Anhang

Zwei Briefe

I.

»Sie wollen mir, lieber Herr Buchbinder, wie ein Londoner Publikum, das Nachspiel zu der Tragödie, die einen heiteren Ausgang gewann, nicht erlassen. Sie fragen mich nach unterschiedlichen Dingen und Personen, und da Sie mir während der Arbeit rechtschaffen beigestanden haben, teils durch Heften des Manuskripts, teils durch guten Rat, so will ich Ihnen auch darin gern, inwieweit ich kann, gefällig sein.

Vor allen Dingen wünschen Sie zu wissen, was der Arzt zu der Vermählung gesagt habe. Herr Buchbinder, Sie sind ein schlauer Vogel. Der Doktor kam ungefähr eine Stunde nach der Trauung in das Haus und fand alles in Entzücken und Tränen. Er war aber gar nicht entzückt und vergoß auch keine Träne. Sondern bitterböse war er und rief: ›Verdammt, daß der Humor immer wörtlich genommen wird! Allerdings war der Graf in großer Gefahr, und noch jetzt ist ein Rückfall zu besorgen, wenn man ihn nicht vor Gemütsbewegungen in acht nimmt.‹ Er hatte hierauf mit der Baronesse ein Gespräch unter vier Augen. Infolge desselben wußte die junge Dame die neue Gräfin zu bestimmen, daß sie noch an ihrem Hochzeittage mit ihr abreiste, und so trennte sich das Paar wenige Stunden nach seiner ewigen Vereinigung unter heißen Tränen, aber mit freiem und würdigem Entschlusse. Nachdem Clelia ihren entronnenen Gemahl aus dem Osnabrückschen sich wiedergeholt hatte, reisten sie zusammen durch Holland, Belgien, Frankreich, England bis nach Schottland. Die junge Frau oder Braut sah vieles, merkte auf alles und wechselte mit ihrem Gemahle oder Bräutigam die schönsten Briefe. Man sah ihr nirgend an, daß sie nur ein Findling war, sondern sie betrug sich wie eine geborene Gräfin. In England wurde sie der Königin vorgestellt, diese küßte sie auf die Wange und die Frau von Lehtzen nannte sie ›my dear Eliza‹.

Endlich nach sechs oder sieben Monaten schlug die Stunde der Heimkehr. Der Graf, nun ganz wiederhergestellt, kam den Reisenden bis Rotterdam entgegen und führte sein bräutliches Weib in großer Wonne auf das hohe Schloß am Neckar.

Der alte Baron, über welchen sich bei dem Einsturze des Schlosses schützend ein Stück Dach gespreitet hatte, wurde dadurch vor dem Zerquetschen bewahrt. Er schlug nur mit der Stirn auf einen harten Körper, einen Stein oder Balken, auf und trug eine große Brausche davon. Einige Tage lag er betäubt, als er aber wieder zukehrte, war er von allen und jeglichen Einbildungen geheilt. Entweder muß daher an ihm das Dogma des Dorfchirurgen vom Schock und Gegenschock sich bewährt haben, oder die fixen Ideen sind ihm früher von einem Knoten im Hirne entstanden, den ihm die Erschütterung des Falles gesprengt hat. Genug, er war auf den Kopf gefallen und dadurch zum Verstande gekommen.

Einen großen Schmerz hatte der alte Mann über die Gefühllosigkeit seiner Pflegetochter, wie er ihr Benehmen nannte. Er wollte sie auch deshalb gar nicht sehen, als sie ihn endlich besuchte, und sie mußte, nachdem sie drei Tage inständig bittend verweilt hatte, unverrichteter Sache abreisen. Jede Einladung nach dem Schlosse am Neckar hat er beharrlich abgelehnt. Die jungen Gatten sorgten aber dennoch für ihn durch einen seiner alten Freunde, der von ihnen ins Vertrauen gezogen worden ist. Dieser zahlte ihm nämlich reichliche Summen aus unter dem Vorwande, es seien Rückstände von Zinsen, die sein ehemaliger Rentmeister nachlässigerweise uneingefordert gelassen habe. Der alte Baron wohnt bei diesem Freunde zur Miete, hat sich wieder ein Jagdgewehr angeschafft, schießt Rehe, so viele er treffen kann, trinkt Rheinwein nach Bedürfnis und lebt ganz der Gegenwart.

Der Schulmeister Agesel ließ in den ›Rheinisch-westfälischen Anzeiger‹ einrücken, er erkläre jeden, der ihn nicht für einen gewöhnlichen Menschen im vollen Sinne des Worts halte, für einen Schurken, worauf der Küster aus Furcht, insultiert zu werden, seine andere Furcht nach und nach bemeistern gelernt hat.

In Dünkelblasenheim steht alles beim alten. Nationallied ist noch immer der Gesang der Fische aus Wielands Märchen:

›Hätten's gern besser
Statt immer schlimmer;
Und raten immer,
Und treffen's nie.‹

Münchhausen wird in den höchsten Kreisen der Gesellschaft ganz außerordentlich vermißt.

Von dem Verschwinden dieses wunderbaren Mannes ist der Schleier nie gelüftet worden. Natürlich muß die Krypte einen geheimen Ausgang gehabt haben, wer nur wüßte, wo? - Eine ganz sonderbare Nachricht verbreitete sich unlängst. Ein Reisender wollte nämlich in einem kleinen Gebirgsstädtchen im Hohenzollern-Hechingenschen einen Mann, genau aussehend wie unser Held, mit einer ältlichen Dame lustwandeln gesehen haben. Auf Befragen hatte man dem Reisenden gesagt, jener Mann heiße Münch, genannt Hausen, lebe vom Ackerbau, sei ein nützlicher Staatsbürger, guter Gatte und würde ohne Zweifel ein ebenso guter Vater werden, wenn seine Frau noch Kinder bekommen könnte.

Wäre dieser unschädliche Acker- und Staatsbürger wirklich der Freiherr von Münchhausen, so hätte sich in unserer lehrreichen Geschichte gerade das Gegenteil von dem ereignet, was in anderen Geschichten vorzukommen pflegt. Denn in denen werden meistens alle Vernünftigen toll, in der unsrigen aber wären durch tüchtige Eingriffe des Lebens, sei es mittelst Nichtachtens auf die Schrolle, sei es mittelst Fallens auf den Kopf, oder mittelst Wiedererscheinens einer alten Geliebten, alle Tollen oder Halbtollen vernünftig geworden. Gewiß ein tröstlicher Ausgang!

Mit Wehmut wende ich mich zu Ihrer Frage nach Karl Buttervogel. Dieser praktische Charakter ist leider an seiner einzigen Schwäche untergegangen, er starb nämlich am Übermaß von Gründen. Das ging so zu. Bald nach dem Verlassen des Münchhausenschen Dienstes fand er eine neue Herrschaft, bei welcher er auch mit Pferden umgehen mußte, d. h. er wurde zugleich Kutscher. Einstmals fuhr er nun in einem holprichten Wege so schlecht, daß ihn sein Herr heftig anließ und ihn fragte, warum er nicht im Geleise bleibe? Karl hätte hierauf einfach antworten sollen, daß er gen Himmel, statt auf die Straße gesehen habe. Er wandte aber den Kopf rückwärts und trug dem Herrn unaufhaltsam eine Fülle von Gründen vor. Da schlug der Wagen in ein tiefes Loch, Karl stürzte vom Bock, fiel vor das Rad, dieses ging über ihn weg und jämmerlich kam er um. An seinem Grabe weint Rieke aus Stuttgart, die er geheiratet hatte, mit zwei unmündigen Kindern. Ich weiß, daß auch Sie seinem Andenken eine Träne zollen werden.

Was das optische Glas zu lesen gegeben, kann ich Ihnen nicht sagen. Es liegt unter den Trümmern des Schlosses, die nicht hinweggeräumt worden sind.

Habe ich Sie nun zufriedengestellt, lieber Herr Buchbinder? Der ich mit aller Achtung u.s.w.

 

N. S.

Beinahe hätte ich den Oberamtmann vergessen. Eine Geschichte mit so vielen Personen ist wie ein Wirtshaus voll Gäste. Bei der pünktlichen Aufmerksamkeit wird doch immer der und jener sitzengelassen. Er kam aus dem gewerbfleißigen Wuppertale zurück, schon sehr verstimmt, denn von der Assise hatte er nichts zu sehen bekommen. Den ersten Tag seines Dortseins konnte er nämlich wegen Überfüllung des Saales mit Menschen nicht hinein, am zweiten Tage wurde eine Sache bei verschlossenen Türen verhandelt und am dritten eine ausgesetzt, weil der Hauptzeuge fehlte; womit die damalige Quartalsitzung schloß.

Als er nun gar seinen Freund, den er brautlos erwartete, vermählt wiederfinden mußte, kannte sein Zorn keine Grenzen. Aber die Ehe saß wirklich wie ein guter Riegel fest und spottete jeglicher Bemühung, sie hinwegzuschieben. Er reiste auf der Stelle ab, hat sich in den Schwarzwald vergraben und nichts mehr von sich hören lassen. Sein Glaube an die Menschheit soll sehr gesunken sein und Clelien nennt er, wie man sagt, nur Armiden, die listige Verführerin. Oswald hofft indessen doch noch ihn auszusöhnen.«

II.

»Du fragst mich nicht nach den komischen Leuten, obgleich du, lustig wie ein Knabe, an ihnen dein Ergötzen hattest und dich selbst nicht scheutest, über ›den gemeinsten aller gemeinen Bedienten‹, wie du ihn nanntest, zu lachen. Du fragst mich nach Oswald und Lisbeth. Ihre Geschichte sei ja noch nicht aus, sagst du.

Nein, ihre Geschichte ist auch nicht aus, sie hat erst begonnen. Ich hätte nicht solchen Anteil beiden gewidmet, wenn sie zu denen gehörten, deren Blüte das Läuten der Hochzeitglocken zu Grabe läutet. Die Geschichte ihres Herzens und innersten Geistes nahm von dem Segen des Priesters den Ausgang.

Ein zu frühes Beieinandersein der Liebenden hat etwas Ungeschicktes. Das Leben ist nun einmal roh, es trennt mehr, als daß es verbinde. Der Tag wirft viel Schaum und trübe Flut zwischen zwei Herzen, die noch nicht gelernt hatten und auch unter solchen Umständen nicht lernen können, miteinander vertraut zu sein - denn auch das echte Vertrauen will gelernt werden. Daher kommt es denn, daß die meisten einander zu fremd und doch zu nahe in den Ehestand treten. Und so entsteht die trübe und unreine Gestalt vieler Ehen. In manchem Zufälligen hatten die Verbundenen das Wesenhafte zu finden gewähnt, das nimmt Abschied, und nun klagen sie über bittere Enttäuschungen, wo sie im Gegenteil sich vielleicht der Entfaltung eines Wesenhaftesten zu erfreuen hätten.

Unser Paar wurde durch anscheinendes Mißgeschick über diese gefährliche Sandbank des Lebens hinübergespült. Draußen, in Wald und Feld, außer dem Pferch der Zivilisation hatten sie einander gefunden, hatten einander vor aller Bekanntschaft geliebt, der Blitz der Ahnung hatte dem einen des andern ewiges Sein und Werden erleuchtet. Aber nun galt es, den kostbaren Gewinn für die Erde zu festigen. An dem Tage ihres Bundes wurden sie getrennt! Trauriges Los, glückseliges Los! In Sehnsucht und Wehmut, in zartem Harren und Darben lernte nun eines des andern Tiefstes aus; das Feinste und Wahrste der Seelen, der Blütenstaub des inneren Menschen wehte hinüber und herüber. Die Leidenschaft konnte nicht aufkommen, denn die Hoffnung, fest geankert auf dem Grunde des Sakraments, hielt sie mit sanfter Hand nieder, die Ferne zeigte jedem die zweite teure Gestalt in verklärten Umrissen.

Daher kannten sie einander, als er ihr bei Rotterdam aus dem Boote half, aber sie kannten einander in der edelsten und köstlichsten Weise. Den ewigen Menschen hatte eines in dem andern erschauen gelernt, nicht den zufälligen. Die Begeisterung des ersten Liebesrausches hatte die süßeste und zugleich die ernsteste hohe Schule durchgemacht. In allen Tiefen des Bewußtseins hatte sich das Aufjauchzen des Gefühls als hohe Vernunft wiedergefunden.

Und nun haben sie einen Glauben, den nichts erschüttern kann. Wenn der Tag seinen Schaum heranspült und das Bild des Liebsten verunreinigt; wenn die Laune kommt und das Sonderbare, Dumpfe, so sprechen sie: Das ist nicht Oswald, das ist nicht Lisbeth, das ist der Zufall. Eines ist für das andere nur da in der schönen Figur jener akademischen Zeit ihrer Liebe.

Nach allen Seiten hin erbaut sie die Ehe, die den Namen einer heiligen verdient. Denn sie haben einander einen Doppelschwur geleistet ohne Worte. Eins wollen sie sein und bleiben, aber eins im Leben und in der Welt, nicht sich versteckend vor Leben und Welt. Mit Liebe wollen sie den stumpfen Widerstand der Materie überwinden. Der ist groß. Denn ihr Schritt hat freilich in alle Verhältnisse den tiefsten Riß gemacht. Man läßt Lisbeths Liebenswürdigkeit zwar gelten, aber das Findelkind bleibt ihnen doch ein Findelkind. Die Bekannten haben gestutzt, die Freunde getrauert, die Familie ist außer sich gewesen, habsüchtige Vettern schielten froh nach der Zukunft. Zwischen diesen dürren Klippen, in solcher Wildnis ist ihnen die Aufgabe gesetzt, den Garten eines schönen, fruchttragenden Lebens auszusäen. Daher hat denn ihre Geschichte nur erst begonnen. Überallhin müssen sie sich aufstellen, jeden Schatz aus sich zutage fördern, sie müssen sich vollenden für die Welt und für die Zwecke der Welt, um das Recht des Herzens darzulegen.

›Eine Liebesgeschichte und nichts weiter!‹ werden manche sagen. Wenn es nichts weiter wurde, so ist daran meine geringe Fähigkeit, nicht mein Sinn schuld. Mein Sinn stand darauf, eine Geschichte der Liebe nachzuerzählen, der Liebe zu folgen bis zu dem Punkte, wo sie den Menschen für Haus und Land, für Zeit und Mitwelt reif, mündig, wirksam zu machen beginnt.

Deine Seele hat manchen Gedanken von mir in sich empfangen, du hast ihn gepflegt und mir schöner zurückgegeben. Von dir vernahm ich zuweilen erst, was ich eigentlich gedacht hatte. Höre denn auch jetzt, was meine rauhe und ungestüme Lippe dir zustammelt; pflege es in einem feinen, guten Gemüte.

Unsere Zeit ist groß, der Wunder voll, fruchtbar und guter Hoffnung. Aber irr und wirr taumelt sie noch oft hin und her, weiß die Stege nicht und plaudert wie im Traume. Das rührt daher, weil das Herz der Menschheit noch nicht wieder recht aufgewacht ist. Denn nicht abhanden kam der Menschheit das Herz, es ward nur müde und schlief etwas ein. Im Herzen müssen sich die Menschen erst wieder fühlen lernen, um den neuen Weg zu erkennen, den die Geschlechter der Erde wandeln sollen, denn vom Herzen ist alles Größte auf Erden ausgeschritten. Moses sah an das Elend seines Volkes und führete es hinweg; Christus wollte sein göttliches Licht nicht für sich behalten, sondern in überströmender Liebe gab er es seinen Brüdern; nach dem heiligen Grabe lechzete die durstige Brust der Kreuzfahrer, Luther tat mit seinem Herzen die tiefe Frage nach der ewigen Seligkeit, vor welche sich schmauchende Kirchenkerzen gestellt hatten, die von Meßgewändern und Weihrauchwolken verhüllt war.

Wenn ich aber das viel gemißbrauchte und deshalb übel berufene Wort brauche, so weißt du, daß ich damit nicht den schlaffen, von der Empfindelei getauften Muskel meine, der in einer Flut matter Tränen schwimmt. Das volle, starke Herz meine ich, vom Atem Gottes und göttlicher Notwendigkeiten durchweht und begeistet. Ich meine das Herz, welches das schöne Weib des Kopfes ist. Von ihm wird es befruchtet und gibt die Kraft seines Mannes und Herrn wieder als göttliches Kind mit tiefen welterlösenden Augen. Dieses Herz erscheint den Schwachen nicht selten kalt und roh, und doch ist es das Wärmste, was es gibt, denn es entzündet mit seinem Brande die Völker. Und das Zärteste ist es auch, denn nicht irdische Stümper rühren es, sondern die Himmlischen spielen darauf wie auf einer Äolsharfe, und es tönet seine ewigen Akkorde unter den Fingern der Elohim.

Unsere Zeit ist ein Kolumbus. Sie sieht wie der Genueser mit den Blicken des Geistes das ferne Land hinter der Wüste des Ozeans. Desselbengleichen erlebt sie die Geschicke des Kolumbus. Auch ihr laufen die Kinder nach, halten sie für wahnwitzig und zeigen an den Kopf. Auch sie steht vor manchem Rate von Salamanca und soll sich aus Kirchenvätern widerlegen lassen. Auch heuer gibt es diesen und jenen heuchlerischen Johann von Portugal, der ihr das Geheimnis abgekauft zu haben wähnt und die Karavelle aussendet von den Inseln des grünen Vorgebirges, aber nach vierzehn Tagen den schlechten Bootsmann entmutigt wiederkehren sieht. - Sie hat die Anker gelichtet und steuert und steuert.

Aber der Genueser hatte die Bussole am Bord und nach der richtete er sein Schiff und ließ sich nicht irre machen, als die Nadel unter entlegenen Graden abzuweichen begann. Die Nadel zeigte ihm den Pfad.

In das Schiff der Zeit muß die Bussole getan werden, das Herz. Und keine Abweichung muß den Seefahrer irren, wenn die Reise immer weiter und weiter vordringt. Dann wird nach verzweiflungsvollem Hoffen und Harren plötzlich in einer Nacht vom Schiffe: ›Land!‹ gerufen werden, und die Insel San Salvador wird nächsten Morgens entdeckt daliegen, wild, üppig, mit großen und schönen Wäldern, mit unbekannten Blumen und Früchten, von reinen, lieblichen Lüften überhaucht und umspült von einem kristallklaren Meere. - Und es kann sein, daß auch die Zeit nach Ophir und nach des Tartarkhanes Gebiete entsteuert zu sein wähnet, und in diesem Wahne, ein erhaben phantasierender Kolumbus, abstirbt, und daß erst spätere Jahre erfahren, Amerika sei an jenem Morgen entdeckt worden.«


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