulzen sein Holz lieferte, drang bis wenige Schritte vom Gehöfte vor, umfaßte es von beiden Seiten und gab so zugleich gegen die Ost- und Nordwinde Schutz.

Nur mit Stroh war das Wohnhaus, welches sich in seinen weiß und gelb angestrichenen Wänden von Fachwerk zweistöckig erhob, gedeckt, aber da diese Bedeckung immer sehr wohl instand erhalten ward, so hatte sie nichts Dürftiges, verstärkte im Gegenteil den behaglichen Eindruck, den das Gehöft machte. Das Innere lernen wir schon bei Gelegenheit kennen; jetzt sei nur gesagt, daß auf der andern Seite des Hauses um einen geräumigen Hof Ställe und Scheunen liefen, an denen auch das schärfste Auge keine schadhafte Stelle an Mauer und Bewurf erspähen konnte. Große Linden standen vor der Hoftüre, und dort, nicht nach der Waldseite zu waren auch, wie wir schon erfahren haben, die Ruhesitze angebracht. Denn der Hofschulze wollte, selbst wenn er rastete, seine Wirtschaft im Auge behalten.

Gerade dem Wohnhause gegenüber sah man durch ein Gittertor in den Baumgarten. Dort breiteten starke und gesunde Obststämme ihre belaubten Zweige über frischem Graswuchs, Gemüse- und Salatstücken aus; hier und da ernährte ein schmales Beet dazwischen rote Rosen und gelbe Feuerlilien. Doch waren solcher Beete nur wenige. In einer echten Bauerwirtschaft bleibt der Boden dem Bedürfnisse gewidmet, selbst wenn dem Eigentümer seine Umstände Luxus mit der Natur verstatten. Deshalb haben wir in solchen Höfen eine Empfindung froher Ruhe aller Sinne, wie sie Prachtgärten, Parks und Villen nicht zu erregen vermögen. Denn das ästhetische Landschaftsgefühl ist schon ein Produkt der Überfeinerung, weshalb es denn auch nie in eigentlich robusten Zeiten auftritt. Diese halten vielmehr die Stimmung zur Mutter Erde, als zu der Allernährerin fest, wollen und verlangen nichts von ihr, als die Gabe des Feldes, der Viehweide, des Fischteiches, des Wildforstes.

So weit das Auge über den Baumgarten hinausblickte, sah es auch nur Grün. Denn jenseits des Gartens lagen die großen Wiesen des Oberhofes, auf welchen der Schulze Raum und Futter für seine Pferde besaß. Ihre Zucht, mit Fleiß betrieben, gehörte zu den einträglichsten Nahrungsquellen des Erbes. Auch diese grünen Grasflächen waren von Hecken und Gräben umschlossen; eine derselben faßte einen Weiher ein, in welchem ausgefütterte Karpfen zugweise umherschwammen.

Auf diesem reichen Hofe zwischen vollen Scheuern, vollen Böden und Ställen hantierte der alte, weit und breit angesehene Hofschulze. Bestieg man aber den höchsten Hügel, zu dem sich seine Felder hinauf erstreckten, so erblickte man von dort die Türme dreier der ältesten Städte Westfalens.

Es ging zu der Zeit, von welcher ich rede, auf eilf Uhr vormittags, und der ganze weitläufige Hof war so still, daß sich fast nur das Rauschen der Lüfte in den Baumwipfeln des Kamps vernehmen ließ. Der Schulze maß dem Knechte Hafer zu, womit dieser, den Sack über der Schulter, langsamen Schrittes nach dem Pferdestalle ging, die Tochter zählte in der Linnen- und Garnkammer ihre Ausstattung nach, eine Magd besorgte die Küche. Was sonst von Menschen im Hofe lebte, lag und schlief, denn es ging gegen die Ernte, in welcher Zeit es bei den Bauern am wenigsten zu tun gibt, und die Arbeiter jede Minute zu benutzen pflegen, um gewissermaßen auf Rechnung der herannahenden schweiß- und mühevollen Tage in voraus zu schlafen. Überhaupt können die Landleute, wie die Hunde, zu allen Stunden bei Tage und bei Nacht schlafen, wann sie wollen.


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