Drittes Kapitel

Die Geschichte eines Geächteten

Der Patriotenkaspar hatte sich, nachdem er vom Rothaarigen verabschiedet worden war, noch immer in der Nähe des Oberhofes umhergetrieben, um mit dem alten Schmitz zu sprechen. Denn zu diesem hatte der gemiedene und geringgeschätzte Mensch eine Art von Verhältnis. Der Sammler hatte ihm manchen Groschen geschenkt und sah ihn nicht ungern. Weil der Patriotenkaspar überall umherstrich und -kroch, so war es ihm möglich gewesen, dem alten Raritätenfreunde hin und wieder eine nützliche Nachweisung zu erteilen, oder ihm auch wohl selbst irgendein seltsam geformtes Schnitzwerk zuzubringen. Der alte Sammler war daher auch der einzige, bei dessen Anblick in die arme und elende Brust dieses jämmerlichen Bettlers ein Gefühl drang, daß er doch nicht ganz und gar auf dieser Gotteswelt ein Ausgestoßener sei. Für den alten Schmitz wäre er durchs Feuer gegangen, er, der sonst am vergnügtesten lachte, wenn anderen etwas recht Übles begegnet war.

Jetzt lauschte er hinter einer Wallhecke an einem Felde des Oberhofes, ob er seinen alten Gönner nicht allein ansichtig werden möchte. Als er ihn vorher in der Gesellschaft des Hofschulzen vorbeiwandern gesehen, hatte er nicht gewagt, ihn anzureden. Entdecken wollte er ihm etwas vorlängst Geschehenes, und ihn um eine sonderbare Hülfe ersuchen. Nach langem Harren war ihm endlich die rechte Stunde dazu gekommen. - »Nun ich meine Lust gebüßt habe an dem alten Bluthunde und er den Tort hoffentlich nicht verwindet, den ich ihm angetan - denn es liegt wohl versteckt, tief versteckt, und das Dach wird er darnach nicht abdecken lassen - nun will ich auch mein Recht erleiden, wie Recht ist«, sagte er hinter seiner Wallhecke.

Der alte Schmitz kam vom Oberhofe zurück und ging vorüber. Der Patriotenkaspar begrüßte ihn und sagte: »Herr Schmitz, ich habe hier auf Sie gewartet, weil ich Ihnen etwas offenbaren wollte.«

So verdrießlich der Sammler war; diese Anrede, in welcher er nur die Ankündigung eines Fundes für sein Kabinett zu hören glaubte, machte ihn aufmerksam. Er stand still und fragte: »Was ist es denn, Kaspar?« - »Nein«, versetzte der Spielmann, indem er seinen Leierkasten über den Rücken warf, »hier kann es nicht geschehen, sondern an Ort und Stelle muß es veroffenbart werden.«

Er ging dem Sammler auf dem Wege, der nach dem Hofe des Schwiegersohnes führte, voran, bog jedoch einige hundert Schritte von diesem Hofe in einen Seitenpfad ein, der zwischen Erdwänden vertieft unter hohen Rüstern dunkel fortlief. Nicht weit hinein kreuzte den ersten Pfad ein zweiter. Er war noch dunkler, weil ihn noch höhere Bäume überschatteten.

An diesem Kreuzwege, der einsam und schauerlich zwischen den Erdwällen, Rüstern, zwischen Brombeergebüsch, Nachtschatten und Schierling lag, setzte der Spielmann seinen Leierkasten ab, bog einen Brombeerbusch zurück, so daß ein großer Stein entblößt wurde, kniete vor dem Steine nieder und sagte dann, halbrückwärts nach dem Sammler gewendet: »Hier war's.«

Der Sammler, welcher glaubte, der Patriotenkaspar werde dort etwas für ihn aus der Erde scharren, trat dicht zu ihm hin, senkte seinen Kopf, so daß er fast die Schulter des Knienden berührte und fragte eifrig: »Was? Was?«

Der Patriotenkaspar sah ihm, mit dem Auge unstet zwinkernd in das Gesicht und sagte heiser und gedämpft: »Hier habe ich einstmals des Hofschulzen seinen Sohn, den Fritze, totgeschlagen.«

Ein Knabe, der von einem Strauche eben eine leckere Beere pflücken will und dem unversehens unter dem Strauche eine Natter mit funkelnden Augen entgegenzischt, kann nicht erschreckter zurückfahren, als der alte Schmitz bei dieser Eröffnung vor dem Patriotenkaspar zurückfuhr. Den Blick starr auf ihn heftend und rückwärts vor ihm weichend, als fürchte er, einem geständigen Mörder seinen Rücken preiszugeben, entfernte er sich bis in die entgegengesetzte Ecke des Kreuzweges. Dort blieb er stehen, den Patriotenkaspar immer in das Auge gefaßt, unschlüssig, ob er nun sich wenden, so fortgehen und dadurch den gefährlichen Menschen aus seinem beobachtenden Blicke verlieren sollte.

Der Patriotenkaspar seinerseits richtete sich an dem Steine empor. Als er bemerkte, welchen Eindruck seine Worte auf den einzigen Gönner machten, den er besaß, nahm sein Auge einen wehmütigen Glanz an, und in der verwüsteten Stimme zitterte etwas wie Trauer, als er so sprach: »Ach, mein lieber Herr Schmitz, warum fürchten Sie sich doch vor mir? Ich bin ja ein armer, zerlumpter, von Hunger entkräfteter Mensch. Sehen Sie, da kehre ich meine Taschen um, und es ist nichts darin, weder Messer, noch Hammer noch sonst etwas, womit ich Sie erstechen oder erschlagen könnte. Wenn Sie sich aber vor meinen Fäusten fürchten, so will ich da mit meinem Halstuche sie binden, so daß Sie ganz sicher sein können, daß Ihnen kein Leid von mir widerfährt. Ich wollte Ihnen bloß die alte Geschichte erzählen und Sie um eine Güte und Gefälligkeit bitten.«

Der Sammler, der sich noch immer nicht zu fassen wußte, sagte: »Ich glaube, Ihr seid betrunken, Kaspar.«

»Nein, Herr Schmitz, wüßte nicht, woher das kommen sollte, indem ich wenig genossen habe«, versetzte der Patriotenkaspar. »Ich wiederhole Ihnen in der Nüchternheit: Hier habe ich des Hofschulzen seinen Fritze totgeschlagen. Es ist aber lange her und Gras ist darüber gewachsen. Indessen will ich mein Recht über diese Tat haben, denn nunmehr ist die Stunde dazu gekommen, nachdem ich meinem Feinde und Überwältiger den Tort getan habe, den er verdiente, und dazu suche ich Ihren Rat und Beistand, weil Sie ein Schriftgelehrter sind und mir mitunter eine Gütigkeit erwiesen haben.«

Der klagende und sanfte Ton, womit der Patriotenkaspar dieses vorbrachte, flößte dem alten Schmitz Mut ein. Neugierig, wie er von Natur war, empfand er ein Verlangen nach den Dingen, die einen Menschen bewegen konnten, über einen verschollenen Frevel zum Ankläger wider sich zu werden. Der Patriotenkaspar schwieg aber, senkte seinen Blick und schien eine Aufmunterung erwarten zu wollen. Endlich sagte der Sammler: »Ich habe wohl vor Jahren davon gehört, daß ein Sohn des Hofschulzen plötzlich zu Tode gekommen sei; es hieß aber damals, er sei mit der Stirn auf einen Stein aufgeschlagen.«

»Ja, so hieß es damals«, versetzte der Patriotenkaspar. »Mit der Stirn schlug er allerdings auf einen Stein, und zwar auf diesen da, neben welchem ich stehe, allein nicht von selbst, sondern von einem anderen mit der Faust gegen den Stein gestoßen, und wer ihn so lange mit der Faust gegen den Stein stieß, bis die Hirnschale zerbarst, das war ich.«

»Also hatte doch jenes zweite alte Gerücht, was auch im stillen hie und da umherlief, recht!« sagte der Sammler. »Aber wie kam es, daß die Geschichte nicht angezeigt und den Gerichten überwiesen wurde?«

»Das hängt mit diesem meinem ausgeschlagenen Auge, mit des Hofschulzen seinem Hochmut und mit dem Freistuhl da droben an jenem Berge zusammen«, sagte der Spielmann.

Der Sammler versetzte: »Bringt Eure Geschichte ordentlich und im Zusammenhange vor, Kaspar. Denn aus diesen zerstückelten Reden kann sich niemand vernehmen.«

Der Patriotenkaspar erzählte hierauf an dem Mordsteine stehend, dem alten Schmitz, welcher ihm gegenüber an der anderen Seite des Kreuzweges stehenblieb, folgendes:

»Herr Schmitz, in den Geschichten, die ich da auf meinem Leierkasten feil habe, kommen mitunter auch Sachen vor von Leuten, die ihresgleichen ächteten und von sich ausstießen. Als zum Beispiel: einen trieben sie vor diesem aus, weil er gar zu gerecht war, und ein General wurde zu alten Zeiten verbannt, weil sie ihm nachsagten, er mache den armen Leuten das Brot teuer, und dann gab es auch wieder einmal einen Herzog, der geächtet wurde, weil er seinen Freund nicht hatte verlassen wollen. Diese armen elendigen Verbannten führten ein jämmerliches Leben. Meistenteils ist zwar dergleichen nur bei großen Herren und vornehmen Standespersonen vorgekommen, aber auch unter dem Bauerstande kann sich die Sache zutragen, und mit mir hat sie sich begeben.

Herr Schmitz, ich war zu meiner Zeit ein flinker, anstelliger Kerl und hatte mehr Witz als aller der Bauerpöbel hier herum zusammengenommen. Sah auch recht gut aus -«

»Ei«, fiel der Sammler ein, »Ihr habt ja stets eine hohe Schulter gehabt, Kaspar.«

»Das tut nichts«, erwiderte der Patriotenkaspar, »demohnerachtet kann man doch schön aussehen. - Sah also recht gut aus, ehe ich das Auge verlor und in die Hungersnot versank, hatte was erlebt draußen als junger Mensch. Denn, wie Sie wissen, war ich dabei, als die alte Orange in Schonhoven vermolestiert wurde und kam auch nach Gorkum und Nieuwport mit den Patrioten dazumal. Ich schor mich den Teufel um den Krimskrams hier unter den Bauerkerls, sagt' ihnen oft die Wahrheit über ihre Einfalt und es setzte schon gleich zu Anfang viel Streit und Wortwechselung mit ihnen. Es gab nie keinen Vertrag mit ihnen recht, denn sie konnten es mir nicht verzeihen, daß ich klüger war als sie und gewitzter. Also gut; wie ich meine vollen Jahre erreicht hatte, trat ich das Kolonat an, denn Sie müssen wissen, daß der Windkotten uns gehörte, mir und meiner Familie; ein recht hübsches Erb mit Feld, Baumgarten und Wiesenwachs, was nachgehends freilich parzelliert worden ist, und das Haus hat der Jude abbrechen lassen, der das Ganze zuletzt kaufte, so daß ich selbst kaum noch weiß, wo die Stätte gelegen hat.

Wie ich nun so Kolon und Hofesbesitzer war, da ging der rechte Verdruß erst an, Herr Schmitz. Denn ich konnte es gar nicht vertragen, daß die Großen besser sein wollten, als wir Kleinen und daß so ein Hofschulze es wie eine Gnade ansah, wenn er mit einem Kötter trank. Denn ich dachte: ›Ich baue so gut mein Feld, wie Ihr, was habt Ihr denn also voraus?‹ Ich setzte mich also dreist zu ihnen, wenn ich im Kruge mit ihnen zusammentraf, ich sprach bei ihnen ungefordert ein. Wenn ich an einem der Großen vorüberging, tat ich so als müsse er mich zuerst grüßen, und meinte, es wohl mit ihnen durchsetzen zu können. Aber, Herr Schmitz, man setzt dergleichen mit den Menschen nicht durch, denn man ist immer nur einer und sie sind viele, und das hält zusammen wie Pech und Schwefel. Grob behandelten sie mich, wenn ich sie besuchte, im Kruge rückten sie von mir weg, und wollte ich von ihnen auf Landstraße und Nachbarweg zuerst gegrüßt sein, so lachten sie mir unter die Nase und keiner lupfte den Hut. Von allen aber war der Hofschulze im Oberhofe der Gröbste und Stolzeste und Schlimmste; denn er ist immer unmenschlich reich gewesen und hat großes Ansehen von jeher gehabt.

Also, Herr Schmitz, den Hofschulzen nahm ich mir apart aufs Korn und dachte: Du sollst mir daran glauben. - Er hatte aber eine Tochter aus erster Ehe, denn drei Frauen hat der alte Kerl begraben lassen und zum letzten Mal, woraus nun die ist, die gestern Hochzeit machte, freite er, wie er schon ziemlich in den Jahren war. Die Tochter sah recht gut aus, und ich war ihr auch recht gut, aber die Hauptsache, daß ich mich an sie machte, war doch der Stolz, und weil ich mir einbildete, ich könne alles durchsetzen, was ich wolle, und werde das Mädchen schon 'rumkriegen, wenn ich es nur recht anzufangen wisse. Ich hatte schon gemerkt, daß sie auf Tänzen und Kindelbieren nach mir hinhörte, wenn ich so erzählte von meinen Fahrten, und darauf baute ich meinen Ratschlag und sah sie unaufhörlich starr an, wenn ich ihr nahekam, so daß sie nicht wußte, wo sie die Augen lassen sollte. Fing auch an, mich über mein Vermögen schön zu kleiden, das beste lichtblaue Tuch mußte ich zum Rocke haben und ließ mir an die Jacken silberne Knöpfe setzen, die kein anderer von den Kolonen hatte, wodurch ich in Schulden geriet. Eines Sonntages geht die Magdalis an mir vorüber, wie ich besonders herausgeputzt war und sagt: ›Ihr zieht Euch doch an, wie keiner sonst, Kaspar.‹ - ›Das geschieht ganz allein um Euch, Magdalis‹, antwortete ich, ›und wenn ich all mein Hab und Gut zusetzte, so wollte ich mich noch schöner kleiden, wofern es Euch nur gefiele.‹ - Sie wurde rot und damit hatte ich sie weg. Denn wenn man den Mädchen sagt, daß man um ihretwillen einen neuen Rock angezogen hat, so sind sie kaputt.

Also die Sache kam in Gang und ich will Sie damit nicht aufhalten, Herr Schmitz. Genug, die Magdalis gab zu, daß ich an ihr karessieren durft', und war alles bald zwischen uns in Richtigkeit, wie es die Ordnung ist unter Liebesleuten. Auch die Magdalis dacht' in ihrer Dummheit, daß der Vater, weil es einmal so weit gekommen, werd' ein Auge zudrücken müssen. Deshalb nahmen wir beiden Gimpel die Absprache zusammen, daß ich um sie anhalten solle. - Aber - da kam ich schön an, Herr Schmitz, wie ich die Sache vortrug bei dem Alten. Denn selbst mußte ich sie vortragen; ein Freiwerber wollte sich dazu nicht verstehen. In meinem Leben ist mir kein grimmigerer Mensch vorgekommen, als der Hofschulze, wie er sich benahm, da ich meinen Spruch herausgesagt hatte. Ich wurde mit einem solchen Zorn und Hohn angelassen, daß mir die Knochen bebten vor Ärgernis. Es fehlte nur, daß er mich fortpeitschen ließ, und noch heut am Tage weiß ich nicht, wie ich vom Hofe gekommen bin.

Gut, dachte ich, willst du sie mir nicht zur Frau geben, so soll sie - - Der Alte hielt sie eingesperrt und sein Sohn, der Fritze, auch aus der ersten Ehe, paßte mir auf. Aber man kann die Leute schon belauern, wenn man nur will. Was nicht bei Tage geht, das geht bei Nacht, und darf man nicht zur Tür 'rein, so steigt man über die Mauer. Ich war denn also alle Nächte, die Gott werden ließ, bei der Magdalis, zu der ich durch das Fenster gelangte. - Doch sie kamen dahinter, Herr Schmitz, der Alte und sein Sohn. Und nun machten sie zusammen einen Plan auf mich, mir aufzulauern und mir das Leben zu nehmen.«

»Das ist nicht wahr«, unterbrach hier eifrig der alte Schmitz die Erzählung. »Der Hofschulze ist ein eigensinniger Mann, aber Schlechtigkeiten hat er nie getrieben.«


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