Zehntes Kapitel

Die Gesellschaft des Schlosses beginnt sich in ihre Elemente aufzulösen

Während des ganzen Tages, an welchem der alte Baron ruhelos umhergetrieben, und das Fräulein unpaß geworden war, hatte der Schulmeister Holz gesägt und darauf gespalten. Am folgenden Morgen empfing er durch den Kreisboten, welcher ihn in aller Frühe auf seinem Strohlager weckte, eine Antwort von dem Schulrate Thomasius, die ihn sehr froh machte. Er warf sogleich seinen braunen Mantelkragen um, säuberte das Gemach des Gartenhäuschens von allen Spuren der Bewohnung, stellte den schlechten Tisch und den hölzernen Schemel, welche Stücke die einzigen Meubles dieses Gelasses waren, in Ordnung, den Tisch nämlich an die Wand und den Schemel mit dem Sitze unter den Tisch, und schrieb darauf mit Bleistift nicht ohne Mühe und Nachdenken folgende Zeilen an die Wand:

»Allhier habe ich, Christoph Agesel, weiland Schulmeister auf und zu Hackelpfiffelsberg neun Monate lang in schwerer Krankheit zugebracht, welche mir durch eine unverständliche Sprachlehre angetan worden war. Nachdem der grundgütige Gott mir meine Gesundheit wieder verliehen, scheide ich von diesem Orte, an welchem ich manche schöne Stunde verlebte, mit Dank für die Vergangenheit und mit Hoffnungen für die Zukunft.

Wie reizend ist doch die Empfindung
Ganz wieder bei Verstand zu sein,
Er bleibt die herrlichste Erfindung,
Schützt uns vor leeren Träumerein;
Man wird damit auf Erden fast
Bereits zu einem Himmelsgast.«

Nach dieser Schäferstunde seiner Muse schritt der Schulmeister hinaus in den Garten, wo über allen Verwilderungen und Trümmern der wolkenlose blaue Himmel leuchtete, warf einen dankenden und abschiednehmenden Blick den ausgewachsenen Taxusfiguren, dem Genius des Schweigens, dem Flötenbläser ohne Flöte und dem Delphin ohne Wasserstrahl zu, und ging dann in das Schloß, um dem Herrn desselben seine veränderten Entschlüsse kundzutun.

Dem alten Baron schmerzte noch von den phantastischen Erzählungen Münchhausens das Haupt. Um von diesen wesenlosen Dingen seine Vorstellungen zu befreien, war er, ohne vorher den gewohnten Frühgang durch den Garten zu machen, sogleich nach dem Verlassen des Bettes zur Gerichtsstube hinaufgestiegen. Dort sich an die Tafel setzend, gelang es ihm auch, seine Gedanken zu sammeln.

Er stützte den Arm auf die Tafel, legte das Haupt in die Hand und sagte: »Ich merke recht wohl, wo dieses hinaus will. Es reut ihn, sein Luftverdichtungsgeheimnis in einem unvorsichtigen Augenblicke dahingegeben zu haben, darum sucht er mir durch die unsinnigsten Faxen zu entschlüpfen. Nein, mein kluger Freund, das soll dir nicht gelingen. Zum Glück kennen wir deine schwache Seite, und gegen diese habe ich bereits meinen Operationsplan entworfen. Unter Freunden soll Offenheit herrschen, nach diesem Grundsatze werde ich verfahren und hinter deine Heimlichkeiten zu kommen suchen, du unaufhaltsamer Schnurrenerzähler! Unbegreiflich, woher der Mensch alles das Zeug nimmt! Er muß ein sonderbares Leben geführt haben; mitunter ist es mir, als habe ich ihn schon irgendwo gesehen, ich weiß nur nicht, wo?«

Der Schulmeister betrat den Söller, bot seinem bisherigen Beschützer einen ehrerbietigen guten Morgen und ersuchte ihn dann ohne weitere Vorrede um einen seiner alten, abgelegten Röcke. Auf die verwunderte Frage des alten Barons, wie er gerade jetzt auf dieses Verlangen falle, da er sich so lange mit dem braunen Mantelkragen beholfen habe, erwiderte der andere, daß letztere Bekleidung ihm als Menschen in seiner Zurückgezogenheit wohl erlaubt gewesen sei, sich aber nicht mehr ziemen wolle, wenn er, wie jetzt der Fall, in das öffentliche Leben wieder einzutreten gedenke. In diesem werde nur der Rock anerkannt. »Ich habe«, fuhr er fort, indem er einen Brief hervorzog, »gestern an meinen verehrten Vorgesetzten, den Herrn Schulrat Thomasius unter unumwundener Darlegung meiner früheren und jetzigen Gemütsverfassung geschrieben und ihn ersucht, mir einen Lehrposten von neuem anzuvertrauen, da ich mich vollkommen fähig fühle, denselben zu bekleiden, nur nicht auf einem Dorfe, wo jene furchtbare Sprachlehre eingeführt sei, sondern etwa weit hinten im Gebirge, wohin diese Geißel Gottes noch nicht Zugang gefunden habe. Darauf antwortet mir nun der würdige Mann mit dem rückgehenden Boten, daß ich, wenn er bei einer persönlichen Zusammenkunft sich von der Wahrheit meiner Behauptungen überzeuge, sogleich nach Hackelpfiffelsberg heimkehren könne, indem mein Nachfahr im Amte mit vorberührter Sprachlehre auszukommen gleichfalls unvermögend, vor kurzem habe abgesetzt werden müssen, weil er aus Kummer und Unruhe, zwar nicht wie ich in Einbildungen, jedoch in Trunk und unduldbare Ausschweifungen versunken sei. Unvonnöten sei es aber, mich vor der Sprachlehre selbst noch zu fürchten, da sie neuerdings bei einer abermaligen Umgestaltung des Schulplanes auch schon wieder abgeschafft worden sei. So bin ich denn also hier, mein gütiger Gönner und Schirmherr, Ihnen für alle mir erwiesene Großmut den empfundensten Dank zu sagen, Sie um die von mir erwähnte letzte Gabe anzusprechen, und mich Ihnen hierauf, jedoch hoffentlich nicht für ewig, gehorsamst zu empfehlen.«

Der alte Baron war vom Kopf bis zu den Füßen Erstaunen und sagte: »Seid Ihr denn, Herr Agesilaus -«

»Völlig bei mir, allerdings«, fiel der geheilte Schulmeister ein. - »Ich bitte Sie aber inständigst, mich fortan Agesel zu nennen, denn ein Agesel war ich, ein Agesel bin ich, und ein Agesel werde ich sein, und gewesen sein, dahier und in jener Ewigkeit.«

»Nein, das ist aber nicht auszuhalten!« rief der alte Baron und schlug zornig auf die Gerichtstafel. »Gestern lügt mir Münchhausen vor, er sei ein Bock gewesen und aus Verzweiflung wieder Mensch geworden, und heute wird in Wahrheit und vor meinen sichtlichen Augen ein Verrückter vernünftig. So darf man denn auf niemand sich verlassen und könnte über solche Streiche selbst närrisch werden, hätte man nicht so viele Geschäfte im Kopf.«

»Es schmerzt mich, daß ich meinem Gönner Kummer bereite«, sagte der Schulmeister sanft. »Das in Ihren Augen unangenehme Ereignis ist auf ganz natürlichem Wege herbeigeführt worden, und alle hochschätzbaren Bewohner dieses Schlosses haben daran ihren Teil.«

- »Wie? Natürlich? - Es ist unrecht von Euch, Schulmeister, wiederhole ich. Konntet Ihr nicht bleiben, was Ihr wart? Warum wollt Ihr nun fortlaufen? Wir lebten hier so einträchtiglich zusammen, man hatte sich aneinander gewöhnt, eines lehnte sich an das andere; nun kommt ein Riß in den schönen Kreis.«

»Wenn etwas meine Freude über mich und mein hergestelltes Selbst zu trüben vermag, so ist es das Gefühl, Sie verlassen zu müssen«, antwortete der Schulmeister. - »Gnädiger Herr, ich kann nicht dafür, daß ich meinen Verstand wieder bekommen habe. Mangel an Anerkennung ist daran schuld. Ich bin nie unter Ihnen anerkannt worden. Gleich zu Anfang, als ich die Ehre hatte, bei Ihnen zu sein, fand ich für meine Idee von spartanischer Abstammung und Lebensweise weder bei Ihnen noch bei dem gnädigen Fräulein Anklang oder Widerspruch, sondern man ließ mich und meinen Wurm gehen, als völlig unschädlich und keiner Beachtung würdig. Diese Kälte steigerte sich aber zur verletzendsten Gleichgültigkeit, als der Freiherr von Münchhausen, welchen Gott Ihnen gesegnen möge, Gast des Schlosses Schnick-Schnack-Schnurr wurde. Während er der Empfindsamkeit des Fräuleins schmeichelte, Ihren Geheimenratsbegriff abwechselnd hochstellte oder reizte, und während Sie beide fortfuhren, von Ihren ungewöhnlichen Gedanken gegenseitig aufmerkende Kunde zu nehmen, bekümmerten weder Sie noch der Freiherr sich um die Vorstellungen eines armen Dorfschulmeisters -«

»Ihr werdet ausfallend, Schulmeister!« rief der alte Baron. »Nach Eurer Folgerung wäre ich also selbst -«

»Mein Gönner verstehe mich«, unterbrach ihn der andere. »Die Sprache führt in ihrem Eigensinne derartige verfängliche Wendungen herbei, welche der Sprechende keineswegs beabsichtigte. Ich folgere nicht; meine einzige Absicht ist, mich Ihnen aufzuschließen. - Weder durch eingehendes Lob gehoben, noch durch Widerspruch gekräftigt, entbehrte sonach die Pflanze meines Wahnwitzes (um bildlich zu reden) des befruchtenden Regens sowohl, als des Sturmes, der ihre Wurzeln im Boden befestigt hätte. Sie mußte also nach und nach in solcher Dürre vertrocknen, welken und absterben. Dies schlich lange in mir umher; Sie würden, wenn Sie mich näher zu beobachten nicht unter Ihrer Würde gehalten hätten, gesehen haben, daß ich schon seit geraumer Zeit still und nachdenklich einherging. Ich fühlte die spartanische Idee in mir von Tage zu Tage bleicher und farbloser werden. Durch eine unumwundene Erklärung des Freiherrn von Münchhausen in vorgestriger Nacht wurde ihr völliges Verscheiden hervorgebracht, und seitdem bin ich der Dorfschulmeister Agesel von niederer deutscher Herkunft.

Anerkennung, mein Gönner, braucht jedermann. Der größte Held und der höchste Dichter bleiben ohne sie - und zeigte sie sich auch nur durch wütende Feindseligkeit - gewiß nicht Held und Dichter. Es ist töricht, wenn kalte Menschen einen in dieser Beziehung Darbenden auf sein eigenes Bewußtsein verweisen, weil gerade die besten und tüchtigsten Seelen immerdar an sich zweifeln, und von andern eine so große Meinung haben, daß sie in deren Schätzung ihr Gericht finden. Alle Eigenschaften können durch tote Gleichgültigkeit der Umgebungen zugrunde gerichtet werden.

Anerkennung, Herr Baron, braucht auch der Narr, wenn er Narr bleiben soll. Er will entweder gebunden und in die Zwangsjacke gesteckt, oder in seiner eigentümlichen närrischen Vorstellungsart angesprochen sein. Läßt man ihn aber laufen, so wird er bald vernünftig, er mag wollen oder nicht.«

»Schulmeister«, rief der alte Baron, »Ihr sprecht da große Dinge aus. Demnach wäre alle Unvernunft -«

»... sehr bald zu heilen, ja vielleicht schon ganz in der Welt ausgegangen, wenn nicht darauf geachtet würde«, sagte der Schulmeister. - »Ein Satz, der nicht nur im Privatleben ernstlich erwogen, sondern auch Fürsten und Gewalthabern zum Nachdenken anempfohlen zu werden verdient. - Der Lärmen und das Geschrei um widersinnige Vorstellungen und Handlungen rührt auch meistenteils nicht aus einem Widerwillen gegen sie, sondern daher, daß jeder Mensch in sich den Narren fühlt, und ihn liebt und zu erhalten wünscht. Er macht daher über den Narren seines Nächsten so großes Aufheben, oder richtiger zu reden: er widmet ihm Anerkennung, weil er bei sich denkt: ›Was du willst, daß dir die Leute tun sollen, das tue ihnen zuerst.‹«

Der alte Baron verwunderte sich jetzt wie schon früher einmal über die Weisheit des Schulmeisters, die ihm geblieben war, obgleich er wieder den Sinn eines gewöhnlichen Menschen angelegt hatte. Als er etwas der Art aussprach, meinte der Schulmeister, dieser Tiefsinn, der ihm allerdings nicht recht eigne, möge ihm wohl noch als Nachübel seines Zustandes anhaften, indessen hoffe er auch davon bald befreit und gewöhnlicher Mensch in der vollsten Bedeutung des Wortes zu werden.

Da der Schloßherr sah, daß es seinem Gaste voller Ernst war, zu scheiden, so erlaubte er ihm, von mehreren abgelegten Röcken, welche an den Pflöcken in der Gerichtsstube umherhingen, sich einen auszuwählen. Der Schulmeister war lange unschlüssig, ob er einen leberfarbenen Frack oder eine veilchenblaue Pekesche mit Sammetvorstößen nehmen sollte, entschied sich aber endlich doch für die Pekesche, weil sie den Regen besser abhielt, als der Frack.

Als er sie eben vom Pflocke nahm, trat Karl Buttervogel mit einer ängstlichen Miene in die Gerichtsstube. »Gnädiger Herr«, sagte er, »wie ich jetzt unten durch die Stube linker Hand, worin Sie Ihre Familienurkunden aufbewahren, ging, sah ich, daß die Wand gegenüber der Giebelwand einen großen Spalt und Riß bekommen hat, woraus ich abnehme, daß die Giebelwand noch weiter ausgewichen ist, als früher, und wahrscheinlich anfängt, das Dach mitzunehmen.«

»Ganz wohl«, versetzte der alte Baron. »Ich wollte nur, ein Teil des Hauses stürzte ein, ohne daß eine merkliche Gefahr für uns andere daraus entstände, denn dann wäre dein Herr gezwungen, Ernst zu machen, und vorläufig für die hiesigen notwendigsten Reparaturen zu sorgen.«

»Ja, aber bis daß die Sache zustande kommt, möchte ich wohl ausziehen«, sprach der Bediente. »Und ich wollte den gnädigen Herrn gebeten haben, mir das Logis auf dem Schneckenberge zu geben, da der Herr Schulmeister es nun geleert hat, und es wäre doch schade, wenn die angenehme Sommerwohnung nicht benutzt würde, und mein bisheriges Loch liegt dicht neben der Wand mit dem Sprunge, und außerdem liebe ich die freie Luft und eine Aussicht ins Grüne, und mag gerne mitunter vor mich sein, und auch das gnädige Fräulein kann mich dort ungestörter sprechen, und wenn man seine Wurst nicht mehr in Ruhe essen darf, so ist alles häusliche Vergnügen zum Henker, und hier oben haben nun der gnädige Herr Ihr Gerichtsregiment und -«

»Schweige, schweige!« rief der alte Baron. »Bei dir wachsen wirklich, wie ich in einer englischen Komödie las, die Gründe gemein wie die Brombeeren; die Hälfte von dem, was du sagtest, genügt. Du bist ein Poltron, und denkst nur, wie ihr geringen Leute alle zu tun pflegt, an dein teures Leben. Schlafe ich nicht auch in der Nähe jener geborstenen Wand? Aber ziehe nur auf den Schneckenberg, es ist mir selbst lieb, wenn jemand dort wohnen bleibt, der doch wenigstens halb und halb zu uns gehört. Du sollst mir ein Trost für den Schulmeister sein.«

Dieser bereitete sich zum Abgehen. Der alte Schloßherr reichte ihm nicht ohne Rührung die Hand, welche der Schulmeister mit dankbaren Tränen küßte. »Gott lohne Ihnen alles Gute, was Sie mir erzeigt haben!« rief er. »Er segne Ihre Tage und schenke Gedeihen allem, was Sie vornehmen!«

»Schulmeister«, sagte der Alte und legte ihm feierlich die Hand auf die Schulter; »wenn ich mir es reiflich überlege, so geht Ihr im rechten Augenblicke. Große Umgestaltungen der Lebensverhältnisse sind immer zerstörerisch für den bisherigen Umgang. Das Schloß wird der Schauplatz wichtiger Unternehmungen werden, in denen Ihr keine Stelle fändet und angesichts derer Ihr Euch unbehaglich fühlen würdet.

Unter uns - behaltet es aber bei Euch: An dem Geheimeratsposten liegt mir so viel nicht mehr. Wißt Ihr, was Luft ist? - Wenn Euer Schulhaus baufällig werden sollte, so eröffnet mir die Sache vertrauensvoll, es soll Rat geschafft werden für Material zum selbstkostenden Preise. Unglaublich ist, was wir hier vorhaben, und dennoch ist es wahr, denn ein Kavalier hat es dem andern zugesichert, und aus Unrat machen sie jetzt Licht und aus dem, was man sonst weggoß, Zucker. - Noch eins; Euer Weg führt Euch nahe am Oberhofe vorbei, erkundigt Euch doch dort, ob sie etwas von der Lisbeth wissen, sie wollte bei dem Hofschulzen vorsprechen. Mich verlangt von Herzen nach dem Kinde, besonders jetzt, wo ich ihr die Freude machen kann, ihr eine gesicherte Zukunft zu versprechen.«


Vorige Seite Titelseite Nächste Seite