Gründe solcher Theologen, die das übrige ohne Gründe glauben
Rousseau erzählt in seinen Spaziergängen: er habe sich in seinem 40sten Jahre sein Glaubenssystem für seine nachkommenden Jahre festgesezt; er gebe keinen nachherigen noch so wichtigen Zweifeln und Einwürfen mehr Platz, und erneuere keine Untersuchung mehr, die sobald sie seinem reifen Verstande fehlgeschlagen wäre, noch weniger seinem alternden glücken könne; er vergesse die Gründe, aber ihm genüge an seinem Systeme, das er auf sie gebauet. Da ich selber nicht unter die Theologen gehöre (und daran sind leider die Austheiler der Stipendien ganz schuld): so wend ich mit desto geringerem Verdachte des Eigenlobes alles dieses auf sie an, auf die bessern zum wenigsten, die ein wenig mehr Meinungen als Gründe haben.
Bekanntlich waren wir insgesamt - welches nur einer ungewis finden
kann, der noch keinen Absatz im Plato oder in meiner Vorrede gesehen
- vor unserer Geburt in einem weisern und tugendhaftern Zustande,
aus dem uns einige Vergehungen auf diese Erde iagten. Natürlicherweise
waren die gedachten Geistlichen auch mit droben; und mich dünkte
allzeit, sie nützten ienes vorläufige Leben ganz gut.
Sie studirten, weil sie da gar keinen Feldbau hatten, Jahraus
Jahrein, um ihr orthodoxes System zu ründen. Ueber Sätze,
die nur vor den Richterstuhl der Kirchengeschichte gehörten,
zogen sie nicht wie wir - allein können wir im Grunde anders?
- blos dieienigen Kirchenväter, die in Schweinsleder und
in Foliobänden gebunden sind, sondern die in natura zu Rathe;
denn gar viele Kirchenväter waren in den Himmel gekommen
und ich sollte fast glauben, mich noch dunkel zu erinnern, daß
ich den einfältigen Papias persönlich gekannt. Es ist
kein Wunder, daß sie zum Vortheil der Orthodoxie viele Nachrichten
aus dem Munde der Kirchenväter zogen, die in den bloßen
Büchern derselben gar nicht stehen und die doch wahr sind.
Ausserdem hörten sie noch einen cursum hermeneuticum über
das N. T. bei den Aposteln selbst; und können daher iezt
wol fodern, daß man ihren Auslegungen der Bibel mehr als
fremden glaube. Und was ihren damaligen Verstand anbetrift, so
wünscht' ich, meiner oder ihr ietziger wäre nicht kleiner,
und es ist bekannt, des Lesers seiner will auch nicht viel sagen.
Hätten nun die Geistlichen einen gelegnern Zeitpunkt treffen
können als diesen, um Irrthümer auszuschiessen, Vermuthungen
auszusieden und iede Idee auf die Kapelle zubringen, um gewis
zu sein, daß man nichts als reines Gold zu seinem Schatze
mache? Mich dünkt, die Neuern können ihre Verwerfung
des alt orthodoxen Systems mit so vielen und glücklichen
Prüfungen desselben nicht rechtfertigen als die Orthodoxen
dessen Annahme. Mitten unter diesen Prüfungen begiengen sie
übrigens wie wir alle, einige auffallende Schandthaten, und
kamen daher auf der hiesigen Erde mit einer grossen Erbsünde
im Herzen und einer durchdachten Orthodoxie im Kopfe, einer nach
dem andern, an. Und nun sind sie im Falle Rousseaus ganz: nun
wär es überflüssig und nicht einmal sicher, wenn
sie iezt, da sie schon längst geboren sind, ihr System noch
einmal untersuchen wollten - alle Einwendungen, die man nun nach
ihrer Geburt noch gegen ihr Glaubenssystem machen kann, kommen
für sie wirklich zu spät, weil sie völlig unvernünftig
handeln würden, mit ihrem iezigen schwächern Verstand
ein System zu prüfen, das vor ihrem damaligen besser ganz
bestand, so wie Rousseau seinen 70 iährigen Verstand nicht
das Resultat seines 40 iährigen richten lies. Ja gesezt
ihnen wären die Gründe ihres Systems gänzlich entfallen:
so können sie schon zufrieden sein, daß sie nur das
System selber noch haben und sie wissen wol, daß sie es
vor ihrer Geburt nicht ohne wichtige Gründe angenommen. Daher
gründen sich ihre Meinungen nicht sowol auf ihren Verstand
als auf ihr Gedächtniß; und eine (die Memorie stärkende)
Kräutermütze nützet ihrem Kopfe so viel als ein
dictum probans. Was die Heterodoxen anlangt: so haben sie nur
über wenig exegetische Punkte (z. B. die Lehre vom Teufel)
vor ihrer Geburt aus dem Munde der Apostel selbst eine interpretatio
authentica geholt, die sie iezt der doctrinali entgegensetzen
können und müssen; daher kömts, daß sie ob
sie gleich ihre Sache nicht vor dem hermeneutischen Richterstuhle
beweisen können, doch Recht haben.