Erklärung der Zeichen und Sonderzeichen:

Die Zahl in der eckigen Klammer [] gibt die jeweilige Schicht des Gesamtfragmentes an.

[?] dieses Wort war schlecht zu lesen.

[-] ist ein nicht zu lesendes Wort.

[--]zwei nicht zu lesende Wörter

[---] mehrere nicht zu lesende Wörter

<> Ergänzungen nicht von Nietzsche.

--- Satz ist nicht vollständig.

[+] Lücke im Text.

[] Texte in diesen Klammern sind nicht von Nietzsche

Unter- und durchgestrichene Wörter sind wie in der Handschrift.

Die Fragmente von 1875-1879 bestehen aus 35 Handschriften und zwar 9 Hefte, 22 Notizbücher, 4 Mappen mit losen Blättern.

[Dokument: Notizbücher]

[Winter – Frühling 1875]

1 [1]

Romundt 9 Januar: 9 – 10 März muss seine Schrift fertig sein höchstens 10 April.

1 [2]

Stelle über Faust

Hölderlin

Schluß Empedokles

1 [3]

1875 4 5 Philolog. Wagner.

1876 6 Presse.

1877 7 8 Religion. Schule.

1878 9 10 Social<ismus>. Staat.

1879 11-12 Mein Plan. Natur.

1880 13 Weg der Befreiung.

1 [4]

Vorspiel. Der Bildungsphilister.

1 Geschichte.

2 Philosophie.

3 Alterthum.

4 Kunst.

5 Religion. 1876 Ostern April Mai Juni

6 Schule. Juli August September

7 Presse. October November December

8 Staat. 1877 Januar Februar März

9 Gesellschaft. April Mai Juni

10 Mann als ich. Juli August September

11 Natur. October November December

12 Weg der Befreiung. 1878 Januar Februar März

1869 Ostern – 1876 Ostern. 7 Jahre Universität.

Ostern 1876 – Ostern 1878. 800 Seiten in 24 Monaten,

24 : 800 33, d.h. alle Tage eine Seite, alle drei Monate 1 Unzeitgemässe.

72

33 Jahre alt bin ich dann mit den Unzeitgemäßen fertig.

1 [5]

13 Jahre alt – 19 Schulpforta.

19 – 24 Bonn Leipzig.

24 – 31 Basel

31-33 ?

 

[Dokument: Heft]

[Bis Anfang März 1875]

Notizen zu "WIR PHILOLOGEN"

2 [1]

Die Muschel ist inwendig krumm, aussen rauh; wenn sie beim Blasen brummt, dann erst bekommt man die rechte Achtung vor ihr. (ind. Sprüche ed. Böthlingk. I 335.)

Ein häßlich anzusehendes Blasinstrument: es muß erst geblasen werden.

2 [2]

Themata.

Theorie des Lächerlichen. Mit Sammlungen.

Theorie des Schauerlichen. Mit Sammlungen.

Beschreibung meiner musikalischen Erfahrungen in Betreff Wagner's.

Die Frage in der Musik.

Es soll ein grosses Buch für die täglichen Einfälle und Erfahrungen, Pläne usw. angelegt werden: wo auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse kurz eingetragen werden. Alle litterarischen Pläne bei Seite zu stellen. Mihiscribere.

2 [3]

Wir Philologen.

Ungefährer Plan.

1. Genesis des jetzigen Philologen.

2. Der jetzige Philologe und die Griechen.

3 . Wirkungen auf Nichtphilologen.

4. Andeutungen über die Griechen.

5. Die zukünftige Erziehung des Philologen.

6. Griechen und Römer – und Christenthum. Wolf's Loslösung.

Besser:

a. Die Bevorzugung der Griechen.

b. Genesis der jetzigen Philologen.

c. Ihre Wirkung auf Nichtphilologen.

d. Ihre Stellung zu den wirklichen Griechen.

e. Zukünftiges.

2 [4]

Vielleicht gegen die Feinde des Alterthums mit Cicero in Pison. c. 30 „Quid tè, asine, litteras doceam? Non opus est verbis, sed fustibus."

2 [5]

Es bleibt ein grosser Zweifel übrig, ob man aus den Sprachen auf Nationalität und auf Verwandtschaft mit anderen Nationen schliessen kann; eine siegreiche Sprache ist nichts als ein häufiges (nicht einmal regelmässiges) Zeichen einer gelungenen Überwältigung. Wo hätte es je autochthone Völker gegeben! Es ist ein ganz unklarer Begriff, von Griechen zu reden, die noch nicht in Griechenland lebten. Das Eigenthümliche-Griechische ist viel weniger das Resultat der Anlage als der adaptirten Institutionen und auch mit der angenommenen Sprache.

2 [6]

Ich will für meine Schüler kurze Katechismen machen, z.B. – über Schreiben und Lesen.

– über griechische Litteratur.

– Haupteigenschaften der Griechen. Griechen und Römer. Was man von den Griechen lernen kann.

2 [7]

a. Bevorzugung des Alterthums, ihre Gründe und deren Widerlegung.

b. Bisherige Genesis der Philologen, auch ihre Praxis.

2 [8]

Klinger sagt "die Kultur ist eine Frucht freierer furchtloserer Gefühle'".

 

[Dokument: Mappe loser Blätter]

[März 1875]

Notizen

zu

Wir Philologen

3 [1]

Gehet hin und verbergt eure guten

Werke und bekennt vor den Leuten

die Sünden, die ihr begangen.

Buddha.

3 [2]

Der achte April 1777, wo F. A. Wolf für sich den Namen stud. philol. erfand, ist der Geburtstag der Philologie.

3 [3]

1.

Gegen die Wissenschaft der Philologie wäre nichts zu sagen: aber die Philologen sind auch die Erzieher. Da liegt das Problem, wodurch auch diese Wissenschaft unter ein höheres Gericht kommt. – Und würde wohl die Philologie noch existiren, wenn die Philologen nicht ein Lehrerstand wären?

3 [4]

Es ist schwer, die Bevorzugung zu rechtfertigen, in der das Alterthum steht: denn sie ist aus Vorurtheilen entstanden:

1) aus Unwissenheit des sonstigen Alterthums,

2) aus einer falschen Idealisirung zur Humanitäts-Menschheit überhaupt; während Inder und Chinesen jedenfalls humaner sind,

3) aus dem Schulmeister-Dünkel,

4) aus der traditionellen Bewunderung, die vom Römerthum ausgegangen ist,

5) aus Widerspruch gegen die christliche Kirche, oder zur Stütze,

6) Eindruck, den die Jahrhunderte lange Arbeit der Philologen gemacht hat, und die Art ihrer Arbeit: es muss sich doch um Goldbergwerke handeln, meint der Zuschauer.

7) Fertigkeiten und Wissen, von dort her gelernt. Vorschule der Wissenschaft.

In Summa: theils aus Ignoranz, falschen Urtheilen und trügerischen Schlüssen, auch durch das Interesse eines Standes, der Philologen.

Bevorzugung des Alterthums sodann durch die Künstler, die das erkannte Maass und die Sophrosyne unwillkürlich zu einer Eigenschaft des gesammten Alterthums machen. Die reine Form. Ebenso durch die Schriftsteller.

Bevorzugung des Alterthums als einer Abbreviatur der Geschichte der Menschheit, als ob hier ein autochthones Gebilde sei, an dem alles Werdende zu studiren sei.

Thatsächlich ist nun allmählich Grund für Grund zu dieser Bevorzugung beseitigt, und wenn es die Philologen nicht merken sollten, so merkt man es sonst ausser ihren Kreisen so stark wie möglich. Die Historie hat gewirkt; sodann hat die Sprachwissenschaft die grösste Diversion, ja Fahnenflucht unter den Philologen selbst hervorgebracht. Nur die Schule haben sie noch: doch auf wie lange! In der bisherigen Form ist die Philologie am Aussterben: ihr Boden ist ihr entzogen. Ob überhaupt ein Stand von Philologen sich erhalten wird, ist sehr zweifelhaft: jedenfalls wäre es eine aussterbende Race.

3 [5]

Schon unsere Terminologie zeigt, wie sehr wir geneigt sind, die Alten falsch zu messen; der übertriebene Sinn der Litteratur z. B., oder wie Wolf von der "innern Geschichte der antiken Erudition" redet, er nennt es auch "die Geschichte der gelehrten Aufklärung".

3 [6]

Was liegt für ein Hohn auf die "Humanitäts" – Studien darin, dass man sie auch belles lettres (bellas litteras) nannte!

3 [7]

Wolfs Gründe, weshalb man Aegypter Hebräer Perser und andre Nationen des Orients nicht auf Einer Linie mit Griechen und Römern aufstellen darf: jene erhoben sich "gar nicht oder nur wenige Stufen über die Art von Bildung, welche man bürgerliche Policirung oder Civilisation, im Gegensatze höherer eigentlicher Geistescultur, nennen sollte". Er erklärt sie gleich darauf als die geistige oder die litterarische "bei einem glücklich organisirten Volke kann diese schon früher anfangen als Ordnung und Ruhe des äussern Lebens" ("Civilisation"). Er stellt dann den fernsten Osten von Asien ("ähnlich solchen Individuen, die es nicht an Reinlichkeit, Schicklichkeit und Bequemlichkeit von Wohnungen Kleidungen und allen Umgebungen fehlen lassen, aber niemals das Bedürfniss höherer Aufklärung empfinden") den Griechen gegenüber ("bei den Griechen, auch bei den gebildetsten Attikern, trat oft das Gegentheil bis zur Verwunderung ein und man vernachlässigte das als unbedeutend, was wir vermöge unserer Ordnungsliebe insgemein als Grundlage der geistigen Veredlung selbst anzusehen pflegen").

3 [8]

„Gegen Ende des Lebens befiel Markland, wie so viele seines gleichen früher, ein Widerwille gegen allen gelehrten Ruhm, dermaassen dass er mehrere lange gepflegte Arbeiten theils zerstreute, theils verbrannte."

3 [9]

„In der Jugendzeit Winckelmanns gab es eigentlich kein Studium des Alterthums als in dem gemeinen Dienste von Brod erwerbenden Disciplinen – man las und erklärte damals die Alten, um sich besser zur Auslegung der Bibel und des corpus juris vorzubereiten."

3 [10]

F. A. Wolf erinnert einmal daran, wie furchtsam und schwächlich die ersten Schritte waren, die unsere Ahnherrn zur Gestaltung der Wissenschaft thaten, wie sogar lateinische Klassiker gleich verdächtiger Waare unter Vorwänden auf den Markt der Universitäten eingeschwärzt werden mussten; im Göttinger Lectionskatalog 1737 kündigt J. M. Gesner Horatii Odas an "ut in primis, quid prodesse in severioribus studiis possint, ostendat".

3 [11]

Newton wunderte sich, dass Männer wie Bentley und Hare sich über ein Comödienbuch herumschlügen (weil sie beide theologische Würdenträger waren).

3 [12]

Es ist so schwer, nur etwas aus dem Alterthume nachzuempfinden, man muss warten können, bis wir etwas zu hören bekommen. Das Menschliche, das uns das Alterthum zeigt, ist nicht zu verwechseln mit dem Humanen. Dieser Gegensatz ist sehr stark hervorzuheben, die Philologie krankt daran, dass sie das Humane unterschieben möchte; nur deshalb führt man junge Leute hinzu, damit sie human werden. Ich glaube, um das zu erreichen, genügt viel Historie: das Brutal-Selbstbewusste wird dadurch abgebrochen, wenn man Dinge und Schätzungen so wechseln sieht. – Das Menschliche der Hellenen liegt in einer gewissen Naivetät, in der bei ihnen der Mensch sich zeigt, Staat, Kunst, Societät, Kriegs- und Völkerrecht, Geschlechtsverkehr, Erziehung, Partei; es ist genau das Menschliche, das sich überall bei allen Völkern zeigt, aber bei ihnen in einer Unmaskirtheit und Inhumanität, dass es zur Belehrung nicht zu entbehren ist. Dazu haben sie die grösste Menge an Individuen geschaffen – darin sind sie über den Menschen so belehrend; ein griechischer Koch ist mehr Koch als ein andrer.

3 [13]

Das Christenthum hat das Alterthum überwunden – ja das ist leicht gesagt. Erstens ist es selbst ein Stück Alterthum, zweitens hat es das Alterthum conservirt, drittens ist es mit den reinen Zeiten des Alterthums gar nicht im Kampf gewesen. Vielmehr: damit das Christenthum erhalten blieb, musste es sich vom Geiste des Alterthums überwinden lassen z. B. von der imperium-Vorstellung, der Gemeinde usw. Wir leiden an der ungemeinen Unreinlichkeit und Unklarheit des Menschlichen, an der witzigen Verlogenheit, die das Christenthum über die Menschen gebracht hat.

3 [14]

Das griechische Alterthum ist als Ganzes noch nicht taxirt; ich bin überzeugt, hätte es nicht diese traditionelle Verklärung um sich, die gegenwärtigen Menschen würden es mit Abscheu von sich stossen: die Verklärung also ist unächt, von Goldpapier.

3 [15]

Ein grosser Vortheil für einen Philologen ist, dass seine Wissenschaft so viel vorgearbeitet hat, um sich in den Besitz der Erbschaft setzen zu können, wenn er es vermag – nämlich die Abschätzung der ganzen hellenischen Denkart vorzunehmen. So lange man im Einzelnen herum arbeitete, leitete eine Verkennung der Griechen; die Stufen dieser Verkennung sind zu bezeichnen. (Sophisten des zweiten Jahrhunderts, die Philologen-Poeten der Renaissance, der Philologe als Schullehrer der höheren Stände) (Goethe – Schiller)

3 [16]

Nachahmung des Alterthums: ob nicht endlich ein widerlegtes Princip?

Flucht aus der Wirklichkeit zu den Alten: ob dadurch nicht die Auffassung des Alterthums gefälscht ist?

3 [17]

Eine Art der Betrachtung ist noch zurück: zu begreifen, wie die grössten Erzeugnisse des Geistes einen schrecklichen und bösen Hintergrund haben; die skeptische Betrachtung: als schönstes Beispiel des Lebens wird das Griechenthum geprüft.

Richtig Urtheilen ist schwer.

3 [18]

Dass man nur durch das Alterthum Bildung gewinnen könne, ist nicht wahr. Aber man kann von dort aus welche gewinnen. Doch die Bildung welche man jetzt so nennt, nicht. Nur auf einem ganz castrirten und verlogenen Studium des Alterthums kann unsere Bildung sich erbauen.

Um nun zu sehn, wie wirkungslos dies Studium ist, sehe man nur die Philologen an: die müssten ja am besten durch das Alterthum erzogen sein.

 

3 [19]

2.

Wie wenig Vernunft, wie sehr der Zufall unter den Menschen herrscht, zeigt das fast regelmässige Missverhältniss zwischen dem sogenannten Lebensberufe und der Disposition dazu: die glücklichen Fälle sind Ausnahmen, wie die glücklichen Ehen, und auch diese werden nicht durch Vernunft herbeigeführt. Der Mensch wählt den Beruf, wo er noch nicht fähig zum Wählen ist; er kennt die verschiedenen Berufe nicht, er kennt sich selbst nicht; er verbringt seine thätigsten Jahre dann in diesem Berufe, verwendet all sein Nachdenken darauf, wird erfahrener; erreicht er die Höhe seiner Einsicht, dann ist es gewöhnlich zu spät, noch etwas Neues zu beginnen, und die Weisheit hat auf Erden fast immer etwas Altersschwaches und Mangel an Muskelkraft an sich gehabt.

Die Aufgabe ist meistens die, wieder gut zu machen, ungefähr zu recht zu legen, was in der Anlage verfehlt war; viele werden erkennen, dass der spätere Theil des Lebens eine Absichtlichkeit zeigt, die aus ursprünglicher Disharmonie entstanden ist; es lebt sich schwer. Am Ende des Lebens ist man's aber doch gewohnt – dann kann man sich über sein Leben irren und seine Dummheit loben: bene navigavi cum naufragium feci, und gar ein Preislied auf die "Vorsehung" anstimmen.

3 [20]

Ich frage nun nach der Entstehung des Philologen und behaupte:

1) der junge Mensch kann noch gar nicht wissen, wer Griechen und Römer sind,

2) er weiss nicht, ob er zu ihrer Erforschung sich eignet,

3) und erst recht nicht, in wiefern er sich mit diesem Wissen zum Lehrer eignet. Das was ihn also bestimmt, ist nicht Einsicht in sich und seine Wissenschaft, sondern

  1. Nachahmung,
  2. Bequemlichkeit, dadurch dass er forttreibt, was er auf der Schule trieb,

c) allmählich auch die Absicht auf Broderwerb.

Ich meine, 99 von 100 Philologen sollten keine sein.

3 [21]

Strengere Religionen fordern, dass der Mensch seine Thätigkeit nur als ein Mittel eines methaphysischen Planes verstehe: eine misslungene Wahl des Berufs lässt sich dann als Prüfung des Individuums zurechtlegen. Religionen nehmen nur das Heil des Individuums in's Auge: ob das nun Sclave oder Freier, Kaufmann oder Gelehrter ist, sein Lebensziel liegt nicht in seinem Berufe und deshalb ist eine falsche Wahl kein grosses Unglück. Dies diene, die Philologen zu trösten; aber nackte Einsicht für die ächten Philologen: was wird aus einer Wissenschaft, die von solchen 99 betrieben wird? Diese, eigentlich ungeeignete Majorität legt sich die Wissenschaft zurecht und stellt an sich die Forderung nach den Fähigkeiten und Neigungen der Majorität: sie tyrannisirt damit den eigentlichen Befähigten, jenen Hundertsten. Hat sie die Erziehung in den Händen, so erzieht sie bewusst oder unbewusst nach dem eigenen Vorbilde: was wird da aus der Klassicität der Griechen und Römer!

Zu beweisen

A) das Missverhältniss zwischen Philologen und den Alten.

B) die Unfähigkeit der Philologen, mit Hülfe der Alten zu erziehen.

C) die Fälschung der Wissenschaft durch die Unfähigkeit der Majoritäten, die falschen Anforderungen, Verleugnung der eigentlichen Ziele dieser Wissenschaft.

3 [22]

Wie ist wohl einer am geeignetsten zu dieser Schätzung? – Jedenfalls nicht dann, wenn er so zum Philologen abgerichtet wird wie jetzt. Zu sagen, in wiefern die Mittel hier den letzten Zweck unmöglich machen. – Also der Philologe selber ist nicht das Ziel der Philologie. –

3 [23]

Leopardi ist das moderne Ideal eines Philologen; die deutschen Philologen können nichts machen. (Voss ist zu studiren dazu!)

3 [24]

Die Eitelkeit ist die unwillkürliche Neigung, sich als Individuum zu geben, während man keins ist; das heisst, als unabhängig, während man abhängt. Die Weisheit ist das Umgekehrte: sie giebt sich als abhängig, während sie unabhängig ist.

3 [25]

Ein grosser Werth des Alterthums liegt darin, dass seine Schriften die einzigen sind, welche moderne Menschen noch genau lesen.

3 [26]

Überspannung des Gedächtnisses – sehr gewöhnlich bei Philologen, geringere Entwicklung des Urtheils.

3 [27]

Bei der Erziehung des jetzigen Philologen ist der Einfluss der Sprachwissenschaft zu erwähnen und zu beurtheilen; für einen Philologen ziemlich abzulehnen: die Fragen nach den Uranfängen der Griechen und Römer sollen ihn nichts angehen: wie kann man sich auch sein Thema so verderben.

3 [28]

An den Philologen bemerke ich:

1) Mangel an Respekt vor dem Alterthum,

2) Weichlichkeit und Schönrednerei, vielleicht gar Apologie,

3) einfaches Historisiren,

4) Einbildung über sich selbst,

5) Unterschätzung der begabten Philologen.

3 [29]

Bergk's Litteraturgeschichte, nicht ein Fünkchen griechischen Feuers und griechischen Sinnes.

3 [30]

Ich freue mich von Bentley zu lesen: "non tam grande pretium emendatiunculis meis statuere soleo, ut singularem aliquam gratiam inde sperem aut exigam".

3 [31]

Horaz ist durch Bentley vor einen Richterstuhl gestellt, den er abweisen müsste. Die Bewunderung, die ein scharfsinniger Mann als Philologe erntet, steht im Verhältniss zur Rarität des Scharfsinns bei Philologen. – Das Verfahren bei Horaz hat etwas Schulmeisterliches, nur dass nicht Horaz selbst censirt werden soll, sondern seine Überlieferer; in Wahrheit und im Ganzen trifft es aber Horaz. Mir steht nun einmal fest, dass eine einzige Zeile geschrieben zu haben, welche es verdient, von Gelehrten späterer Zeit commentirt zu werden, das Verdienst des grössten Critikers aufwiegt. Es liegt eine tiefe Bescheidenheit im Philologen. Texte verbessern ist eine unterhaltende Arbeit für Gelehrte, es ist ein Rebusrathen; aber man sollte es für keine zu wichtige Sache ansehen. Schlimm, wenn das Alterthum weniger deutlich zu uns redete, weil eine Million Worte im Wege stünden!

3 [32]

Ein Schullehrer sagte zu Bentley: „Master, ich werde euren Enkel zu einem ebenso grossen Gelehrten machen als ihr seid." "Wie so? sagte Bentley. Wenn ich nun mehr vergessen hätte, als du je wusstest?"

3 [33]

Bentley, sagt Wolf, ist als Litterator wie als Mensch den grössten Theil seines Lebens hindurch verkannt und verfolgt, oder doch mit Malignität gelobt worden.

3 [34]

Wolf nennt es die Blume aller geschichtlichen Forschung, sich zu den grossen und allgemeinen Ansichten des Ganzen zu erheben und zu der tiefsinnig aufgefassten Unterscheidung der Fortgänge in der Kunst und der verschiedenen Stile. Aber Wolf giebt zu, Winckelmann fehlte jenes gemeinere Talent, die philologische Kritik, oder es kam nicht recht zur Thätigkeit: „eine seltne Mischung von Geistes-Kälte und kleinlicher unruhiger Sorge um hundert an sich geringfügige Dinge mit einem alles beseelenden, das Einzelne verschlingenden Feuer und einer Gabe der Divination, die dem Ungeweihten ein Ärgerniss ist".

3 [35]

„Eben da beweist die Kritik oft ihre beste Kraftäusserung, wo sie aus Gründen zeigt, bis zu welcher Stufe der Überzeugung auf beiden Seiten sich gelangen lasse und warum ein Ausdruck, eine Stelle unheilbar sei. Uns dünkt, die Ärzte, mit denen sich manchmal die Kritiker vergleichen, kennen in ihrer Kunst ganz ähnliche Triumphe."

3 [36]

Bei der oft so tief sich aufdringenden Unsicherheit der Divination macht sich von Zeit zu Zeit eine krankhafte Sucht geltend, um jeden Preis zu glauben und sicher sein zu wollen: z. B. Aristoteles gegenüber, oder im Auffinden von Zahlennothwendigkeiten – bei Lachmann fast eine Krankheit.

3 [37]

3.

Nun wird es nicht mehr verwundern, dass die Bildung der Zeit, bei solchen Lehrern, nichts taugt. Ich entziehe mich nie, eine Schilderung von dieser Unbildung zu machen. Und zwar gerade in Beziehung auf die Dinge, wo man vom Alterthum lernen müsste, wenn man es überhaupt könnte (z. B. Schreiben Sprechen usw.).

3 [38]

Ausser der grossen Zahl unbefähigter Philologen giebt es nun umgekehrt eine Zahl von geborenen Philologen, welche durch irgendwelche Umstände verhindert sind, welche zu werden. Das wichtigste Hinderniss aber, welches diese geborenen Philologen abhält, ist schlechte Repräsentation der Philologie durch die unberufenen Philologen.

3 [39]

Die unwahre Begeisterung für das Alterthum, in der viele Philologen leben. Eigentlich überfällt uns das Alterthum, wenn wir jung sind, mit einer Fülle von Trivialitäten, besonders glauben wir über die Ethik hinaus zu sein. Und Homer und Walter Scott – wer erlangt wohl den Preis? Wenn man ehrlich ist! Wäre die Begeisterung gross, so würde man schwerlich seinen Lebensberuf darin suchen. Ich meine: erst spät beginnt es zu dämmern, was wir an den Griechen haben können: erst nachdem wir viel erlebt, viel durchdacht haben.

3 [40]

Wo zeigt sich die Wirkung des Alterthums? Nicht einmal in der Sprache, nicht in der Nachahmung von irgend etwas, nicht einmal in einer Verkehrtheit, wie die Franzosen sie gezeigt haben. Unsre Museen füllen sich; ich empfinde immer Ekel, wenn ich reine nackte Figuren griechischen Stils sehe: vor der gedankenlosen Philisterei, die alles auffressen will.

3 [41]

Man vergleicht unsere Zeit wirklich mit der Perikleischen in Schulprogrammen, man gratulirt sich zum Wiedererwachen des Nationalgefühls, und ich erinnere mich einer Parodie auf die Leichenrede des Perikles, von G. Freitag, wo dieser mit steifen Hosen geborne Dichter das Glück schildert, das jetzt die 60jährigen Männer empfinden. – Alles reine Carricatur! So die Wirkung! Tiefe Trauer und Hohn und Zurückgezogenheit bleibt dem übrig, der mehr davon gesehn hat.

3 [42]

Sie haben verlernt, zu andern Menschen zu reden, und weil sie nicht zu älteren Leuten reden können, können sie es auch nicht zu jungen.

3 [43]

Es fehlt ihnen die eigentliche Lust an den starken und kräftigen Zügen des Alterthums. Sie werden Lobredner und werden dadurch lächerlich.

3 [44]

Wolf sagt "überall ist es ja meist Weniges, was aus wohl verdauter Gelehrsamkeit gewonnen wird für geistigen Nahrungssaft."

3 [45]

"Nur die Fertigkeit, nach der Weise der Alten zu schreiben, nur eignes productives Talent befähigt uns, fremde Productionen gleicher Art ganz zu verstehen und darin mehr als gewisse untergeordnete Tugenden aufzufassen."

3 [46]

Wolf macht darauf aufmerksam, dass das Alterthum nur Theorien der Rede- und Dichtkunst kannte, welche die Production erleichtern, tecnai und artes, die wirkliche Redner und Dichter bildeten; "da wir heut zu Tage bald Theorien haben werden, wonach sich eben so wenig eine Rede oder ein Gedicht machen lässt, als ein Gewitter nach einer Brontologie."

3 [47]

"Am Ende dürften nur die Wenigen zu echter vollendeter Kennerschaft gelangen, die mit künstlerischem Talent geboren und mit Gelehrsamkeit ausgerüstet, die besten Gelegenheiten benutzen, die nöthigen technischen Kentnisse sich praktisch und theoretisch zu erwerben." Wolf. Wahr!

3 [48]

Die Alten sind nach Goethe "die Verzweiflung der Nacheifernden."

Voltaire hat gesagt: "wenn die Bewunderer Homers aufrichtig wären, so würden sie die Langeweile eingestehen, die ihnen ihr Liebling so oft verursacht."

 

3 [49]

4.

Wenn ich sage, die Griechen waren in summa doch sittlicher als die modernen Menschen: was heisst das? Die ganze Sichtbarkeit der Seele im Handeln zeigt schon, dass sie ohne Scham waren; sie hatten kein schlechtes Gewissen. Sie waren offener, leidenschaftlicher, wie Künstler sind, eine Art von Kinder-Naivetät begleitet sie, so haben sie bei allem Schlimmen einen Zug von Reinheit an sich, etwas dem Heiligen Nahes. Merkwürdig viel Individuum, sollte darin nicht eine höhere Sittlichkeit liegen? Denkt man sich ihren Character langsam entstanden, was ist es doch, was zuletzt so viel Individualität erzeugt? Vielleicht Eitelkeit unter einander, Wetteifer? Möglich. Wenig Lust am Conventionellen.

3 [50]

Man denke sich, wie anders eine Wissenschaft sich fortpflanzt, wie anders eine specielle Begabung in einer Familie. Eine leibliche Fortpflanzung der einzelnen Wissenschaft ist etwas ganz Seltenes. Ob die Söhne von Philologen wohl leicht Philologen werden? Dubito. So entsteht keine Accumulation philologischer Fähigkeiten, wie etwa in Beethovens Familie von musikalischen Fähigkeiten. Die meisten fangen von vorn an, und zwar durch Bücher vermittelt, nicht durch Reisen usw. Wohl aber Erziehung.

3 [51]

Die Hadesschatten des Homer – welcher Art von Existenz sind sie eigentlich nachgemalt? Ich glaube, es ist die Beschreibung des Philologen; es ist besser Tagelöhner sein als so eine leblose Erinnerung an Vergangenes – Grosses und Kleines. (Viele Schafe opfern.)

3 [52]

Die Stellung des Philologen zum Alterthum ist entschuldigend oder auch von der Absicht eingegeben, das was unsere Zeit hochschätzt, im Alterthum nachzuweisen. Der richtige Ausgangspunct ist der umgekehrte: nämlich von der Einsicht in die moderne Verkehrtheit auszugehn und zurückzusehn – vieles sehr Anstössige im Alterthum erscheint dann als tiefsinnige Nothwendigkeit.

Man muss sich klar machen, dass wir uns ganz absurd ausnehmen, wenn wir das Alterthum vertheidigen und beschönigen: was sind wir!

3 [53]

Jede Religion hat für ihre höchsten Bilder ein Analogon in einem Seelenzustande. Der Gott Mahomets die Einsamkeit der Wüste, fernes Gebrüll des Löwen, Vision eines schrecklichen Kämpfers. Der Gott der Christen – alles was si Männer und Weiber bei dem Worte „Liebe" denken. Der Gott der Griechen: eine schöne Traumgestalt.

3 [54]

Wer keinen Sinn für das Symbolische hat, hat keinen für das Alterthum: diesen Satz wende man auf die nüchternen Philologen an.

3 [55]

Es ist die Sache des freien Mannes, seiner selbst wegen und nicht in Hinsicht auf andre zu leben. Deshalb hielten die Griechen das Handwerk für unanständig.

3 [56]

Mit Arbeitsamkeit lässt sich nicht viel erzwingen, wenn der Kopf stumpf ist. Über Homer her fallende Philologen glauben, man könne es erzwingen. Das Alterthum redet mit uns, wenn es Lust hat, nicht wenn wir.

3 [57]

Die ausgezeichnete Tochter Joanna bedauerte Bentley, dass er soviel Zeit und Talent auf die Kritik fremder Werke verwandt habe, anstatt auf selbständige Compositionen. „Bentley schwieg eine Zeitlang wie in sich gekehrt; endlich sagte er, ihre Bemerkung sei ganz richtig; er fühle selbst, dass er seine Naturgaben vielleicht noch anders hätte anwenden sollen: indess habe er früher etwas zur Ehre Gottes und zum Besten seiner Mitmenschen gethan (er meint seine Confutation of Atheism); nachher aber habe ihn der Genius der alten Heiden an sich gelockt, und in der Verzweiflung, sich auf einem andern Wege zu ihrer Höhe zu erheben, sei er ihnen auf die Schultern gestiegen, um so über ihre Köpfe hinwegzusehn."

3 [58]

"Den Griechen verdanken die Neuern vorzüglich, dass bei ihnen, die das Schöne immer nach dem Nützlichen suchten, nicht alles Wissen wiederum kastenmässig, dass die bessere Cultur nicht gänzlich in den Dienst der Civilisation zurückgewiesen worden, dass sogar verschiedene Studien, die als eine Art von Luxus unbelohnt bleiben müssen, wenigstens niemanden, der auf des Staates Hülfe verzichtet, untersagt werden."

3 [59]

Merkwürdig ist Wolf's Urtheil über die Liebhaber philologischer Kenntnisse: fanden sie sich von der Natur mit Anlagen ausgestattet, die dem Geiste der Alten verwandt oder einer leichten Versetzung in fremde Denkarten und Lagen des Lebens empfänglich waren, so erlangten sie allerdings durch solche halbe Bekanntschaften mit den besten Schriftstellern mehr von dem Reichthume jener kraftvollen Naturen und grossen Muster im Denken und Handeln als die meisten von denen, die ihnen sich lebenslang zu Dolmetschern anboten."

3 [60]

5.

So wie der Mensch zu seinem Lebensberufe steht, skeptisch-melancholisch, so sollen wir uns zu dem höchsten Lebensberufe eines Volkes stellen: um zu begreifen, was Leben ist.

3 [61]

Mein Trost gilt besonders auch den tyrannisirten Einzelnen: diese mögen einfach alle jene Majoritäten wie ihre Hülfsarbeiter behandeln, und ebenso mögen sie sich das Vorurtheil, das noch zu Gunsten des klassischen Unterrichtes verbreitet ist, zu Nutze machen; sie brauchen viele Arbeiter. Sie haben aber unbedingte Einsicht in ihre Ziele nöthig.

3 [62]

Die Philologie als Wissenschaft um das Alterthum hat natürlich keine ewige Dauer, ihr Stoff ist zu erschöpfen. Nicht zu erschöpfen ist die immer neue Accommodation jeder Zeit an das Alterthum, das sich daran Messen. Stellt man dem Philologen die Aufgabe, seine Zeit vermittelst des Alterthums besser zu verstehen, so ist seine Aufgabe eine ewige. – Dies ist die Antinomie der Philologie: man hat das Alterthum thatsächlich immer nur aus der Gegenwart verstanden – und soll nun die Gegenwart aus dem Alterthum verstehen? Richtiger: aus dem Erlebten hat man sich das Alterthum erklärt, und aus dem so gewonnenen Alterthum hat man sich das Erlebte taxirt, abgeschätzt. So ist freilich das Erlebniss die unbedingte Voraussetzung für einen Philologen – das heisst doch: erst Mensch sein, dann wird man erst als Philolog fruchtbar sein. Daraus folgt, dass ältere Männer sich zu Philologen eignen, wenn sie in der erlebnissreichsten Zeit ihres Lebens nicht Philologen waren.

Oberhaupt aber: nur durch Erkentniss des Gegenwärtigen kann man den Trieb zum klassischen Alterthum bekommen. Ohne diese Erkentniss – wo sollte da der Trieb herkommen? Wenn man zusieht, wie wenige Philologen es ausser denen, die davon leben, giebt, kann man schliessen, wie es im Grunde mit diesem Triebe zum Alterthum steht, er existirt fast nicht; denn es giebt keine uneigennützigen Philologen.

So ist die Aufgabe zu stellen: der Philologie ihre allgemein erziehende Wirkung zu erobern. Mittel: Beschränkung des Philologenstandes, zweifelhaft ob die Jugend damit bekannt zu machen. Kritik des Philologen. Die Würde des Alterthums: sie sinkt mit euch: wie tief müsst ihr gesunken sein, da es diese Würde jetzt so wenig hat!

3 [63]

Die meisten Menschen halten sich offenbar für gar keine Individuen; das zeigt ihr Leben. Die christliche Forderung, dass jeder seine Seligkeit und diese allein im Auge habe, hat als Gegensatz das allgemeine menschliche Leben, wo jeder nur als ein Punct zwischen Puncten lebt, nicht nur ganz und gar Resultat früherer Geschlechter, sondern auch nur im Hinblick auf kommende lebend. Nur bei drei Existenzformen bleibt der Mensch Individuum: als Philosoph, Heiliger und Künstler. Man sehe nur, womit ein wissenschaftlicher Mensch sein Leben todt schlägt: was hat die griechische Partikellehre mit dem Sinne des Lebens zu thun? – So sehen wir auch hier, wie zahllose Menschen eigentlich nur als Vorbereitung eines wirklichen Menschen leben: z. B. die Philologen als Vorbereitung des Philosophen, der ihre Ameisenarbeit zu nutzen versteht, um über den Werth des Lebens eine Aussage zu machen. Freilich ist, wenn es keine Leitung giebt, der grösste Theil jener Ameisenarbeit einfach Unsinn und überflüssig.

3 [64]

Die meisten Menschen sind offenbar zufällig auf der Welt: es zeigt sich keine Nothwendigkeit höherer Art in ihnen. Sie treiben dies und das, ihre Begabung ist mittelmässig. Wie sonderbar! Die Art wie sie nun leben zeigt, dass sie selbst nichts von sich halten, sie geben sich preis, indem sie sich an Lumpereien wegwerfen (seien das nun kleinliche Passionen oder Quisquilien des Berufs). In den sogenannten "Lebensberufen", welche jedermann wählen soll, liegt eine rührende Bescheidenheit der Menschen: sie sagen damit, wir sind berufen unseresgleichen zu nützen und zu dienen, und der Nachbar ebenfalls und dessen Nachbar auch; und so dient jeder dem andern, keiner hat seinen Beruf, seiner selbst wegen da zu sein, sondern immer wieder anderer wegen; so haben wir eine Schildkröte, die auf einer anderen ruht und diese wieder auf einer und so fort. Wenn jeder seinen Zweck in einem anderen hat, so haben alle keinen Zweck in sich, zu existiren; und dies „für einander existiren" ist die komischste Komödie.

3 [65]

Die glücklichste und behaglichste Gestaltung der politischsocialen Lage ist am wenigsten bei den Griechen zu finden; jenes Ziel schwebt unseren Zukunftsträumern vor. Schrecklich! Denn man muss es nach dem Maassstab beurtheilen: je mehr Geist, desto mehr Leid (wie die Griechen beweisen). Also auch: je mehr Dummheit, desto mehr Behagen. Der Bildungsphilister ist das behaglichste Geschöpf, welches je die Sonne gesehen hat; er wird eine gehörige Dummheit haben.

3 [66]

Es ist eine falsche Auffassung zu sagen: "immer gab es eine Kaste welche die Bildung eines Volkes verwaltete": folglich sind die Gelehrten nöthig. Denn die Gelehrten haben eben nur das Wissen um die Bildung (selbst dies nur besten Falls). Es wird wohl auch unter uns gebildetere Menschen geben, schwerlich eine Kaste; aber diese können sehr wenige sein.

3 [67]

Die Beschäftigung mit vergangenen Cultur-Epochen Dankbarkeit? Um sich die gegenwärtigen Culturzustände zu erklären, sehe man rückwärts: zu panegyrisch gegen unsere Zustände wird man gewiss nicht, vielleicht muss man es aber thun, um nicht zu hart gegen uns selbst zu sein.

3 [68]

Mein Ziel ist: volle Feindschaft zwischen unserer jetzigen „Cultur" und dem Alterthum zu erzeugen. Wer der ersten dienen will, muss das letztere hassen.

3 [69]

Ein sehr genaues Zurückdenken führt zu der Einsicht, dass wir eine Multiplication vieler Vergangenheiten sind: wie könnten wir nun auch letzter Zweck sein? – Aber warum nicht? Meistens aber wollen wir's gar nicht sein, stellen uns gleich wieder in die Reihe, arbeiten an einem Eckchen und hoffen, es werde für die Kommenden nicht ganz verloren sein. Aber das ist wirklich das Fass der Danaiden: es hilft nichts, wir müssen alles wieder für uns und nur für uns thun und z. B. die Wissenschaft an uns messen, mit der Frage: was ist uns die Wissenschaft? Nicht aber: was sind wir der Wissenschaft? Man macht sich wirklich das Leben zu leicht, wenn man sich so einfach historisch nimmt und in den Dienst stellt. "Das Heil deiner selbst geht über alles" soll man sich sagen: und es giebt keine Institution, welche du höher zu achten hättest als deine eigne Seele. – Nun aber lernt sich der Mensch kennen: findet sich erbärmlich, verachtet sich, freut sich, ausser sich etwas Achtenswürdiges zu finden. Und so wirft er sich fort, indem er sich irgendwo einordnet, streng seine Pflicht thut und seine Existenz abbüsst. Er weiss, dass er nicht seiner selbst wegen arbeitet; er wird denen helfen wollen, welche es wagen, ihrer selbst wegen da zu sein; wie Socrates. Wie ein Haufen Gummiblasen hängen die meisten Menschen in der Luft, jeder Windhauch rührt sie. – Consequenz: der Gelehrte muss es aus Selbsterkentniss, also aus Selbstverachtung sein: d. h. er muss sich als Diener eines Höheren wissen, der nach ihm kommt. Sonst ist er ein Schaf.

3 [70]

Man glaubt es sei zu Ende mit der Philologie – und ich glaube, sie hat noch nicht angefangen.

Die grössten Ereignisse, welche die Philologie getroffen haben, sind das Erscheinen Goethes Schopenhauers und Wagners: man kann damit einen Blick thun, der weiter reicht. Das 5te und 6te Jahrhundert sind jetzt zu entdecken.

3 [71]

Ich empfehle an Stelle des Lateinischen den griechischen Stil auszubilden, besonders an Demosthenes: Einfachheit. Auf Leopardi zu verweisen, der vielleicht der grösste Stilist des Jahrhunderts ist.

3 [72]

"Graiis – praeter laudem nullius avaris" sagt Horaz. Er nennt ihre Hauptthätigkeit nugari (ep. II 93), charakteristisch für den Römer.

3 [73]

Wolf "auf alle Weise ist, es ein Vorurtheil zu meinen, dass die Geschichte der Welthändel in dem Grade glaubwürdiger werde, als sie sich unseren Tagen mehr nähern."

3 [74]

Hauptgesichtspuncte in Bezug auf spätere Geltung des Alterthums.

1) Es ist nichts für junge Leute, denn es zeigt den Menschen mit einer Freiheit von Scham.

2) Es ist nichts zur direkten Nachahmung, belehrt aber, auf welchem Wege bisher die höchste Ausbildung der Kunst erreicht wurde.

3) Es ist nur für Wenige zugänglich, und es sollte eine Polizei der Sitte da sein, wie sie gegen schlechte Pianisten da sein sollte, die Beethoven spielen.

4) Diese Wenigen messen daran unsere Gegenwart, als Kritiker derselben und sie messen das Alterthum an ihren Idealen und sind so Kritiker des Alterthums.

5) Der Contrast zwischen Hellenisch und Römisch, und wieder zwischen Althellenisch und Späthellenisch zu studiren. – Aufklärung über die verschiedenen Arten von Cultur.

3 [75]

Ich will einmal sagen, was ich alles nicht mehr glaube – auch was ich glaube.

In dem grossen Strudel von Kräften steht der Mensch und bildet sich ein, jener Strudel sei vernünftig und habe einen vernünftigen Zweck: Irrthum!

Das einzige Vernünftige, was wir kennen, ist das Bischen Vernunft des Menschen: er muss es sehr anstrengen, und es läuft immer zu seinem Verderben aus, wenn er sich etwa „der Vorsehung" überlassen wollte.

Das einzige Glück liegt in der Vernunft, die ganze übrige Welt ist triste. Die höchste Vernunft sehe ich aber in dem Werk des Künstlers, und er kann sie als solche empfinden; es mag etwas geben, das, wenn es mit Bewusstsein hervorgebracht werden könnte, ein noch grösseres Gefühl von Vernunft und Glück ergäbe: z. B. der Lauf des Sonnensystems, die Erzeugung und Bildung eines Menschen.

Glück liegt in der Geschwindigkeit des Fühlens und Denkens: alle übrige Welt ist langsam, allmählich und dumm. Wer den Lauf des Lichtstrahls fühlen könnte, würde sehr beglückt sein, denn er ist sehr geschwind.

An sich denken giebt wenig Glück: wenn man aber viel Glück dabei hat, liegt es daran, dass man im Grunde nicht an sich, sondern an sein Ideal denkt. Dies ist ferne, und nur der Geschwinde erreicht es und freut sich.

Eine Verbindung eines grossen Centrums von Menschen zur Erzeugung von besseren Menschen ist die Aufgabe der Zukunft. Der Einzelne muss an solche Ansprüche gewöhnt werden, dass, indem er sich selbst bejaht, er den Willen jenes Centrums bejaht z. B. in Bezug auf die Wahl, die er unter den Weibern trifft, über die Art, wie er sein Kind erzieht. Bis jetzt war kein Individuum oder nur die seltensten frei, sie wurden durch solche Vorstellungen auch bestimmt, aber durch schlechte und widerspruchsvolle. Organisation der individuellen Absichten.

3 [76]

Wenn man von der Gesinnung und Gesittung des katholischen Mittelalters aus nach den Griechen hinschaut, da strahlen sie freilich im Glanze der höheren Humanität: denn alles, was man ihnen vorwerfen wird, muss man in viel höherem Maasse dem Mittelalter selber vorwerfen. So ist die Verehrung der Alten in der Renaissance-Zeit ganz ehrlich und recht. Nun haben wir in Einigem es noch weiter gebracht, gerade auf Grund jenes erwachenden Lichtstrahls. Wir haben in der Aufhellung der Welt die Griechen überholt, durch Natur- und Menschengeschichte, und unsere Kenntnisse sind viel grösser, unsere Urtheile mässiger und gerechter. Auch eine mildere Menschlichkeit ist verbreitet, dank der Aufklärungszeit, welche den Menschen geschwächt hat – aber diese Schwäche nimmt sich, in's Moralische umgewandelt, sehr gut aus und ehrt uns. Der Mensch hat jetzt sehr viel Freiheit, es ist seine Sache, dass er sie so wenig gebraucht; der Fanatismus des Meinens ist sehr gemildert. Dass wir zuletzt doch lieber in dieser als in einer andren Zeit leben wollen, ist wesentlich das Verdienst der Wissenschaft, und gewiss gab es für kein Geschlecht eine solche Summe von edlen Freuden, wie für unseres – wenn auch unser Geschlecht gerade nicht den Magen und Gaumen hat, viel Freude empfinden zu können. – Nun lebt es sich bei aller dieser „Freiheit" nur gut, wenn man eben nur begreifen, nicht mitmachen will – das ist der moderne Haken. Die Mitmachenden erscheinen weniger reizvoll als je; wie dumm müssen sie sein!

So entsteht die Gefahr, dass das Wissen sich an uns räche, wie sich das Nichtwissen während des Mittelalters an uns gerächt hat. Mit den Religionen, welche an Götter, an Vorsehungen, an vernünftige Weltordnungen, an Wunder und Sakramente glauben, ist es vorbei, auch bestimmte Arten von heiligem Leben, von Askese sind vorbei, weil wir leicht auf ein verletztes Gehirn und auf Krankheit schliessen. Es ist kein Zweifel, der Gegensatz von einer reinen unkörperlichen Seele und einem Leibe ist fast beseitigt. Wer glaubt noch an eine Unsterblichkeit der Seele! Alles Segensvolle und Verhängnissvolle, was somit auf gewissen irrthümlichen physiologischen Annahmen beruhte, ist hinfällig geworden, sobald diese Annahmen als Irrthümer erkannt sind. Das was nun jetzt die wissenschaftlichen Annahmen sind, lässt ebensowohl eine Deutung und Benutzung in's Verdummend-Philisterhafte, ja in's Bestialische zu, als eine Deutung in's Segensreiche und Beseelende. Unser Fundament ist neu gegen alle früheren Zeiten, deshalb kann man vom Menschengeschlecht noch etwas erleben. – In Betreff der Cultur heisst dies: wir kannten bisher nur eine vollkommene Form, das ist die Stadtkultur der Griechen, auf ihren mythischen und socialen Fundamenten ruhend, und eine unvollkommene, die römische, als Dekoration des Lebens, entlehnend von der griechischen. Jetzt haben sich nun alle Fundamente, die mythischen und die politisch-socialen verändert; unsere angebliche Cultur hat keinen Bestand, weil sie sich auf unhaltbare, fast schon verschwundene Zustände und Meinungen aufbaut. – Die griechische Cultur vollständig begreifend sehen wir also ein, dass es vorbei ist. So ist der Philologe der grosse Skeptiker in unseren Zuständen der Bildung und Erziehung: das ist seine Mission. – Glücklich, wenn er, wie Wagner und Schopenhauer, die verheissungsvollen Kräfte ahnt, in denen eine neue Cultur sich regt.

 

 

[Dokument: Notizbücher]

[Frühling 1875]

4 [1]

Sorgen:

Bücher anzuschaffen und einzutauschen.

Historiker z.B. den ganzen Ranke.

Geographen z.B. Peschel Atlas.

Biographen z.B. Cardanus.

Kirchliche Autoren in Übersetzung. Bibel in neuer Übersetzung.

Griechisch-römische Classiker z. B. Aristoteles.

Schopenhauer.

Naturwissenschaftliche Bibliothek.

4 [2]

Zu excerpiren: Die Bevölkerung der Alpen von Rütimeyer, in Jahrb. des Schweizer. Alpenclubs, Erster Jahrgang 1864.

Dann: Vom Meer bis nach den Alpen, von L. Rütimeyer, Bern 1854. Dalpsche Buchhandlung.

4 [3]

Bis Herbst 1876.

Sommer 1875. „Philologie".

Herbst und bis Weihnachten. Vorstudien zu „Wagner".

Sommer 1875. Litteraturgeschichte.

Winter 1875 – 76. Choephoren nebst Critik und Hermeneutik.

Sommer 1876 – – –

Heft Burckhardts auszuarbeiten.

4 [4]

Schwierigkeit der Genesis des Künstlers.

  1. Das Unnaive der Erziehung – beschränkter Begriff der Natur.
  2. Wo soll sich der Künstler einordnen? Die Musik eine Sprache die nur in Feindschaft gegen die sonstige Cultur verstanden werden kann. Unruhe des Künstlers in Ämtern.
  3. Wie schützt er sich gegen Missverstehen? Wenn er schreibt, wer ist sein Publikum?
  4. Er nimmt das Spiel ernst (Cervantes die Ritterromane, W<agner> das Theater), das Pathos scheint verschwendet, wenn es nicht gleichartigen Kräften als Weckruf und Symbol gilt.
  5. Er haftet mit mehr Lust am Dasein als andre Menschen.

6) Ein jetziger Künstler muss Absichten haben.

4 [5]

Schule der Erzieher.

Wo ist

der Arzt

der Naturforscher

der Oekonom

der Culturhistoriker

der Kenner der Kirchengeschichte

der Kenner der Griechen

der Kenner des Staates.

 

[Dokument: Heft]

[Frühling – Sommer 1875]

5 [1]

Das von Vorn Anfangen ist immer eine Täuschung: selbst das was uns zu diesem angeblichen "Anfang" trieb, ist Wirkung und Resultat des Vorhergehenden. Aber ein so starkes und entscheidendes Abbrechen wird ein Zeichen sein von einem starken und übermässigen ehemaligen Fördern. Der Radikalismus unserer Meinungen und unsrer Wahrheit ist die Folge vom Radikalismus unsrer Irrthümer und Fehler. Das grosse Gesetz der Umsetzung – darin liegt aller sogenannte "Fortschritt". Die moralische Beurtheilung müsste im Grund immer dieselbe sein. Nun nimmt aber der Verstand und die Erfahrung zu, die moralische Qualität setzt sich immer nur um. Zuletzt schätzen wir eine Lehre doch nach ihren Wirkungen, ob sie z. B. viel Menschen getödtet oder verdreht gemacht; das ist nicht gerecht. –

5 [2]

Das Alterthum in Schriften aufbaun – eine noch ganz ungelöste Aufgabe.

5 [3]

Der Glaube an die Individualität – ob man ihn wohl wegdenken könnte! Jedenfalls gehn wir Zeiten entgegen, in denen die menschlichen Meinungen sehr uniformirt werden möchten; aber damit werden die Individuen ähnlicher, doch immer getrennter. Die Feindseligkeit zeigt sich dann bei kleinen Differenzen um so schärfer.

5 [4]

Es ist genau neben einander zu stellen, weshalb Griechen und Philologen sich schwer verstehen müssen: dabei ist die Characteristik der Griechen mit zu geben.

5 [5]

Alle Religionen beruhen zuletzt doch auf gewissen physikalischen Annahmen, die vorher da sind und sich die Religion anpassen. Z. B. im Christenthum Gegensatz von Leib und Seele, unbedingte Wichtigkeit der Erde als der „Welt", wunderhaftes Geschehen in der Natur. Sind erst die entgegengesetzten Anschauungen zur Herrschaft gekommen, z. B. strenges Naturgesetz, Hülflosigkeit und Überflüssigkeit aller Götter, engste Auffassung des Seelischen als eines leiblichen Prozesses – so ist es vorbei. Nun ruht das ganze Griechenthum auf solchen Anschauungen.

5 [6]

Bei Thukydides die angenehme Empfindung mit der man ein Schloss durch den Schlüssel bewegt: allmählich schwieriges Nachgeben, aber geordnet und sein Ziel immer mehr erreichend.

Bei Aristoteles sieht man die weissen Knochen.

5 [7]

Auch die Tyrannen des Geistes sind fast immer ermordet worden und haben nur spärliche Nachkommenschaft.

5 [8]

Übertragung der Bewegung ist Vererbung: das sage man sich bei der Wirkung der Griechen auf Philologen.

5 [9]

Wie man nur ein ganzes Volk verherrlichen und preisen kann! Die Einzelnen sind es, auch bei den Griechen.

5 [10]

Es ist sehr viel Carikatur auch bei den Griechen, z. B. die Sorge um's eigne Glück bei den Cynikern.

5 [11]

Mich interessirt allein das Verhältniss des Volkes zur Erziehung des Einzelnen; und da ist allerdings bei den Griechen Einiges sehr günstig für die Entwicklung des Einzelnen, doch nicht aus Güte des Volkes, sondern aus dem Kampf der bösen Triebe.

Man kann durch glückliche Erfindungen das grosse Individuum noch ganz anders und höher erziehen, als es bis jetzt durch die Zufälle erzogen wurde. Da liegen meine Hoffnungen: Züchtung der bedeutenden Menschen.

5 [12]

Die griechische Geschichte ist immer bisher optimistisch geschrieben worden.

5 [13]

Der Wunsch, irgend etwas Sicheres in der Aesthetik zu haben, verführte zur Anbetung des Aristoteles; ich glaube, es lässt sich allmählich beweisen, dass er nichts von der Kunst versteht, und dass nur die klugen Gespräche der Athener es sind, deren Wiederhall wir so bei ihm bewundern.

5 [14]

Die Griechen sind interessant, und ganz toll wichtig, weil sie eine solche Menge von grossen Einzelnen haben. Wie war das möglich? Das muss man studiren.

5 [15]

Mit dem Verschwinden des Christenthums ist auch ein guter Theil des Alterthums unverständlicher geworden, zumal die ganze religiöse Basis des Lebens. Schon deshalb ist eine Nachahmung des Alterthums eine falsche Tendenz; Betrüger oder Betrogene sind die Philologen, welche noch daran denken. Wir leben in der Periode, wo verschiedene Lebensauffassungen neben einander stehen: deshalb ist die Zeit so lehrreich, wie selten eine, deshalb so krank, weil sie an den Übeln aller Richtungen zugleich leidet. Zukunftsmensch: der europäische Mensch.

5 [16]

Geschichte kennen heisst jetzt: zu erkennen, wie es alle Menschen sich zu leicht gemacht haben, welche an eine Vorsehung glauben. Es giebt keine. Wenn die menschlichen Dinge wild und unordentlich gehen, so glaube nicht, dass ein Gott damit etwas bezweckt oder dass er sie zulässt. Wir können ungefähr übersehn, dass die Geschichte des Christenthums auf Erden einer der schrecklichsten Theile der Geschichte ist und dass es damit einmal vorbei sein muss. Freilich ragte im Christenthum gerade auch das Alterthum in unsre Zeit hinein; und wenn es schwindet, schwindet das Verständniss des Alterthums noch mehr. Jetzt ist die beste Zeit es zu erkennen; uns leitet kein Vorurtheil zu Gunsten des Christenthums mehr, aber wir verstehen es noch und in ihm auch noch das Alterthum, soweit es auf einer Linie steht.

5 [17]

Der Untergang der Philologen-Poeten liegt zu gutem Theile in ihrer persönlichen Verderbniss; ihre Art wächst später weiter, wie z. B. Goethe und Leopardi solche Erscheinungen sind. Hinter ihnen pflügen die reinen Philologen-Gelehrten nach. Die ganze Art hebt an mit der Sophistik des zweiten Jahrhunderts.

5 [18]

Am Ausgange des Alterthums stehen noch ganz unchristliche Gestalten, die schöner reiner und harmonischer sind als alle christlichen, z. B. Proklos; die Mystik sein Synkretismos sind Dinge, die ihm gerade das Christenthum nicht vorwerfen darf. Jedenfalls wäre es mein Wunsch, mit denen zusammenzuleben. Denen gegenüber erscheint das Christenthum nur wie die roheste Vergröberung für den Haufen und die Ruchlosen hergerichtet.

5 [19]

Alle Richtungen der Historie haben am Alterthum sich versucht; die kritische Betrachtung ist allein noch übrig. Nur muss man darunter nicht Conjectural- und litterarhistorische Kritik verstehen.

5 [20]

Die Unvernunft in den menschlichen Dingen ans Licht zu bringen, ohne jede Verschämtheit – das ist das Ziel unserer Brüder und Genossen. Dann wird man zu unterscheiden haben, was davon fundamental und unverbesserlich ist, was noch verbessert werden kann. Aber jede "Vorsehung" ist fernzuhalten: denn das ist ein Begriff, wodurch man es sich zu leicht macht. Den Athem dieser Absicht wünsche ich der Wissenschaft einzuflössen.

Die Kenntniss des Menschen vorwärts zu bringen! Das Gute und Vernünftige im Menschen ist zufällig oder scheinbar oder die Gegenseite von etwas sehr Unvernünftigem.

Es wird irgendwann einmal gar keinen Gedanken geben als Erziehung.

5 [21]

Ergebung in die Nothwendigkeit lehre ich nicht – denn man müsste sie erst als nothwendig kennen. Vielleicht giebt es vielfache Nothwendigkeiten; aber so im Allgemeinen ist es doch auch ein Faulbett.

5 [22]

Zeichen und Wunder werden nicht geglaubt; nur eine "Vorsehung" braucht so etwas. Es giebt keine Hülfe weder im Gebet, noch in der Askese, noch in der Vision. Wenn dies alles Religion ist, so giebt es keine Religion mehr für mich.

Meine Religion, wenn ich irgendetwas noch so nennen darf, liegt in der Arbeit für die Erzeugung des Genius; Erziehung ist alles zu Hoffende, alles Tröstende heisst Kunst. Erziehung ist Liebe zum Erzeugten, ein Überschuss von Liebe über die Selbstliebe hinaus. Religion ist "Lieben über uns hinaus". Das Kunstwerk ist das Abbild einer solchen Liebe über sich hinaus und ein volkommnes.

5 [23]

Die Dummheit des Willens ist der grösste Gedanke Schopenhauer's, wenn man Gedanken nach der Macht beurtheilt. Man kann an Hartmann sehen, wie er sofort diesen Gedanken wieder eskamotirt. Etwas Dummes wird niemand Gott nennen.

5 [24]

Also das ist das Neue alles zukünftigen Welttreibens: man darf die Menschen nicht mehr mit religiösen Vorstellungen beherrschen. Ob sie sich schlechter zeigen werden? Ich finde nicht, dass sie sich unter dem Joche der Religionen gut und sittlich ausnehmen; ich stehe nicht auf Seite von Demopheles. Die Furcht vor dem Jenseits und dann überhaupt die religiöse Furcht vor göttlichen Strafen werden die Menschen schwerlich besser gemacht haben.

5 [25]

Wo etwas Grosses erscheint, mit etwas längerer Dauer, da können wir vorher eine sorgfältige Züchtung wahrnehmen z. B. bei den Griechen. Wie erlangten so viele Menschen bei ihnen Freiheit?

Erzieher erziehn! Aber die ersten müssen sich selbst erziehn! Und für diese schreibe ich.

5 [26]

Die Verneinung des Lebens ist nicht mehr so leicht zu erreichen: man mag Einsiedler oder Mönch sein – was ist da verneint! Dieser Begriff wird jetzt tiefer: es ist vor allem erkennende Verneinung, gerecht sein wollende Verneinung, nicht mehr in Bausch und Bogen.

Wer heute gut und heilig sein wollte, hätte es schwerer: er dürfte, um gut zu sein, nicht so ungerecht gegen das Wissen sein, wie es die frühern Heiligen waren. Es müsste ein Wissender-Heiliger sein: Liebe und Weisheit verbindend; und mit einem Glauben an Götter oder Halbgötter oder Vorsehungen dürfte er nichts mehr zu schaffen haben; wie damit auch die indischen Heiligen nichts zu thun hatten. Auch müsste er gesund sein und sich gesund erhalten; sonst würde er gegen sich misstrauisch werden müssen. Und vielleicht würde er gar nicht einem asketisch Heiligen ähnlich sehen, vielleicht gar einem Lebemanne.

5 [27]

Alle Arten die Geschichte zu behandeln sind schon am Alterthum versucht. Vor allem aber hat man genug erfahren, um nun die Geschichte des Alterthums sich zu nutze zu machen – ohne am Alterthum zu Grunde zu gehen.

5 [28]

Die deutsche Reformation entfernte uns vom Alterthum: musste sie das? Sie entdeckte den alten Widerspruch „Heidenthum, Christenthum" von neuem; sie war zugleich ein Protest gegen die dekorative Cultur der Renaissance; es war ein Sieg über dieselbe Cultur, die beim Beginn des Christenthums besiegt wurde.

5 [29]

Das Christenthum hat in Betreff der "weltlichen Dinge" gerade die gröberen Ansichten der Alten conservirt. Alles Edlere in Ehe, Sklaverei Staat ist unchristlich. Es brauchte die entstellenden Züge der Weltlichkeit, um sich zu beweisen.

5 [30]

Ich träume eine Genossenschaft von Menschen, welche unbedingt sind, keine Schonung kennen und "Vernichter" heissen wollen: sie halten an alles den Maassstab ihrer Kritik und opfern sich der Wahrheit. Das Schlimme und Falsche soll an's Licht! Wir wollen nicht vorzeitig bauen, wir wissen nicht, ob wir je bauen können und ob es nicht das Beste ist, nicht zu bauen. Es giebt faule Pessimisten, Resignisten – zu denen wollen wir nicht gehören.

5 [31]

Eigenthümlich bedeutende Stellung der Philologen: ein ganzer Stand, dem die Jugend anvertraut ist und der ein spezielles Alterthum zu erforschen hat. Offenbar legt man den höchsten Werth auf dies Alterthum. Wenn man das Alterthum aber falsch abgeschätzt hätte, so fehlte plötzlich das Fundament für die erhabene Stellung der Philologen. Jedenfalls hat man das Alterthum sehr verschieden abgeschätzt: und darnach hat sich jedesmal die Würdigung der Philologen gerichtet. Dieser Stand hat seine Kraft aus starken Vorurtheilen zu Gunsten des Alterthums geschöpft. – Dies ist zu schildern. – Jetzt fühlt er, daß wenn endlich diesen Vorurtheilen gründlich widersprochen würde und das Alterthum rein geschildert würde, sofort jenes günstige Vorurtheil für die Philologen schwände. Es ist also ein Standesinteresse, reinere Einsichten über das Alterthum nicht aufkommen zu lassen: zumal die Einsicht, daß das Alterthum im tiefsten Sinne unzeitgemäß macht.

Es ist zweitens ein Standesinteresse der Philologen, keine höhere Anschauung über den Lehrerberuf aufkommen zu lassen als die, welcher sie entsprechen können.

5 [32]

Hoffentlich giebt es einige, die es als Problem empfinden, warum gerade die Philologen die Erzieher der edleren Jugend sein sollen. Es wird vielleicht nicht immer so sein. – An sich wäre es ja viel natürlicher,- daß man der Jugend geographische naturwissenschaftliche national-ökonomische gesellige Grundsätze beibrächte, daß man sie allmählich zur Betrachtung des Lebens führte und endlich, spät, die merkwürdigsten Vergangenheiten vorführte. So daß Kenntniß des Alterthums zum letzten gehörte, was einer erwürbe; ist diese Stellung des Alterthums in der Erziehung die für das Alterthum ehrenvollere oder die gewöhnliche? – Jetzt wird es als Propädeutik benutzt, für Denken, Sprechen und Schreiben; es gab eine Zeit, wo es der Inbegriff der weltlichen Kenntnisse war und wo man eben das durch seine Erlernung erreichen wollte, was man jetzt durch jenen eben beschriebenen Studienplan erreichen würde (der sich eben den vorgerückten Kenntnissen der Zeit entsprechend verwandelt hat). Also hat sich die innere Absicht im philologischen Lehrerthum ganz umgeändert, einst war dies die materiale Belehrung, jetzt nur noch die formale

5 [33]

Die Verbindung von Humanismus und religiösem Rationalismus ist als sächsisch gut von Köchly hervorgehoben: der Typus dieses Philologen ist G. Hermann.

5 [34]

Ist es wahr, daß der Philolog, insofern er das Alterthum zur formalen Bildung verwendet, selber formal gebildet ist?

Aber was für ein Gegensatz! formal und material! Hier ist Material Kenntnisse, Fakta. Formal die Art, wie man denkt spricht schreibt, also wie man Kenntnisse sich verschafft und sie verbreitet.

5 [35]

Wäre die Aufgabe des Philologen formal zu erziehen, so müßte er gehen, tanzen, sprechen, singen, sich gebaren, sich unterreden lehren: und das lernte man auch ungefähr bei den formalen Erziehern des zweiten und dritten Jahrhunderts. Aber so denkt man immer nur an die Erziehung des wissenschaftlichen Menschen und da heißt „formal": denken und schreiben, kaum reden."

5 [36]

Ausgewählte Punkte aus dem Alterthum: z.B. die Macht das Feuer der Schwung in der antiken Musikempfindung (durch die erste pythische Ode), die Reinheit in der historischen Empfindung und die Dankbarkeit für die Segnungen der Cultur, Feuer-Feste, Getreidefeste. Die Veredelung der Eifersucht, die Griechen das eifersüchtigste Volk. Der Selbstmord, Haß gegen das Alter z. B. gegen die Armut. Empedokles über die Geschlechtsliebe.

5 [37]

Ich beklage eine Erziehung, bei der es nicht erreicht ist, Wagner zu verstehen, bei der Schopenhauer rauh und mißtönend klingt; diese Erziehung ist verfehlt.

5 [38]

Es giebt einen alten Kampf der Deutschen gegen das Alterthum d. h. gegen die alte Cultur: es ist gewiß, daß gerade das Beste und Tiefste am Deutschen sich mit sträubt. Aber der Hauptpunkt ist doch der: jenes Sträuben ist nur im Recht, wenn man die romanisirte Cultur meint: diese ist aber bereits der Abfall einer viel tieferen und edleren. Gegen diese sträubt sich der Deutsche mit Unrecht.

5 [39]

Ich sehe in den Philologen eine verschworene Gesellschaft, welche die Jugend an der antiken Cultur erziehn will; ich würde es verstehen, wenn man diese Gesellschaft und ihre Absichten von allen Seiten kritisirte. Da käme nun viel darauf an, zu wissen, was diese Philologen unter antiker Cultur verstehen. – Sähe ich z. B. daß sie gegen die deutsche Philosophie und Musik erzögen, so würde ich sie bekämpfen oder auch die antike Cultur bekämpfen, ersteres vielleicht, indem ich zeigte, daß die Philologen die antike Cultur nicht verstanden haben. Nun sehe ich 1) großen Wechsel in der Schätzung der antiken Cultur bei den Philologen 2) etwas tief Unantikes in ihnen selbst, Unfreies 3) Unklarheit darüber, welche antike Cultur sie meinen 4) in den Mitteln vieles Verkehrte z. B. Gelehrsamkeit 5) Verquickung mit Christenthum.

5 [40]

Gesunder gewandter Körper, reiner und tiefer Sinn in der Betrachtung des Allernächsten, freie Männlichkeit, Glaube an gute Rasse und gute Erziehung, kriegerische Tüchtigkeit, Eifersucht im aoisteuein, Lust an den Künsten, Ehre der freien Muße, Sinn für freie Individuen, für das Symbolische.

5 [41]

Ein Colleg über „System der Cultur".

1. Das endlich klar erkannte Ziel der Cultur.

2. Geschichte der Ziele und ihrer Irrthümer.

3. Mittel der Cultur.

5 [42]

Pläne für das Leben.

Unzeitgemässe Betrachtungen. Für die dreissiger Jahre meines Lebens.

Die Griechen. Für die vierziger Jahre meines Lebens.

Reden an die Menschheit. Für die fünfziger Jahre meines Lebens.

5 [43]

Wenn das Gymnasium zur Wissenschaft erziehn soll, so sagt man jetzt: es kann die Vorbereitung zu keiner Wissenschaft mehr geben, so umfassend sind die Wissenschaften geworden. Folglich muß man allgemein d. h. für alle Wissenschaften d. h. für die Wissenschaftlichkeit vorbereiten – und dazu dienen die klassischen Studien! – Wunderlicher Sprung! Eine sehr verzweifelte Rechtfertigung! Das Bestehende soll Recht behalten, auch nachdem klar eingesehn ist, daß das bisherige Recht, auf dem es ruhte, zum Unrecht geworden ist.

5 [44]

In Betreff der Einfachheit des Alterthums steht es wie bei der Einfachheit des Stils; es ist das Höchste, was man erkennt und nachzuahmen hat, aber auch das Letzte. Man denke daß die klassische Prosa der Griechen auch ein spätes Resultat ist.

5 [45]

Das Fundament, auf dem noch die allgemeine Schätzung des Alterthums ruht, sind Vorurtheile: werden diese beseitigt, so dürfte sich die Schätzung in einen gründlichen Haß verwandeln. Hegen nun die Philologen auch diese Vorurtheile? Dann kennen sie das Alterthum nicht. Hegen sie dieselben nicht – wie steht es dann mit ihrer Redlichkeit! Wo zeigt sich aber, daß sie dieselben absichtlich zerstörten?

5 [46]

Kennen die Philologen die Gegenwart? Ihre Urtheile über dieselbe als perikleische, ihre Verirrungen des Urtheils, wenn sie von einem Homer congenialen Geiste Freitags reden usw., ihr Nachlaufen, wenn die Litteraten voranlaufen. Ihr Verzichtleisten auf den heidnischen Sinn, den gerade Goethe als den alterthümlichen bei Winckelmann entdeckt hatte.

5 [47]

Unsre Stellung zum klassischen Alterthum ist im Grunde die tiefe Ursache der Unproduktivität der modernen Cultur: denn diesen ganzen modernen Culturbegriff haben wir von den hellenisirten Römern. Wir müssen im Alterthum selbst scheiden: indem wir seine einzig produktive Zeit kennen lernen, verurtheilen wir auch die ganze alexandrinisch-romanische Cultur. Aber zugleich verurtheilen wir unsre ganze Stellung zum Alterthum und unsre Philologie zugleich!

5 [48]

Es giebt eine Art, sich philologisch zu beschäftigen, und sie ist häufig: man wirft sich besinnungslos auf irgend ein Gebiet oder wird geworfen: von da aus sucht man rechts und links, findet manches Gute und Neue – aber in einer unbewachten Stunde sagt man sich doch: was Teufel geht mich gerade das alles an? Inzwischen ist man alt geworden, hat sich gewöhnt und läuft so weiter, so wie in der Ehe.

5 [49]

Im Ganzen hat die heutige Philologie den leitenden Faden verloren: die welche sie früher leiteten, werden verneint; aber im Ganzen beruht die ganze Wirkung und Schätzung noch auf dem Ruhm jener frühern Leitung, z. B. dem der Humanität.

5 [50]

Es giebt Dinge, über die das Alterthum belehrt, über welche ich nicht leicht mich öffentlich aussprechen möchte.

5 [51]

Es ist fast lächerlich zu sehen, wie fast alle Wissenschaften und Künste in der neueren Zeit wieder aus dem Samen aufwachsen, der aus dem Alterthum zugeweht wird, und wie das Christenthum hier nur als ein böser Frost einer langen Nacht erscheint, bei dem man glauben sollte, es sei für alle Zeit mit der Vernunft und der Ehrlichkeit der Menschen vorbei. Der Kampf gegen den natürlichen Menschen hat den unnatürlichen Menschen gemacht.

5 [52]

Wie man die jungen Leute mit den Alten bekannt macht, hat was Respektwidriges: noch schlimmer, es ist unpädagogisch; denn was soll die Bekanntschaft mit Dingen, die der Jüngling unmöglich mit Bewußtsein verehren kann! Vielleicht soll er lernen zu glauben; und desshalb wünsche ich es nicht.

5 [53]

Denen, welche sagen: "aber immer bleibt doch noch das Alterthum übrig als Objekt reiner Wissenschaft, wenn auch alle seine erziehenden Absichten geleugnet werden", ist zu antworten: was ist hier reine Wissenschaft! Es sollen Handlungen und Eigenschaften beurtheilt werden, und der Urtheilende muß darüber stehen: also hättet ihr erst dafür zu sorgen, das Alterthum zu überwinden. Bevor ihr das nicht thut, ist eure Wissenschaft nicht rein, sondern unrein und beschränkt: wie es zu spüren ist.

5 [54]

Wie es mit den Philologen steht, zeigt ihre Gleichgültigkeit beim Erscheinen Wagner's. Sie hätten noch mehr lernen können als durch Goethe – und sie haben noch keinen Blick hingeworfen. Das zeigt: es führt sie kein starkes Bedürfniß: sonst hätten sie ein Gefühl, wo ihre Nahrung zu finden ist.

5 [55]

Plan zu Capitel 1.

Philologie von allen Wissenschaften bis jetzt die begünstigtste: grösste Zahl, seit Jahrhunderten, bei allen Völkern gefördert, die Obhut der edlern Jugend und somit den schönsten Anlass sich fortzupflanzen und Achtung vor sich zu erwecken. Wodurch hat sie diese Macht erlangt?

Aufzählung der verschiedenen Vorurtheile zu ihren Gunsten.

Wie nun, wenn diese als Vorurtheile erkannt würden? – Bliebe wohl Philologie noch übrig, wenn man das Interesse eines Standes, eines Broterwerbes abrechnete? Wenn man über das Alterthum und seine Befähigung für die Gegenwart zu erziehn die Wahrheit sagte?

Cap. 2.

Um darauf zu antworten, sehe man die Erziehung zum Philologen, seine Genesis an: er entsteht gar nicht mehr, wenn jenes Interesse wegfällt.

Cap. 3.

Wenn unsre öffentliche Welt dahinter käme, was das Alterthum eigentlich für ein unzeitgemässes Ding ist, so würden die Philologen nicht mehr zu Erziehern bestellt.

Cap. 4.

Nur das Bündniss zwischen den Philologen, die das Alterthum nicht verstehen wollen oder nicht können, und der öffentlichen Meinung, die von Vorurtheilen über dasselbe geleitet ist, giebt der Philologie jetzt noch ihre Kraft.

Cap. 5.

Der zukünftige Philologe als Sceptiker über unsre ganze Cultur und damit auch als Vernichter des Philologen-Standes.

5 [56]

Würde die Philologie noch als Wissenschaft existiren, wenn ihre Diener nicht Erzieher, mit Besoldungen wären? In Italien gab es solche. Wer stellt einen Deutschen neben Leopardi z. B.?

5 [57]

Wirkung auf Nicht-Philologen gleich Null. Würden sie imperativisch und verneinend, o wie würden sie angefeindet! Aber sie ducken sich.

Die Griechen wirklich und ihre Abschwächung durch die Philologen.

5 [58]

Alle Geschichte ist bis jetzt vom Standpuncte des Erfolges und zwar mit der Annahme einer Vernunft im Erfolge geschrieben. Auch die griechische Geschichte: wir besitzen noch keine. Aber so steht es überhaupt: wo sind Historiker, die nicht von allgemeinen Flausen beherrscht die Dinge ansehn? Ich sehe nur einen – Burckhardt. Überall der breite Optimismus in der Wissenschaft. Die Frage: "was wäre geschehn, wenn das und das nicht eingetreten wäre" wird fast einstimmig abgelehnt, und doch ist sie gerade die kardinale Frage, wodurch alles zu einem ironischen Dinge wird. Man sehe nur sein Leben an. Wenn man nach Plan in der Geschichte sucht, so suche man ihn in den Absichten eines gewaltigen Menschen, vielleicht in denen eines Geschlechtes, einer Partei. Alles übrige ist ein Wirrsal. – Auch in der Naturwissenschaft ist diese Vergötterung des Nothwendigen. –

Deutschland ist die Brutstätte für den historischen Optimismus geworden: daran mag Hegel mit Schuld sein. Aber durch nichts hat die deutsche Cultur verhängnissvoller gewirkt. Alles durch den Erfolg Unterdrückte bäumt sich allmählich auf; die Geschichte als der Hohn der Sieger; servile Gesinnung und Devotion vor dem Faktum – "Sinn für den Staat" nennt man's jetzt: als ob der noch hätte gepflanzt werden müssen! Wer nicht begreift, wie brutal und sinnlos die Geschichte ist, der wird auch den Antrieb gar nicht verstehn die Geschichte sinnvoll zu machen. Nun sehe man, wie selten eine solche sinnvolle Erkenntniss des eignen Lebens ist wie die Goethes: was soll nun aus allen diesen verschleierten und blinden Existenzen Vernünftiges geschehn, wenn sie mit und gegeneinander chaotisch wirken.

Besonders naiv ist es nun, wenn Hellwald, der Verfasser einer Cultur-Geschichte, von allen "Idealen" abwinkt, weil die Geschichte immer eins nach dem andern abgethan habe.

5 [59]

Griechen und Philologen.

Die Griechen huldigen der Schönheit Philologen sind Schwätzer und Tändler.

sie entwickeln den Leib hässliche Gehege.

sie sprechen gut Stammler.

religiöse Verklärer des Alltäglichen schmutzige Pedanten.

Hörer und Schauer Wortklauber und Nachteulen.

für das Symbolische Unfähigkeit zur Symbolik

freie Männlichkeit Staatssclaven mit Inbrunst

reiner Blick in die Welt verzwickte Christen

Pessimisten des Gedankens Philister

5 [60]

Es ist wahr, der Humanismus und die Aufklärung haben das Alterthum als Bundesgenossen in's Feld geführt: und so ist es natürlich, dass die Gegner des Humanismus das Alterthum anfeinden. Nur war das Alterthum des Humanismus ein schlecht erkanntes und ganz gefälschtes: reiner gesehn ist es ein Beweis gegen den Humanismus, gegen die grundgütige Menschen-Natur usw. Die Bekämpfer des Humanismus sind im Irrthum, wenn sie das Alterthum mit bekämpfen: sie haben da einen starken Bundesgenossen.

5 [61]

Religionen verstehe ich als Narkosen: aber werden sie solchen Völkern gegeben wie den Germanen, so sind es reine Gifte.

5 [62]

Welchen Zustand nahmen nur die Griechen als Vorbild für ihr Leben im Hades? Blutlos, traumhaft, schwach: es ist die nochmalige Steigerung des Greisenalters: wo das Gedächtniß noch mehr schwindet und der Leib auch noch mehr. Das Greisenalter des Greisenalters – so leben wir in den Augen des Hellenen.

5 [63]

Wie wirklich die Griechen selbst in reinen Erfindungen waren, wie sie an der Wirklichkeit fortdichteten, nicht sich aus ihr hinaus sehnten.

5 [64]

Erziehung ist erst Lehre vom Nothwendigen, dann vom Wechselnden und Veränderlichen. Man führt den Jüngling in die Natur, zeigt ihm überall das Walten von Gesetzen; dann die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft: hier wird schon die Frage rege: mußte dies so sein? Allmählich braucht er Geschichte, um zu hören, wie das so geworden ist. Aber damit lernt er, daß es auch anders werden kann. Wie viel Macht über die Dinge hat der Mensch? dies ist die Frage bei aller Erziehung. Um nun zu zeigen, wie ganz anders es sein kann, zeige man z. B. die Griechen. Die Römer braucht man, um zu zeigen wie es so wurde.

5 [65]

Die Griechen als das einzig geniale Volk der Weltgeschichte; auch als Lernende sind sie dies, sie verstehen dies am besten und wissen nicht bloß zu schmücken und zu putzen mit dem Entlehnten: wie es die Römer thun.

Die Constitution der Polis ist eine phönizische Erfindung: selbst dies haben die Hellenen nachgemacht. Sie haben lange Zeit wie freudige Dilettanten an allem herum gelernt; wie auch die Aphrodite phönizisch ist. Sie leugnen auch gar nicht das Eingewanderte und Nicht-Ursprüngliche ab.

5 [66]

Die Aegypter sind vielmehr ein litterarisches Volk als die Griechen. Dies gegen Wolf.

5 [67]

Das erste Korn in Eleusis, die erste Rebe in Theben, der erste Ölbaum, Feigenbaum.

5 [68]

Aegypten hatte seinen Mythus wesentlich verloren.

5 [69]

Das leibhafte Erscheinen von Göttern, wie bei Sappho's Anrufung der Aphrodite, ist nicht als poetische Lizenz zu verstehen, es sind häufige Hallucinationen. Vieles, wie auch den Wunsch zu sterben, fassen wir flach auf, als rhetorisch.

5 [70]

Griechen das Genie unter den Völkern.

Kindes-Natur. Leichtgläubig.

Leidenschaftlich. Unbewußt leben sie der Erzeugung des Genius. Feinde der Befangenheit und Dumpfheit. Schmerz. Unverständiges Handeln. Ihre Art von intuitiver Einsicht in das Elend, bei goldenem genial-frohem Temperament. Tiefsinn im Erfassen und Verherrlichen des Nächsten (Feuer Ackerbau). Lügnerisch. Unhistorisch. Die Kulturbedeutung der Polis instinktiv erkannt; Centrum und Peripherie für den großen Menschen günstig. (Die Übersichtlichkeit einer Stadtgemeinde, auch die Möglichkeit sie als Ganzes anzureden.) Das Individuum zur höchsten Kraft durch die Polis gesteigert. Neid, Eifersucht wie bei genialen Leuten.

5 [71]

Die Erholungen der Spartaner bestanden in Festen, Jagd und Krieg: ihr alltägliches Leben war zu hart. Im Ganzen ist ihr Staat doch eine Karikatur der Polis und ein Verderben von Hellas. Die Erzeugung des vollkommnen Spartaners – aber was ist er Großes, daß seine Erzeugung einen so brutalen Staat brauchte!

5 [72]

Die griechische Cultur ruht auf dem Herrschafts-Verhältniß einer wenig zahlreichen Classe gegen 4-5mal so viel Unfreie. Der Masse nach war Griechenland ein von Barbaren bewohntes Land. Wie kann man die Alten nur human finden! Gegensatz des Genie's gegen den Broderwerber, das halbe Zug- und Lastthier. Die Griechen glaubten an eine Verschiedenheit der Rasse: Schopenhauer wundert sich, daß es der Natur nicht beliebt habe, zwei getrennte Species zu erfinden.

5 [73]

Zum Griechen verhält sich der Barbar, wie „zum freibeweglichen, ja geflügelten Thiere die an ihren Felsen gekittete Muschel, welche abwarten muß, was der Zufall ihr zuführt". Schopenhauer'sches Bild.

5 [74]

"Im Einzelnen stets das Allgemeine zu sehen ist gerade der Grundzug des Genie's" Schopenhauer. Man denke an Pindar, an die PoomhJ eia usw. Die "Besonnenheit", nach Schopenhauer, hat zunächst ihre Wurzel in der Deutlichkeit, mit welcher die Griechen der Welt und ihrer selbst inne werden und dadurch zur Besinnung darüber kommen.

5 [75]

Das „weite Auseinandertreten des Willens und des Intellektes" bezeichnet die Genies, und auch die Griechen.

5 [76]

"Die dem Genie beigegebene Melancholie beruht darauf, daß der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekte er sich beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt." Schopenhauer. Cf. die Griechen!

5 [77]

Wie stechen die Römer durch ihren trockenen Ernst gegen die genialen Griechen ab! Schopenhauer: „der feste praktische Lebensernst, welchen die Römer als gravitas bezeichneten, setzt voraus, daß der Intellekt nicht den Dienst des Willens verlasse, um hinauszuschweifen zu dem, was diesen nicht angeht."

5 [78]

Die Mäßigkeit der Griechen in ihrem sinnlichen Aufwand, Essen und Trinken und ihre Lust daran: die olympischen Spiele und ihre Vergötterung – das zeigt, was sie waren.

5 [79]

Beim Genie wird "der Intellekt die Fehler zeigen, die bei jedem Werkzeuge, welches zu dem, wozu es nicht gemacht ist, gebraucht wird, nicht auszubleiben pflegen." "Er läßt den Willen oft sehr zur Unzeit im Stich: so wird das Genie für das Leben mehr oder weniger unbrauchbar, ja erinnert in seinem Betragen mitunter an den Wahnsinn."

5 [80]

"Wenn die abnorm erhöhte Erkenntnißkraft sich plötzlich, mit aller ihrer Energie, auf die Angelegenheiten und Miseren des Willens richtet – da wo alles zu lebhaft, in zu grellen Farben, zu hellem Lichte, ins Ungeheure vergrößert; dann verfällt das Individuum auf lauter Extreme."

5 [81]

Es fehlt den Griechen die Nüchternheit. Übergroße Sensibilität, abnorm erhöhtes Nerven- und Cerebralleben, Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit des Wollens.

5 [82]

Das glücklichste Loos, welches dem Genie werden kann, ist Entbindung vom Thun und Lassen und freie Muße: und so wußten die Griechen zu schätzen. Segen der Arbeit! nugari nannten die Römer alles Tichten und Trachten der Hellenen.

Es hat keinen glücklichen Lebenslauf, es steht im Widerspruch und Kampf mit seiner Zeit. So die Griechen: sie bemühten sich ungeheuer, instinktiv, sich ein sicheres Gehäuse (in der Polis) zu schaffen. Endlich gieng alles in der Politik zu Grunde.

Sie waren gezwungen nach außen hin Stand zu halten: das wurde immer schwieriger, endlich unmöglich.

5 [83]

Mit einer Veränderung eines Wortes von Bako von Verulam kann man sagen: infimarum Graecorum virtutum, apud philologos, laus est, mediarum admiratio, supremarum sensus nullus.

5 [84]

Der kindliche Charakter der Griechen von den Aegyptern empfunden.

5 [85]

Das Steigern des Gegenwärtigen ins Ungeheure und Ewige z.B. bei Pindar.

5 [86]

Die unmathematische Schwingung der Säule in Pästum z. B. ist ein Analogon zur Modifikation des Tempos: Belebtheit an Stelle eines maschinenhaften Bewegtseins.

5 [87]

Es ist das Werk aller Erziehung, bewußte Thätigkeiten in mehr oder weniger unbewußte umzubilden: und die Geschichte der Menschheit ist in diesem Sinne ihre Erziehung. Der Philologe nun übt eine Menge Thätigkeiten so unbewußt: das will ich einmal untersuchen, wie seine Kraft, d. h. sein instinktives Handeln, das Resultat von ehemals bewußten Thätigkeiten ist, die er allmählich als solche kaum mehr fühlt: aber jenes Bewußtsein bestand in Vorurtheilen. Seine jetzige Kraft beruht auf jenen Vorurtheilen, z. B. die Schätzung der ratio wie bei Bentley, Hermann. Die Vorurtheile sind, wie Lichtenberg sagt, die Kunsttriebe des Menschen.

5 [88]

Fertigkeiten erwartet man von der Beschäftigung mit den Alten: früher z. B. Schreiben und Sprechen können. Aber welche erwartet man jetzt! – Denken und Schließen: aber dies erlernt man nicht von den Alten, sondern höchstens an den Alten, vermittelst der Wissenschaft. Zudem ist aber alles historische Schließen sehr bedingt und unsicher: man sollte das naturwissenschaftliche vorziehn.

5 [89]

Proklos, der den aufgehenden Mond in feierlicher Weise anbetet.

5 [90]

Die ererbte Abrichtung der jetzigen Philologen: eine gewisse Unfruchtbarkeit der Grundeinsichten hat sich ergeben; denn sie bringen die Wissenschaft, aber nicht die Philologen vorwärts.

5 [91]

Das politische Unterliegen Griechenlands ist der größte Mißerfolg der Cultur: denn es hat die gräßliche Theorie aufgebracht, daß man die Cultur nur pflegen könne, wenn man zugleich bis an die Zähne bewaffnet und mit Fausthandschuhen angethan sei. Das Aufkommen des Christenthums war der zweite große Mißerfolg: die rohe Macht dort, der dumpfe Intellekt hier kamen zum Siege über das aristokratische Genie unter den Völkern. Philhellene sein heißt Feind der rohen Macht und der dumpfen Intellekte sein. Insofern war Sparta das Verderben von Hellas, insofern es Athen zwang bundesstaatlich zu wirken und sich ganz auf Politik zu werfen.

5 [92]

Sicher steht im Ganzen Großen das Wachsen der militärischen Kraft der Menschheit. Der Sieg der kräftigeren Nation: allmählich ist es nicht nur der Maaßstab des körperlicher, sondern noch mehr des geistigen Kräftiger-seins.

5 [93]

In Sokrates haben wir einen Vorgang des Bewußtseins gleichsam vor uns offen liegen, aus dem später die Instinkte des theoretischen Menschen entstanden sind. Daß jemand lieber sterben will als alt und schwach im Geiste werden.

5 [94]

Mit dem Christenthum erlangte eine Religion das Obergewicht, welche einem vorgriechischen Zustand des Menschen entsprach: Glaube an Zaubervorgänge in allem und jedem, blutige Opfer, abergläubische Angst vor dämonischen Strafgerichten, Verzagen an sich selbst, ekstatisches Brüten und Halluciniren, der Mensch sich selber zum Tummelplatz guter und böser Geister und ihrer Kämpfe geworden.

5 [95]

Es wäre viel glücklicher noch gewesen, daß die Perser als daß gerade die Römer über die Griechen Herr wurden.

5 [96]

Der herrliche Sinn für Ordnung und Gliederung hat den Staat der Athener unsterblich gemacht. – Die zehn Strategen in Athen! toll! gar zu sehr ein Opfer auf dem Altar der Eifersucht.

5 [97]

Statut der Gesellschaft der Unzeitgemässen.

Jeder hat vierteljährlich einen schriftlichen Bericht über seine Thätigkeit einzusenden.

O. R. G. B. N.

5 [98]

Zur Einleitung der Gesammtherausgabe der Unzeitgemässen".

Die Entstehung zu schildern: meine Desperation wegen Bayreuth, ich sehe nichts mehr, was ich nicht voll Schuld weiss, ich entdecke bei tieferem Nachdenken, auf das fundamentalste Problem aller Cultur gestossen zu sein. Mitunter fehlt mir alle Lust fortzuleben. Aber dann wieder sage ich mir: wenn einmal gelebt sein soll, dann jetzt. – Straussen hielt ich eigentlich für mich für zu gering: bekämpfen mochte ich ihn nicht. Ein paar Worte Wagner's in Strassburg.

5 [99]

Wenn nun die Römer die griechische Cultur verschmäht hätten: sie wäre vielleicht radikal zu Grunde gegangen. Woran hätte sie wieder erwachen sollen? Christenthum und Römer und Barbaren – das wäre ein Ansturm gewesen. Völlig verwischt. Wir sehen die Gefahr, unter der das Genie lebt. Cicero ist so schon einer der größten Wohlthäter der Menschheit. – Es giebt für das Genie keine Vorsehung: nur für die gewöhnlichen massenhaften Menschen und ihre Nöthe giebt es so etwas; sie finden ihre Befriedigung, später ihre Rechtfertigung.

5 [100]

Aus der gegenseitigen Todtfeindschaft erwächst die griechische poliz, und das aien aoisteueln. Hellenisch und philantropisch waren Gegensätze, obschon die Alten genug sich geschmeichelt haben.

5 [101]

Homer, in der Welt der hellenischen Zwietracht, der panhellenische Grieche.

Der Wettkampf der Griechen zeigt sich auch im Symposion, in der Form des geistreichen Gesprächs.

5 [102]

Das Genie macht alle Halbbegabten tributpflichtig: so schickten Perser selbst ihre Gesandtschaften an die griechischen Orakel.

5 [103]

Zu einem griechischen Polytheismus gehört viel Geist; es ist freilich sparsamer mit dem Geist umgegangen, wenn man nur einen <Gott> hat.

5 [104]

Die Moral beruht nicht auf der Religion, sondern auf der poliz.

Es gab nur Priester einzelner Götter, nicht Vertreter der ganzen Religion: also keinen Stand. Ebenfalls keine heilige Urkunde.

5 [105]

Die "leichtlebenden Götter" ist die höchste Verschönerung, die der Welt zu Theil geworden ist; im Gefühl wie schwer es sich lebt.

5 [106]

Ob es viele begabte Philologen gegeben hat? Ich zweifle; denn zu langsam bricht sich die Vernunft bei ihnen Bahn (Handschriften zählen usw.) – Wort- und Sach-philologie – dummer Streit! – und dann die übertriebene Schätzung irgend eines klugen Mannes unter ihnen!

5 [107]

Das Humanistische ist von Karl dem Großen mächtig angepflanzt worden, während er gegen das Heidnische mit den härtesten Zwangsmitteln vorgieng. Die antike Mythologie wurde verbreitet, die deutsche wie ein Verbreden behandelt. Ich glaube, hier lag das Gefühl zu Grunde, daß das Christenthum eben schon fertig geworden sei mit der antiken Religion: man fürchtete sie nicht, aber benutzte die auf ihr ruhende Cultur des Alterthums. Die deutsche Götterwelt fürchtete man. – Eine große Äußerlichkeit in der Auffassung des Alterthums, fast nur die Schätzung seiner formalen Fertigkeiten und seiner Kenntnisse, muß hier gepflanzt worden sein. Es sind die Mächte zu nennen, die einer Vertiefung der Einsicht ins Alterthum im Wege gestanden haben. Zunächst 1) wird die alterthümliche Cultur als Reizmittel zur Annahme des Christenthums benutzt: es ist gleichsam das Draufgeld für die Bekehrung. Die Versüßung beim Einschlürfen jenes Giftes. Dann war man der Hülfsmittel der antiken Cultur benöthigt, 2) als Waffen zum geistigen Schutz des Christenthums. Selbst die Reformation konnte die klassischen Studien in diesem Sinne nicht entbehren. Dagegen beginnt nun die Renaissance mit reinerem Sinne die klassischen Studien, aber durchaus auch im christenfeindlichen; sie zeigt ein Erwachen der Ehrlichkeit im Süden, wie die Reformation im Norden. Vertragen konnten sie sich freilich nicht, denn ernstliche Neigung zum Alterthum macht unchristlich. Es ist der Kirche im Ganzen gelungen, den klassischen Studien eine unschädliche Wendung zu geben: der Philologe wurde erfunden, als Gelehrter, der im übrigen Priester oder sonst so etwas ist: und auch im Bereiche der Reformation gelang es, den Gelehrten ebenfalls zu castriren. Deshalb ist Friedrich August Wolf merkwürdig, weil er den Stand von der Zucht der Theologie befreite: aber seine That wurde nicht völlig verstanden, denn ein angreifendes aktives Element, wie es den Poeten-Philologen der Renaissance anhaftet, wurde nicht entwickelt. Die Befreiung kam der Wissenschaft, nicht den Menschen zu Gute.

5 [108]

Das Unvolksthümliche der neuen Renaissance-Kultur! Eine furchtbare Thatsache!

5 [109]

Was ist nun jetzt noch das Alterthum, gegenüber moderner Kunst und Wissenschaft und Philosophie? Nicht mehr die Schatzkammer aller Kenntnisse, in Natur- und Geschichtskenntniß ist es überwunden. Die Unterdrückung durch die Kirche ist gebrochen. Es ist jetzt eine reinere Kenntniß des Alterthums möglich, aber auch wohl eine wirkungslosere, schwächere? – Das ist richtig: wenn man die Wirkung nur als Massenwirkung kennt; aber für die Erzeugung der größten Geister ist das Alterthum mehr wie je kräftig. Goethe als deutscher Poet-Philolog; Wagner als noch höhere Stufe: Hellblick für die einzig würdige Stellung der Kunst; nie hat ein antikes Werk so mächtig gewirkt, wie die Oresteia auf Wagner. Der objektive-kastrirte Philolog, der im übrigen Bildungsphilister und Kulturkämpfer ist, und daneben reine Wissenschaft treibt, ist freilich eine traurige Erscheinung.

5 [110]

Bentley war zugleich defensor fidei; und Scaliger war freilich ein Feind der Jesuiten, und sehr angegriffen.

5 [111]

Zwischen unsrer höchsten Kunst und Philosophie und zwischen dem wahrhaft erkannten ältern Alterthum ist kein Widerspruch: sie stützen und tragen sich. Hier liegen meine Hoffnungen.

5 [112]

Es giebt Gebiete, wo die ratio nur Unfug anrichten wird, und der Philolog, der nichts weiter hat, damit verloren ist und nie die Wahrheit sehen kann, z. B. bei Betrachtung der griechischen Mythologie. Natürlich hat ein Phantast auch noch keinen Anspruch: man muß griechische Phantasie und etwas von griechischer Frömmigkeit haben. Selbst der Dichter braucht in sich nicht consequent zu sein: überhaupt ist Consequenz das Letzte, wozu sich die Griechen verstehen würden.

5 [113]

Fast alle griechischen Gottheiten sind angesammelte, eine Schicht wieder über der andern, bald verwachsen, bald nothdürftig verkittet. Dies wissenschaftlich auseinanderzuklauben scheint mir kaum möglich: denn dafür kann es keine gute Methode geben: der elende Schluß der Analogie ist hier schon ein sehr guter Schluß.

5 [114]

Wie fern muß man den Griechen sein, um ihnen eine solche bornirte Autochthonie zuzutrauen wie O. Müller! Wie christlich, um mit Welcker die Griechen für ursprüngliche Monotheisten zu halten! Wie quälen sich die Philologen mit der Frage ab, ob Homer geschrieben habe, ohne den viel höheren Satz zu begreifen, daß die griechische Kunst eine lange innere Feindseligkeit gegen Schriftwesen hatte und nicht gelesen werden wollte.

5 [115]

Die Griechen waren von der Lust zu fabuliren gräßlich geplagt. Gar im Alltagsleben war es schwer, sie vom "mythischen", vom Schwindeln fernzuhalten: wie alles Poetenvolk eine solche Lust zur Lüge hat, nebst der Unschuld dazu. Die benachbarten Völker fanden das wohl verzweifelt.

5 [116]

Auf Bergen zu wohnen, viel Reisen, schnell von der Stelle zu kommen – darin kann man sich jetzt schon den griechischen Göttern gleichsetzen. Wir wissen auch das Vergangne und beinahe das Zukünftige. Was ein Grieche sagen würde, wenn er uns sähe? –

5 [117]

Die Götter machen den Menschen noch böser; so ist Menschennatur. Wen wir nicht mögen, von dem wünschen wir, daß er schlechter werde und freuen uns dann. Es gehört dies in die düstere Philosophie des Hasses, die noch nicht geschrieben ist, weil sie überall das pudendum ist, das jeder fühlt.

5 [118]

Der Panhellene Homer hat seine Lust an der Leichtfertigkeit der Götter; aber erstaunlich ist, wie er ihnen wieder Würde geben kann. Dieses ungeheure Sich-Aufschwingen ist aber griechisch.

5 [119]

Thukydides über den Staat.

Das tyrannische Element in jedem Aristokraten großgenährt: das verräth sich in den Gebeten (Xenophon Socrates). Sie hielten sich gegenseitig in Schranken: das Volk hielt wieder alle zusammen in Schranken, so gut es gieng.

5 [120]

Woher stammt nun der Neid der Götter? man glaubt nicht an ein ruhend stilles Glück, sondern nur an ein übermüthiges. Es muß den Griechen schlecht zu Muthe gewesen sein, allzu leicht verwundet war ihre Seele: es erbitterte sie, den Glücklichen zu sehen. Das ist griechisch. Wo es ein ausgezeichnetes Talent gab, da mag die Schaar der Eifersüchtigen ungeheuer groß gewesen sein: traf jenes ein Unglück, so sagte man aha! der war auch zu übermüthig". Und jeder hätte ebenso sich benommen, wenn er das Talent gehabt hätte, übermüthig; und jeder hätte gern etwas den Gott gespielt, der das Unglück schickt.

5 [121]

Die griechischen Götter verlangten keine Sinnesänderung und waren überhaupt nicht so lästig und zudringlich: da war es auch möglich, sie ernst zu nehmen und zu glauben. Zu Homer's Zeiten war das griechische Wesen übrigens fertig: Leichtfertigkeit der Bilder und der Phantasie ist nöthig, um das übermäßig leidenschaftliche Gemüth etwas zu beschwichtigen und zu befreien. Spricht bei ihnen der Verstand, o wie herbe und grausam erscheint das Leben! Sie täuschen sich nicht. Aber sie umspielen das Leben mit Lügen: Simonides rieth, das Leben wie ein Spiel nehmen: der Ernst war ihnen als Schmerz zu bekannt. Das Elend der Menschen ist den Göttern ein Genuß, wenn ihnen davon gesungen wird. Das wußten die Griechen, daß einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genuße werden könne, vide tragoediam.

5 [122]

Das eigentlich wissenschaftliche Volk, das Volk der Litteratur, sind die Aegypter und nicht die Griechen. Was wie Wissenschaft bei den Griechen aussieht, stammt daher und später kehrt es nach Aegypten zurück, um sich mit dem alten Strome wieder zu vereinigen. Alexandrinische Cultur ist eine Verquickung von Hellenisch und Aegyptisch: und wenn die neuere Welt an die Cultur der Alten anknüpft, dann hat sie – – –

5 [123]

Der Seher muß liebevoll sein, sonst hat er kein Vertrauen bei den Menschen: v. Kassandra.

5 [124]

Klassische Philologie ist der Herd der flachsten Aufklärung: immer unehrlich verwendet, allmählich ganz wirkungslos geworden. Ihre Wirkung ist eine Illusion mehr am modernen Menschen. Eigentlich handelt es sich nur um einen Erzieher-Stand, der nicht aus Pfaffen besteht: hier hat der Staat sein Interesse daran.

Ihr Nutzen ist vollständig aufgebraucht; während z. B. Geschichte des Christenthums noch ihre Kraft zeigt.

5 [125]

Aus den Reden über Philologie, wenn sie von Philologen stammen, erfährt man nichts, es ist die reinste Schwätzerei z. B. Jahn („Bedeutung und Stellung der Alterthumsstudien in Deutschland"). Gar kein Gefühl, was zu vertheidigen, was zu schützen ist: so reden Leute, die noch gar nicht darüber nachgedacht haben, daß man sie angreifen könnte.

5 [126]

Es ist gar nicht wahr, daß die Griechen nur auf dieses Leben ihre Blicke gerichtet hatten. Sie litten auch an der Todes- und Höllenangst. Aber keine Reue und Zerknirschung.

5 [127]

„Die frevelhafte gegenseitige Zernichtung (unvermeidlich, so lange noch eine einzige poliz leben wollte), ihr Neid gegen alles Höhere, ihre Habsucht, die Zerrüttung ihrer Sitte, die Sklavenstellung für die Frau, die Gewissenlosigkeit im Eidschwur, in Mord und Todschlag." B<urckhardt>.

5 [128]

Ungeheure Kraft der Selbstüberwindung z. B. im Bürger, in Sokrates, der zu allem Bösen fähig war.

5 [129]

Die Eigenschaften des Genialen ohne die Genialität treffen wir bei dem Durchschnittshellenen, im Grunde alle die gefährlichsten Eigenschaften des Gemüths und des Charakters.

5 [130]

Der „Dulder" ist hellenisch. Prometheus, Herakles.

Der Heroenmythus ist panhellenisch geworden; dazu gehörte freilich ein Dichter.

5 [131]

Wagner bildet die innere Phantasie des Menschen aus; spätere Generationen werden Zeugen von Bildwerken sein. Die Poesie muß der bildenden Kunst voran gehen.

5 [132]

„Klassische Bildung"! Was sieht man darin! Ein Ding, das nichts wirkt außer – Befreiung von militärischen Lasten und Doktortitel!

5 [133]

Den Stand der Philologen als Problem zu empfinden.

5 [134]

Wagner ehrt seine Kunst viel zu hoch, um sich in einen Winkel zu stecken wie Schumann. Entweder unterwirft er sich dem Publikum (Rienzi) oder er unterwirft es sich. Er züchtet es heran. Auch die Kleinen wollen ein Publikum, aber sie suchen es durch unkünstlerische Mittel, etwa Presse, Hanslick usw.

5 [135]

Philologen, die von ihrer Wissenschaft reden, rühren nie an die Wurzeln, sie stellen nie die Philologie als Problem hin. Schlechtes Gewissen? oder Gedankenlosigkeit?

5 [136]

"Aufklärung" und alexandrinische Bildung ist es – besten Falls! -, was Philologen wollen. Nicht Hellenenthum.

5 [137]

Die Consequenz, die man am Gelehrten schätzt, ist den Griechen gegenüber Pedanterie.

5 [138]

Klassische Bildung! Ja wenn es nur wenigstens soviel Heidenthum wäre, wie viel Goethe an Winckelmann fand und verherrlichte – es war nicht gar zu viel. Aber nun das ganze unwahre Christenthum unserer Zeiten mit dazu, oder mitten darunter – das ist mir zu viel und ich muß mir helfen, indem ich meinen Ekel einmal darüber auslasse. – Man glaubt förmlich an Zauberei, in Betreff dieser "klassischen Bildung"; aber natürlich müßten doch die, welche das Alterthum noch am meisten haben, auch diese Bildung am meisten haben, die Philologen: aber was ist an ihnen klassisch!

5 [139]

Früher schrieb man dem Teufel oder bösen Geistern seine Anfechtungen und Lüste zu: das gilt jetzt als Mährchen. So wird es auch ein Mährchen sein, einem Gotte seine guten Regungen und Erfolge zu danken. Beides sind Erleichterungen, man machte sich's damit bequem. Zu beweisen, wie bei der Religion ganz vornehmlich für die Bequemlichkeit gesorgt worden ist: nahe und bereite Ausreden und Ausflüchte.

5 [140]

Fünfjähriges Schweigen. Schüler Pfleger Erzieher.

5 [141]

Was ist Begabung? – Ein hohes Ziel und die Mittel dazu zu wollen.

5 [142]

Philologen sind solche Menschen, welche das dumpfe Gefühl der modernen Menschen über ihr eigenes Ungenügen benutzen, um darauf hin Geld und Brod zu erwerben.

Ich kenne sie, ich bin selber einer.

5 [143]

Die deutschen Gelehrten und sogenannten Denker, der wirklichen Geschichte fernstehend, haben die Geschichte zu ihrem Thema gemacht und, als geborene Theologen, den Nachweis ihrer Vernünftigkeit versucht. Ich fürchte, eine spätere Zeit wird als die heilloseste Mitgift diesen deutschen Beitrag zur europäischen Cultur erkennen: ihre Geschichte ist falsch!

5 [144]

Wir behandeln unsre Jünglinge als seien sie unterrichtete gereifte Männer, wenn wir ihnen die Griechen vorführen. Was eignet sich denn vom griechischen Wesen überhaupt für die Jugend? Zuletzt bleibt's gar beim Formalen, Einzelnes vorzuführen. Sind das Betrachtungen für junge Leute? –

Die beste und höchste Gesammtvorstellung von den Alten bringen wir doch den jungen Leuten entgegen? Oder nicht? Das Lesen der Alten wird so betont.

Ich glaube, die Beschäftigung mit dem Alterthum ist in eine falsche Stufe des Lebens verlegt. Ende der zwanziger fängt es an zu dämmern.

5 [145]

Alle Schwierigkeiten des historischen Studiums einmal durch das größte Beispiel zu verdeutlichen.

In wiefern unsre Jünglinge nicht zu den Griechen passen.

Folgen der hodmüthige Anticipation

Philologie: Bildungsphilisterei

Überschätzung von Lesen und Schreiben Ungründlichkeit Entfremdung vom Volk und Volks-Noth.

Die Philologen selbst (und Historiker und Philosophen <und> Juristen, alles durchräuchert vom Dunste).

Es sind wirkliche Wissenschaften der Jugend beizubringen.

Ebenso wirkliche Kunst.

So wird auch, in höherem Leben, Verlangen nach wirklicher Historie dasein.

Philologe, Entstehung überhaupt und jetzt.

Die Jugend und der Philologe.

Die Folgen der Philologie.

Aufgabe für die Philologie: Untergang.

Die Inhumanität: selbst aus der Antigone, selbst aus der goethischen Iphigenie.

Der Mangel an Aufklärung.

Das Politische ist nicht für Jünglinge verständlich.

Das Dichterische – eine schlimme Anticipation.

5 [146]

Kritik der Entwicklung.

Falsche Annahme einer naturgemässen Entwicklung.

Die Entartung ist hinter jeder grossen Erscheinung her; in jedem Augenblick ist der Ansatz zum Ende da. Die Entartung liegt in dem leichten Nachmachen und Äusserlich-Verstehen der grossen Vorbilder: d. h. das Vorbild reizt die eitlern Naturen zum Nachmachen und Gleichmachen oder überbieten.

Die Kette von einem Genius zum andern ist selten eine gerade Linie: so zwischen Aeschylus und Sophocles keineswegs. Es lagen eine Masse Entwicklungswege nach Aeschylus noch offen; Sophocles schlug einen von ihnen ein.

Das Verhängnissvolle aller grossen Begabungen: sie reissen mit sich fort und veröden um sich, wie Rom in einer Einöde liegt. Viele Kräfte, embryonisch noch, werden so erdrückt.

Zu zeigen, wie überwiegend auch in Hellas die Entartung ist, wie selten und kurz das Grosse, wie mangelhaft (von der falschen Seite) geschätzt.

Wie steif müssen die Anfänge der Tragödie bei Thespis gewesen sein! d. h. die kunstmässigen Nachformungen der urwüchsigen Orgien. So war die Prosa erst sehr steif im Verhältniss zur wirklichen Rede.

Die Gefahren sind: man hat die Lust am Inhalte oder man ist gleichgültig gegen den Inhalt und erstrebt Sinnesreize des Klanges usw.

Das Agonale ist auch die Gefahr bei aller Entwicklung; es überreizt den Trieb zum Schaffen. – Der glücklichste Fall in der Entwicklung, wenn sich mehrere Genie's gegenseitig in Schranken halten.

Ob nicht sehr viele herrliche Möglichkeiten im Keime erstickt sind? Wer würde z. B. Theocrit noch zu seiner Zeit für möglich halten, wenn er nicht da wäre?

Die grösste Thatsache bleibt immer der frühzeitig panhellenische Homer. Alles Gute stammt doch von ihm her: aber zugleich ist er die gewaltigste Schranke geblieben, die es gab. Er verflachte, und deshalb kämpften die Ernstern so gegen ihn, umsonst. Homer siegte immer.

Das Unterdrückende der grossen geistigen Mächte ist auch hier sichtbar, aber welcher Unterschied: Homer oder eine Bibel als solche Macht!

Die Lust am Rausche, die Lust am Listigen, an der Rache, am Neide, an der Schmähung, an der Unzüchtigkeit – alles das wurde von den Griechen anerkannt, als menschlich, und darauf hin eingeordnet in das Gebäude der Gesellschaft und Sitte. Die Weisheit ihrer Institutionen liegt in dem Mangel einer Scheidung zwischen gut und böse, schwarz und weiss. Die Natur, wie sie sich zeigt, wird nicht weggeleugnet, sondern nur eingeordnet, auf bestimmte Culte und Tage beschränkt. Dies ist die Wurzel aller Freisinnigkeit des Alterthums; man suchte für die Naturkräfte eine mässige Entladung, nicht eine Vernichtung und Verneinung. – Das ganze System von neuer Ordnung ist dann der Staat. Er war nicht auf bestimmte Individuen, sondern auf die regulären menschlichen Eigenschaften hin construirt: es zeigt sich in seiner Gründung die Schärfe der Beobachtung und der Sinn für das Thatsächliche, besonders für das Typisch-Thatsächliche, was die Griechen zur Wissenschaft Historie Geographie usw. befähigte. Es war nicht ein beschränktes priesterliches Sittengesetz, welches bei der Gründung des Staates befahl. Woher haben die Griechen diese Freiheit? Wohl schon von Homer; aber woher hat er's? – Die Dichter sind nicht die weisesten und logisch gebildetsten Wesen; aber sie haben die Lust am einzeln Wirklichen jeder Art und wollen es nicht verneinen, aber doch so mässigen, dass es nicht alles todt macht.

5 [147]

Die Nothwendigkeit der Entladung, der caJ aosiz, ein Grundgesetz des griechischen Wesens.

Ansammlung und Entladung in gewaltsamen, zeitlich getrennten Stössen. Ob die Tragödie daher zu erklären?

5 [148]

Es müssen philosophische Köpfe darüber kommen und einmal die Gesammtabrechnung des Alterthums vorlegen. Sobald diese vorliegt, so wird es überwunden sein. Man ist viel zu stark mit allem Fehlerhaften, was uns quält, vom Alterthum abhängig, als dass man es noch lange milde behandeln wird. Die ungeheuerste Frevelthat der Menschheit, dass das Christenthum möglich werden konnte, so wie es möglich wurde, ist die Schuld des Alterthums. Mit dem Christenthum wird auch das Alterthum abgeräumt werden. – Jetzt ist es sehr nahe hinter uns, und gerecht zu sein gewiss nicht möglich. Es ist in der scheusslichsten Weise zur Unterdrückung benutzt worden und hat die religiöse Unterdrückung unterstützt, dadurch dass es sie mit „Bildung" maskirte. Der Hauptwitz war: "das Alterthum ist durch das Christenthum überwunden worden"! Dies war eine historische Thatsache und so wurde die Beschäftigung mit ihm unschädlich. Ja es ist so plausibel, die christliche Ethik "tiefer" zu finden als Socrates! Mit Plato konnte man es schon aufnehmen! Es ist eine nochmalige Wiederkäuung desselben Kampfes, der <sich> in den ersten Jahrhunderten schon abspielte. Nur dass jetzt ein ganz blasses Gespenst an Stelle des damals recht sichtbaren Alterthums getreten ist, und freilich auch das Christenthum recht gespenstisch geworden ist. Es ist ein Kampf nach der Entscheidungsschlacht, ein Nachzittern. Zuletzt sind alle die Mächte, aus denen das Alterthum besteht, im Christenthum in der rohesten Gestalt zu Tage getreten, es ist nichts Neues, nur quantitativ extraordinär.

5 [149]

Ach es ist eine Jammergeschichte, die Geschichte der Philologie! Die ekelhafteste Gelehrsamkeit, faules unthätiges Beiseitesitzen, ängstliches Unterwerfen. – Wer hat denn etwas Freies gehabt?

5 [150]

Der religiöse Cultus ist auf das Erkaufen oder das Erbetteln der Gunst der Gottheiten zurückzuführen. Es kommt darauf an, wo man ihre Ungunst fürchtet. – Also dort, wo man nicht einen Erfolg durch eigne Kraft erringen kann oder will, sucht man übernatürliche Kräfte: also zur Erleichterung der Lebensmühe. Wo man etwas nicht durch die That wieder gut machen will oder kann, bittet man die Götter um Gnade und Verzeihung, also zur Erleichterung des bedrängten Gewissens. Die Götter sind zur Bequemlichkeit der Menschen erfunden: zuletzt noch ihr Cultus die Summe aller Erholungen und Ergötzlichkeiten.

Man nehme sie hinweg: alle Lasten sind dann schwerer, und es giebt viel weniger Leichtigkeit. – Wo die Olympier zurücktraten, da war das griechische Leben düsterer. – Wo wir forschen und arbeiten, da feiern die Griechen Feste. Sie sind die Festefeiernden.

Sie sehen über sich die Götter nicht als Herren, sich nicht als Knechte, wie die Juden. Es ist die Conception von einer glücklicheren und mächtigeren Kaste, ein Spiegelbild der gelungensten Exemplare der eignen Kaste, also ein Ideal, kein Gegensatz des eignen Wesens. Man fühlt sich durchaus verwandt. Es besteht gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Man denkt vornehm von sich, wenn man sich solche Götter dichtet. Und so hat auch das Erbetteln und Erkaufen ihrer Gunst etwas Vornehmes. Es ist ein Verhältniss, wie von niederem zu höherem Adel; während die Römer eine rechte Bauernreligion haben, Ängstlichkeit gegen Kobolde und Spukereien.

5 [151]

Ich will mich so der Litteratur bemächtigen, daß ich z. B. die anagnwoiseiz vergleiche die Prologe im Drama usw.

5 [152]

Entwurf für 18 Vorlesungen

9. Ehren bei Städten, Fürsten, Festen, Opfern usw. Tyrannen.

18. Todesarten.

10. Gruppen des Umgangs, desgleichen Strebens.

11. Verbreitung durch Schülerthum.

12. Abtrünnige Schüler.

6. Nichtgriechen und Griechen, geographische Betheiligung.

7. Sklaven und ganz niedere Leute.

8. Sehr vornehme Leute.

13. Persönliche Feindschaften, Wettkämpfe.

17. Einfluß auf den Staat und bei Seite stehen.

14. Verschweigen.

15. Geringschätzen und Nichtverstehen vom Früheren.

16. Verbreitung durch Vortrag, Reisen, Buchhandel, Bibliotheken.

2. Unsre Verluste, Größe, Gründe des Verlustes.

5. Die Kunstwerke für alle und die für einen bestimmten Kreis.

3. Einige Grundsätze für das Studium der Litteratur.

1. Kritik der Entwicklung, absoluter Werth.

4. Fälschungen. Litterarhistorische Mythologie.

5 [153]

Ein Fürst ist immer eine Karikatur, etwas überladenes; und wenn ein Volk den Fürsten noch nöthig hat, so ist es ein Beweis, daß der politische Trieb des Einzelnen noch zu schwach ist. Wer es besser gekostet, denkt mit Ekel an das Nach-oben-Blicken, und mit Bedauern an die, welche so sich stellen müssen, als ob sie „von oben" herab blickten.

5 [154]

Wenn ich sehe wie alle Staaten jetzt die klassische Bildung fördern, so sage ich „wie unschädlich muss sie sein!" Und dann "wie nützlich muss sie sein". Sie erwirbt diesen Staaten den Ruhm, die "freie Bildung" zu fördern. Nun sehe man die Philologen an, um diese "Freiheit" richtig zu taxiren.

5 [155]

Im religiösen Cultus ist ein früherer Culturgrad festgehalten, es sind „Überlebsel". Die Zeiten, welche ihn feiern, sind nicht die, welche ihn erfinden. Der Gegensatz ist oft sehr bunt. Der griechische Cultus führt uns in eine vorhomerische Gesinnung und Gesittung zurück, ist fast das älteste, was wir von den Griechen wissen; älter als die Mythologie, welche die Dichter wesentlich umgebildet haben, so wie wir sie kennen. – Kann man diesen Cult griechisch nennen? Ich zweifle. Sie sind Vollender, nicht Erfinder. Sie conserviren durch diese schöne Vollendung.

5 [156]

Auf immer trennt uns von der alten Cultur, dass ihre Grundlage durch und durch für uns hinfällig geworden ist. Eine Kritik der Griechen ist in sofern zugleich eine Kritik des Christenthums, denn die Grundlage im Geisterglauben, im religiösen Cultus, in der Naturverzauberung ist dieselbe. – Es giebt jetzt noch zahlreiche rückständige Stufen; aber sie sind schon im Begriff zu verfallen.

Dies wäre eine Aufgabe, das Griechenthum als unwiederbringlich zu kennzeichnen und damit auch das Christenthum und die bisherigen Fundamente unsrer Societät und Politik.

5 [157]

Aufgabe: der Tod der alten Cultur unvermeidlich: die griechische ist als Urbild zu kennzeichnen und zu zeigen, wie alle Cultur auf Vorstellungen ruht, die hinfällig sind.

Gefährliche Bedeutung der Kunst: als Bewahrerin und Galvanisirung abgestorbener und absterbender Vorstellungen. Der Historie, insofern sie uns in überwundene Gefühle zurückversetzen will. "Historisch" empfinden, "gerecht sein gegen Vergangenes" ist nur möglich, wenn wir zugleich darüber hinaus sind. Aber die Gefahr bei der hier geforderten Anempfindung ist gross: lassen wir doch die Todten ihre Todten begraben: so nehmen wir nicht selber Leichengeruch an.

5 [158]

Der Tod der alten Cultur.

1. Bisherige Bedeutung der Alterthumsstudien, unklar, lügnerisch.

2. Sobald sie ihr Ziel erkennen, verurtheilen sie sich zum Tode: denn ihr Ziel ist, die alte Cultur selbst als eine zu vernichtende zu beschreiben.

3. Sammlung aller der Vorstellungen, aus denen die hellenische Cultur herausgewachsen ist. Kritik der Religion, Kunst, der Gesellschaft, des Staates, der Sitte.

4. Die christliche ist mit verneint.

5. Kunst und Historie – gefährlich.

6. Ersetzung der Alterthumsstudien, die für die Jugenderziehung hinfällig geworden sind.

So ist die Aufgabe der Wissenschaft der Geschichte gelöst, und sie selber ist überflüssig geworden: wenn der ganze innerlich zusammenhängende Kreis vergangner Bestrebungen verurtheilt worden ist. An ihre Stelle muss die Wissenschaft um die Zukunft treten.

5 [159]

Der Lese- und Schreiblehrer und der Corrector sind die ersten Typen des Philologen.

5 [160]

Unsre Philologen verhalten sich zu wirklichen Erziehern, wie die Medizinmänner der Wilden zu wirklichen Ärzten. Welche Verwunderung wird eine ferne Zeit haben!

5 [161]

Alles mit Kritik.

2. Litteratur.

2. Religiöse Vorstellungen.

2. Sittliche Vorstellungen.

1. Erziehung.

1. Verkehr, der Geschlechter, der Länder usw. der Stände.

2. Staat.

1. Kunst der Sprache, Begriff des Gebildeten und Ungebildeten.

2. Die Philosophie und Wissenschaft.

1. Über klassische Philologie und das Alterthum in der neueren Zeit.

1. Über Griechen und Römer.

Nach 5½ Jahren, d. h. Herbst 1875 – Ostern 81.

Ostern 82 + 7½= 89½, z. B. 45-46 Jahre alt.

5 [162]

Die Dichter sind rückständige Wesen und eine Brücke zu ganz fernen Zeiten, eigentlich immer Epigonen. Sind sie also nöthig? Es ist ihnen vorzuwerfen, was der Religion vorzuwerfen ist, dass sie vorläufige Beruhigungen geben und etwas Palliativisches haben. Sie halten die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung zu arbeiten, indem sie selbst die Leidenschaft der Unbefriedigung aufheben und ableiten.

5 [163]

Die Mittel gegen Schmerz, welche die Menschen anwenden, sind vielfach Betäubungen. Religion und Kunst gehören zu den Betäubungen durch Vorstellungen. Sie gleichen aus und beschwichtigen; es ist eine Stufe der niedrigen Heilkunst seelischer Schmerzen. Beseitigung der Ursache des Leidens durch eine Annahme, z. B. wenn ein Kind gestorben, anzunehmen, es lebe noch, schöner, und es gebe einmal eine Vereinigung. So soll die Religion für den Armen da sein, mit ihrer Vertröstung.

Ist die Tragödie für den noch möglich, der keine metaphysische Welt glaubt? Man muss zeigen, wie auch das Höchste der bisherigen Menschheit auf dem Grund jener niederen Heilkunst gewachsen ist.

5 [164]

Wir sehen auf eine ziemliche Zeit Menschheit zurück; wie wird eine Menschheit einmal aussehen, welche auf uns ebenso fernher hinsicht? Welche uns noch ganz ertränkt findet in den Überbleibseln der alten Cultur. Welche nur im „Hülfreich und Gutsein" ihren Trost findet und alle andern Tröstungen abweist! – Wächst auch die Schönheit aus der alten Cultur heraus? Ich glaube, unsre Hässlichkeit hängt von unsern metaphysischen Überbleibseln ab; unsere Verworrenheit der Sitte, unsre Schlechtigkeit der Ehen usw. ist die Ursache. Der schöne Mensch, der gesunde und mässige und unternehmende Mensch formt um sich dann auch zum Schönen, zu seinem Abbild.

5 [165]

Im griechischen Götterwesen und Cultus findet man alle Anzeichen eines rohen und düstern uralten Zustandes, in dem die Griechen etwas sehr verschiedenes geworden wären, wenn sie drin verharren mussten. Homer hat sie befreit, mit der eigenthümlichen Frivolität seiner Götter. Die Umbildung einer wilden düstern Religion zu einer homerischen ist doch das grösste Ereigniss. Nun beachte man die Gegenströmungen, das Sich-offenbaren der alten Vorstellungen, das Ergreifen verwandter, ausländischer.

1. Rohe und düstere Urzeiten. Fetischdienst. Menschenopfer usw. Todtenangst und Dienst.

2. Schauspiele des Cultus.

3. Spätere Regungen und Aufleben der ältesten düsteren Religion.

4. Die Erleichterung und Frivolität der Religion. Die Dichter Joniens.

5. Betäubungen und Ausflüchte gegen den Schmerz und die Schwierigkeiten des Lebens.

6. Das Deuteln und Dichten am Mythus, das Versöhnen und Mengen.

7. Der Unglaube.

8. Die Kunst als rückständig und gegen die Aufklärung, im Ganzen wirkend.

9. Der Staat sucht sein Fundament, im Religiösen. Ebenso die Gesellschaft.

10. Die Religion, um das Volk zu unterhalten, gegen Noth und Langeweile zu bewahren.

Cultus.

1. Gebet. (Fluch, Eid.)

2. Opfer.

3. Ekstase und ihre Mittel. Mantik. Orakel. Beschwörung. Zauberei. Der Priester.

4. Orientirung. (Tempelf<orm>)

5. Reinigung. (Mysterie.)

6. Complicirte Formen: Feste mit Schauspielen.

  1. Staatsculte.
  2. Gent<ile> Culte
  3. Häuslicher Cult

d) Todtencult.

5 [166]

Über Religion.

I Die Liebe der Kunstgriff des Christenthums in seiner Vieldeutigkeit. (Die Geschlechtsliebe im Alterthum bei Empedokles rein gefaßt.)

II Die christliche Liebe, auf Grund der Verachtung.

III Die Thätigkeit des Christen im Gegensatz zu der buddhistischen Ruhe.

IV Keine Religion der Rache und Gerechtigkeit! die Juden das schlechteste Volk.

V Eingeschmuggelte Begriffe: stellvertretender Tod.

VI Der Priesterstaat. Heuchler. Abneigung gegen ernste Fassung aller Probleme. (Cultus Opfer, Zwingung der Götter.)

VII Die größte Versündigung am Verstand der Menschheit ist das historische Christenthum.

VIII Gott ganz überflüssig.

IX Der Untergang der Menschheit: nichts Ewiges.

X Verächtlichkeit aller Motive, Unreinheit des Denkens, Grundfehler aller Typen, Stände, Bestrebungen.

XI Entweder unter Illusionen allein leben: oder in der schwierigen Weise, ohne Hoffnung, ohne Täuschung, ohne Vorsehungen, ohne Erlösungen und Unsterblichkeiten: aber mit einem Blick erbarmensvoller Liebe gegen sich selbst. Scheidung zweier Weltbetrachtungen, die des Alltags und die der seltensten Augenblicke des Gefühls und des Denkens. (Verachtung und Liebe, Einsicht und Gefühl gleich mächtig.) Diese Fassung der Religion fordert die Wissenschaft (als Werkzeug der verachtungsvollen Einsicht in die Schwäche und Ziellosigkeit der Menschen). Sie nimmt immer zu, je höher die Erkenntniß der Welt steigt. – Der Kampf mit der Nothwendigkeit – das eine Princip des Lebens. Die Einsicht in das Täuschende aller Ziele und Erbarmen mit sich selbst – das andre.

5 [167]

Das Griechenthum durch die That zu überwinden wäre die Aufgabe. Aber dazu müßte man es erst kennen! – es giebt eine Gründlichkeit, welche nur der Vorwand der Thatenlosigkeit ist. Man denke, was Goethe vom Alterthum verstand; gewiß nicht soviel als ein Philologe und doch genug, um fruchtbar mit ihm zu ringen. Man sollte sogar nicht mehr von einer Sache wissen, als man auch schaffen könnte. Überdies ist es selbst das einzige Mittel, etwas wahrhaft zu erkennen, wenn man versucht es zu machen. Man versuche alterthümlich zu leben – man kommt sofort hundert Meilen den Alten näher als mit aller Gelehrsamkeit. – Unsre Philologen zeigen nicht, daß sie irgend worin dem Alterthum nacheifern – deshalb ist ihr Alterthum ohne Wirkung auf die Schüler.

Studium des Wetteifers (Renaissance, Goethe) und Studium der Verzweiflung!

5 [168]

Es liegt nicht viel an einem richtig emendirten Autor.

5 [169]

Das falsche Bild der Beschäftigung mit den Alten hemmt selbst die Besseren.

5 [170]

Die Wissenschaften werden vielleicht einmal von den Frauen betrieben: die Männer sollen geistig schaffen, Staaten Gesetze Kunstwerke usw.

5 [171]

Man soll das vorbildliche Alterthum nur studiren, wie man einen vorbildlichen Menschen studirt: also so viel man begreift, nachahmend, und wenn das Vorbild sehr fern ist, über die Wege und Vorbereitungen sinnend, und Mittelstadien erfindend.

Das Maaß des Studiums liegt darin: nur was zur Nachahmung reizt, was mit Liebe ergriffen wird und fortzuzeugen verlangt, soll studirt werden. Da wäre das Richtigste: ein fortschreitender Kanon des Vorbildlichen, angepaßt für jüngere junge und ältere Menschen.

5 [172]

In der Art hat Goethe das Alterthum ergriffen: immer mit wetteifernder Seele. Aber wer sonst? Man sieht nichts von einer durchdachten Pädagogik dieser Art: wer weiß, daß es Erkenntnisse des Alterthums giebt, die Jünglingen unmittheilbar sind!

5 [173]

Der knabenhafte Charakter der Philologie: für Schüler von Lehrern erdacht.

5 [174]

Immer allgemeinere Gestalt des Vorbildlichen: erst Menschen, dann Institutionen, endlich Richtungen Absichten oder deren Mangel.

Höchste Gestalt: Überwindung des Vorbildes mit dem Rückgange von Tendenzen zu Institutionen, von Institutionen zu Menschen.

5 [175]

Die Förderung einer Wissenschaft auf Unkosten der Menschen ist die schädlichste Sache von der Welt. Der verkümmerte Mensch ist ein Rückschritt der Menschheit; er wirft in alle Zeit hinaus seinen Schatten. Es entartet die Gesinnung, die natürliche Absicht der einzelnen Wissenschaft: sie selber geht daran endlich zu Grunde; sie steht gefördert da, wirkt aber nicht, oder unmoralisch auf das Leben.

5 [176]

Menschen nicht als Sache benutzen!

5 [177]

Von der sehr unvollkommenen Philologie und Kenntniß des Alterthums gieng ein Strom von Freiheit aus, unsere hochentwickelte knechtet und dient dem Staatsgötzen.

5 [178]

Je besser der Staat eingerichtet ist, desto matter die Menschheit.

Das Individuum unbehaglich zu machen: meine Aufgabe!

Reiz der Befreiung des Einzelnen im Kampfe!

Die geistige Höhe hat ihre Zeit in der Geschichte, vererbte Energie gehört dazu. Im idealen Staat ist es damit vorbei.

5 [179]

Die geistige Cultur Griechenlands eine Aberration des ungeheuren politischen Triebes nach aoioteuein. – Die poliz höchst ablehnend gegen neue Bildung. Trotzdem existirte die Cultur.

5 [180]

Höchstes Urtheil über das Leben nur aus der höchsten Energie des Lebens, der Geist muß am weitesten von der Mattheit entfernt sein.

In der mittleren Weltgeschichte wird das Urtheil am richtigsten sein, weil da die größten Genien existiren.

Erzeugung des Genius als des Einzigen, der das Leben wahrhaft schätzen und verneinen kann.

5 [181]

Walter Scott liebte die Gesellschaft, weil er erzählen wollte; er übte sich, wie ein Virtuose sieben Stunden Klavier übt.

5 [182]

Rettet euren Genius! soll den Leuten zugerufen werden, befreit ihn! Thut alles, um ihn zu entfesseln!

5 [183]

Die Matten, geistig Armen dürfen über das Leben nicht urtheilen.

5 [184]

Wenn gute Freunde usw. mich loben, so bin ich öfter aus Höflichkeit und Wohlwollen scheinbar erfreut und dankbar; aber in Wahrheit ist es mir gleichgültig. Mein eigentliches Wesen ist ganz träge dagegen und ist keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten wo es liegt herauszuwälzen. – Aber die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man würde sie betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute.

5 [185]

Man muß von der Zukunft der Menschheit nicht erwarten, was bestimmte Vergangenheiten erzeugten z. B. die Wirkungen des religiösen Gefühls. Vielleicht ist der Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellekts möglich, mit der es vorbei ist. Selbst die Höhe der Intelligenz ist vielleicht einem Zeitalter der Menschheit aufgespart gewesen. Ungeheure Energie des Willens, auf geistige Bestrebungen übertragen (aberration) – nur möglich, so lange jene Wildheit und Energie groß gezüchtet war. Dem Ziel der Menschheit kommt sie vielleicht auf der Mitte ihres Weges näher als am Ende. – Es könnten Kräfte, von denen die Kunst bedingt ist, aussterben z. B. die Lust am Lügen, am Undeutlichen Symbolischen usw., auch der Rausch könnte in Mißachtung kommen. Und im Grunde: ist das Leben im idealen Staate geordnet, dann ist keine Dichtung der Gegenwart mehr möglich: besten Falls blickt sie mit Sehnsucht zurück, nach den Zeiten des unidealen Staates.

5 [186]

Kindheit und Knabenalter hat sein Ziel in sich, ist nicht Stufe.

5 [187]

Ich wünsche ein Buch über die Lebensweise der Gelehrten.

5 [188]

Ziele.

Der Werth des Lebens kann nur durch den höchsten Intellekt und das wärmste Herz gemessen werden.

Wie sind die höchsten Intelligenzen zu erzeugen? –

Die Ziele der menschlichen Wohlfahrt im Groben sind ganz andre: als die höchste Intelligenz zu erzeugen. Das Wohlleben gilt viel zu hoch und ist ganz äußerlich genommen, auch die Schule und die Erziehung.

Der ideale Staat, den die Socialisten träumen, zerstört das Fundament der großen Intelligenzen, die starke Energie.

Wir müssen wünschen, daß das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte, daß wilde Kräfte und Energien hervorgerufen werden. Das Urtheil über den Werth des Daseins ist das höchste Resultat der kräftigsten Spannung im Chaos.

Nun will das wärmste Herz Beseitigung jenes gewaltsamen, wilden Charakters; während es doch selbst aus ihm hervorgieng! Es will Beseitigung seines Fundaments! Das heißt, es ist nicht intelligent.

Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in Einer Person zusammen sein. Die höchste Intelligenz ist höher als alle Güte, auch diese ist nur etwas bei der Gesammtrechnung des Lebens Abzuschätzendes, der Weise steht darüber.

Der Weise muß den Gedanken der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an der Wiedererzeugung seines Typus liegt. Mindestens kann er nicht den idealen Staat fördern. – Christus förderte die Verdummung der Menschen, er hielt die Erzeugung des großen Intellekts auf. Consequent! Sein Gegenbild würde vielleicht der Erzeugung von Christus' hinderlich sein. – Fatum tristissimum generis humani!

5 [189]

Procemium

Wäre ich schon frei, so würde ich das ganze Ringen nicht nöthig haben, sondern mich zu einem Werke oder Thun wenden, an dem ich meine ganze Kraft erproben könnte. – Jetzt darf ich nur hoffen, allmählich frei zu werden; und ich spüre bis jetzt, daß ich es immer mehr werde. So kommt auch wohl mein Tag der eigentlichen Arbeit noch, und die Vorbereitung zu den olympischen Spielen ist vorüber. –

5 [190]

Es steht mir noch bevor, Ansichten zu äußern, welche als schmählich für den gelten, welcher sie hegt; da werden auch die Freunde und Bekannten scheu und ängstlich werden. Auch durch dies Feuer muß ich hindurch. Ich gehöre mir dann immer mehr. –

5 [191]

Wer zum Bewußtsein über die Erzeugung des Genies käme und die Art, wie die Natur verfährt, auch praktisch durchführen wollte, würde so böse und so rücksichtslos wie die Natur selbst sein müssen.

5 [192]

Ich finde Xenophons Memorabilien sehr interessant. Man muß Sokrates' Vorbild noch anerkennen: es ist sofort noch nachahmbar. Die andoapodistai eautwn stechen mich.

5 [193)

Platon's Sokrates ist im eigentlichen Sinne eine Carricatura, eine Überladung.

5 [194]

Mißhandelt die Menschen, treibt sie zum Äußersten, und das durch Jahrtausende – da springt, durch eine Verirrung der Natur, durch einen abspringenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf einmal der Genius hervor. – So redet die Geschichte zu mir. Schreckliches Gesicht! Weh! Ich ertrag' dich nicht! –

5 [195]

Die Griechen der Kaiserzeit sind matt und nehmen sich ganz gut als Typen der zukünftigen Menschheit aus. Sie erscheinen menschenfreundlich, namentlich gegen Rom, verabscheuen Gladiatorenkämpfe usw. – Es ist ganz falsch, von da aus Schlüsse auf ihre Jugendzeit zu machen.

5 [196]

Homer ist in der vermenschlichten Götterwelt so zu Hause und hat als Dichter ein solches Behagen, daß er tief unreligiös gewesen sein muß. Er verkehrt wie der Bildhauer mit seinem Thon und Marmor.

5 [197]

Die griechische Polis ist ausschließend gegen die Bildung, ihr politischer Trieb war auf dieser Seite höchst lähmend und stabilisirend. Es sollte keine Geschichte kein Werden in der Bildung sein, sie sollte ein für allemal fest sein. So wollte es später auch Plato. Trotz der Polis entstand die höhere Bildung: indirekt sogar durch sie, weil der Ehrgeiz des Individuums durch sie aufs Höchste gehoben wurde. Gerieth ein Grieche auf die geistige Auszeichnung, so ging er bis in's letzte Extrem.

5 [198]

Urbevölkerung griechischen Bodens: mongolischer Abkunft mit Baum- und Schlangenkult. Die Küste mit einem semitischen Streifen verbrämt. Hier und da Thrakier. Die Griechen haben alle diese Bestandtheile in ihr Blut aufgenommen, auch alle Götter und Mythen mit (in den Odysseusfabeln manches Mongolische). Die dorische Wanderung ist ein Nachstoß, nachdem schon früher alles allmählich überfluthet war. Was sind "Rassegriechen"? Genügt es nicht anzunehmen, daß Italiker mit thrakischen und semitischen Elementen gepaart Griechen geworden sind?

5 [199]

Denkt man an die ungeheure Masse von Sklaven auf dem Festlande, so waren Griechen immer nur sporadisch zu finden. Eine höhere Kaste von Nichtthuern Politikern usw. Ihre Feindschaften hielten sie in leiblicher und geistiger Spannung. Sie mußten ihre Superiorität an Qualität festhalten – das war ihr Zauber über die Massen.

5 [200]

Die Rede des Perikles ein großes optimistisches Trugbild, die Abendröthe, bei der man den schlimmen Tag vergißt – die Nacht kommt hinterdrein.

 

[Dokument: Heft]

[Sommer? 1875]

6 [1]

Nachahmung des Alterthums.

Das Mittel, die Philologie, macht dem Philologen die Nachahmung unmöglich. Kennen ohne können.

Daher: entweder rein historisch geworden

– oder die Philologie zu Grunde gegangen (Schiller).

Selbst die historische Erkenntniss des Alterthums ist vermittelt durch die Reproduction, die Nachahmung.

Das Goethische Griechenthum (die griechische swjoosunh in der Kunst auf den moralischen Menschen übertragen).

6 [2]

Das griechische Alterthum als classische Beispielsammlung für die Erklärung unsrer ganzen Cultur und ihrer Entwicklung. Es ist ein Mittel uns zu verstehen, unsre Zeit zu richten und dadurch zu überwinden.

Das pessimistische Fundament unsrer Cultur.

6 [3]

Socrates, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe.

6 [4]

Wissenschaft und Weisheit im Kampfe.

Wissenschaft (NB. bevor sie Gewohnheit und Instinkt ist) entsteht

1) wenn die Götter nicht gut gedacht werden. Grosser Vortheil irgend etwas als fest zu erkennen.

2) der Egoismus treibt den Einzelnen an, bei gewissen Beschäftigungen z. B. Schiffahrt seinen Nutzen zu suchen, durch Wissenschaft.

3) etwas für vornehme Leute, die Musse haben. Neugierde.

4) im wilden Hin und Her der Meinungen des Volks will der Einzelne ein festeres Fundament.

Wodurch unterscheidet sich dieser Trieb zur Wissenschaft vom Triebe überhaupt etwas zu lernen und anzunehmen? Nur durch den geringeren Grad des Egoismus oder die weitere Spannung desselben. Einmal ein Sich-verlieren in die Dinge. Zweitens eine über das Individuum ausgedehnte Selbstsucht.

Weisheit zeigt sich

1) im unlogischen Verallgemeinern und zum letzten Ziele Fliegen.

2) in der Beziehung dieser Resultate auf das Leben.

3) in der unbedingten Wichtigkeit, welche man seiner Seele beilegt. Eins ist Noth.

Socratismus ist einmal Weisheit im Ernstnehmen der Seele.

zweitens Wissenschaft als Furcht und Hass vor der unlogischen Verallgemeinerung.

drittens etwas eigenthümliches durch die Forderung des bewussten und logisch correcten Handelns.

Daraus entsteht Schaden für die Wissenschaft, für das ethische Leben.

6 [5]

Wissenschaft und Weisheit im Kampfe,

dargestellt an den ältern griechischen Philosophen.

6 [6]

1) Wie zeigt sich in diesen ältern Griechen die Welt gefärbt?

2) Wie verhalten sie sich zu den Nichtphilosophen?

3) An ihren Personen liegt viel: diese zu errathen, ist der Sinn meiner Betrachtung ihrer Lehren. 4) Wissenschaft und Weisheit im Kampfe bei ihnen.

5) Ironische Novelle: alles ist falsch. Wie der Mensch sich an einen Balken klammert.

6 [7]

Es giebt auch eine Art, diese Geschichte zu erzählen, ironisch und voll Trauer. Ich will jedenfalls den ernsthaftgleichmässigen Ton vermeiden.

Socrates wirft das Ganze um, in einem Augenblick, wo es sich der Wahrheit noch am meisten genähert hatte; das ist besonders ironisch.

Alles auf dem Hintergrund des Mythos aufzumalen. Dessen grenzenlose Unsicherheit und Wogen. Man sehnt sich nach Sicherem.

Nur wohin der Strahl des Mythus fällt, da leuchtet das Leben des Griechen; sonst ist es düster. Nun berauben sich diese Philosophen des Mythus; also wie halten sie es in dieser Düsterkeit aus? –

Das Individuum, welches auf sich selbst stehen will. Da braucht es letzte Erkenntnisse, Philosophie. Die andern Menschen brauchen langsam anwachsende Wissenschaft.

Oder vielmehr: es ist ein Glaube nöthig, solche letzte Erkenntnisse zu besitzen. Einen solchen Grad von Gläubigkeit für das eigene Erkennen wird es nie wieder geben, wie ihn jene alten Griechen besaßen: aber die Schwierigkeit und Gefahr des Erkennens stand ihnen noch nicht vor der Seele; sie hatten einen handfesten Glauben an sich, mit dem sie alle ihre Nachbarn und Vorgänger niederwarfen. Das Glück im Besitz der Wahrheit war nie größer auf der Welt, aber auch nie die Härte, der Übermuth, das Tyrannische. In seinen geheimen Wünschen war jeder Grieche Tyrann; und überhaupt jeder war es, der es sein konnte, vielleicht mit Ausnahme des Solon, nach seinen eigenen Gedichten zu schließen.

Auch die Unabhängigkeit ist nur scheinbar: zuletzt knüpft jeder an seinen Vorgänger an. Phantasma an Phantasma. Es ist komisch, alles so ernst zu nehmen.

Die ganze ältere Philosophie als curioser Irrgarten-Gang der Vernunft. Es ist eine Traum- und Märchentonart anzustimmen.

6 [8]

Aristoteles in seinem aesthetischen Urtheil.

gegen Empedocles.

in Betreff der Tragödie.

Demosthenes.

Thucydides.

bildende Kunst.

Musik.

6 [9]

Nebeneinander geht die Entwicklung der griechischen Musik und Philosophie. Vergleich beider, insofern beide Aussagen machen über das hellenische Wesen. Die Musik freilich nur aus ihrem Niederschlag als Lyrik uns bekannt.

Empedocles – Tragödie Sacrale Monodie

Heraclit – Archilochus Xenophanes sympotisch.

Democrit – Anacreon

Pythagoras – Pindar

Anaxagoras – Simonides.

Alles Vergleichen von Personen ist schief und dumm.

6 [10]

Die Philosophien sind Hadesschatten gegenüber dem griechischen Leben: sie spiegeln es wieder, aber wie auf einer Rauchwolke.

Hinter solchen Menschen muss man her sein, bis sie wieder von einem Dichter nachgeschaffen sind: die ergänzende Phantasie Vieler muss hier arbeiten.

Sie sind zu selten, als dass man sie laufen lassen könnte. Das wenige, was sich mit Kritik und Umdrehen und Ausschütteln jeder Notiz erreichen lässt!

6 [11]

Einleitung. 1. Cap. Vergleichung der älteren griechischen Philosophen mit den Sectenphilosophen nach Socrates.

2. Cap. Die Zeitverhältnisse der älteren Philosophen.

Erzählung:

Es hängt so viel von der Entwicklung der griechischen Cultur ab, da unsre ganze abendländische Welt daher ihre Antriebe bekommen hat: das Verhängniß wollte, daß das jüngere und entartete Griechenthum am meisten historische Kraft gezeigt hat. Darüber ist das ältere Griechenthum immer falsch beurtheilt worden. Das jüngere muß man genau kennen, um es von dem älteren zu unterscheiden.

Es giebt noch sehr viele Möglichkeiten, die noch gar nicht entdeckt sind: weil die Griechen sie nicht entdeckt haben. Andere haben die Griechen entdeckt und später wieder verdeckt.

6 [12]

Diese Philosophen beweisen, welche Gefahren die griechische Cultur in sich schloß –

der Mythus als Faulbett – dagegen die kalte Abstraktion des Denkens und die strenge Wissenschaft.

Democrit.

die weichliche Behag- dagegen Genügsamkeit, strenge asketische

lichkeit des Lebens Auffassung bei Pythagoras, Empedocles, Anaximander.

Grausamkeit in Kampf dagegen Empedocles mit seiner Reform des Opfers.

und Streit

Lüge und Betrug – dagegen Begeisterung für das Wahre bei jeder Consequenz.

Schmiegsamkeit, über- dagegen Heraklits Stolz und Einsamkeit.

triebene Geselligkeit

6 [13]

Diese Philosophen zeigen die Lebenskraft jener Cultur, die ihre eigenen Corrective erzeugt.

Wie stirbt diese Zeit ab? Unnatürlich. Wo stecken denn nur die Keime des Verderbens?

Die Flucht der Besseren aus der Welt war ein großes Unglück. Von Sokrates an: das Individuum nahm sich zu wichtig mit einem Male.

Die Pest kam hinzu, für Athen.

Dann ging man an den Perserkriegen zu Grunde. Die Gefahr war zu groß und der Sieg zu außerordentlich.

Der Tod der großen musikalischen Lyrik und der Philosophie.

Sokrates ist die Rache für Thersites: der herrliche Achill schlug den häßlichen Volksmann Thersites todt, vor Zorn über seine Worte bei Pentesileas Tode; der häßliche Volksmann Sokrates schlug die Auktorität des herrlichen Mythus in Griechenland todt.

6 [14]

Die ältere griechische Philosophie ist die Philosophie von lauter Staatsmännern. Wie elend steht es mit unsern Staatsmännern! Das unterscheidet übrigens die Vorsokratiker und die Nachsokratiker am meisten.

Bei ihnen hat man nicht "die garstige Pretension auf Glück" wie von Socrates ab. Es dreht sich doch nicht alles um den Zustand ihrer Seele: denn über den denkt man nicht ohne Gefahr nach. Später wurde das gnwJ i sauton des Apoll mißverstanden.

Auch schwätzten und schimpften sie nicht so, auch schrieben sie nicht.

Das geschwächte Griechenthum, romanisirt, vergröbert, decorativ geworden, dann als decorative Cultur vom geschwächten Christenthum als Bundesgenosse acceptirt, mit Gewalt verbreitet unter uncivilisirten Völkern – das ist die Geschichte der abendländischen Cultur. Das Kunststück ist geleistet, und das Griechische und das Pfäffische zusammengebracht.

Ich will Schopenhauer Wagner und das ältere Griechenthum zusammenrechnen: es giebt einen Blick auf eine herrliche Cultur.

6 [15]

Vergleichung der älteren Philosophie mit der nachsokratischen.

1) die ältere ist mit der Kunst verwandt, ihre Welträthsellösung hat mehrmals von der Kunst sich inspiriren lassen. Geist der Musik und der bildenden Kunst.

2) sie ist nicht die Negation des andern Lebens, sondern aus ihm als seltne Blüthe gewachsen; sie spricht dessen Geheimnisse aus. (Theorie-Praxis)

3) sie ist nicht so individuell-eudärnonologisch, ohne die garstige Pretension auf Glück.

4) diese ältern Philosophen selbst haben in ihrem Leben höhere Weisheit und nicht die kalt-kluge Tugendhaftigkeit. Ihr Lebensbild ist reicher und complicirter, die Sokratiker simplificiren und banalisiren.

6 [16]

Die dreigegliederte Geschichte des Dithyrambus:

1 der arionische – daraus die ältere Tragödie

2 der agonale Staats-Dithyramb – parallel die zahme Tragödie

3 der mimetische, genialisch-wüst.

6 [17]

Mehrfach ist bei den Griechen eine ältere Form die höhere z. B. beim Dithyramb und der Tragödie. Die Gefahr der Griechen lag im Virtuosenthum aller Art; mit Sokrates beginnen die Lebensvirtuosen, Socrates, der neuere Dithyramb, die neuere Tragödie, die Erfindung des Rhetors!

Der Rhetor ist eine griechische Erfindung! der späteren Zeit. Sie haben die "Form an sich" erfunden (und auch den Philosophen dazu).

Wie ist der Kampf Plato's gegen die Rhetorik zu verstehen? Er beneidet ihren Einfluss.

Das ältere Griechenthum hat seine Kräfte in der Reihe von Philosophen offenbart. Mit Socrates bricht diese Offenbarung ab: er versucht sich selbst zu erzeugen und alle Tradition abzuweisen.

Meine allgemeine Aufgabe: zu zeigen, wie Leben Philosophie und Kunst ein tieferes und verwandtschaftliches Verhältniss zu einander haben können, ohne dass die Philosophie flach ist und das Leben des Philosophen lügenhaft wird.

Herrlich ist, dass die alten Philosophen so frei leben konnten, ohne dabei zu Narren und Virtuosen zu werden. Die Freiheit des Individuums war unermesslich gross.

Der falsche Gegensatz von vita practica und contemplativa ist asiatisch. Die Griechen verstanden es besser.

6 [18]

Man kann diese älteren Philosophen darstellen als solche, die die griechische Luft und Sitte als Bann und Schranke fühlen: also Selbstbefreier (Kampf des Heraclit gegen Homer und Hesiod, Pythagoras gegen die Verweltlichung, alle gegen den Mythus, besonders Democrit). Sie haben eine Lücke in ihrer Natur, gegenüber dem griechischen Künstler und wohl auch Staatsmann.

Ich fasse sie wie die Vorläufer einer Reformation der Griechen: aber nicht des Socrates. Vielmehr kam ihre Reformation nicht, bei Pythagoras blieb es sectenhaft. Eine Gruppe von Erscheinungen tragen alle diesen Reformations-Geist – die Entwicklung der Tragödie. Der misslungene Reformator ist Empedocles; als es ihm misslang, blieb nur noch Socrates übrig. So ist die Feindschaft des Aristoteles gegen Empedocles sehr begreiflich.

Empedocles – Freistaat – Umänderung des Lebens – volksthümliche Reform – Versuch mit Hülfe der grossen hellenischen Feste. –

Die Tragödie war ebenfalls ein Mittel. Pindar?

Sie haben ihren Philosophen und Reformator nicht gefunden, man vergleiche Plato: der ist durch Socrates abgelenkt. Versuch einer Characteristik Platos ohne Socrates. Tragödie – tiefe Auffassung der Liebe – reine Natur – keine fanatische Abkehr: offenbar waren die Griechen im Begriff einen noch höheren Typus des Menschen zu finden, als die früheren waren; da schnitt die Scheere dazwischen. Es bleibt beim tragischen Zeitalter der Griechen.

6 [19]

1. Bild der Hellenen hinsichtlich ihrer Gefahren und Verderbnisse.

2. Gegenbild der tragischen Strömungen dagegen. Neue Deutung des Mythus.

3. Die Ansätze zu Reformatoren. Versuche das Weltbild zu gewinnen.

4. Die Entscheidung – Sokrates. Der abgelenkte Plato.

6 [20]

Die Leidenschaft bei Mimnermus, der Hass gegen das Alter.

Die tiefe Melancholie bei Pindar: nur wenn ein Strahl von oben kommt, leuchtet das Menschenleben.

Die Welt vom Leiden aus zu verstehen ist das Tragische in der Tragödie.

6 [21]

Thales – das Unmythische.

Anaximander – Vergehen und Entstehen in der Natur moralisch als Schuld und Strafe.

Heraclit – Gesetzmässigkeit und Gerechtigkeit in der Welt.

Parmenides – die andere Welt hinter dieser; diese als Problem.

Anaxagoras – Weltenbaumeister.

Empedocles – blinde Liebe und blinder Hass; das tief Unvernünftige im Vernünftigsten der Welt.

Democrit – die Welt ist ganz ohne Vernunft und Trieb, zusammengeschüttelt. Alle Götter und Mythen unnütz.

Socrates: da bleibt mir nichts als ich mir selbst; Angst um sich selbst wird die Seele der Philosophie.

Plato's Versuch, alles zu Ende zu denken und der Erlöser zu sein.

6 [22]

Es sind die Personen zu schildern: so wie ich Heraclit geschildert habe. Das Historische mit hineinzuflechten.

6 [23]

In der ganzen Welt herrscht die Allmählichkeit, bei den Griechen geht es schnell vorwärts, aber auch furchtbar schnell abwärts. Als der hellenische Genius seine höchsten Typen erschöpft hatte, da sank der Grieche auf das Geschwindeste. Es musste nur einmal eine Unterbrechung eintreten, und die grosse Lebensform nicht mehr ausgefüllt werden: sofort war es vorbei;

gerade wie bei der Tragödie. Ein einziger mächtiger Querkopf wie Socrates – da war der Riss unheilbar. In ihm vollzieht sich die Selbstzerstörung der Griechen. Ich glaube, es macht, dass er der Sohn eines Bildhauers war.

Wenn einmal diese bildenden Künste reden würden, sie würden uns oberflächlich erscheinen; in Socrates, dem Sohne des Bildhauers, kam ihre Oberflächlichkeit heraus.

6 [24]

Die Menschen sind witziger geworden während des Mittelalters; das Rechnen nach zwei Maassen, die Spitzfindigkeit des Gewissens, die Auslegung der Schrift sind die Mittel gewesen. Diese Art Schärfung des Geistes durch den Druck einer Hierarchie und Theologie fehlte dem Alterthum. Vielmehr sind die Griechen umgekehrt unter der grossen Freiheit des Gedankens vielgläubisch und flach gewesen, man fing nach Belieben an und hörte nach Belieben auf, etwas zu glauben. Dafür fehlt ihnen die Lust am verdrehten Scharfsinn, und damit die beliebteste Art Witz aus der neueren Zeit. Die Griechen waren wenig witzig; darum hat man solches Aufheben von der Ironie des Socrates gemacht. Ich finde Plato darin oft etwas täppisch.

6 [25]

Die Griechen waren mit Empedocles und Democrit auf dem besten Weg die menschliche Existenz, ihre Unvernunft, ihr Leiden richtig zu taxiren; dazu sind sie nie gelangt, Dank Socrates. Der unbefangene Blick auf die Menschen fehlt allen Sokratikern, die greuliche Abstracta "das Gute, das Gerechte" im Kopf haben. Man lese Schopenhauer und frage sich, warum es den Alten an einem solchen Tief- und Freiblick gefehlt hat – haben müsste? Das sehe ich nicht ein. Im Gegentheil. Sie verlieren durch Socrates die Unbefangenheit. Ihre Mythen und Tragödien sind viel weiser als die Ethiken Plato's und Aristoteles'; und ihre, stoischen und epikurischen" Menschen sind arm, gegen ihre älteren Dichter und Staatsmänner.

6 [26]

Socrates' Wirkung:

1) er zerstörte die Unbefangenheit des ethischen Urtheils,

2) vernichtete die Wissenschaft,

3) hatte keinen Sinn für die Kunst,

4) riss das Individuum heraus aus dem historischen Verbande,

5) dialectische Rederei und Geschwätzigkeit befördert.

6 [27]

Ich glaube nicht mehr an die „naturgemässe Entwicklung" der Griechen: sie waren viel zu begabt, um in jener schrittweisen Manier, allmählich zu sein, wie es der Stein und die Dummheit sind. Die Perserkriege sind das nationale Unglück: der Erfolg war zu gross, alle schlimmen Triebe brachen heraus, das tyrannische Gelüst ganz Hellas zu beherrschen wandelte einzelne Männer und einzelne Städte an. Mit der Herrschaft von Athen (auf geistigem Gebiete) sind eine Menge Kräfte erdrückt worden; man denke nur, wie unproductiv Athen für Philosophie lange Zeit war. Pindar wäre als Athener nicht möglich gewesen. Simonides zeigt es. Und Empedocles wäre es auch nicht, Heraclit nicht. Alle grossen Musiker kommen fast von Aussen. Die athenische Tragödie ist nicht die höchste Form, die man denken könnte. Den Helden derselben fehlt doch das Pindarische gar zu sehr. Überhaupt: wie grässlich war es, dass der Kampf gerade zwischen Sparta und Athen ausbrechen musste – das kann gar nicht tief genug betrachtet werden. Die geistige Herrschaft Athens war die Verhinderung jener Reformation. Man muss sich einmal dahinein denken, wo diese Herrschaft noch gar nicht da war: nothwendig war sie nicht, sie wurde es erst in Folge der Perserkriege, d. h. erst, nachdem es die physische politische Macht zeigte. Milet war z. B. viel begabter, Agrigent auch.

6 [28]

Der Tyrann, der thun kann wozu er Lust hat, d. h. der Grieche, der durch keine Gewalt in Schranken gehalten wird, ist ein ganz maassloses Wesen: "er stürzt die Gebräuche des Vaterlands um, thut den Weibern Gewalt an und tödtet Menschen nach Willkür". Ebenso zügellos ist der tyrannische Freigeist, vor dem die Griechen ebenfalls Angst haben. Königshass – Zeichen der demokratischen Gesinnung. Ich glaube: die Reformation wäre möglich gewesen, wenn ein Tyrann ein Empedocles gewesen wäre.

Plato sprach mit seiner Forderung des Philosophen auf dem Throne einen ehemals möglichen Gedanken aus: er fand den Einfall, nachdem die Zeit, ihn zu verwirklichen, vorüber war. Periander? –

6 [29]

Ohne den Tyrannen Pisistratus hätten die Athener keine Tragödie gehabt: denn Solon war dagegen, aber die Lust daran war einmal geweckt. Was wollte Pisistratus mit diesen grossen Trauer-erregungen?

Solons Abneigung gegen die Tragödie: man denke an die Beschränkungen der Trauerfestlichkeiten bei Todesfällen, das Verbieten von Threnoi. Bei den milesischen Frauen wird manicon penJ oz ; erwähnt.

Nach der Anecdote ist es die Verstellung welche Solon missfällt; das unkünstlerische Naturell des Atheners zeigt sich.

Kleisthenes, Periander und Pisistratus die Beförderer der Tragödie als einer Volkslustbarkeit, der Lust manicon penJ oz. Solon will Mässigung.

6 [30]

Die centralisirenden Tendenzen, durch die Perserkriege entstanden: ihrer haben sich Sparta und Athen bemächtigt. Dagegen war 776-560 davon nichts da: die Cultur der Polis blühte; ich meine, ohne Perserkriege hätte man die Centralisationsidee durch eine Reformation des Geistes bekommen -Pythagoras?

Auf die Einheit der Feste und des Cultus kam es damals an: hier hätte auch die Reform begonnen. Der Gedanke einer panhellenischen Tragödie – da wäre noch eine unendlich reichere Kraft entwickelt worden. Warum kam es nicht dazu? Nachdem Korinth Sikyon und Athen diese Kunst entwickelt hatten.

6 [31]

Der grösste Verlust, der die Menschheit treffen kann, ist ein Nichtzustandekommen der höchsten Lebenstypen. So etwas ist damals geschehen. Eine scharfe Parallele zwischen diesem Ideal und dem christlichen. Zu benutzen die Bemerkung Schopenhauers: "vorzügliche und edle Menschen werden jener Erziehung des Schicksals bald inne und fügen sich bildsam und dankbar in dieselbe; sie sehn ein, dass in der Welt wohl Belehrung, aber nicht Glück zu finden sei und sagen endlich mit Petrarca ,altro diletto, che 'mparar, non provo'. Es kann damit sogar dahin kommen, dass sie ihren Wünschen und Bestrebungen gewissermaassen nur noch zum Schein und tändelnd nachgehn, eigentlich aber und im Ernst ihres Innern, bloss Belehrung erwarten; welches ihnen alsdann einen beschaulichen, genialen, erhabenen Anstrich giebt." – Parerga I 439. Damit vergleiche man die Socratiker und die Jagd nach Glück!

6 [32]

Die entsetzliche Unterredung der Athener mit den Meliern bei Thucydides! Es musste bei solchen Gesinnungen das Hellenische zu Grunde gehen, durch Angst auf allen Seiten. Z. B.

wie der Athener sagt: "was das Wohlwollen der Götter betrifft, so werden wir nicht im Nachtheil sein; denn wir verlangen und thun nichts, was ausser der menschlichen Art liegt, weder in Bezug auf den Glauben an die Götter noch auch in dem, was die Menschen für sich selbst wünschen."

6 [33]

Luther: "ich habe kein besser Werk denn Zorn und Eifer: denn wenn ich wohl dichten, schreiben, beten und predigen will, so muss ich zornig sein, da erfrischt sich mein ganz Geblüt, mein Verstand wird geschärft und alle unlustigen Gedanken und Anfechtungen weichen."

6 [34]

Es ist eine schöne Wahrheit, dass einem, dem Besserwerden oder Erkennung Lebensziele geworden sind, alle Dinge zum Besten dienen. Aber doch nur beschränkt wahr: ein Erkennenwollender zu ermüdendster Arbeit gezwungen, ein Besserwerdender durch Krankheiten entnervt und zerrüttet! Im Ganzen mag es gelten: die anscheinende Absichtlichkeit des Schicksals ist die That des Einzelnen, der sein Leben zurechtlegt und aus allem lernt, Erkenntniss saugend wie die Biene Honig. Das Schicksal, aber, welches ein Volk trifft, trifft ein Ganzes, welches nicht so seine Existenz überdenken und mit Zielen versehen kann; und so ist die Absichtlichkeit bei Völkern eine Erschwindelung von Grübelköpfen, nichts ist leichter als die Nichtabsichtlichkeit zu zeigen z. B. daran, dass eine Zeit im vollsten Aufblühen plötzlich von einem Schneefall betroffen wird, dass alles stirbt. Es ist darin ganz so dumm wie in der Natur. Bis zu einem Grad setzt wohl jedes Volk selbst unter den ungünstigsten Verhältnissen etwas durch, was an seine Begabung erinnert. Aber damit es sein Bestes leisten könne, müssen einige Unfälle nicht eintreten. Die Griechen haben ihr Bestes nicht geleistet.

Auch die Athener wären etwas Höheres geworden ohne den politischen Furor seit den Perserkriegen: man denke an Aeschylus, der aus der vorpersischen Zeit stammt und der mit den Athenern seiner Zeit unzufrieden war.

6 [35]

Durch die Ungunst der Lage der griechischen Städte nach den Perserkriegen sind viele günstige Bedingungen zum Entstehen und zur Entwicklung grosser Einzelner beseitigt worden: und so hängt allerdings die Erzeugung des Genius am Schicksal der Völker. Denn Ansätze zu Genie's sind sehr häufig, aber sehr selten das Zusammentreffen aller nöthigsten Begünstigungen.

Diese Reformation der Hellenen, wie ich sie träume, wäre ein wunderbarer Boden für die Erzeugung von Genien geworden: wie es noch nie einen gab. Das wäre zu beschreiben. Da ist uns unsägliches verloren gegangen.

6 [36]

Die höhere sittliche Natur der Hellenen zeigt sich in ihrer Ganzheit und Vereinfachtheit; dadurch dass sie den Menschen vereinfacht zeigen, erfreuen sie uns, wie der Anblick der Thiere.

6 [37]

Das Streben der Philosophen geht dahin, zu verstehen, was seine Mitmenschen nur leben. Während sie ihr Dasein sich deuten und seine Gefahren verstehen, deuten sie zugleich auch ihrem Volke ihr Dasein.

Ein neues Weltbild an Stelle des volksthümlichen will der Philosoph setzen.

6 [38]

Thales' Städtebund: er sah das Verhängniss der Polis und sah den Mythus als das Fundament der Polis.

Brach er den Mythus, dann vielleicht auch die Polis. Thales als Staatsmann. Kampf gegen die Polis.

Heraclits Stellung zu den Persern: er war über die Gefahr des Hellenischen und Barbarischen klar.

Anaximander als Coloniengründer.

Parmenides als Gesetzgeber.

Empedocles der Democrat, der sociale Reformen im Schilde führt.

6 [39]

Die Verführer der Philosophen sind die Worte, sie zappeln in den Netzen der Sprache.

6 [40]

Die Macht des Einzelnen ist ausserordentlich in Griechenland: Städte gründen, Gesetze geben.

6 [41]

Wissenschaft ergründet den Naturverlauf, kann aber niemals dem Menschen befehlen. Neigung Liebe Lust Unlust Erhebung Erschöpfung – das kennt alles die Wissenschaft nicht. Das was der Mensch lebt und erlebt, muss er sich irgendworaus deuten; dadurch abschätzen. Die Religionen haben ihre Kraft <darin>, dass sie Werthmesser sind, Maassstäbe. Im Mythus gesehen sieht ein Ereigniss anders aus. Die Deutung der Religionen hat das an sich, dass sie menschliches Leben nach menschenartigen Idealen misst.

6 [42]

Aeschylus hat vergebens gelebt und gekämpft: er kam zu spät. Das ist das Tragische in der griechischen Geschichte: die grössten wie Demosthenes kommen zu spät, um das Volk herauszuheben.

Aeschylus verbürgt auch eine Höhe des griechischen Geistes, die mit ihm ausstirbt.

6 [43]

Man bewundert jetzt das Evangelium der Schildkröte – ach, die Griechen liefen zu rasch. Ich suche nicht nach glücklichen Zeiten in der Geschichte, aber nach solchen, welche einen günstigen Boden für die Erzeugung des Genius bieten. Da finde ich die Zeiten vor den Perserkriegen. Man kann sie nicht genau genug kennen lernen.

6 [44]

1. Diese Philosophen isolirt für sich.

2. Dann als Zeugen für das Hellenische. (Ihre Philosophien Hadesschatten des griechischen Wesens.)

3. Dann als Kämpfer gegen die Gefahren des Hellenischen.

4. Dann im Verlauf der hellenischen Geschichte als misslungene Reformatoren.

5. Dann im Gegensatz zu Socrates und den Secten, und zu der vita contempl<ativa,> als Versuche eine Lebensform zu gewinnen, die noch nicht gewonnen ist.

6 [45]

Manche Menschen leben ein dramatisches Leben, manche ein episches, manche ein unkünstlerisches und verworrenes. Die griechische Geschichte hat durch die Perserkriege einen daemon ex machina.

6 [46]

Bei Anaxagoras: der nouz ist ein aJ eoz ex machina.

6 [47]

Versuch einer Volkscultur.

Verschwendung des kostbarsten Griechengeistes und Griechenblutes! Daran ist zu zeigen, wie die Menschen viel besonnener leben lernen müssen. Die Tyrannen des Geistes in Griechenland sind fast immer ermordet worden, und haben nur spärliche Nachkommenschaft gehabt. Andre Zeiten haben ihre Kraft gezeigt im zu Ende Denken und im alle Möglichkeiten Verfolgen Eines grossen Gedankens: die christlichen z. B. Aber bei den Griechen war diese Übermacht zu erlangen sehr schwer; alles war da in Feindschaft unter einander. Stadtcultur allein bis jetzt bewiesen – jetzt noch leben wir davon.

Stadt-cultur

Welt-cultur

Volks-cultur: wie schwach bei den Griechen, eigentlich doch nur die athenische Stadtcultur, verblasst.

6 [48]

1. Es kommt wohl für jeden eine Stunde, wo er mit Verwunderung vor sich selbst fragt: Wie lebt man nur! Und man lebt doch! – eine Stunde, wo er zu begreifen anfängt, dass er eine Erfindsamkeit besitzt von der gleichen Art wie er sie an der Pflanze bewundert, die sich windet und klettert und endlich sich etwas Licht erzwingt und ein wenig Erdreich dazu und so ihr Theil Freude in einem unwirthlichen Boden sich selber schafft. In den Beschreibungen die einer von seinem Leben macht, giebt es immer solchen Punct, wo man Staunt, wie hier die Pflanze noch leben kann und wie sie doch mit einer unerschütterlichen Tapferkeit daran geht. Nun giebt es Lebensläufte, wo die Schwierigkeiten ins Ungeheure gewachsen sind, die der Denker; und hier muss man, wo etwas davon erzählt wird, aufmerksam hinhören, denn hier vernimmt man etwas von Möglichkeiten des Lebens, von denen nur zu hören Glück und Kraft bringt und auf das Leben der Späteren Licht herabgiesst, hier ist alles so erfinderisch, besonnen, verwegen, verzweifelt und voller Hoffnung, wie etwa die Reisen der grössten Weltumsegler und auch in der That etwas von der gleichen Art, Umsegelungen der entlegensten und gefährlichsten Bereiche des Lebens. Das Erstaunliche in solchen Lebensläuften liegt darin, dass zwei feindselige, nach verschiedenen Richtungen hin drängende Triebe hier gezwungen werden, gleichsam unter Einem Joche zu gehen; der welcher das Erkennen will, muss den Boden, auf dem der Mensch lebt, immer wieder verlassen und sich ins Ungewisse wagen, und der Trieb, der das Leben will, muss immer wieder sich zu einer ungefähr sicheren Stelle hintasten, auf der sich stehen lässt; wir werden an James Cook erinnert, der sich mit dem Senkblei in der Hand durch eine Kette von Klippen hindurch tasten musste, drei Monate lang: und dessen Gefahren oft so anwuchsen, dass er sogar in einer Lage, die er kurz vorher für eine der gefährlichsten gehalten hatte, gerne wieder Schutz suchte. Lichtenberg IV 152. Jener Kampf zwischen Leben und Erkennen wird um so grösser, jenes unter Einem Joch Gehen um so seltsamer sein, je mächtiger beide Triebe sind, also je voller und blühender das Leben, und wiederum je unersättlicher das Erkennen ist und je begehrlicher es zu allen Abenteuern hindrängt.

2. Ich werde darum nicht satt, mir eine Reihe von Denkern vor die Seele zu stellen, von denen jeder einzelne jene Unbegreiflichkeit an sich hat und jene Verwunderung erwecken muss, wie er gerade seine Möglichkeit des Lebens fand: die Denker, welche in der kräftigsten und fruchtbarsten Zeit Griechenlands, in dem Jahrhundert vor den Perserkriegen und während derselben lebten: denn diese Denker haben sogar schöne Möglichkeiten des Lebens entdeckt; und es scheint mir, dass die späteren Griechen das Beste davon vergessen haben: und welches Volk könnte bis jetzt sagen, es habe sie wiederentdeckt? – Man vergleiche die Denker anderer Zeiten und andrer Völker mit jener Reihe von Gestalten, die mit Thales beginnt und mit Democrit endet, ja man stelle Socrates und seine Schüler und alle die Sectenhäupter des späteren Griechenlands neben jene Altgriechen hin – nun wir wollen es in dieser Schrift thun und hoffentlich werden es andere noch besser thun: immerhin glaube ich, dass jede Betrachtung mit diesem Ausrufe enden wird: Wie schön sind sie! Ich sehe keine verzerrten und wüsten Gestalten darunter, keine pfäffischen Gesichter, keine entfleischten Wüsten-Einsiedler, keine fanatischen Schönfärber der gegenwärtigen Dinge, keine theologisirenden Falschmünzer, keine gedrückten und blassen Gelehrten: ich sehe auch jene nicht darunter, die es mit dem "Heil ihrer Seele" oder mit der Frage: was ist das Glück, so wichtig nehmen, dass sie Welt und Mitmenschen darüber vergessen. – Wer „diese Möglichkeiten des Lebens" wieder entdecken könnte! Dichter und Historiker sollten über dieser Aufgabe Wüten: denn solche Menschen sind zu selten, dass man sie laufen lassen könnte. Vielmehr sollte man sich gar nicht eher Ruhe geben, als bis man ihre Bilder nachgeschaffen und sie hundertfach an die Wand gemalt hat – und ist man so weit, – dann freilich wird man sich erst recht nicht Ruhe geben. Denn unserer so erfinderischen Zeit fehlt noch immer gerade jene Erfindung, welche die alten Philosophen gemacht haben müssen: woher käme sonst ihre wunderwürdige Schönheit! woher unsre Hässlichkeit! – Denn was ist Schönheit, wenn nicht das von uns erblickte Spiegelbild einer ausserordentlichen Freude der Natur, darüber dass eine neue fruchtbare Möglichkeit des Lebens entdeckt ist? Und was ist Hässlichkeit, wenn nicht ihr Missmuth über sich selbst, ihr Zweifel, ob sie die Kunst zum Leben zu verführen, wirklich noch verstelle?

3. Die griechische Philosophie scheint mit einem ungereimten Einfalle zu beginnen, mit dem Satze, daß das Wasser der Ursprung und der Mutterschooß aller Dinge sei; ist es wirklich nöthig, darf man sich fragen, hierbei stehen zu bleiben und sich ernst zu besinnen? – Ja, und aus drei Gründen: erstens weil der Satz etwas vom Ursprung der Dinge aussagt, zweitens weil er dies ohne Bild und mythische Fabelei thut und endlich drittens, weil in ihm, wenngleich nur im Zustande der Verpuppung, der Gedanke enthalten ist: Alles ist eins. Der erstgenannte Grund läßt Thales noch in der Gemeinschaft mit Religiösen und Abergläubischen, der zweite nimmt ihn aus dieser Gesellschaft heraus und zeigt ihn als ersten Naturforscher, auf den dritten Grund hin gilt Thales als der erste griechische Philosoph. In Thales siegt zum ersten Male der wissenschaftliche Mensch über den mythischen und wieder der weise Mensch über den wissenschaftlichen.

6 [49]

Wie war es nur möglich, daß sich Thales vom Mythus lossagte! Thales als Staatsmann! Hier muß etwas vorgefallen sein. War die Polis der Brennpunkt des hellenischen Willens und beruhte sie auf dem Mythus, so heißt den Mythus aufgeben soviel wie den alten Polisbegriff aufgeben. Nun wissen wir, daß Thales die Gründung einer Eidgenossenschaft von Städten vorschlug, aber nicht durchsetzte: er scheiterte an dem alten mythischen Polisbegriff. Zugleich ahnte er die ungeheure Gefahr Griechenlands, wenn diese isolirende Macht des Mythus die Städte getrennt hielt. In der That: hätte Thales seine Eidgenossenschaft zu Stande gebracht, so wäre Griechenland vom Perserkriege verschont geblieben, und damit auch vom Athener-Siege und Übergewicht. Um die Veränderung des Polisbegriffs und die Schaffung einer panhellenischen Gesinnung bemühen sich alle ältern Philosophen. Heraklit scheint sogar die Schranke zwischen Barbarisch und Hellenisch niedergerissen zu haben, um größere Freiheit zu schaffen und die engen Anschauungen vorwärts zu bringen. – Die Bedeutung des Wassers und des Meeres für den Griechen.

6 [50]

Thales: was trieb ihn zur Wissenschaft und Weisheit? –

Vor allem aber der Kampf gegen den Mythus. Gegen die Polis, die auf ihm fundirt ist. Einziges Mittel das Hellenische zu schützen; die Perserkriege abzuwenden. Bei allen Philosophen ein panhellenischer Zweck.

Anaximander. Kampf gegen den Mythus, insofern er verweichlicht und verflacht und so die Griechen in Gefahr bringt.

Heraclit. Kampf gegen den Mythus, insofern er die Griechen isolirt und sie den Barbaren entgegenstellt. Er denkt über eine Weltordnung nach, die überhellenisch ist.

Parmenides. Theoretische Geringschätzung der Welt, als einer Täuschung. Kampf gegen das Phantastische und Wogende der ganzen Weltbetrachtung: er will dem Menschen Ruhe geben gegen die politische Leidenschaft. Gesetzgeber.

Anaxagoras. Die Welt als unvernünftig, aber doch maassvoll und schön: so sollte der Mensch sein und so fand er ihn in den älteren Athenern, Aeschylus usw. Seine Philosophie Spiegelbild des älteren Athen: Gesetzgebung für Menschen, die keine brauchen.

Empedocles. Panhellenischer Reformator, pythagoreisches Leben, wissenschaftlich begründet. Neue Mythologie. Einsicht in die Unvernunft der beiden Triebe, Liebe und Hass. Liebe Democratie Gütergemeinschaft. Vergleich mit Tragödie.

Democrit: die Welt ist unvernünftig, auch nicht maassvoll und schön, sondern nur nothwendig. Unbedingte Beseitigung alles Mythischen. Die Welt ist begreiflich. Er will die Polis (an Stelle des epikurischen Gartens); das war eine Möglichkeit des hellenischen Lebens.

Socrates. Die tragische Geschwindigkeit der Griechen. Die älteren Philosophen haben nicht gewirkt. Die Lebensvirtuosen: die älteren Philosophen denken immer ikarisch.

6 [51]

Die Griechen sind gewiß nie überschätzt worden: denn da müßte man sie doch auch so geschätzt haben, wie sie es verdienen; aber gerade das ist unmöglich. Wie sollten wir ihnen gerecht in der Schätzung sein können! Nur falsch geschätzt haben wir sie.

 

[Dokument: Mappe loser Blätter]

[1875]

7 [1]

Die Verehrung des klassischen Alterthums, wie sie die Italiäner zeigten, das heisst also die einzig ernsthafte uneigennützige hingebende Verehrung, welche das Alterthum bis jetzt gefunden hat, ist ein grossartiges Beispiel der Don Quixoterie: und so etwas ist also Philologie besten Falls. So schon bei den alexandrinischen Gelehrten, so bei allen den Sophisten des ersten und zweiten Jahrhunderts, bei den Atticisten usw. Man ahmt etwas rein Chimärisches nach, und läuft einer Wunderwelt hinterdrein, die nie existirt hat. Es geht ein solcher Zug schon durch das Alterthum: die Art, wie man die homerischen Helden copirte, der ganze Verkehr mit dem Mythus hat etwas davon. Allmählich ist das ganze Griechenthum selber zu einem Objecte des Don Quixote geworden. Man kann unsre moderne Welt nicht verstehn, wenn man nicht den ungeheuren Einfluss des rein Phantastischen einsieht. Dem steht nun entgegen: es kann keine Nachahmung geben. Alles Nachahmen ist nur ein künstlerisches Phänomen, also auf den Schein gerichtet; etwas Lebendiges kann Manieren Gedanken usw. annehmen durch Nachahmung, aber sie kann nichts erzeugen. Eine Kultur, welche der griechischen nachläuft, kann nichts erzeugen. Wohl kann der Schaffende überall her entlehnen und sich nähren. Und so werden wir auch nur als Schaffende etwas von den Griechen haben können. Worin aber wären die Philologen Schaffende! Es muss einige unreinliche Gewerbe geben, Abdecker; auch Correctoren: sollen die Philologen etwa so ein unreinliches Gewerbe vorstellen?

7 [2]

Entstehung des Philologen. Dem grossen Kunstwerk wird sich beim Erscheinen desselben immer ein Betrachter gegenüberstellen, der seine Wirkung nicht nur empfindet, sondern sie auch verewigen möchte. So auch dem grossen Staate, kurz allem, was den Menschen erhebt. So wollen die Philologen die Wirkung des Alterthums verewigen: das können sie nur als nachschaffende Künstler. Nicht als nachlebende Men<schen?>

7 [3]

Entstehung der Philologie. (Brauchte das Alterthum einen Stand von Vertretern?)

Jetzige Entstehung des Philologen. Ihr Verhältniss zu den Griechen.

Ihre Einwirkung auf die Nichtphilologen.

Die Philologen der Zukunft – ob es welche geben wird?

7 [4]

Freundschaft Göttin höre gnädig das Lied

das wir jetzt singen der Freundschaft

Wohin auch blickt das Auge der Freunde

übervoll vom Glück der Freundschaft:

hülfreich nahe uns

Morgenröthe im Blick und

ewiger Jugend treues Pfand in der heil'gen Rechten.

7 [5]

Beim Durchmustern der Geschichte der Philologie fällt auf, wie wenig wirklich begabte Menschen dabei betheiligt gewesen sind. Unter den berühmtesten sind einige, die sich ihren Verstand durch Vielwisserei zerstört haben, und unter den Verständigsten darunter solche, die mit ihrem Verstande nichts anzufangen wussten als Mücken zu seihen. Es ist eine traurige Geschichte, ich glaube, keine Wissenschaft ist so arm an Talenten. Es sind die Lahmen im Geiste, die in der Wortklauberei ihr Steckenpferd. gefunden haben.

Ich ziehe vor, etwas zu schreiben, was so gelesen zu werden verdient, wie die Philologen ihre Schriftsteller lesen, als über einem Autor zu hocken. Und überhaupt – auch das geringste Schaffen steht höher als das Reden über Geschaffnes.

7 [6]

Dass es Gelehrte giebt, welche sich ausschliesslich mit der Erforschung des griechischen und des römischen Alterthums beschäftigen, wird jeder billig, ja lobenswürdig und vor allem begreiflich finden, falls er überhaupt die Erforschung des Vergangenen billigt: dass dieselben Gelehrten aber zugleich die Erzieher der edlern Jugend, der reichen Stände sind, ist nicht ebenso leicht verständlich: hier liegt ein Problem. Warum sie gerade? Das versteht sich doch nicht so von selbst, wie das, wenn der Gelehrte der Heilkunst auch heilt und Arzt ist. Denn stünde es gleich, so müsste Beschäftigung mit dem griechischen und römischen Alterthum gleich sein mit „Wissenschaft der Erziehung". Kurz: das Verhältniss von der Theorie und Praxis im Philologen ist nicht so schnell einzusehen. Wie kommt er zu dem Anspruch, der Lehrer im höheren Sinne zu sein und nicht nur alle wissenschaftlichen Menschen, sondern überhaupt alle Gebildeten zu erziehn? – Diese erziehende Kraft müsste also der Philologe doch dem Alterthume entnehmen; da fragt man denn erstaunt: wie kommen wir dazu, einer fernen Vergangenheit den Werth beizulegen, dass wir nur mit Hülfe ihrer Erkenntniss gebildet werden können? – Eigentlich fragt man nicht so oder selten so: vielmehr besteht die Herrschaft der Philologie über das Erziehungswesen fast unbezweifelt, und das Alterthum hat jene Geltung. In so fern ist die Lage des Philologen günstiger als die jedes andern Jüngers der Wissenschaft: er hat zwar noch nicht die grösste Masse von Menschen, die seiner bedürfen; der Arzt z. B. hat noch viel mehrere. Aber er hat ausgesuchte Menschen und zwar Jünglinge in der Zeit, wo alles knospt; solche, die Zeit und Geld auf eine höhere Entwicklung verwenden können. So weit sich jetzt die europäische Bildung erstreckt, hat man die Gymnasien auf lateinisch-griechischer Grundlage angenommen, als erstes und oberstes Mittel. Damit hat die Philologie die rechte und beste Gelegenheit gefunden, sich fortzupflanzen und Achtung vor sich zu erwecken: hierin steht keine andre Wissenschaft so günstig. Im Ganzen halten auch alle die, welche durch solche Anstalten hindurch gegangen sind, an der Vortrefflichkeit der Einrichtung fest; sie sind unbewusste Verschworene zu Gunsten der Philologie; erschallt einmal ein Wort dagegen, von solchen die nicht auf diesem Wege gegangen sind, so erfolgt die Ablehnung so einmüthig und so still, als ob klassische Bildung eine Art von Zauberei sei, beglückend und durch diese Beglückung sich jedem Einzelnen beweisend; man polemisirt gar nicht, "man hat's ja erlebt".

Nun giebt es viele Dinge, an welche der Mensch sich so gewöhnt hat, dass er sie für zweckmässig hält; denn die Gewohnheit mischt allen Dingen Süssigkeit bei und nach der Lust schätzen die Menschen meistens das Recht einer Sache. Die Lust am klassischen Alterthum, wie sie jetzt empfunden wird, soll nun einmal darauf hin geprüft und zerlegt werden, wie viel daran jene Lust der Gewohnheit, wie viel Lust der Ungewohnheit ist: ich meine jene innere thätige neue und junge Lust, wie sie eine fruchtbare Überzeugung von Tage zu Tage erweckt, die Lust an einem hohen Ziele, die auch die Mittel dazu will: wobei man Schritt für Schritt weiter kommt, aus einem Ungewohnten in's andere Ungewohnte: wie ein Alpensteiger.

Auf welchem Grunde beruht die grosse Schätzung des Alterthums in der Gegenwart, dass man darauf die ganze moderne Bildung aufbaut? Wo ist der Ursprung dieser Lust? Dieser Bevorzugung des Alterthums?

Bei dieser Untersuchung glaube ich erkannt zu haben, dass auf demselben Grund, auf dem das Ansehen des Alterthums als wichtigen Erziehungsmittels ruht, auch die ganze Philologie, ich meine ihre ganze jetzige Existenz und Kraft ruht. Das Philologenthum als Lehrerthum ist der genaue Ausdruck einer herrschenden Ansicht über den Werth des Alterthums und über die beste Methode der Erziehung. Zwei Sätze sind in diesem Gedanken eingeschlossen; erstens: alle höhere Erziehung muss eine historische sein, zweitens: mit der griechischen und römischen Historie steht es anders als mit allen andern, nämlich klassisch. So wird der Kenner dieser Historie zum Lehrer. Hier untersuchen wir den ersten Satz nicht, ob eine höhere Erziehung historisch sein müsse, sondern den zweiten: in wiefern klassisch?

Darüber sind einige Vorurtheile sehr verbreitet.

Erstens das Vorurtheil, welches im synonymen Begriff „Humanitätsstudien" liegt: das Alterthum ist klassisch, weil es die Schule des Humanen ist.

Zweitens: "das Alterthum ist klassisch, weil es aufgeklärt ist."

7 [7]

Il faut dire la vérité et s'immoler.

Voltaire.

Nehmen wir einmal an, es gäbe freiere und überlegenere Geister, welche mit der Bildung, die jetzt im Schwange geht, unzufrieden wären und sie vor ihren Gerichtshof führten: wie würde die Angeklagte zu ihnen reden? Vor allem so: "ob ihr ein Recht habt anzuklagen oder nicht, jedesfalls haltet euch nicht an mich, sondern an meine Bildner; diese haben die Pflicht mich zu vertheidigen und ich habe ein Recht zu schweigen: bin ich doch nichts als ihr Gebilde." Nun würde man die Bildner vorführen: und unter ihnen wäre auch ein ganzer Stand zu erblicken, der der Philologen. Dieser Stand besteht einmal aus solchen Menschen, welche ihre Kenntniß des griechischen und römischen Alterthums benutzen, um mit ihr Jünglinge von 13-20 Jahren zu erziehen, und sodann aus solchen, welche die Aufgabe haben, derartige Lehrer immer von neuem heranzubilden, also Erzieher der Erzieher zu sein; die Philologen der ersten Gattung sind Lehrer an Gymnasien, die der zweiten Professoren an den Universitäten. Den ersteren übergiebt man ausgewählte Jünglinge, solche an denen Begabung und ein edlerer Sinn bei Zeiten sichtbar werden, und auf deren Erziehung die Eltern reichlich Zeit und Geld verwenden können; übergiebt man ihnen noch andre, welche diesen drei Bedingungen nicht entsprechen, so steht es in der Hand der Lehrer sie abzuweisen. Die zweite Gattung, aus den Philologen der Universität bestehend, empfängt die jungen Männer, welche sich zum höchsten und anspruchsvollsten Berufe, dem der Lehrer und Bildner des Menschengeschlechts, geweiht fühlen; wiederum steht es in ihrer Hand, die falschen Eindringlinge zu beseitigen. Wird nun die Bildung einer Zeit verurtheilt, so sind jedenfalls die Philologen schwer angegriffen: entweder nämlich wollen sie, in der Verkehrtheit ihres Sinnes, gerade jene schlechte Bildung, weil sie dieselbe für etwas Gutes halten, oder sie wollen sie nicht, sind aber zu schwach, das Bessere, das sie erkennen, durchzusetzen. Entweder liegt also ihre Schuld in der Mangelhaftigkeit ihrer Einsicht oder in der Ohnmacht ihres Willens. Im ersten Falle würden sie sagen, sie wüßten es nicht besser, im zweiten, sie könnten es nicht besser. Da aber die Philologen vornehmlich mit Hülfe des griechischen und römischen Alterthums erziehen, so könnte die im ersten Falle angenommene Mangelhaftigkeit ihrer Einsicht einmal darin sich zeigen, daß sie das Alterthum nicht verstehen; zweitens aber darin, daß das Alterthum von ihnen mit Unrecht in die Gegenwart hineingestellt wird, angeblich als das wichtigste Hülfsmittel der Erziehung, weil es überhaupt nicht oder jetzt nicht mehr erzieht. Macht man ihnen dagegen die Ohnmacht ihres Willens zum Vorwurf, so hätten sie zwar darin volles Recht, wenn sie dem Alterthum jene erzieherische Bedeutung und Kraft zuschreiben, aber sie wären nicht die geeigneten Werkzeuge, vermittelst deren das Alterthum diese Kraft äußern könnte: das heißt: sie wären mit Unrecht Lehrer und lebten in einer falschen Stellung: aber wie kamen sie dann in diese hinein? Durch eine Täuschung über sich und ihre Bestimmung. Um also den Philologen ihren Antheil an der gegenwärtigen schlechten Bildung zuzuerkennen, könnte man die verschiedenen Möglichkeiten in diesen Satz zusammenfassen. Drei Dinge muß der Philologe, wenn er seine Unschuld beweisen will, verstehen, das Alterthum, die Gegenwart, sich selbst: seine Schuld liegt darin, daß er entweder das Alterthum nicht oder die Gegenwart nicht oder sich selbst nicht versteht. Erste Frage: versteht der Philologe das Alterthum? – – –

 

[Dokument: Heft]

[Sommer 1875]

8 [1]

Bücher für 8 Jahre.

Schopenhauer.

Dühring.

Aristoteles.

Goethe.

Plato.

8 [2]

Gegen die lyrische Poesie bei den Deutschen. Da lese ich, daß gar Mörike der größte deutsche Lyriker sein soll! Ist es nicht ein Verbrechen dumm zu sein, wenn man hier also Goethe nicht als den größten empfindet oder empfinden will? – Aber was muß da nur in den Köpfen spuken, welcher Begriff von Lyrik! Ich sah mir darauf diesen Mörike wieder an und fand ihn, mit Ausnahme von 4-5 Sachen in der deutschen Volkslied-Manier, ganz schwach und undichterisch. Vor allem fehlt es ganz an Klarheit der Anschauung. Und was die Leute an ihm musikalisch nennen, ist auch nicht viel: und zeigt wie wenig die Leute von der Musik wissen: die mehr ist als so ein süßliches-weichliches Schwimm-schwimm und Kling-kling! – Gedanken nun hat er gar nicht: und ich halte nur noch Dichter aus, die unter anderm auch Gedanken haben, wie Pindar und Leopardi. Aber was kann auf die Dauer einem diese Knaben-Unbestimmtheit des Gefühls sein, wie sie im deutschen Volkslied sich ausdrückt! Da lobe ich mir selbst noch eher Horaz, ob der schon recht bestimmt ist und die Wörtchen und Gedänkchen wie Mosaik setzt.

8 [3]

Der Reihe nach:

Dühring Werth des Lebens.

Dühring Cursus der Philosophie.

Reis Mathematik.

Physik usw.

Naturwissenschaftliche Bibliothek.

National-Ökonomie.

Gesundheitslehre.

Geschichte.

Erste Stunde des Tags dem Lernen gewidmet.

Dann Ausarbeitung des Collegs.

Im Seminar Prometheus?

Choephoren?

Alcestis?

8 [4]

Pläne aller Art:

1) der Cyclus von Collegien über griechisches Wesen.

2) Sammlung eines ungeheuren empirischen Materials der Menschenkenntniss. Dazu viele ältere Geschichtswerke, Romane usw. zu lesen, auch Briefe.

3) Dühring, als den Versuch einer Beseitigung Schopenhauer's durchzustudiren und zu sehen, was ich an Schopenhauer habe, was nicht. Hinterdrein noch einmal Schopenhauer zu lesen.

4) allmähliche Fortsetzung meiner Unzeitgemässen Betrachtungen, zunächst "Richard Wagner in Bayreuth", "die Philologen" "über Religion".

5) meine philologischen Arbeiten ausführen, damit sie nicht ganz mir aus dem Gedächtniss kommen. Den ersten Band einer Sammlung philologischer Arbeiten herauszugeben, enthaltend: "die Choephoren des Aeschylus" „über Rhythmus" „Hesiods und Homer's Wettkampf" „Diadoche der Philosophen".

6) mit meinen Schülern Baumgartner und Brenner die Vorstudien zu einer Lehre vom Stil.

7) im Pädagogium: Plato Ilias Moduslehre Agamemnon des Aeschylus.

8 [5]

Goethe ist vor Allem ein Epiker, viel mehr als etwa Lyriker. Ganz falsch, in ihm den größten Lyriker zu sehen.

8 [6]

Aeschylus ist, wie alle Dichter, unreligiös.

8 [7]

Eins der schädlichsten Bücher ist der Don Quixote.

8 [8]

Es bedarf keineswegs des „schönen Wetters", damit die Natur schön erscheine. Manche Natur bedarf sogar dazu des schlechten.

 

[Dokument: Heft]

[Sommer 1875]

9 [1]

Der Werth des Lebens von E. Dühring. 1865.

Vorrede Dührings zum „Werth des Lebens". Er erwartet Anfeindung von vielen Seiten, glaubt bei der Schulphilosophie Anstoß gegeben zu haben, einmal weil er auf die wirthschaftliche Zukunft der Menschheit Rücksicht nimmt, dann weil er die Begriffe von Gerechtigkeit auf Rache zurückführt. Sonst weiß er sich in vollständiger Übereinstimmung mit dem Geiste der Zeit und meint, daß die Versuche, ihn zu beseitigen eben an diesem Geiste scheiter werden. Schlechter Stil, Mangel an Haltung und Höhe, verdorbne Manier der Kürze („materielle Gesichtspunkte", Nation entfernt sich von der Traumwelt, in welche der Schwerpunkt ihres Daseins fiel", "Vorwegnahme", "Rücksichtnahme", „kolossalen Dimensionen, welche das Denken annehmen muß"). In der Sprache ist etwas Unlogisches, doch keineswegs das Unlogische der enthusiastischen Reflexion, vielmehr eine Vereinigung von Unsauberkeit (Schlumperei), Nüchternheit und Mangel an Übung im Stil. An Schopenhauer darf ich nicht denken, auch was das Ethos betrifft. – Der "Weltverzweiflung" – schönes Wort – wird also nicht das Wort geredet. Er bezeichnet sich als den "entschiedensten Antagonisten" Schopenhauer's; aber "Hochachtung für sein Streben und seine Leistungen" hat er doch! – Auf Feuerbach führt er "die junge lebende kräftige Richtung zurück, die jetzt einen Theil der Würde der Philosophie zu wahren versteht indem sie der Dunkelmacherei mit Energie und Erfolg entgegentritt." Berlin 1865.

Einleitung.

– "die Stärke des Optimismus besteht im Übersehen und Ignoriren" des Disharmonischen in dieser Welt, der Pessimismus lagert zwei Systeme über einander", "kennt die Kraft des einheitlichen Denkens nicht". – So wäre also der Optimismus die Philosophie der logischeren Menschen – was das Schließen aus dem vorliegenden Material betrifft, aber sie legen sich absichtlich ein unvollständiges Material vor und sehen über das andre weg. Die Lösung der Pessimisten ist eine unlogische, sie stellen zwei logisch unvereinbare Welten neben einander: denn die höhere Ordnung der Dinge soll die niedere bei ihnen nicht erklären, sondern aufheben, vernichten; oftmals nehmen sie gerade für die Existenz der wirklichen Welt die blinde Unvernunft als Ursache an. Es ist keine logische Noth, sondern eine poetische, welche den Pessimismus erzeugt. Während dem ist es überhaupt nicht die praktische Noth, welche den Optimismus erzeugt: sie haben das Behagen und machen nur, wenn sie von den Pessimisten gezwungen werden, den Ansatz, daraus ein System zu bilden und sich logisch zu rechtfertigen. So ist Optimismus wesentlich Selbstvertheidigung der Glücklichen gegen die Behauptungen der Pessimisten, Pessimismus ist aggressiv und hat in der Noth seine Mutter. Er ist älter und ursprünglicher als der Optimismus, produktiv, so daß er selbst noch seinen Gegensatz an's Licht ruft. Ego.

Im Felde der praktischen Urtheile und Werthe giebt es kein reines Urtheil, keine reine Erkenntniß. In der Beschaffenheit unseres Strebens, unserer Absichten liegt die Wurzel aller unserer beistimmenden oder verwerfenden Urtheile über das Leben. Dies zur Kritik der Schopenhauerischen Philosophie. Gewisse Vorstellungen sind gar nicht möglich außer der Beziehung auf ein Wollen. Jeder Trieb ist ein Bedürfniß und enthält bereits die Vorstellung von der Existenz eines Gegenstandes der Befriedigung; so ist der Trieb ideenbildend.

Der Gegensatz rein theoretischer Urtheile und praktischer Werthschätzungen ist der: ein theoretisches Urtheil stellt Übereinstimmung mit einem rein theoretischen Begriff hin, die praktische Werthschätzung Übereinstimmung mit einem Bestreben d. h. mit einer Sache, welche ein Maaß dessen schon hat, was sein soll.

Das Gesammturtheil über den Werth des Lebens ist die Resultante der Elementarbestimmungen; es kann keinen tleoretischen Begriff geben, welcher im Voraus feststellte, wie das Leben beschaffen sein müßte, um unseren Beifall zu haben. Absurde Standpunkte sind also solche: das Übel ist zu leugnen, denn es ist nur vom Standpunkt des Menschen wirklich Übel. Oder mit Spinoza: nichts ist an sich verwerflich; erst das Wollen der Menschen stempelt dies zum Guten, jenes zum Bösen. Wenn man so das Menschliche überhaupt aufgiebt, so verliert man jedes Maaß für praktische Werthschätzung. Nebenbei verliert man das sittliche Urtheil (man darf nicht mehr von gut und böse reden, ja jede nicht rein theoretische Entscheidung müßte als Täuschung bezeichnet werden). – Also am Streben mißt sich der Werth der Dinge, für den gar nicht Strebenden giebt es keine Werthe, für den rein Erkennenden fehlt alles Gut und Böse, alles Zustimmen und Verwerfen. Der gar nicht Strebende giebt nur rein theoretische Urtheile. Mir scheint also, daß alle Höhe des Urtheils über den Werth des Lebens an der Höhe und Stärke des Strebens hinge d. h. einmal am Ziele, und zweitens an dem Grad des nach dem Ziele Hindrängens, Hinlaufens.

Jede bejahende Werthschätzung ist ein Zustreben, jede Verneinung ein Entgegenstreben. Jedes praktische Urtheil läuft auf Zuneigung oder Abneigung zurück.

Vielleicht gehört selbst alles rein Theoretische unter die Grundform des Praktischen. Der Verstand giebt das Gesetz, was verstandesmäßig ist, was nicht: also was sein soll, was nicht: er stimmt dem zu, was seinem eignen Wesen gemäß ist.

Das Urtheil über den Werth des Lebens ist, kurz gesagt, eine Gemüthsbewegung – entweder Lebensdrang oder Lebensüberdruß. Dühring leugnet den Lebenshaß: es wäre eine Lebensregung, welche sich gegen das Leben selber regt.

Die Betrachtung über das Unabänderliche im Subjekt des Menschen ist daher die Vorarbeit: mit der Frage: ist vielleicht die ganze Anlage des Empfindungs- und Gemüthslebens mit einer harmonischen Entfaltung des Wesens unvereinbar?

Ob diese Welt die beste sei, ist eine absurde Frage: wir haben gar keine Vorstellung von verschiedenen Möglichkeiten.

Dühring stellt seine Aufgabe so: die widrigen Seiten des Daseins sollen in der Harmonie des Ganzen ihre Beleuchtung finden" (infam ausgedrückt!) „Das Übel läßt sich nicht zum Guten umprägen." "Schmerz bleibt Schmerz, welche Folgen er auch haben möge." "Obwohl die Welt weder dem Verstande noch dem Triebe völlig genügt, haben wir doch gar kein Mittel verstandesmäßig zu untersuchen, warum das Leben Übel einschließe." Welt und Leben sind gegebne Thatsache, unsere Aussöhnung mit ihren widrigen Seiten kann nur eine thatsächliche sein." „Diese Aussöhnung ist also selbst nur in Gestalt einer Bestrebung vorhanden." Man sucht die Resultante der vereinzelten Gemüthsbewegungen und benutzt diese als Widerstandskraft gegen die mannichfaltigen Eindrücke. So gelangt man zu einer zwar nicht mißklanglosen, aber doch zu einer Harmonie. Die Aussöhnung mit dem Einzelnen wird aus der Betrachtung des Ganzen geschöpft. Die theoretische Unmöglichkeit, nach dem Grunde des Thatsächlichen zu fragen, ist selbst schon Disharmonie. Einzig bleibt uns für unseren Verstand übrig „die Idee des einzelnen Ungemachs durch die Vorstellung eines größeren Zusammenhangs zu überwinden", die einzelne Vorstellung durch die Gesammtheit der übrigen zu modificiren.

Aber die theoretische Versöhnung reicht nicht aus; wäre das Denken im Stande ungetrübte Ruhe zu geben, dann würde die beschauliche Weisheit (wie alles, was durch bloße Theorie zu befriedigen verspricht z. B. Kunst) die ausschließliche Theilnahme der Menschen verdienen. Aber sie ist nicht das Mittel, der Übel Herr zu werden. Die Philosophie gerade muß anerkennen, daß bloße Anordnung der Ideen nicht ausreicht, wenn es heißt, den Übeln gewachsen zu sein. Die That und das Bewußtsein der That muß hinzukommen; die wirkliche Änderung der Empfindungen muß den Vorstellungen eine andre Grundlage geben, die Stimmung muß geändert werden.

Selbst eine Theorie, welche auf eine harmonische Aussicht der Welt ausgeht, kann die Voraussetzung nicht entbehren, daß Thatkraft gegen das übel noththut. Nur das, was für Menschen unveränderlich feststeht, mag bloß zu einer Anordnung der Ideen auffordern. Wo menschlicher Eingriff die Dinge noch ändern kann, da sind die Thaten das Erste. Der Optimismus wird häufig verächtlich, weil er die übel seiner Trägheit wegen beschönigt, auch ein großer Theil der Philosophen hat dort Unveränderlichkeit angenommen, wo menschliche Thatkraft noch Aussicht auf Erfolg hat. "Das Urtheil über den Werth des Lebens wird verschieden ausfallen, je nachdem man die Linie zwischen dem Unabänderlichen und dem durch Menschen Verschiebbaren zieht."

Das sind die Gedanken der Einleitung.

Kurz: aus den vielen einzelnen Werthschätzungen resultirt als Summe die jedesmalige Ansicht vom Werth des Lebens. Bei keiner Werthschätzung handelt es sich um reine Erkenntniß, alle sind Gemüths-Affektionen; jene Summe ist auch nichts als eine Gemüths-Affektion: das Urtheil über den Werth des Lebens kann nie reine Erkenntniß sein. Ich will doch hinzufügen, daß es richtiger noch wäre, alle solche Urtheile unreine Erkenntnisse zu nennen: die Unreinheit liegt 1) in der Art, wie das Material vorliegt, sehr unvollständig z. B. 2) in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird: so daß z. B. eine falsche Verallgemeinerung gemacht wird (die Summe unserer Erfahrungen kann nie zu einem Urtheil über das Leben berechtigen), also der logische Ausdruck jener Summirung falsch ist 3) darin daß jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist; und zwar ganz nothwendig: keine Erfahrung z.B. über einen Freund kann vollständig sein, so daß wir ein logisches Recht zu einer Gesammtschätzung hätten. Alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Sodann ist das Maaß, womit wir messen, unser Wesen, keine unveränderliche Größe, wir haben Stimmungen usw., wir müßten uns selbst kennen, um gerecht das Verhältniß irgend einer Sache zu uns abzuschätzen.

Sind somit alle Urtheile über den Werth des Lebens ungerecht und unlogisch entwickelt: so würde daraus folgen, daß man gar nicht urtheilen sollte? Wenn man aber nur leben könnte, ohne zu schätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! Denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Trieb ohne jede begleitende Erkenntniß (über Förderndes Schädliches) existirt gar nicht. – Wir sind von vornherein unlogische und daher auch ungerechte Wesen und können dies erkennen! Das ist eine der ungeheuersten Disharmonien des Daseins! Wir tragen doch ein Maaß in uns, womit wir hier das Dasein messen und das ganz unverrückbar ist: es wird wohl der Satz der Identität sein. Wiederum ist dieses Maaß gerade die einzige Harmonie, welche wir kennen. Uns scheint es so, daß die disharmonische Welt existirt, jene Harmonie im Satz der Identität aber nichts als eine Theorie, eine Vorstellung ist. Kann man sich aber das Sich-Widersprechende als wirklich denken? Die sogenannte Wirklichkeits-Philosophie empfiehlt sich durch dies Wort dem populären Vorurtheil über Wirklich und Nichtwirklich. Aber wenn z. B. feststünde, daß ohne den Begriff einer harmonischen Wirklichkeit gar nicht die Dinge geschätzt werden könnten, nicht einmal falsch, so ist ja Urtheilen, Werthe-bestimmen selbst nichts andres als Messen der „wirklichen" Welt an einer, die uns für wirklicher gilt.

Also: die Unterscheidung zweier Welten, von denen die eine die schlechtere ist, die unwirklichere im Vergleich zu einer wirklicheren besseren, die These somit des Pessimismus ist die Thatsache, welche allem Werthschätzen vorausliegt; sie liegt in der Constitution des urtheilenden Verstandes, der von der Identität als der ihm zugänglichen Welt ausgeht. Die Entstehung des Verstandes und seine Constitution ist nicht aus dem praktischen Verhalten zu den Dingen abzuleiten, der Verstand ist keine Herausbildung des Gemüths. Sondern alles Zu- und Abneigen setzt schon den Verstand voraus und in ihm den Satz des Widerspruchs; ohne Logisches auch keine Empfindung, keine Stimmung, keine Vorstellung.

I. Das Leben als Inbegriff von Empfindungen und Gemüthsbewegungen.

Auf die Gesammtheit von Affektionen kommt es an; auch die durch Träume hervorgebrachten sind in Anschlag zu bringen. Überhaupt ist gleichgültig, ob eine Affektion auf Wahrheit oder Irrthum beruht.

Das Leben ist nicht nur die Summe der Erregungen, die in's Bewußtsein treten. Art und Grad derselben ist zu verschieden. Die Systeme der Alten nahmen nur eine Art heraus und machten sie zum ausschließlichen Maaß der Beurtheilung: die Epikureer die Empfindung, die Stoiker das abstrakte Bewußtsein. So gelangten sie in der Praxis zu falschen Maximen. Die ersteren jagten den angenehmen Empfindungen nach und unterschätzten die gewaltige Macht der abstrakten Vorstellungen auf das Gemüth; die andern erkünstelten einen Triumph über Empfindung und Affekt, geriethen in Affektation und richteten sich so äußerlich nach der Schablone des Katechismus, ohne innerlich gesiegt zu haben: Grimasse und Schauspielerei. – Nicht einmal das Leben der Thiere besteht aus lauter Empfindungen; in den höheren Stufen hat es Gemüthsbewegungen; es hat z. B. Gram. Der Mensch sinkt, wenn er einmal sinkt, immer unter das Thier. Mit dem Verzicht auf gewisse Elemente des vollen Lebens ist immer eine Entartung verknüpft. – Giebt es eine Ansicht, welche die Gemüthsbewegungen zum ausschließlichen Werthmesser macht? Dagegen hat in die abstrakteren Vorstellungen nicht nur der Stoicismus, sondern die ganze neuere Moral den Schwerpunkt des Daseins gelegt: in der Übereinstimmung mit ganz abstrakten Maximen, die ihren Ursprung nicht in den Affekten haben sollen. Aber Motive des Handelns und der Affektion, die nicht ihre Wurzel in Empfindung und Affekt hätten, giebt es nicht. Das Spiel der Affekte macht alle Lebensäußerungen bis zur Produktion der abstraktesten Ideen begreiflich. Die Leidenschaften gehören zum Leben, man darf sie nicht als Störer des Glücks verdächtig machen. Das Dasein wird eine öde Wüste ohne Liebe und Haß. Die Menschen wollen die gleichmäßige Ruhe gar nicht, sie suchen Erregung und Aufregung. Sie fordern Lust und Schmerz gleichsam heraus. Nichts Großes wird ohne Leidenschaft vollbracht, sagt Aristoteles. Das Leben selbst ist jenes Große, welches nicht ohne Leidenschaft vollbracht wird. Von den Leidenschaften abstrahiren führt einerseits zur Askese, andererseits zum wohlberechneten matten Sinnengenuß; da wird alles, was dem Leben Werth ertheilt, vernichtet. Der Mensch sinkt im zweiten Falle unter das Thier, im ersten wird er zum widerwärtigen Ungeheuer („er tastet die Wurzel alles Strebens ohne Unterschied an"). Dort wendet man sich gegen einen Theil der Lebensbedingungen, hier gegen den ganzen Inhalt. Der gemeine Selbstmord ist etwas verhältnißmäßig Unschuldiges gegen das Beginnen, das Wesen der Gattung selber zu ertödten, nicht nur ein einzelnes Individuum. Selbst der Mord kann als geringeres Verbrechen erscheinen, als das finstere Werk der Leute, welche das Leben mit ihren Anklagen vergiften. – Und so geht die unverschämte Schimpferei vor; darin kommt vor: „die Entwurzelung alles Großen und Edlen, die Verhöhnung und Anfeindung aller humanen Empfindungen und Gefühle" -; „im Bunde mit der Ausschweifung und der abgestumpften Ausgelebtheit" -"geht eine vermeinte Philosophie dann kühn daran, den Haß des Lebens und des Lebendigen auszusäen." Nun denke man dabei einmal an Buddha und Christus usw.! "Der Einzelne mag entschuldigt werden, wenn er sich dem Kloster zuwendet; es kann nicht zur allgemeinen Doktrin werden, ohne den Charakter eines intellektualen Verbrechens anzunehmen." Das soll wohl heißen: der Einzelne in seiner praktischen Verneinung mag entschuldigt werden: nicht aber der Einzelne, der eine theoretische Allgemein-Maxime daraus macht, das wäre ein Verbrechen am Intellekt. "Wäre das Band der Menschheit fester geknüpft, so würden auch jene traurigen Ausnahmen aufhören, das Gemüth würde nicht allein an das eigne selbstsüchtige Trachten gebunden sein, das individuelle Geschick wäre nicht mächtig genug, die Affekte, die sich auf ein größeres Ganze, auf die Menschheit beziehn, zu erdrücken. Die Kraft der Leidenschaft würde sich erhalten; die Kraft zu Liebe und Haß würde der ertödtenden Macht des besonderen Schicksals entgehen." Da ist nun alles verkehrt! Erstens nimmt er überall an, daß die Asketen gerade als Egoisten Asketen sind, daß nur das individuelle Loos sie zum Haß gegen das Dasein bringt. Zweitens fühlt er nichts von dem allgemein helfenden und für Alle wirksamen Pathos des Asketenthums; in seiner höchsten Gestalt ist es ja gerade der Tod und das Leiden für Alle. Drittens verwechselt er Blasirtheit und Ekel mit jener Abwendung vom Leben. Wenn er sagt "wäre das Band der Menschheit fester geknüpft, so würden jene traurigen Ausnahmen, jener geistige Selbstmord aufhören." Er meint also in allem Ernste, daß ein Leben in der Einsamkeit nie ein Leben für die Menschen sein könne, und daß Abwendung vom Leben Abwendung von den Menschen sei. Nun ist es thatsächlich umgekehrt; ich möchte wissen, welche Art von höheren Bändern überhaupt Mensch an Mensch knüpfen würde, wenn man die Arbeit der einsamen Asketen jeder Art wegnehmen wollte! Und nun gar geistiger Selbstmord! Man denke an Empedokles und Schopenhauer, Leopardi, die hier als „Verbrecher am Intellekt" erscheinen, an Luther und an wie viele andre. Es scheint nicht, daß gerade der „Geist" bei dieser Art, das Leben zu betrachten, verkümmert!

Die selbstquälerischen Lehren werden nun aus gewaltig erkünstelten Verhältnissen abgeleitet ("die Stimmung muß bedeutend von der normalen Haltung abweichen" – die beliebte Insinuation der Verrücktheit aller Asketen und asketischen Philosophien!). Deshalb soll diese „Carikatur des Menschlichen" kein so gefährlicher Gegner sein. – (Und doch haben die ernstesten Menschen ganzer ungeheurer Religionen darnach gelebt und gelehrt!)

Gefährlicher sei die Moral, die den Abstraktionen opfert.

Ich will hinzufügen, daß zur Entstehung des Asketenthums vielleicht ein intellektueller Irrthum nöthig ist (über Leib und Seele, über den Leib als Sitz der Affekte, wie bei Plato); aber dieser Irrthum bezieht sich doch nur auf die Vorstellung, wie der Mensch loskommt vom Willen zum Leben; der Trieb überhaupt davon loszukommen, hat damit nichts zu thun, ist nicht aus dem Intellekt abzuleiten. Daß ein solcher Trieb gerade bei den edleren Menschen entstehen kann, ist doch ein Werthmesser des Daseins, man kommt mit Schimpfen nicht darüber weg; selbst wenn ein ungeheurer Irrthum darin läge, so gehörte die Möglichkeit eines solchen Irrthums wieder zu den dunklen Zügen des Daseins. Dühring ist besonders über die erwähnte Affektlosigkeit wüthend; wenn nun aber jemand dem Pathos entsagt und ganz hJ oz; zu werden versteht, so gilt das uns viel höher und die Möglichkeit eines solchen Verhaltens ist gerade für uns ein Objekt der Sehnsucht. Der Advokat des Pathos nimmt sich als Lebens-Verherrlicher übel aus. Wenn nichts Großes ohne Pathos entsteht (woran zu zweifeln ist –), so fällt ein unheimliches Licht auf das Leben; es genügt in allem Entstehen von etwas Großem etwas Tragisches zu sehen, ja im Leben selbst eine Tragödie. „Unsere Moral ist ein Götzendienst, der die lebendigen Motive den leeren Abstraktionen opfert." Unrecht z. B., das größte Übel, welches die Welt kennt (ich zweifle!); die Enthaltung von demselben die erste Voraussetzung eines befriedigten Gemüthszustandes. Es hat diese Eigenschaft nicht, weil eine abstrakte Regel es als verwerflich bezeichnet; ein Trieb hat den Begriff des Unrechts geschaffen, der Vergeltungstrieb, die Rache; auf diesen Affekt weisen die verbleichenden Begriffe von Gerechtigkeit und Pflicht zurück.

Die Moral will über die verschiedenen Arten des Verhaltens den Werth bestimmen: dazu braucht sie ein Maaß. Dies liegt in den unwillkürlichen Bestimmungen, welche die Natur gegeben hat, die Grundlage ist in Trieben und Affekten gelegt. Der rein theoretische Verstand kann kein Sollen hervorbringen. Eine Moral, welche das ganze Reich der unmittelbaren Gefühle verurtheilt, ist eitel Gleißnerei.

„So stehen die falschen Principien der moralischen Werthschätzung einer richtigen Würdigung des Lebens gegenüber." Nun sucht er das Gleichgewicht der Seele zu diskreditiren, das sei nichts Erhebliches, es komme auf die Kräfte an, die hier im Gleichgewicht befunden werden. Art und Maaß der mit einander verbundenen Empfindungen und Gemüthsbewegungen sind es, denen es verdankt wird, wenn ein Gleichgewicht entsteht; die abstrakte Kraft bezieht sich nur auf die Bestimmung der einzelnen Faktoren, nicht auf das Ganze. – Dies Alles ist unklar gedacht oder ausgedrückt.

Die Ausartung der Systeme der Moral hängt an der Vernachlässigung des Unterschieds zwischen Gemüthsbewegungen, die sich auf den Menschen als Einzelnen und die sich auf das Verhalten der Menschen zu einander beziehn. Jemand als Einziger auf der Welt gedacht würde einer Hauptquelle der Lust und des Schmerzes ermangeln: nichts von den sympathischen Affektionen, nichts von Liebe und Haß, Neid und Rache wissen. Unrecht und Treulosigkeit würden ihm unbegreiflich sein. Der Mensch bedarf nicht nur der Natur, er bedarf seines, Gleichen. Der Tiefe des Wehes (bei Verletzung von Mensch zu Mensch) entspricht die Höhe der Wonne (bei Befriedigung von Liebe Ehre Ruhm). Der Spielraum dazwischen ist außerordentlich groß: das liegt daran, daß der ganze Mensch für einen anderen Gegenstand werden kann; nicht das Einzelne, was wir in Gutem und Schlimmem von einander erfahren, sondern die Gesinnung, als deren Ausdruck wir alles Einzelne verstehen, bewegt uns so bis in die Tiefe des Wesens. Die rein egoistischen Lebensnöthe und die im Verkehr mit Menschen entstehenden, der egoistische Genuß und die Freuden des Mitgefühls stehen gar nicht gleich. Infam, die Aufopferung zur Selbstsucht zu stempeln und die uneigennützigen Gefühle zu leugnen! Mitleid und Liebe haben ihren Schwerpunkt in der Vorstellung des fremden Wesens, Rache und Neid sucht Wahrung des eignen Selbst. Gewisse anmaaßende Lehren suchen freilich den isolirten Subjektivismus und noch dazu eine abstrakte Einheit aller Affektionen: diese stellen ein Reich des Egoismus auf. Spinoza davon nicht frei zu sprechen. Dagegen zeigt Kant eine erste Ahnung, worum es sich handelt: Scheidung der Moral, die sich mit bloßen Zweckmäßigkeiten nach dem Gesichtspunkt der menschlichen Bedürfnisse beschäftigt und der Moral, welche die Rücksichten von Mensch zu Mensch in's Auge faßt. Die erstere Gattung verachtete er als bloße Technik des Lebens; das ist seine Einseitigkeit. Dagegen Dühring: „die höhere Einsicht in das Wesen des Lebens hängt davon ab, ob wir das Übel, das die Folge der ungerechten Verletzung ist, zu unterscheiden wissen von dem Ungemach, welches Zufall und Bedürftigkeit über uns verhängen." „Alles was der Gesichtspunkt des eignen Vortheils zu Laster und Tugend gestempelt hat, verschwindet gegen die Bedeutung des Verhaltens, in welchem der Mensch seinesgleichen fördert oder verletzt." „Die Gemüthsempfindungen der einen oder der andren Klasse sind ganz verschieden." „Darauf beruht es, daß wir die ärgsten Vergehungen gegen unser eigenes Wohl zwar bedauern, aber doch nicht mit jenem Stachel empfinden, welcher die Empfindung des Unrechts begleitet."

II. Der Unterschied als der eigentliche Gegenstand der Gefühle.

Nach den Veränderungen trachtet die Lust am Leben, nach dem stoßartigen Übergang des einen Zustandes in den andern. Vielleicht ist zwar selbst die Gleichförmigkeit der Stimmung nichts als eine große Menge von Stößen, die einzeln unmerkbar sind. Aber das Ungleichmäßige der Stöße begehren wir, die hohe Energie derselben, bei allen Veränderungen; wir stellen die Veränderung dorthin, wo der Höhepunkt der Empfindung liegt. Es wird wesentlich nur die Veränderung empfunden. Spannung der Gegensätze ist für die Entstehung jeder stärkeren Empfindung nöthig. Das Auge empfindet die Veränderung des Lichtreizes stärker als das Beharren: man sagt da, die Gewohnheit stumpfe ab. Physiologisch beruht die Abstumpfung auf der Wiederholung desselben plötzlichen Eindrucks, durch leere Zwischenzeiten unterbrochen. Ein Gitter, welches Sonnenstrahlen durchläßt; das Auge hält den plötzlichen Wechsel von Hell und Dunkel nicht aus, den starken Reiz und den fast völligen Mangel desselben. Alle Empfindung in der Form eines gleichmäßigen Rhythmus, das fast Leere und Volle wechselt wie am Gitter. Daher Ermüdung. Ein langer Ton auf die Dauer sehr lästig: man kann ein Bild nicht zu lange ansehen. So empfinden wir den Anfang einer Affektion stärker, weil der andauernde Reiz unsre Ermüdung mit sich bringt: also Gewohnheit ist der Ausdruck für eine gewisse Ermüdung; noch länger fortgesetzt, erzeugt sie den Überdruß.

Die Langeweile: zu erklären aus Abwesenheit der Lebensreize, dort wo dieselbe Thätigkeit sich immer wiederholt; sie geht im glücklichen Falle über in den Überdruß und findet da ihr Ende. Aber oft ist der Lebenstrieb zu schwach, um die Intensität der Langeweile zu erzeugen, die zur Negation des Zustandes führt: die schlimmste Art der Unlust! Sonst ist sie eine treibende Macht; sie verurtheilt die gegenwärtige Bethätigung des Geistes und reizt ihn, in einen neuen Zustand überzugehn. Lebenerstarrend ist sie also nur da, wo Trägheit des Lebenstriebes bereits da ist. (Dies sagt er gegen Schopenhauer: aber was ist das für Blödsinn „Trägheit des Lebenstriebes"). „Wo die Kraft zur Gemüthsbewegung für immer vernichtet ist, da ist Disharmonie zwischen den Vorstellungen des noch regsamen Verstandes und den wenigen Lebensreizen, denen das abgestumpfte Gemüth noch zugänglich ist." Er meint die Asketen und Philosophen des Asketismus: die hätten die Langeweile; also bei „theilweiser Ertödtung der Fähigkeit zum Leben;" er räth da, sich künstlich zu arrangiren und sich vornehmlich auf das abstrakte Vorstellungsvermögen zu beschränken; für den Greis fängt der Reiz der verblaßten Affektionsbilder an, auch dort wo eine „vorzeitige Abnutzung der Lebenskräfte" greisenähnlich macht. Da mag man sich vor nichts mehr hüten als „den frischen Reiz des Lebens wieder zu gewinnen"; „bei der Vergeblichkeit des Strebens würde das Dasein verkümmern." Man muß hier entsagen; dann fällt auch der vermeintlich lebenerstarrende Charakter der Langeweile fort. Es ist dann eine beschränktere Sphäre des Lebens, im Vergleich zum ganzen vollen Leben.

Es wird stets nur der Unterschied empfunden, man muß das Maaß der Bestrebungen kennen, um über Dasein und Größe der Befriedigung zu urtheilen.

Wenn die Menschen nicht die dauernden Verhältnisse mit Gleichgültigkeit betrachteten, so würden sie auch einsehen, daß es ein Glück im Unglück geben kann. Es kommt ganz auf den einmal gezogenen Rahmen des Lebens an: innerhalb desselben giebt es dann Befriedigung oder nicht. – Der Zustand, der uns gewaltig erregte, wird nachher gleichgültig und bildet die neue indifferente Basis des neuen Lebensgenusses.

Der Eintritt in's Leben ist auch ein Übergang: der völlig neue Reiz hebt sich auf das Stärkste gegen die verhältnißmäßige Leerheit und Unbestimmtheit des Lebensdranges ab. Jedes Individuum ist ein neuer Standpunkt, der eine neue Welt ins Bewußtsein treten läßt.

(Nun, das ist doch auch Mythologie, und Mystik und zwar schlecht geglaubte!)

III. Die Grundgestalt in der Abfolge der Lebenserregungen.

Wechsel von Hebung und Senkung, das Wogen ist der einfachste Typus. Die Wellenform fast in allen Vorgängen der Natur: in ihr pflanzen sich Bewegungen fort. Der Rhythmus beherrscht das ganze sogenannte todte Dasein.

Wellen sind abwechselnde Anhäufungen und Minderungen in der übrigens gleichmäßig vertheilten Materie. Ihre Grundgestalt ist: Wechsel in Zusammenziehungen und Ausdehnungen. Hebungen und Senkungen der Gefühlsenergie folgen in stetem Wechsel, die beharrlichen Zustände sind ein gleichmäßig wiederkehrender Rhythmus, dessen einzelne Pulse wir nicht unterscheiden. So empfinden wir Licht- und Toneindrücke als stetige, während sie rhythmisch sind. Nun ist nicht etwa die Empfindung als solche eine Bewegung. Versuchen wir sie uns als solche vorzustellen, dann denken wir uns diese Kraft noch einmal in umgekehrter Richtung. Die ungehemmte Bewegung einer Masse im leeren Raume wird nicht als Kraft vom Standpunkt unsrer Empfindung vorgestellt. Bewegung gehört ganz der formalen Seite unsres Denkens an, hat mit der Empfindung nichts zu schaffen. Die Bewegung muß erst verschwinden d. h. zu einer statischen Wirkung führen, ehe sie unsre Empfindung angeht. Empfindung ist das Zeichen einer statisch wahrnehmbar gemachten d. h. aufgehobnen Bewegung. Die gewöhnliche Vorstellung, daß die Empfindung der direkte Ausdruck einer in uns erregten Bewegung sei, ist falsch. Die Bewegung als solche empfinden wir nicht.

Also: in den stetigen Zuständen der Empfindung ist ein elementarer Rhythmus. Aber in den unterbrochenen Empfindungen? Giebt es da ebenmäßig periodischen Wechsel? Innerhalb jeder Classe von Empfindungen ist Hebung und Senkung ganz offenbar. Aber verschiedene Gemüthszustände scheinen unregelmäßig zu folgen. Die Höhenpunkte des Lebens haben das Aussehen vereinzelter Gipfel.

Eine gewisse Disharmonie d. h. eine Mischung von Einstimmung und Widerstreit scheint die thatsächliche Form des Lebens zu sein. Die Bewegung unterhalb der Grenze des völlig Harmonischen ist es, was dem Spiele seinen Reiz verleiht. Hier entnimmt Dühring viel aus der Analogie von Musik und Leben; seine Lehre ist übrigens symbolisch-mythologisch auch in meiner Auffassung des Dionysischen und Apollinischen enthalten. Das Dionysische ist dann der disharmonische Grund, welcher nach dem Rhythmus, der Schönheit usw. verlangt. Der Rhythmus des organischen Lebens – wie weit paßt er sich der Form der andringenden Reize an? Es kann zunächst der Gegensatz empfunden werden, bis zur völligen Vernichtung der Empfindung, andererseits kann, wenigstens für Zeiten, der Rhythmus des organischen Lebens ganz den andringenden Reizen nachgeben, in sie übergehen – dies alles ist das dionysische Phänomen. Dagegen ist das maßvolle Verhalten gegen die andringenden Reize, das Festhalten des eignen Rhythmus, das Einordnen von zwei Rhythmen-gestaltungen in einander, endlich die Übertragung des eignen Rhythmus auf die andringenden (= Reize Schönheit) das apollinische Phänomen.

Weshalb verehrte Schopenhauer so die Musik? Dühring erklärt dies so. Mit dem Ton verbindet sich die Empfindung unmittelbar (die Musik ist ein "Mittel des Ausdrucks"). Handelt es sich um Verkürzung der Empfindungs- und Gemüthswelt, in der die objektiven Vorstellungen gar nichts zu bedeuten haben, so ist die Musik das verlangte abstrakte Reich. Nun leitet Schopenhauer alle Schuld der Verkümmerung des Daseins von der Objektivation ab. Er schaut mit mystischer Sehnsucht auf ein Reich aus, welches der Ungebundenheit und Freiheit in der Welt der Töne entspricht.

IV. Der Verlauf eines Menschenlebens.

Die Erkenntniß ist es, die die Lebenserfahrungen zu einem einheitlichen Bewußtsein vereinigt und, indem sie über das individuelle Leben hinausträgt, das allgemeine Schicksal ergreift und in ihm die Noth des Augenblicks verklingen macht. So wird sie zur Philosophie und führt zum Glauben an den Werth des Daseins. (Muß sie das wirklich? Die Erkenntniß des allgemeinen Schicksals – könnte sie nicht nur deshalb die gegenwärtige und individuelle Noth „verklingen machen", weil es so viel gewaltiger lastet und schmerzt, also nur als der intensivere Schmerz gegen den viel kleineren stumpf macht? Ist nicht der Glaube an den Unwerth des Daseins ein Narkotikon gegen das Individuelle, so gut als der Glaube an den Werth?)

Wären wir auf eigne Erinnerung und Erwartung eingeschränkt, so würden wir Geburt und Tod gar nicht kennen: so wie die ganze Gattung der Menschen sie nicht kennt. (Ursprung gänzlich verborgen, in Bezug auf die Zukunft Zweifel, ob die Menschheit ein Ziel hat oder nicht.) Hätten wir die Kenntniß, wie die Bevölkerung eines kosmischen Körpers untergegangen ist, unser Bewußtsein von der Welt wäre gewaltig gesteigert. Erführen wir noch einmal so etwas, also auch vom Ziele, das unsrer Gattung gesteckt sei, der Schwerpunkt unsrer Bestrebungen würde sich verändern; wir würden nicht mehr glauben, in Wissenschaft Kunst und socialen Einrichtungen etwas von ewiger Bedeutung zu verrichten. (Ich denke dabei, wie schon solche Illusionen einzelner Völker als solche erkannt sind; die Griechen meinten bei jedem olympischen Siege, die ganze Welt sehe auf so ein Ereigniß hin, die Götter mitgerechnet.) Die Grenzenlosigkeit der Aussicht würde fehlen, alles müßte praktischer werden. Die Unsterblichkeit der Gattung ist die stillschweigende Voraussetzung aller unsrer höheren Vorstellungen. (Ich wünsche untersucht, was die Menschheit den Einbildungen, dem unreinen Denken verdankt, ja ob ein höheres Leben möglich ist, nachdem nur erst die Skepsis hier zur Herrschaft kommt, z. B. ist Kunst noch möglich?)

Die Grundform des Kindes lebens ist Gegenwart; der ganze Zuwachs von Lust und Schmerz, den die bewahrende Vorstellung bringt, fehlt; das ist ein Glück! Hunger und Durst sind gewiß weit stärkere Gefühle als in den späteren Altern. Das ganze Leben des Kindes hat einen kürzeren Rhythmus; der unruhig arbeitenden Entwicklung entspricht Unruhe der Empfindung. In Betreff der Ernährung hat der Organismus nicht nur das Gleichgewicht des Stoffwechsels zu unterhalten, sondern einen Zuwachs zu vermitteln: das muß die Empfindung zu offenbaren Schmerzen anregen; wie auch die Zeichen andeuten. – Das Weinen geht dem Lachen voran; es überwiegt jedenfalls. – Man denke sich zu der bedürftigen und hülflosen Lage den Gegensatz einer bewußten Vorstellung, welche die Ohnmacht ihrer Bemühungen, den Zustand zu ändern, fühlt, da wird man ermessen, was für ein Glück es ist, daß die Natur nicht alle ihre Zustände mit dem Lichte der Erkenntniß beleuchtet. (Und doch erreicht die Erkenntniß im Philosophen einen Grad, daß der einzelne Mensch in seiner Hülflosigkeit gegen die allgemeine anagch sich gerade wie ein bewußtgewordenes Kind vorkömmt!)

Das Spielen ist die eigentliche Arbeit des Kindes und ihm ebenso Bedürfniß, wie dem reifen Alter schaffende Thätigkeit. (Man wird aus der Art, wie ein Kind spielt, seine spätere Thätigkeit völlig erschließen können.) Spiel ist die ernsteste Angelegenheit für ein Kind, nichts Unterhaltendes-Überflüssiges, wie Erwachsene es häufig beurtheilen. Man hat ja unser ganzes so ernstes Dasein für Spiel erklärt; wie hätte aus dem bloßen Nichts eine andre als nur eine willkürliche Anordnung der Lebensbedingungen hervorgehn können? So hätte das Dasein den Charakter einer frei gewählten Unterhaltung, die Hindernisse nur geschaffen, um sie zu überwinden. Dühring hält die Idee für fade: es war übrigens die des Plato, daß wir das Spielzeug der Götter seien. „Das Leben ist kein Spiel, denn es schließt echte Schmerzen ein"; als ob das nicht vom Spiel der Kinder auch gelte!

Jedes Lebensalter hat sein eignes Recht auf Rücksicht, man soll die früheren nicht nur als Mittel für die späteren behandeln. Der Zweck kann nicht nur immer außerhalb der Gegenwart liegen.

Das Kind ist viel mehr als ein bloßes Objekt der Erziehung. Die Pädagogen denken immer nur daran, was sie aus dem Kind zu machen haben: das Kind lebt in der Gegenwart, das ist der Contrast.

Lernen und Spielen streng zu scheiden. Die Schule muß nüchternen Ernst zeigen, der auf das Leben vorbereitet. Die Überwindung von Hindernissen und die Wahrnehmung unsrer Fähigkeit ist mit einer Freude verbunden, welche an Stärke die des Spieles übertrifft. In Bezug auf gewisse erkünstelte Verhältnisse haben die, welche die Schule als den Anfang der Lebensverkümmerung ansehn, Recht: ein Gefängnißdasein war es. Aber die Arbeit des Lernens kann eine Freude und Befriedigung werden, es sind zufällige abänderliche Zustände, welche das Gegentheil aus ihr machen.

Alberner Grundsatz, es handle sich nur um das Arbeiten-lernen und um Übung der Kräfte! Dühring hat Recht zu sagen, er sei eine Ironie auf das Wesen des Lebens. (Es versteckt sich gewöhnlich der Mißerfolg der Pädagogik z. B. am Gymnasium dahinter.) Diese Maxime abstrahirt vom Erfolg, verkümmert das natürliche Verhältniß von Mühe und Lohn und bringt es zu einer Pein, der keine Genugthuung entspricht. Übrigens ist es komisch, aus dem Leben erst noch ein Rennen mit Hindernissen machen zu wollen. Die Natur hat die Befriedigung nicht an die Anstrengung, sondern an den Erfolg der Anstrengung gebunden: dieses Gefühl würde schwinden und dem des Widerwillens an einer wesentlich nutzlosen Beschäftigung Platz machen.

Das Gemüth des Kindes findet an Haus und Familie seine Grenze: was ihm hier Gutes oder Schlimmes widerfährt, ist durch diese Beschränkung des ganzen Sehfeldes sehr gesteigert. Das größte Übel ist das Unrecht in Verletzung von Mensch und Mensch, das größte Glück das aus jeder Art von Zuneigung erwachsende. Wie wichtig, ob das Kind elterliche Liebe erfährt oder nicht! Die elterliche Liebe ist zunächst ein vom Verstande unabhängiger Trieb, wurzelt im Sinnlichen; deshalb kann sie durch entgegengesetzte Triebe gestört werden, sie bedarf eines verstandesmäßigen Supplementes. Gerechtigkeit gegen das Kind kann nicht durch Liebe ersetzt werden. Das Kind hat den schärfsten Instinkt für das Gerechte, denn dies Verlangen nach Recht wurzelt in dem natürlichen Trieb, ist mit Rachebedürfniß verwandt. Das kindliche Gemüth haßt, in solchem Falle, selbst die Eltern.

Die späteren Erfahrungen stumpfen eher gegen gewisse Arten des Unrechts ab. Nun ist das Hausregiment selten das Muster eines gerechten Verhaltens. Überdies ist es bei der Familie auf Unterordnung abgesehn, nicht auf rechtliche Gleichordnung.

Die Unterscheidung von Recht und Unrecht ist denen sehr leicht, welche der leidende Theil sind, aber macht denen, welche das Unrecht ausüben, Schwierigkeiten; der Begriff des Rechtes entspringt eben in dem Leidenden. Dadurch daß die Leidenden sich rächen, werden sie zu Lehrmeistern des Rechts für Alle. Die Widerstandskraft derer, welche Unrecht erleiden, wird vorausgesetzt: gleiches Recht nur bei gleicher Macht, also unter Gleichen. Überall, wo die Natur Ungleichheit geschaffen hat, steht es schlimm dafür, daß das subjektive Recht geltend gemacht werde. Auch in solchen Verhältnissen soll eine gewisse Gerechtigkeit geübt werden, aber diese hat nicht den gewöhnlichen Ursprung, sie ist unfreiwillig. Man entlehnt den Begriff des gerechten Verhaltens dorther, wo er am allgemeinsten ausgebildet ist, dies abstrakt entstandene Gerechtigkeitsgefühl ist aber schwächer und unbestimmter als die andre, aus dem Triebe entsprungene Art. Am schlimmsten steht es wohl in der Schule mit der Gerechtigkeit: da fehlt ja noch die Liebe, wie sie in der Familie regirt. Der Gedanke eines abstrakten Zweckes ist hier der einzige Schutz. Ein Lehrer, der Pedant der Gerechtigkeit ist, ist noch verhältnißmäßig ein Glück für den Zögling, im Vergleich zu einem Lehrer, der nach Stimmung und Laune verfährt. – Man vergißt das dem Schüler widerfahrene Unrecht am schwersten. Es ist sogar das Zeichen einer edlen Gesinnung, wenn die Erregung des unreifen Alters dauernde Spuren hinterläßt.

Bis zu den Regungen des Geschlechtslebens führen Knaben und Mädchen ein verhältnißmäßig ruhiges Dasein. Nun steigert sich das Lebensgefühl zur höchsten Höhe. Die Wettkämpfe um Ehre, die Leidenschaften des Gemeinlebens kommen bald hinzu. Natur und sociale Welt theilen sich jetzt in den Menschen, die erste ergreift ihn mit der Liebe, die letztere mit der Ehre; darum gravitirt das fernere Dasein.

Was ist Ehre? Zuerst hat man eine Menge Carikaturen zu beseitigen. – Ehre bedeutet einmal so viel wie Recht, sodann auszeichnende Anerkennung. Die Ehr-verletzungen, Beleidigungen sind Rechtsverletzungen, Eingriffe in die fremde Willenssphäre. Zu Gunsten des Zweikampfes sagt Dühring: „die groben Verletzungen, das gesteht man ein, sollen gerächt werden; aber die Verletzungen feinerer und geistigerer Gattung sollen für nichts geachtet werden? Liefe das nicht auf Abstumpfung des Rechtsgefühls hinaus?" –

Die Selbsthülfe ist die ursprüngliche Form alles Rechts; dieses ursprüngliche Fundament kann nie ganz fortfallen. Die öffentliche Gerechtigkeit ist nur organisirte Selbsthülfe zur Rächung des Unrechts. So soll man sich nicht wundern, wenn die Selbsthülfe, als der erzeugende Grund, seine Organisation, wo sie nicht genügt, ergänzt. Die Injurienstrafen genügen dem natürlichen Rechts-Bewußtsein keineswegs. Vielleicht verschwände ein Theil des Widerwillens gegen öffentliche Austragung von Ehrverletzungen, wenn an Stelle der Beamten-Justiz eine Art Geschworenen-Gericht trete. Doch bleiben immer Fälle übrig, wo nur private Abhülfe möglich ist (d. h. bei tödtlichen Kränkungen, die gerade zur öffentlichen Behandlung sich nicht eignen). Die germanische Art unsres Ehrbegriffs war den Alten fern. Aber man soll nicht vergessen, daß die natürliche Vorstellung von der Nothwendigkeit, das Unrecht zu rächen, noch nicht bei ihnen durch ein entgegengesetztes Princip gelähmt wurde. Das Gemeinleben sodann trat in den Vordergrund, und so blieben die privaten Verhältnisse vor einer verkünstelten Zuspitzung des Rechtsbegriffs bewahrt.

Der Mensch bleibt, sobald er das Leben wagen will, der Herr seines Rechtes und seiner Ehre.

Die Ehre, die der Verletzung offensteht, ist ein negativer Begriff. – Völlig davon unterschieden die Anerkennung besonderer Vorzüge und Verdienste – etwas Positives! Sie geht mit ihrem Zauber durch alle Lebensalter hindurch. Die Vorstellung von der Meinung, welche die Andern von uns hegen, übt die größte Macht auf unsre Haltung aus. Diese Ehre ist nichts als der Beifall, den unser Thun und Sein bei Andern findet. Alles trachtet darnach: in höherem Grade bedarf das Ungemeine einer objektiven Anerkennung: selbst in der Form des Nachruhms. (Mir scheint dies das Wichtigste: unsre Werke und Thaten sind die höchsten Äußerungen unsres Selbst und repräsentiren zusammen unser Ideal: diesem wollen wir ein Leben für sich zugestehen, das nicht nur eine Menschen-leben-dauer habe. Wir selber behandeln unsre Werke als eine außer uns stehende Kraft und Größe, von wo aus wir Trost und Muth schöpfen können.) Es ist das Bedürfniß der sympathischen Affektion, nicht der Mangel an eignem Urtheil, eigner Überzeugung; wir fühlen uns gehoben, wenn wir Zustimmung erlangen (vor allem wir fühlen uns fruchtbarer! alle Liebe und Affektion weist auf Fruchtbarkeit hin.)

Unehre (atimia) ist Mißbilligung und Verachtung gegen unser Sein und Thun, nicht etwa Ehrverletzung (uboiz). Ein verwerfendes Urtheil. Anerkennung und Verachtung die größten moralischen Mächte im Gemeinleben. Man entwurzelt das menschliche Wesen, wenn man ihm den Begriff der Ehre verdächtig macht. Der wichtigste Einwand ist, daß eine besondere Auszeichnung doch nur auf Kosten Andrer erreicht werden könne: die Ehre ein Motiv, das Menschen zu Feinden macht; sie suchen den eignen Genuß im Schaden Andrer. So soll sie mit einer edlen bescheidnen Gesinnung unverträglich sein. – Aber das ist Sophistik, die bloße Nichtexistenz besonderer Ehre für die Menge zur Beeinträchtigung, zum Unrecht zu stempeln. Unrecht mag sich häufig in den Wettkampf um Ehre eindrängen, aber im Streben selbst, die eigne Tüchtigkeit an der fremden zu messen, liegt es nicht. Das peinliche Gefühl beim Fehlschlagen der Bewerbung muß sich nicht mit Haß gegen den Mitbewerber verbinden, eine solche Feindschaft würde nicht in der Ehre, sondern im Neide wurzeln. War das Mißlingen gerecht, so soll sich nur das Bewußtsein eines früheren Irrthums und eines vergeblichen Versuchs einstellen: daran muß aber jeder Mensch gewöhnt sein. Ist ungerechter Weise das Verdienst nicht anerkannt, so tritt das Gefühl der widerfahrenen Verletzung hinzu. Wer aber Unrecht und Kränkungen nicht zu überwinden versteht, der mag nicht nur auf den Tummelplatz der Ehre, sondern auf das Leben selbst verzichten. Er mag Einsiedler werden und so seine sympathischen Affektionen auf das geringste Maaß einschränken. (Ein schönes Urtheil über das Leben, das Dühring hier so nebenbei fallen läßt!)

Dühring hält, nächst der Liebe, die Ehre für die Ursache, welche das Leben lebenswerth macht.

– Hüten wir uns mit unserer Phantasie die Natur zu übertreffen und den Tod zur versteinernden Gorgo des Lebens machen zu wollen. Leute, die von der Büßung der Lebenslust durch den Todesschmerz reden, treffen nicht die einfache Naivetät der Natur. (Da hat er recht, denn die Natur ist viel zu dumm und blind und grausam dazu, um einen solchen Gedanken fassen zu können.)

Wir haben die außerordentlichen Störungen im Lebenslauf z. B. ungewöhnliche Krankheiten, nicht erwogen. Diese Übel laufen aber auf schnell vorübergehenden Schmerz hinaus und haben eine untergeordnete Bedeutung. (Höchst absurder Dühring!) "Ja man möchte sich versucht fühlen anzunehmen, daß selbst schmerzliche Überwindung von Hindernissen den Reiz des Zieles und die Befriedigung des Gelingens erhöht." (Hier ist er selber nur einen Schritt weit von der „faden" Auffassung, daß das Leben ein Spiel sei und daß die Schmerzen den Sinn von künstlerischen Dissonanzen haben. Und dazu kommt er gerade Angesichts der Krankheiten! Weiß er nicht von dem lähmenden und niederzwingenden Einfluß derselben, wo jemand auf sein höchstes Lebensziel ihrethalben verzichten muß oder zu verzichten fürchten muß? Gar von der Benutzung des Krankseins zur meditativen Reinigung, zum Milde- und Gutwerden weiß er nichts!)

V. Die Liebe.

Keine Art der Liebe ist ohne sinnliche Grundlage; stets etwas Unwillkürliches. Nicht durch bloße Absicht und guten Willen hervorzubringen. Das Gebot der allgemeinen Menschen-Liebe ist nur eine Metapher der Liebe, man ruft die Erinnerung an eine bekannte Empfindung zu Hülfe, um anzugeben, welches Ziel sich der Verstand im allgemeinen Verkehr des Menschen zu setzen habe. Es ist nicht einmal eine Analogie der Liebe. Die allgemeine Menschenliebe ist eine verstandesmäßige, auf dem Boden des Gefühls erwachsene Bestimmung (Erinnerung an vorübergegangene einzelne Erregungen, dazu ein abstraktes Streben auf Allgemeineres). Gegensatz der uranischen und pandemischen Aphrodite für alle Zeiten und Völker richtig. Der Mensch kann von dem vollen Wesen seiner Natur abstrahiren, sich der augenblicklichen Lust hingeben. Viel widerwärtiger ist das berechnende Verfahren. Die Unwillkürlichkeit der Natur kennt die Trennung des Grobsinnlichen vom Edleren nicht. Was ist sinnlich, was ist geistig! Wer nur an das Gröbste der Sinnlichkeit denkt, der mag so wie Plato unterscheiden.

Eine weitverbreitete Meinung denkt sich das Sinnliche und das Geistige in der Liebe als Gegensatz: so daß, wo die Befriedigung des sinnlichen Bedürfnisses gehemmt, verneint wird, erst die edleren Arten hervortreten; ohne eine unbefriedigte Sehnsucht würde es nie zur erhabnen Lyrik des Liebesschmerzes kommen; die schöpferische Kraft kann den einen Effekt nur auf Kosten des anderen erlangen. Wo das Verlangen in seiner ursprünglichen Richtung erfüllt wird, wird es sich nicht an bloßen Ideen genügen lassen. So sei die abnorme Störung die Schöpferin vom Hochgefühl der Liebe.

Aber die Art, wie die Liebe in den Menschen einzieht, entzaubert sogleich eine Welt von zarteren Ideen und Regungen, lange bevor von abnormer Hemmung die Rede sein kann. (Diese Entgegnung erlaubt wieder eine Entgegnung.)

Warum ist in jeglicher Empfindung, die einem Triebe und Bedürfniß entspricht, etwas Schmerzartiges? Peinigend wird das Gefühl erst bei abnormen Hemmungen. Das ist die Verstärkung des ersten Keims. Eine geringe Reizung wird nicht als Schmerz, sondern als Perception, die ihre eigne Steigerung sucht, empfunden. Man denke an den Geschmack, an die verschiedenen Grade der Säure. Wir reden da von Lust: und doch würde nur eine quantitative Steigerung schon den Schmerz hervorbringen.

Schopenhauer hält die Lust für das Negative, den Schmerz für das Positive in der Empfindung: eine geistreiche Theorie auf Grund der alleroberflächlichsten Gesichtspunkte. In jedem Bedürfniß ein Mangel, also werden alle Empfindungen, welche sich an das Bedürfniß knüpfen, zu etwas Negativem gestempelt. Aber die allgemeine Bewegung geht vom Schmerz zur Lust, das ist die positive Richtung. Freilich schwindet auch die Lust in der Richtung auf den Indifferenz-punkt; aber es wäre verkehrt, die Befriedigung nach Bedürfniß, anstatt das Bedürfniß nach Befriedigung, streben zu lassen. (Zwar sagt Faust „und im Genuß verschmachte nach Begierde".) Vielmehr verschwindet das Bedürfniß in der Lust. Das Negative muß in der Entstehung des Bedürfnisses gesucht werden. (Dagegen sage ich: jede Lust ist eine Reizung welche bei einer Steigerung des Reizes in Schmerz übergeht; jeder Schmerz ist nur quantitativ von einer Lust verschieden und es giebt einen Grad des Übergangs von Lust in Schmerz. Nicht immer wird diese einzelne Lust noch als solche empfunden; denn wir leben in einem Zustande zahlloser einzelner lustvoller Reizungen, das Wohlgefühl des ganzen Menschen ist der Ausdruck davon. Ein Minimalgrad von Reizung und Schmerz wird als Lust percipirt: so liegt auch in jeder Lust das Bedürfniß, der Mangel, das Verlangen nach Reizung; Schmerz ist nur das Übermaß von Befriedigung dieses Mangels und Bedürfnisses. So sind beide, Lust und Schmerz, positiv, nämlich einen Mangel aufhebend, der Schmerz aber zugleich ein neues Bedürfniß schaffend, nach Verminderung des Reizes verlangend. Die Lust verlangt nach Vermehrung des Reizes, der Schmerz nach Verminderung: darin sind sie beide negativ. Das Bedürfniß ist ihre gemeinsame Quelle.) Es wäre ein rechtschaffner Unsinn zu sagen, die Lust ist nichts andres als ein nachlassender Schmerz; so daß man sich Glück zu wünschen hätte, wenn sich das Leben schmerzenreich gestaltete; die Fülle des Schmerzes eröffnet ja eine verlockende Aussicht auf eine gleiche Fülle der Lust.

Dühring unterscheidet zwischen den Gefühlen der Liebe, welche völlig normal entstehen, beim ersten Erblühen jenes Affekts und denen, welche gehemmt und reichlich mit Pein versetzt sind: auf letztere schmäht er; nur von einer naturwidrigen Ansicht würden sie als der Gipfel geistiger Verklärung gefeiert. Zwar scheint die lyrische Erhabenheit durch sehnsüchtige Trauer zu gewinnen. Die Liebe bewahre nur da ihre ächte Natur, wo sie der dramatischen Darstellung fähig ist. Was soll aber thatenloses Sehnen im Zusammenhang des handelnden Lebens? Die Dichter beweisen nichts: es ist leichter und oft auch reizender, der Unnatur als der Natur einen effektmachenden Ausdruck zu geben; die dichterische Empfindung giebt sich vielen Thorheiten hin. Es ist eine schwächliche Rückwirkung, wenn sich das Streben, anstatt die realen Hindernisse zu bekämpfen, einem Gefühls- und Ideen-luxus ergiebt. Denn das Behagen am Schmerze könne man nur so erklären, daß die Empfindung, in Ermangelung einer auf das Ziel gerichteten Energie, in Reproduktionen und übermäßigen Steigerungen einen subjektiven Abschluß und Ruhe vor sich selbst sucht. Wo ein unabänderliches Schicksal entgegentritt, da wendet sich die Empfindung oft gegen ihren Träger, und zerstört dessen Gemüth. Weicht bloße Trägheit vor den Hindernissen zurück, da ist das Spiel der Affekte nicht sonderlich ernst und erschlafft das Subjekt.

Die sinnliche Freundschaft in untadelhafter Gestalt, deren Verzerrung jetzt fast nur bekannt ist. Sie zeigt den Wahnwitz der höchsten Verliebtheit und edle bis zum Tod gehende Aufopferung bei den Griechen z. B. bei Plato. Die Liebe nicht nur als Aphrodite, sondern auch als Eros objektivirt: Eros ist keineswegs das Ideal der Liebe des Weibes zum Manne, sondern das Ideal jener zweiten Gestalt. Es scheint die nahe Verwandtschaft des Weiblichen mit der zarten Blüthe des andern Geschlechts: und überall wo durch Alter- oder Charakterverschiedenheit ein Gegensatz besteht wie zwischen Mann und Weib, möchte er in der Empfindung auch wohl einen Ausdruck erhalten. Dühring erinnert an die Freundschaften der allerersten Jugend mit sinnlicherem Charakter; der Alters-Unterschied gering, die Naturen stark verschieden. Die Beziehungen im vorgerückten Alter sollen nach Dühring entweder Entartungen eines Naturtriebes oder das von der frühesten Jugend an gebliebene Band der Zuneigung sein.

Die Erotische Liebe beweist die Überschwänglichkeit des Gefühls unabhängig vom Naturzweck. Nach Schopenhauer soll die Leidenschaft der Liebe nur der Ausdruck des Strebens der Natur sein, in einem zweiten Individuum fortzuleben. (Dühring nennt dies "Streben nach Benutzung einer günstigen Conjunktur".) Aber auch Eros spornte zu jeglicher That, scheute den Tod nicht – kann man da von einem Irrthum der Natur reden? Sie habe die Leistungen ihrer Leidenschaft nur aus Versehen vollbracht?

Auch die elterliche Liebe eine wesentlich sinnliche Macht. Mutterliebe als Instinkt, als unwillkürlicher Affekt. Die Liebe des Kindes zu den Eltern ist nur eine reaktive Empfindung; keine instinktive Zuneigung. Es ist Dankbarkeit als Antwort auf Gesinnung. Diese Liebe ist sinnlich, zwar nicht ursprünglich, aber der elterlichen Zuneigung gleichartig.

Schopenhauers Ansicht von der Liebe. Wer das Leben verachtet, muß auch die Liebe verachten. Die Wirklichkeit soll nicht leisten, was die Empfindung verspricht, die Liebe soll ein täuschender Wahn sein. Die Empfindung und das Gefühl als solches nie eine Täuschung. Der Mensch kann nur das Gewebe der Ideen der Trüglichkeit bezichtigen, welche mit der Empfindung verknüpft werden. Die Vorstellung ist stets geschäftig, die Zukunft der Empfindung vorwegzunehmen. Hierin ist Täuschung möglich, ja unvermeidlich. Der Verstand läßt die Dimension der Empfindung nach der bisherigen Erfahrung unbegrenzt auch für die Zukunft anwachsen, so lange die Empfindung noch im Anwachsen ist; der Glaube an die Vergänglichkeit der Empfindung ist ihm unmöglich. Die erste Liebe glaubt an die ewige Bedeutung ihrer selbst. Die Dichter haben sie so verherrlicht und den gemeinen Verstand, der die äußere Erfahrung allein kennt, nicht in Rücksicht gezogen. – Die Täuschung liegt also nicht in den Gesetzen der Empfindung, sondern in den Gesetzen des Verstandes. Wollen wir bedauern, daß es ursprünglich unvermeidliche Irrthümer giebt? (Ich denke!) Die Gewalt des Gefühls, welche eine Traumwelt hervorzaubert, ist eine höhere und edlere Kraft als die, welche leidend und empfangend eben nur erkennt. Schaffen steht höher als Erkennen. Schafft jener Zauber auch nur eine Welt der Dichtung, so ist er doch ein Abbild der im Grunde der Dinge wirksamen Potenz. Die Empfindung entspricht jenen überschwänglichen Ideen, weil diese erst von der Empfindung geschaffen sind: hier giebt es keinen Trug. (Schopenhauer's Anklage gegen die Liebe wäre also eine Anklage ihres kunstmäßigen Charakters; es wäre eine Polemik wie die des Plato gegen die Kunst.)

Wo wäre denn die Enttäuschung, wenn das Gefühl in einen ruhigeren Rhythmus übergeht und die Ehe daraus entsteht: die dauernde innige Zuneigung kann wegen der Gewohnheit dem Gefühl nicht gegenwärtig bleiben, aber der hohe Grad der gleichsam latenten Liebe tritt hervor, sobald störende Mächte drohen. Was das Band der Familie z. B. bedeutet, zeigt sich auch nur, wenn ein Riß entsteht. Die Liebe des Gatten möchte vielleicht nicht hinter der leidenschaftlichen Liebe zurückstehen.

Es ist nicht ganz gewöhnlich, die Ehe als ein Naturgebilde und als ein Geschöpf der Liebe zu betrachten. Sie soll eine gesellschaftliche Einrichtung mit allerlei Zwecken (Kinder-Erzeugung und -Erziehung) sein: das sind aber keine bewußten Zwecke, sondern wirkende Ursachen, die zu Bildungen treiben, welche der Verstand nicht sogleich begreift. An der socialen Welt hat der Instinkt mehr gearbeitet als man glaubt; nicht die bewußten Absichten.

In den ältesten Zeiten der Völker ist die Ehe ein Rechts-Institut, verwandt mit dem Eigenthum; das Weib ist in der Herrschaft des Mannes, ohne Willen, als Sache. Es wechselt mit der Heirat den Besitzer, früher war es der Vater oder Großvater. Die Ehefrau gilt im römischen Rechte rücksichtlich der Beerbung der Tochter gleich. Bei andern Völkern zeigt sich in der Vollziehung der Ehe die Nachahmung eines Kaufgeschäftes. Ursprünglich also wurde die Ehe nicht von zwei Personen eingegangen, die Ehe kommt über das Weib wie ein Verhängniß, das Weib hat keinen Antheil an der Gestaltung der Ehe.

Die Ehe geht der vollständigen Familie voran, sie muß auf dem Instinkt beruhen: welches ist nun der Instinkt, der zureichend wäre, die Promiskuität zu hindern?

Die niedere sinnliche Lust wird vom Gesetz des Wechsels beherrscht. Es scheint also daß es die Natur auf nichts weniger als auf Ehe abgesehn habe. Man sucht sie auch wirklich als Bildung der Noth zu erklären, als Bestreben, die Verletzungen und Störungen auszuschließen, welche sich an die Concurrenz in der Promiscuität knüpfen. Wie kam es aber, daß dann das Weib nicht einfach zur Sklavin des Mannes wurde? So daß sie hätte verkauft werden können: während die Ehefrau, bei Verstoßung, wieder in die alte väterliche Gewalt zurückkam. Man könnte versucht sein, die edlere Gestalt der Liebe zum Fundament der Bildung der Ehe zu machen: aber die Polygamie spricht dagegen. Die Ehe ist also wohl die Verwirklichung der Liebe, aber sowohl der Liebe zum Weibe als der Liebe zu den Kindern. (Diese Partie ist schwach.)

Was wollen die, welche den Besitz eines Weibes als das Grab ihrer Hoffnungen betrachten? Sie schmähen auf die Natur, weil sie sich in die Unnatur verliebt haben. "Mit dem Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei": die Schuld dieser Idee liegt in der verkünstelten Empfindung; sie stammt aus der düstern Auffassung des Lebens. Schopenhauer und auch die Dichter denken mit Abscheu an die Empfindungen, welche den sinnlichen Genuß begleiten. Man glaubt sich über die Natur zu erheben, indem man sie entadelt. – Die Niedergeschlagenheit soll die unvermeidliche Folge und zugleich das Urtheil über die vorangegangene sündige Lust sein. Hier wird bei Dühring der „natürliche Humor" rege. Das sei nur die Folge der Ausschweifung oder zeige sich in dem niederen animalen Leben (bei Bienen z. B.). Das Kloster heckt seine Theorien im Sinne der Unnatur aus. Ebenso geht es mit der coelibatären Metaphysik, die uns glauben macht, daß schwächliche Überreiztheit und deren Schicksal das Gesetz der gesunden Natur sei.

Eine andre Deutung ist die Übertragung der Darwinschen natürlichen Züchtung auf dies Gebiet. Wenn der Mensch mit Überlegung die Verbesserung des Typus erstrebte, würde er so verfahren müssen wie die Natur; noch besser wäre gesorgt, wenn hier ein Instinkt waltete. Schopenhauer sieht ihn in der individuellen Liebe. Die höchsten Steigerungen der Liebe, mit Verachtung von Schicksal und Tod, sind dem Denker Mittel, eine besonders günstige Conjunktur für die Erzeugung zu erlangen. Die Natur ist gleichgültig gegen das Schicksal der Einzelnen; sie treibt sie in Noth und Tod, um in neuen Gestaltungen Dasein zu gewinnen. Das Schönere und Edlere erweckt die Liebe nun in höherem Grade: wo die Liebe nicht gegenseitig ist, da würden sich zwei entgegengesetzte Urtheile der Natur ergeben; vom einen Standpunkt erscheint die Gelegenheit zur Verbesserung der Gattung sehr günstig, vom andern nicht. Es bedürfte also eines zweiseitigen Urtheils, um den Willen der Natur kund zu thun. (In Wahrheit! so ist es!) Das Schicksal der Liebe ist kein Spiel um Zwecke, die außerhalb der individuellen Befriedigung gelegen sind. Die Natur sollte so thöricht sein, das Individuelle nicht zu achten und zu opfern, um hinterher auch nur Individuelles zu erreichen? (Aber um Fortdauer im Individuellen zu erreichen.) Will man eine Deutung, so ist die Überschwänglichkeit der Empfindung das Vorgefühl des allgemeinen unbegrenzten Lebens, welches sich an die Erfüllung jener Sehnsucht zu knüpfen verspricht. (Alles ist schwach; und die tiefe Einsicht Schopenhauer's in's Wesen des Wahns bei allem Instinktiven hat er ganz bei Seite gelassen.)

VI. Der Tod.

Ist der Tod nichts andres als bloße Abwesenheit des Lebens, so würden wir uns um ihn gar nicht zu kümmern haben; wie wir ja zu dem Nichtsein vor der Geburt stehen. Die Empfindungen des Lebens verbreiten einen Trug über das, was nicht mehr Leben ist. An jedem Traume kann man lernen, wie sich das natürliche Verhältniß zwischen Vorstellung und Empfindung umkehren kann; ein schädlicher Druck auf das Herz und die Träume werden beängstigend. Alle Affekte erdichten Vorstellungen, wo sie dieselben in der Wirklichkeit nicht antreffen. Das jenseits wird mit Bildern dekorirt, die theils die Schöpfungen der unmittelbaren Furcht, theils der reaktiven Affekte sind, welche nach einem besseren Dasein und nach Gerechtigkeit verlangen. Da das Subjekt vernichtet wird, so haben wir vom Tode nichts zu hoffen, nichts zu fürchten. Aber was kommt auch auf dieses Selbst an! Wir wissen sicher, daß gelebt und gelitten werden wird; wer ist es denn eigentlich, der von jenem Leben und Leiden betroffen wird? Ist es ein absolutes Nichts, dem die Überraschung bevorsteht, Träger des Daseins zu werden? Dann dürfen wir für dies Nichts eine Theilnahme haben, wir sind ja jenes Nichts, an welches die Anwartschaft auf zukünftiges Leben verbunden ist. Was uns bereits begegnet ist zu leben wird uns wieder begegnen (dies „uns" im Sinne eines ganz unbestimmten Subjekts). Träume der Metaphysik helfen uns hier nicht weiter, wohl aber alle Instinkte, welche sich auf die folgenden Geschlechter beziehn.

Sodann beruht unser Interesse an der Zukunft auf den Gesetz, daß die Vorstellungen unwillkürlich zu praktischen Affektionen führen. Man will z. B. seinen Cadaver nicht den anatomischen Prozeduren ausgesetzt wissen. Man denke an die umständliche Anordnung der Begräbnisse bei Lebzeiten. Gar nun Sorge für die Familie, für den Nachruhm, um die wahrscheinlichen nächsten Schicksale seines Geschlechts. Was uns von allem Nach-dem-Tode angeht, ist das Schicksal derer, die unser Dasein fortsetzen, nicht aber der leere Raum an der Grenze des individuellen Bewußtseins.

Jetzt ist der Tod als subjektive Erfahrung zu betrachten: hier beginnen die Anklagen. Die Sterblichkeit soll eine Strafe der Ursünde sein; alles was entsteht ist werth, daß es zu Grunde geht; die Lust des Lebens soll mit dem letzten großen Schmerze bezahlt werden. – Aber der völlig naturgemäße Tod ist gar kein Schmerz, das ruhige sanfte Hinscheiden; hier schiene also die Natur auf Todesqual zur Abbüßung der Lebenslust zu verzichten? Wenn man zwischen einem stillen Leben mit Euthanasie am Schluß – und einem stürmischen mit Todeskampf am Schluß zu wählen hätte, der Instinkt ergriffe das zweite. Nehme man an, es wisse jemand nicht um den nahen Tod, so wird er die Schmerzen des Todeskampfes für dasselbe halten, was einer beängstigenden Ohnmacht bevor geht. Die Aussicht auf diese Qual ist es nicht, die das Dasein vergiftet, bedenklich sind nur die "Riesenschatten unsrer eignen Schrecken". Der Tod wird erst furchtbar durch den Hintergrund, den man ihm giebt. Wie die Liebe eine beseligende Traumwelt, so erzeugt die Furcht eine höllische Traumwelt. Der irregeleitete Verstand erzeugt die Schrecken. Man soll den Tod nicht überwinden, aber wohl bestehen lernen.

Die Träume üben eine Macht aus wie das Wirkliche, ihre Schatten liegen über dem Tage; sie überbieten oft noch die Empfindung des Wirklichen. Man mag die Pein der Empfindung zur Verdächtigung des Lebens heranziehn, aber man hat kein Recht, die falschen theoretischen Urtheile in Anschlag zu bringen.

Die Bedeutung des Todes ist nach dem zu beurtheilen, was er vernichtet. Der schwerste Tod ist der des gereiften Alters; mit Schmerz um die unvollendete Aufgabe, mit Sorge um die Hinterbliebenen. Es ist die Unzeitigkeit, was hier den Tod so herbe macht. Das Sterben ist ein Akt des Lebens. Nur der wird mit Würde sterben, der im Leben eine edle und feste Haltung bewahrte.

Will man das Leben des vorzeitigen Todes wegen anklagen, zu dem es fast immer führt, so muß man sich nicht gegen die Thatsache des Todes, sondern die Herrschaft des Zufalls wenden. Der gemeine Begriff des Zufalls hat volle Wahrheit.

Nun beruht gerade der höchste Reiz in der Erprobung der Chancen des Daseins. Der Mensch liebt es unter gewissen Umständen geradezu um Leben und Tod zu spielen; die Erfolge, die mit dem höchsten Wagniß errungen sind, gelten ihm als die höchste Genugthuung. Der Zufall ist kein unglückliches Gesetz der Welt. Das Dasein ist nicht die Abspielung eines Schauspiels, bei dem wir nur das Zusehn hätten.

Man sollte den Tod lieber als eine gewisse Versöhnung aller sonst nicht bezwingbaren Übel des individuellen Daseins betrachten. Der Gedanke der Vergänglichkeit alles Empfindens und Fühlens ist die letzte Zuflucht. Der Tod ist der endliche deus ex machina in allen Fällen. Was der Tod für die überlebenden ist: das schlimmere übel: hier könnte man eher die Ordnung der Dinge anklagen. Das Individuum ist im strengen Sinne unersetzlich. Der Einzelne muß den Blick auf das allgemein Menschliche richten. Der Einzelne hat bei solchen Verlusten stets ein Recht zur Klage, aber das Geschlecht kann die Schmerzen am einzelnen Gliede nicht bedauern, weil eben dadurch die Theilnahme für den höheren und allgemeineren Charakter des Lebens wach erhalten wird. Das individuelle Wollen wird durch den Zufall beeinträchtigt, die allgemeine Empfindung von der Bedeutung des Lebens gesteigert. Man hätte eher die Anklage gegen eine Welt in der nichts wahrhaft verloren, dann aber auch nichts wahrhaft gewonnen werden könnte. Bedeutung der unersetzlichen Verluste.

Der freiwillige Tod scheint einen allgemeinen Vorwurf gegen die Ordnung der Dinge zu enthalten, in der er vorkommt; überdies ist er mit großem Schmerz verbunden. Wer lieber den Tod erleiden will als die Pein der verlornen Liebe oder Ehre, gesteht einem einzelnen Elemente des Lebens eine solche Bedeutung zu, um den Verlust desselben geradezu als den Verlust des Lebens zu betrachten. Der Verlust ist im Wesentlichen schon da. Der freiwillige Tod braucht keine Verurtheilung des Lebens in sich zu schließen. Die Liebe zum Leben ist es selbst, welche den Verlust des Daseins dem Gefühl des Mangels eines wesentlichen Mangels vorzieht.

Schopenhauer hat mit dem Selbstmord zwei sich widersprechende Gedanken verbunden. Einmal ist er eine Selbsthülfe der Natur, mit dem Erwachen zu vergleichen, mit welchem die zu hoch gesteigerte Angst des Traumes endet. Dann aber soll der zum Sterben Entschlossne nach einer wiederholten Erprobung der Chancen des Lebens trachten, aber das Leben unter den bestimmten Umständen verabscheuen. – Ist aber das Leben ein Traum, so ist es stets und überall der Gegensatz des ersehnten wachen Zustandes, es ist ein Widerspruch, den freiwillig Sterbenden aus dem ganzen Traume zu einer höheren Wirklichkeit (dem Wachen) scheiden und zugleich doch auch der alten Gattung des Träumens wieder verfallen zu lassen. Nach Schopenhauer erreicht der, welcher das Dasein wegwirft, gar nicht den höheren Zweck, die Frucht des Daseins; er wird wiedergeboren, um die Befreiung von der Lust des Lebens in einem neuen Dasein und dessen Schmerzen zu lernen. So ist der Selbstmord ein Verstoß gegen die ewige Heilsordnung. „Wer kennt nicht jene triviale Idee, daß das Leben die Vorbereitung für ein Jenseits ist? Wer hätte nicht von Prüfung, Zucht und dergleichen gehört?" sagt Dühring.

Es ist ein großer Mißgriff, den Selbstmord nach Maaßgabe einer allgemeinen Vorstellung, ohne Rücksicht auf den besonderen Inhalt, zu beurtheilen. Der freiwillige Tod kann eine große Handlung sein oder der Ausdruck einer ganz gemeinen Misere oder einer widerwärtigen Verzerrung der Natur sein. Er kann als sittlich indifferent erscheinen, aber auch wieder als arge Pflichtvergessenheit und empörendes Unrecht gegen die Überlebenden.

Der Tod ist eine Vernichtung, (dessen) deren Wesen man aus dem zu erkennen hat, was vernichtet wird. Das Leben ist das Maaß des Todes. Noch wichtiger die Umkehrung: der Tod ist das Maaß des Lebens. Welch einen Gehalt das Streben und Ringen der Menschen in sich einzuschließen vermöge, offenbart sich erst, wenn der Tod naht. Die höchste Energie des Lebens entfaltet sich, wo das Spiel von Gelingen und Mißlingen sich in eine Erprobung von Leben und Tod wandelt. Daher ist die tragische Gestaltung des Lebens die gehaltvollste, sie erhebt sich zu jenen Höhen, wo Leben und Tod an einander grenzen. Der Ernst der großen Leidenschaften bewährt sich an dem Tod. Der dunkle Horizont ist nöthig, damit die Flamme des Lebens in ihrer ganzen Gluth aufleuchte.

Wenn die Tragödie uns von aller Kunst am gewaltigsten erschüttert, so ist auch wahr, daß das Leben selbst seinen höchsten Ausdruck in der tragischen Gestaltung erhält. – Der Reiz liegt übrigens mehr in der Möglichkeit der tragischen Gestaltung als in der Wirklichkeit, in der kühnen Bewegung bis zu jenen Grenzen hin. Der Tod darf im Ganzen des Lebens nicht fehlen, sonst würde ein schaales langweiliges Treiben daraus. Der Tod ist nicht der Feind des Lebens überhaupt, sondern das Mittel, durch welches die Bedeutung des Lebens offenbar gemacht wird.

VII. Das Gemeinleben.

Man weist, wenn die Vorwürfe gegen das individuelle Leben beseitigt sind, auf das gesellschaftliche Elend hin, stellt noch eine furchtbarere Zukunft in Aussicht. Die wachsende Cultur soll die Noth des Lebens nur vermehren; sie soll eine Menge nicht gekannter Übel mitbringen und nicht einmal die gemeine Notdurft des Geschlechts befriedigen; schließlich überall Übervölkerung und peinvolles Dasein. Die vorgeschlagenen Gegenmittel geben den Anklägern des Lebens Anlaß zu neuen Verwünschungen. So scheinen die socialen Übel etwas, was nur durch größere Übel bekämpft und in seinem Wesen gar nicht überwunden werden kann.

Man müßte auf jede Rechtfertigung des Daseins verzichten, wenn zwischen den Forderungen des subjektiven Lebens und den objektiven Möglichkeiten, sie zu befriedigen, Disharmonie bestünde. Wäre es z. B. möglich, daß die Aussicht auf Übervölkerung sicher wäre, so wäre eine solche Disharmonie da. Keine Erfahrung kann uns eine solche Antinomie beweisbar machen. Wir denken uns mit Recht, daß die Fähigkeit zur Vermehrung von Individuen subjektiv zwar an gewisse Grenzen der Geschwindigkeit gebunden, übrigens nur durch objektive Hindernisse beschränkt sei. Nun stelle man sich ein Gesetz vor, nach dem die subjektive Kraft selbst gegen eine bestimmte Grenze hin abnähme, d. h. im allmählichen Gange des Geschlechts geradezu im allmählichen Verschwinden begriffen sei. Die Fortpflanzung müßte sich zuletzt auf den bloßen Wiederersatz beschränken. Es giebt viele Analogien für einen solchen Gedanken. In den kosmischen wie individuellen Bildungen wiederholt sich das Gesetz der Abnahme der schaffenden Kräfte und des Überganges in fast gleichmäßiges Beharren des Wechsels.

Es giebt nur drei Möglichkeiten: entweder bleibt das Vermögen der zusätzlichen Vermehrung; dann muß sich die Oberfläche des Planeten vergrößern (sonst fehlt einmal der Boden, auf dem die Menschen auch nur stehen können). Oder es entsprechen der zusätzlichen Vermehrung vernichtende objektive Mächte. Oder Abnahme der schöpferischen Kraft. Vom ersten Fall abgesehen, ist eine Hemmung der Vermehrung unumgänglich nöthig. Gegen die Annahme daß die subjektive Kraft abnähme, spricht die Erfahrung: diese beweist bisher weder Zu- noch Abnahme, sondern Gleichmäßigkeit. Die Vermehrung ist Äußerung derselben Kraft combinirt mit der Größe der zeitlichen Perioden, von welcher die Geschwindigkeit der Zunahme zuletzt abhängt. Wie könnte man an eine Änderung der Periodicität denken? So muß man die bisherige Constanz auch für die Zukunft anticipiren. So bleibt die dritte Möglichkeit, durch die Erfahrung überdies schon bewiesen „dem unbegrenzten Triebe objektive Schranken". Das ist es, was Malthus vorschwebte, dem Pessimisten der Socialphilosophie. Er weiß aber nur von den Übeln der Volksvermehrung zu reden und vergißt, daß es für den Menschen kein höheres Gut giebt als wiederum den Menschen. In der übervölkerten Welt werde der Mensch durch mannigfache Entbehrungen verkümmern und zu Grunde gehn. Da soll denn nun das Geschlechtsleben zu einem Privilegium werden, welches nach Maaßgabe des Besitzes ertheilt wird:

Man soll unterscheiden 1) das Malthusische Gesetz 2) seine Gesinnung 3) sein Gespenst. Das Gesetz lautet, daß die Vermehrung der Volkszahl viel schneller als die Vermehrung der Unterhaltsmittel erfolge (er vermehrt die Volkszahl multiplicirend, die Unterhaltsmittel addirend mit einem constanten Summanden). In Betreff der arithmetischen Vermehrung der Unterhaltsmittel behauptet er zuviel, er stellt eine objektive Vermehrung der Mittel ohne Grenzen in Aussicht; aber da müßte ja die Materie sich selbst vermehren, damit dies möglich sei: es muß einen Punkt geben, wo der Zusatz von Menschenkraft gänzlich erfolglos bleibt und dem Boden nicht das geringste Mehr abzugewinnen ist. – Man kann zugeben, daß die Tendenz, Subjekte des Bedürfnisses zu schaffen, dem jeweiligen Stande der Bedürfnißmittel vorauseile; immer muß das Bedürfniß der Befriedigung vorausgehn. Malthus muthet nun deshalb einem großen Theil der Gesellschaft die Askese zu; und zwar tritt er dabei für die Besitzenden und Wohlvermögenden ein. Zu ihren Gunsten sollen die Meisten außerhalb der Familienbande wie Lastthiere ihre Arbeit verrichten. Ich sollte denken, eine edlere Gesinnung müßte alle Übel, die aus Übervölkerung entstehen werden, für Kleinigkeiten ansehen, im Verhältniß zu dem großen Unrecht der Doktrin gegen die Proletarier. Ein dürftiger Zustand ist schlimm, das Leben zu verleiden, ein rechtloser ist schlimmer. Die Politiker haben kein Vertrauen in die individuelle Moral, sie wollen aus jener Lehre Sitten und Rechte zur Beschränkung der Eheschließung ableiten. Der eine Theil der Gesellschaft hindert den andern durch Gesetzgebung und Verwaltung an der Eheschließung – das ist die praktische Consequenz jener Lehre. Das höchste Unrecht der Minorität gegen die Majorität!

Schlimme Alternative zwischen den Nöthen der Übervölkerung und zwischen Heilmitteln aus Mathusianischer Gesinnung! –

Bei einer wirklichen Übervölkerung, wo sie sich zeigt, hat man entweder die Volkskraft nach außen <zu> kehren oder die Hemmungen größerer Kraftentwicklung fort<zu>räumen. Schmerzen der Geburt sind auch hier unvermeidlich, hier bei inneren und äußeren Kriegen. Der Krieg ist in keinem <anderen> Sinne ein Übel als es der Schmerz überhaupt ist. Verwerflich ist er nur, wenn er nicht die Folge einer Nothwendigkeit ist. Bisweilen müssen im Mechanismus des socialen Getriebes gewisse Potenzen als verlorne Kräfte angesehn werden, damit überhaupt eine Aktion möglich sei. Beim Kampf um das Recht des Lebens ist es ein Mittel ohne jede Bedenklichkeit. Es giebt keine andre letzte Garantie des Rechts als die Einsetzung der physischen Gewalt (wenn hier nicht die Rechtfertigung des Lebens in's Scheußliche und Bestialische übergeht, so bin ich blind!). Das Bewußtsein vom Recht wird erst im Kampfe recht begründet (nicht im Anfange des menschlichen Verkehrs). Falls man nicht überhaupt auf Durchsetzung des Rechts verzichtet (-!), wird die Anwendung von Gewalt nicht vermieden werden können. (Und derselbe Dühring moralisirt vorher auf das Erbaulichste gegen Malthus zu Gunsten des ungehinderten Geschlechtstriebes.)

Nun könnte man einen Punkt setzen, wo keine Machtsteigerung mehr im Stande sei, einen gewissen Zustand der Übervölkerung in ein lebensfähigeres Dasein umzubilden. In diesen Fällen, deutet Dühring ah, sei Massenmord mehr zu empfehlen als Askese ("eine theilweise Vernichtung des volleren zur Entwicklung gelangten Lebens besser als die traurige Unterdrückung und Hemmung der Lebensenergie" – beiläufig finde ich, daß Keuschheit eine der mächtigsten Förderungen der Lebensenergie ist).

Dann soll das Leben dadurch gehaltreicher werden, daß sich die Widerstände steigern: denn wenn bei Übervölkerung der Einzelne sich durchsetzen will das Spiel des individuellen Bemühens wird bedeutsamer". (o Blödsinn!) „Die Abwägung des Rechts würde wichtiger als sie es je vormals werden könnte." (Ich denke an halbverhungerte Leute auf einem verschlagenen Schiff im Meere, mit dem Problem, wer zu erst gegessen werden soll: da wird freilich der Begriff des Rechts feiner als je!)

Dühring sieht in der socialen Unzufriedenheit von heute nur einen heilsamen Sporn, die Trägheit zu überwinden; die socialen Übel scheinen ihm hier und da noch nicht einmal groß genug zu sein, um die Trägheit der Volkskraft aufzustacheln. – Auch hätten wir kein Recht, eine unabsehbare Zeit in Anspruch zu nehmen, wie es Malthus thut.

VIII. Die Erkenntniss.

In wie fern kann der höhere oder niedere Grad von Erkenntniß eine Quelle von Freuden und Leiden werden?

Erkennen beruht auf einem Bedürfniß. Die „reine Freude der Erkenntniß" ist nichts als die Befriedigung über weggeräumte Hemmnisse. Ein Streben muß immer vorangehen; wie bei allem Praktischen. Die Arbeit ist auch hier das Mittelglied zwischen Bedürfniß und Genuß.

Das „reine Subjekt der Erkenntniß" ist eine Chimäre. Denn alle Äußerungen des menschlichen Wesens, Thaten oder Gedanken haben Gelingen und Mißlingen gemein. Auf dem Gebiet der Theorie tritt das Übel in der Gestalt des Irrthums auf. Die rein theoretische Enttäuschung ist nicht als Übel zu betrachten.

Ist der Irrthum wirklich an sich ein Übel? Sind es vielleicht nicht nur die praktischen Folgen falscher Vorstellungen? Eine Vorstellung, so lange sie für wahr gehalten wird, ist in ihrer Wirkung auf's Gemüth gar nicht von einer echten Wahrheit zu unterscheiden. Vorurtheile können uns ebenso gut glücklich als unglücklich machen; man denke an die Seligkeit im Gefolge von Superstitionen.

Manchen beseligenden Wahn könnte man für werthvoller als die Wahrheit halten z. B. den eines gütigen und liebenden Gottes. Der Glaube aber hat in unserm Gemüth eine unerschütterliche Grundlage, man muß nur das theoretisch Irrthümliche aus ihm ausscheiden. Nur die verstandesmäßige Dichtung des Glaubens, nicht der Glaube geräth vor der Kritik in Gefahr.

Schließlich ist in der Wahrheit allein Übereinstimmung, der Irrthum führt immer zum Widerstreit. Daher ist er ein Übel. Der Irrthum könnte uns nur gleichgültig lassen, wenn in unsrer Natur das Streben nach Wahrheit fehlte.

Ein subjektives Übel wird der Irrthum erst, wenn er als solcher erkannt ist. Immer wird daher auch ein Element der Befriedigung dabei sein.

Die falsche Idee von der Unbewegtheit der Erde hatte früher gar keine Folgen; jetzt wäre es ein großes Unglück, wenn das wahre astronomische System noch einmal, wie nach den Zeiten Aristarch's verloren ginge. Eine freie Wissenschaft könnte ohne jenen Eckstein gar nicht fortbestehn; die wahren kosmischen Vorstellungen haben heute eine Bedeutung für das Gemüth, sie weisen den Menschen auf Bescheidenheit hin. Die Natur scheint es nicht darauf angelegt zu haben, uns überall sogleich zur Wahrheit zu führen; sie bedarf, scheint es, zeitweilig der Irrthümer. Daß Irren etwas Menschliches ist, genügt noch nicht um das Dasein zu verdächtigen. Erst wo der Irrthum moralisch wird, die Lebensauffassung vergiftet, wird er bedenklich.

Je beschränkter unsre Vorstellungen sind, um so leichter werden sie mit den wirklichen Erfahrungen in Widerspruch gerathen.(!) Der unbefangne Mensch setzt seine Ideen sehr bald mit dem objektiven Lauf der menschlichen Angelegenheiten in's Gleichgewicht. (!) Wir hegen kein Mitgefühl mit den Enttäuschungen, welche aus einer pedantischen Moral entspringen. (Pfui!)

Die absolutistische Moral ist mit der Grammatik zu vergleichen, so wie die Gouvernanten diese sich vorstellen: als eine Macht aus und durch sich selbst. Man kann die Sprache erst aus der Grammatik meistern, wenn man die Grammatik zuvor der Sprache abgelauscht hat. So muß erst die Moral aus den Triebkräften und dem Grundcharakter des Lebens gewonnen sein, ehe man mit ihr dem Leben entgegentreten darf.

Die Moral ist des Lebens wegen da, nicht umgekehrt. – Man hat sich sehr vor unbegründeten Voraussetzungen zu hüten; wir haben uns vielmehr dem Charakter des Lebens hinzugeben. So ernten wir dauernde Befriedigung.

Viel getäuschte Hoffnungen beruhen auf überspannten Voraussetzungen über die Mitmenschen. Beim Unrechtleiden ist es ja das eigne Wesen, dessen Consequenzen wir erdulden. Die fremde Gesinnung, die sich über unsere Schicksale hinwegsetzt, ist übrigens häufig nur Schein; die Menschen sind mit ihrer eignen Noth beschäftigt, sie haben da keine Augen für andre.

Wie kann ein Mensch an dem Heile der Gattung verzweifeln! Wirft er ihnen allen Gemeinheit und Niederträchtigkeit vor, so bleibt er doch selbst noch übrig. Die Menschen mit großem Wollen glauben an die Möglichkeit ihrer Conceptionen und klagen deshalb die Menschen nicht in desperater Weise an.

Die wirklich miserable Verzweiflung ist da, wo man selbst fühlt, das zu vertreten, was man <ver>wünscht. Ein großer Theil der geistigen Schmerzen ist nicht wirklich auf die Bosheiten der Menschen, sondern auf die Macht unglücklicher Zufälle zurückzuführen.

Immerhin bleibt die Pein. Das Unrecht, als das größte Übel, wenn auch nicht gerade als die herrschende Macht. Wir können keine Entwicklung der menschlichen Angelegenheiten denken, ohne die Noth als spornendes Motiv vorauszusetzen. Es giebt keine Weisheit, die den Zusammenhang nach Zwecken eine Erdichtung nennen dürfte. Jede Aktion der Natur ist verstandesmäßig, sie verwirklicht nicht bloß eine Vielheit, sondern eine Unendlichkeit von Verstandesrücksichten. Der ursächliche und auch der finale Zusammenhang reichen so weit, als das Belieben unseres Verstandes ihnen nachzugehn. Was wir im klaren Bewußtsein erkennen, ist nur ein Abglanz jener unendlichen Verkettung: diese und die menschliche Einsicht gehören nicht in dieselbe Gattung. Es ist in den Dingen nicht nur Verstand, sondern etwas, was jenseits allen Verstandes liegt. Die Synthesis dieser unendlichen Verkettung bleibt uns immer ein unerreichbares Jenseits. So kann der Verstand nie das Vermögen haben, den absoluten Gehalt des Daseins zu rechtfertigen. Nicht die Übereinstimmung oder der Widerstreit im System der Dinge, sondern die Gesammtheit des Eindrucks, welchen das Leben auf das Subjekt macht, bleibt der Maßstab. Empfindungen und Gefühle irren nie, weil sie noch nicht zwischen Vorstellung und Gegenstand unterscheiden. Das Gefühl ist für den Verstand etwas Transscendentes, es vermag daher in gewissem Sinne die absolute Natur des Wirklichen zu repräsentiren.

Verstand könnte auch im unseligsten Mißgebilde von Welt im reichsten Maaße verwirklicht sein. – Es kommt auf das Maaß und nicht auf die Thatsache des Leidens an. – Das unmittelbare Urtheil über den Werth des Daseins muß die Form des Gefühls haben, das heißt: es wird ein Glaube sein.

IX. Der Glaube an den Werth des Lebens.

Wenn die begrenzte Umschau, deren wir fähig sind, uns in dem Glauben verstärkt, die Dinge auch bei weiterer Untersuchung den Anforderungen unseres Wesens gemäß zu finden: so entsteht Glaube an den Werth des Daseins.

Darin kann es Störungen geben. Bei dem Einzelnen kann durch furchtbare Schicksale das Zutrauen zum Leben ganz gestört werden. "Das Kloster und überhaupt die Abwendung vom Treiben der Welt hat bisweilen einen guten Sinn." (Nun, die Furchtbarkeit des allgemeinen Schicksals ist gewiss größer als jedes "individuelle" –)

Die normale Verfassung des Gemüths geht dabei zu Grunde. Wir haben kein Recht, ihm zuzumuthen, aus eigner Kraft nach Versöhnung mit dem Leben zu streben. Das Instrument ist verletzt.

Was aber für den Einzelnen berechtigt ist, das ist es nicht für das Ganze, er darf nicht die Menschheit zur Verwünschung des Daseins auffordern. Wäre die Menschheit ein bewußtes Ganze, sie würde vom Leiden des einzelnen Gliedes nicht viel Aufhebens machen. (Umgekehrt! Man denke nur an Zahnschmerz usw. beim Menschen.) (Gerade jenes Gesammtbewußtsein wäre als ein immerfort leidendes zu imaginiren?) Soweit es möglich ist Affektionen zu haben, deren Schwerpunkt in andre Wesen fällt, läßt sich die individuelle Empfindung zum allgemeinen Mitgefühl steigern: und daraus ist das individuelle Schicksal zu bewältigen und zu versöhnen (wie!? weil man an so vielen andern und größern Leiden theilnehmen lernt! der schwerere Schmerz überwältigt den geringeren!)

Was geht den Träger des individuellen Bewußtseins das Schicksal der Welt an! Die sympathischen Affekte sind die Vermittler. Ohne den Gedanken einer gewissen Solidarität ist keine Befriedigung, keine Versöhnung möglich. (ego: Das ist halb und halb Redensart; kein Mensch kann das Schicksal der Menschheit ganz empfinden, es ist ein sehr vages Übergreifen aus dem Individuellen in's Allgemeine, welches hier Versöhnung bringt. Ein stärkeres würde das Individuum ganz niederwerfen. Die Engigkeit von Kopf und Herz macht das Dasein erträglich!) Selbstsüchtige Isolirung ist Entartung des Menschlichen. Der furchtbarste Peiniger ist der Gedanke der Verlassenheit und des Preisgegebenseins. Die Menschen machen sich im Glauben an die bessere menschliche Natur gegenseitig irre, aus Eitelkeit, aus dem Kitzel, sich besonders verschlagen und unnatürlich zu zeigen. Es ist nur ein Schein, wenn der Egoismus als herrschende Regel des menschlichen Verkehrs gilt. (Hier fällt Dühring in's Kindische. Ich wollte, er machte mir hier nichts vor! Eigentlich hört hier jede Verständigung auf: glaubt er ernsthaft an seinen Satz, so darf er für alle Socialismen von Herzen hoffen.)

Der Glaube an den Werth des Lebens muß auch an den guten Menschen von Natur glauben: (sonst ist es eben nicht auszuhalten, meint Dühring). Er betrifft einmal die subjektive Beschaffenheit unsrer Gattung und sodann die Übereinstimmung der Anlage der großen Natur mit den Bedürfnissen und Zwecken des menschlichen Daseins. In beiden Richtungen sucht er nach Bestätigung seiner noch unvollkommenen Conceptionen.

Wenn irgend etwas das Gemüth zu philosophischer Ruhe zu stimmen vermag, so ist es die Betrachtung einer Welt, deren Bedeutung über das menschliche Schicksal unendlich hinausreicht (was wissen wir denn von einer "Bedeutung"! in solchem Falle, für wen bedeutet sie noch etwas!) – Es giebt keinen ärgeren Feind des philosophischen Glaubens als den Ideologismus (der kennt nämlich den strengen Begriff einer wirklichen Objektivität nicht mehr, er verwischt den Unterschied zwischen Glauben und Wissen).

Insofern wir das Bedürfniß haben unsere allgemeinen über unser Gewußtes übergreifenden Conceptionen durch neue Erfahrungen und Untersuchungen zu belegen, befinden wir uns im Zustande des Glaubens. Er hat aber thatsächliche Grundlagen, schließt ein, wenngleich beschränktes Wissen ein, und unterscheidet sich dadurch von dem Autoritätsglauben. (Übrigens haben sich die Religionen immer ganz gut mit einem "wenngleich beschränkten" Wissen zu behelfen gewußt und es nie ganz verschmäht. Das bliebe sich also gleich; nur daß Dühring das Gewußte zur Grundlage macht, auf der sich dann die Dichtung erhebt: während in den Religionen gewöhnlich die Dichtung die Grundlage ist, an welche dann gelegentlich auch einiges Gewußte angelehnt wird, mehr um zu stützen als gehalten zu werden, aber doch nicht um ganz als Fundament zu dienen.)

Anhang.

Der theoretische Idealismus und die Einheit des Systems der Dinge.

Von dem theoretischen Idealismus kann man niemals auf praktischen Idealismus, auf eine praktisch ideale Haltung derer, die sich zu ihm bekennen, schließen. Im Gegentheil findet sich, wie bis zu einem gewissen Grad das Beispiel Schopenhauer's zeigt, ein derber Lebensrealismus bisweilen mit idealistischen Grundansichten gepaart. Für Schopenhauer ist der praktische Idealismus eine Lächerlichkeit. Die edelsten Seiten der menschlichen Natur wurden von Schopenhauer in den Schmutz der gemeinsten Auffassung gezogen. (Alles höchst falsch und niederträchtig, Herr Dühring! Ich dachte, der praktische Idealismus Schopenhauer's leuchte heller als die Sonne. Und da muß ihn so ein weiser Knabe auch noch recht ausdrücklich verneinen.)

Die transcendente Befriedigung der Rache. Das Rechtsgefühl ist ein Ressentiment, gehört mit der Rache zusammen: auch die Vorstellung einer jenseitigen Gerechtigkeit geht auf das Rachegefühl zurück.

Die Gerechtigkeit besteht in der Wiederver(letzung)geltung, der Verletzung muß eine Gegenverletzung entsprechen: talio. Dies die uralte und noch immer populäre Auffassung. Von einer anderen Seite suchte man einen Grund und verfiel auf einen Zweckgrund für die öffentliche Gerechtigkeit: Verhütung der Verletzung durch Abschreckung.

Die von praktischen Motiven geleitete Intelligenz weiß, ohne das Rachegefühl, von keiner Gerechtigkeit.

Im Criminalrecht zwei Classen: einmal bloße Zweckmäßigkeiten (hat nichts also mit der Gerechtigkeit zu schaffen), sodann die Rücksichten, welche der Mensch dem Menschen schuldig ist; die feindliche Verletzung.

Auch im Civilrecht gilt es. Nur insofern Nichtachtung oder Störung eines Zustandes eine Verletzung sein würde, wird der Begriff der Ungestörtheit zum Rechtsbegriff. Das Recht schreibt nie ein positives Verhalten vor.

Die transscendente Vergeltung: das Gute soll Segen, das Böse Fluch eintragen. Der Dankbarkeits-trieb ist die Grundlage von den Vorstellungen der Belohnung: wie der Rachetrieb von der Gerechtigkeit. So haben Haß und Liebe auch ihre jenseitigen Welten.

Ist denn nun die „ewige Gerechtigkeit" Schopenhauer's etwas so Ernstes und Emphatisch-zu-Verehrendes! Der ungebändigte Rachetrieb, der sogar transscendente Ideen bildet! Die, welche das Strafgericht der Ewigkeit anrufen, zeigen im Spiegel ihr eignes Bild. – Man hat nicht nur auf die Verwandtschaft und Gegensätzlichkeit der Ideen zu achten, sondern vor allem auf das, was zu dem ganzen Spiele reizt, die Gewalt der Triebe und Gefühle. Träume sind <nicht> nur die Ursachen, sondern die Wirkungen unserer Gemüthszustände: Dichtungen auf dem Grund der Triebe und Gefühle. Und wie die Träume, so die ganze vorstellende Welt der Ideen.

Die Vorstellung eines transscendenten Strafgerichts ist Dichtung und streitet sodann mit der edleren Haltung des Bewußtseins, als Erzeugniß des Rachegefühls. Am meisten nehmen wir den Arm der Götter in Anspruch, wenn wir über erlittenes Unrecht empört sind.

Die letzte Stütze des wankenden Glaubens steht hier: die moralische Welt sollte einer Ergänzung bedürftig sein, sonst geschehe unserem Verlangen nach einer gerechten Ordnung der Dinge kein Genüge. Dazu müsse es eine über den irdischen Dingen stehende ewige Gerechtigkeit geben. Dazu wurde Gott als Forderung des Vergeltungstriebes herangezogen: der Vergelter, der Vertreter der ewigen Gerechtigkeit. Dazu die individuelle Unsterblichkeit. Die Voraussetzung einer eigentlichen metaphysischen Vergeltung ist metaphysische Schuld, und diese ist nicht ohne metaphysische Freiheit denkbar. Die zweite Voraussetzung einer metaphysischen Vergeltung ist metaphysische Fortexistenz des Schuldigen; die dritte – ein metaphysischer Richter und Vollstrecker. Dies ist die Religion der Rache. So hat Kant die Religion verstanden. Die feinste Wendung ist die Schopenhauerische. Die Weltgeschichte das Weltgericht, doch so daß über der physischen Bedeutung der Hergänge noch eine metaphysische steht. Eine mystische Ursächlichkeit des Weltlaufs. Wir sehen nur die Vollstreckung des Urtheils vor uns, und zwar in der Form des Weltlaufs, eines sich deterministisch abspielenden Daseins: Unrecht und Schuld liegt jenseits der Existenz der Welt überhaupt. „Die Menschen sind in der That allzu poetisch, wenn es gilt das Unglück ihrer Feinde mit deren wahrer oder vermeinter Schuld zu verweben." Gerade die Feigheit und die Ohnmacht pflegen in Auffindung sogenannter "Strafgerichte" am glücklichsten zu sein. Es ist eine widerwärtige Consequenz der Rache, die Ereignisse im Sinne einer vermeinten Gerechtigkeit zu deuten.

Wir vermehren die Übel der Welt noch durch transscendente Gespenster; erdichten wir keine metaphysischen Karikaturen der Dinge! Das natürliche Bild der Welt entspricht selbst da, wo es unbefriedigt läßt, dem tieferen Wesen unsrer Natur. –

Ende.

Schluss-Betrachtung, von mir.

Der Glaube an den Werth des Lebens beruht auf unreinem Denken. Er ist nur möglich, wenn das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach entwickelt ist. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf die seltensten Menschen, die hohen Begabungen, die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Werden zum Ziel und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben. Ebenso wenn man bei allen Menschen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, ins Auge faßt und sie in Betreff der anderen entschuldigt: dann kann man von der Menschheit hoffen.

Mir scheint aber umgekehrt viel sicherer, daß der Mensch gerade dann das Leben erträgt und an den Werth des Lebens glaubt, wenn er sich allein will und behauptet, nicht aus sich heraus tritt: so daß alles Außerpersönliche nur wie ein schwacher Schatten bemerkbar ist.

Also darin ruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen thätigen Menschen, daß er sich für wichtiger hält als die Welt: und die Ursache davon, daß er so wenig an den anderen Wesen theilnimmt, ist der große Mangel an Phantasie, so daß er sich nicht in andre Wesen hineindenken kann. Wer das kann und ein liebevolles Herz hat, muß am Werth des Lebens verzweifeln; es sei denn, daß er sich eine mystische Bedeutung des ganzen Treibens ausdenkt.

Vermöchte jemand gar ein Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen, er bräche unter einem Fluche gegen das Dasein zusammen. Denn die Menschheit hat keine Ziele. Folglich kann in Betrachtung des Ganzen der Mensch, selbst wenn er dessen fähig wäre, nicht seinen Trost und Halt finden: sondern seine Verzweiflung. Sieht er bei allem was er thut auf die letzte Ziellosigkeit der Menschheit, so bekommt sein Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Ich glaube, das ist mit nichts zu vergleichen, sich als Menschheit ebenso vergeudet zu fühlen, wie wir die einzelne Knospe von der Natur vergeudet sehen. Es war alles nothwendig und ist es in uns. Nur daß wir das Spectaculum sehen sollen! Da hört eigentlich alles auf.

Das Wehe in der Welt hat die Menschen veranlaßt, sich auf geistreiche Weise daraus noch eine Art Glück zu saugen. Die Lebensbetrachtung dessen, der vom Dasein Erkenntniß allein will, dessen der sich ergiebt und resignirt, dessen der ruht und dessen der ankämpft – überall ist auch ein wenig Glück mit aufgesproßt. Es wäre aber schrecklich zu sagen, daß mit diesem Glück das Leiden selbst compensirt würde. Überhaupt sollte schon gar keine Compensation möglich sein! Oder vielmehr: was heißt es hier compensiren? Man kann das Leiden nicht ungeschehen machen, dadurch daß später ein Glück folgt. Lust und Unlust können sich gar nicht aufheben.

Nun will ich zuletzt mein Evangelium aufstellen. Das lautet so.

Wen man verehrt, den liebt man nicht, das ist bekannt. Und der würde am reinsten lieben, der das geliebte Ding gar nicht verehren, sondern verachten müßte. Verachtung ist Sache des Kopfes.

Der, welcher sich selbst ganz rein lieben könnte, – also in völlig gereinigter Selbstliebe – wäre der, welcher zugleich sich selbst verachtete. Liebe dich selber und niemanden außer dir – weil du dich allein kennen kannst; und liebe die andern, wenn du es vermagst d. h. wenn du im Stande bist, sie völlig zu erkennen und zu verachten, wie dich selbst.

Dies ist die Stellung von Christus zur Welt. Es ist die Selbstliebe aus Erbarmen, der Kern des Christenthums, ohne alle Schale und Mythologie.

Selbsterkenntniß entspringt aus Gerechtigkeit gegen sich; und Gerechtigkeit ist im Grunde Rachegefühl. Hat jemand genug an sich gelitten, sich selbst genug verletzt, in Sündhaftigkeit – so beginnt er gegen sich das Gefühl der Rache zu spüren: seine eindringende Selbstbetrachtung und deren Resultat Selbstverachtung ist das Resultat. Bei manchen Menschen selbst Askese, das heißt Rache an sich in Thätlichkeit des Widerwillens und Hasses. (In viel Hast und Arbeit zeigt sich derselbe Hang –)

Daß bei alledem der Mensch sich noch liebt, erscheint dann wie ein Gnaden-Wunder. Es ist dies nicht die Liebe des gierigen blinden Egoismus. Gewöhnlich legt man eine solche geläuterte und unbegreifliche Liebe einem Gotte zu. Aber wir selbst sind es, die einer solchen Liebe fähig sind. Es ist Selbstbegnadigung. Die Rache wird abgethan. Damit auch die Selbsterkenntniß.

Wir handeln wieder und leben weiter. Aber alle gewöhnlichen Motive, die uns sonst leiten, erscheinen verwandelt. Hier ist der Unterschied zwischen Buddhistischem und Christlichem. Der Christ handelt aus jener Selbstliebe; und vermag er dies nicht immer, dann hat er doch „Selbst-Mitleid". Alles Mitleid ist, wie Menschen sind, schwach. -Aber Christus verachtete sich selbst und liebte sich selbst, und die Menschen ersah er als sich gleich.

Der Christ handelt und hält das Handeln für unvermeidlich: dafür tröstet er sich im Hinblick auf den Weltuntergang. Er schätzt alles irdische Streben nicht sehr hoch, es ist für nichts. Wenn wir nun wissen, daß es mit der Menschheit einmal vorbei sein wird, so legt sich auch der Ausdruck der Ziellosigkeit auf alles menschliche Streben. Dazu kann man hinter die Grundirrthümer in allen Bestrebungen kommen und sie aufzeigen: ihnen allen liegt unreines Denken zu Grunde. Was thun alle Eltern z. B.? – sie erzeugen ohne Verantwortung und erziehn ohne Kenntniß des zu Erziehenden – sie thun jedenfalls Unrecht und vergreifen sich in einer fremden Sphäre – aber sie müssen es thun – das gehört zur Unseligkeit der Existenz. Und so wird der Mensch bei allem, was er thut, voller Ungenüge sein und Mitleid mit sich haben.

Der Mensch scheint eine Mehrheit von Wesen, eine Vereinigung mehrerer Sphären, von denen die eine auf die andre hinzublicken vermag. –

Ende.

9 [2]

Die Erhaltung der Energie. Von B. Stewart.

Das Universum – eine Maschine, die aus Atomen und einer Art von Medium zwischen ihnen zusammengesetzt ist: die Gesetze der Energie sind die Gesetze, welche die Wirkung dieser Maschine beherrschen.

Capitel I.

Unsere Unkenntniss der Einzelwesen, während wir oft die Gesetze kennen, welche die Gemeinschaften bestimmen. Bei einer sehr niedrigen Temperatur ist die Sterblichkeit in London eine viel größere. Das steht fest, nicht aber, wie ein beliebiger Todesfall durch die niedere Temperatur verursacht sei. Nach einer schlechten Ernte findet stets eine große Einfuhr von Getreide statt; den Weg des einzelnen Theilchens Mehl können wir nicht angeben. Es giebt eine fortwährende Luftströmung nach dem Aequator; aber niemand kann von einem einzelnen Theilchen Luft die Bewegungen angeben. So im Planetensystem, in der Politik der Nationen. Das Naturgesetz aller Einzelwesen ist sehr verwickelt, ob es nun lebende Wesen sind oder leblose Theilchen der Materie; eine große Schlacht wüthet, das Schlachtfeld ist uns oft verborgen; was die Einzelwesen darin thun, sehen wir nicht, aber das Ergebniß des Kampfes können wir beurtheilen, sogar oft vorhersagen. Das der Gemeinschaft erreichbare Gesammtresultat wird durch einfache Gesetze bestimmt.

Man vermuthet, daß eine große Anzahl von Krankheiten durch organische Keime veranlaßt werden; unsere Unkenntniß von denselben ist vollkommen. Die Luft wimmelt von solchen, sie kämpfen miteinander, wir sind die Beute der stärkeren. So sind wir mit einer ganzen Welt von Geschöpfen auf's Innigste verknüpft und kennen sie nicht besser als die Bewohner des Mars.

Aber doch kennen wir einige Eigenthümlichkeiten dieser Raubstaaten z. B. daß die Cholera hauptsächlich eine Krankheit der Tiefebenen ist, daß wir auf das Trinkwasser zu achten haben. – Die Impfung steuert die Verheerung durch die Blattern, aber wir sind wie Gefangne, die sich verstümmeln müssen, um sich für ihren siegreichen Gegner werthlos zu machen; so daß er sie frei läßt.

Noch größer unsre Unkenntniß der Moleküle der unorganischen Materie.

Ein Molekül Sand ist das denkbar kleinste Ding, das noch alle Eigenschaften des Sandes besitzt; eine weitere Theilung, falls sie möglich wäre, würde es in seine chemischen Bestandtheile, Kiesel und Sauerstoff, zerlegen. Jedenfalls geht die Zertheilung nicht in's Unendliche. Vergrößert man einen Wassertropfen bis zum Umfang der ganzen Erde: so würde ein einziges Molekül etwas größer als eine Flintenkugel, etwas kleiner als ein Cricketball sein. Wir kommen nie dahin, die letzten Moleküle sichtbar zu machen; die allergrößten Massen des Weltalls haben mit den allerkleinsten dies gemein, daß sie sich den menschlichen Sinnen entziehn: die erstern zu weit entfernt, die letztern zu klein.

Diese Moleküle in beständiger Bewegung und in Kampf auf einander stoßend: bis etwa ein Schlag mächtig genug ist, die zwei oder mehr einfachen Atome zu trennen, aus denen ein Molekül zusammengesetzt ist. Dann tritt ein neuer Zustand der Dinge ein. Unsterblich ist das Grundatom, aber fortwährend bewegt. Dies ist eine neue Schranke für unsere Erkenntniß, es sitzt nicht still.

Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung.

In jedem System, das sich selbst überlassen bleibt, mögen starke innre Kräfte zwischen den verschiednen Theilen wirksam sein, Wirkungen und Gegenwirkungen gleichen sich aber aus, das System verharrt in Ruhe. Eine hohle Glaskugel mit zahlreichen lebhaft sich bewegenden Goldfischen, ganz leicht auf Räder gesetzt, steht still, selbst wenn die Tischfläche eine glatte Eisfläche wäre: es ist ein System. Ein anderes ist die Flinte mit Pulver und Blei: während die Kugel vorwärts geschleudert wird, wird der Flintenkolben rückwärts geschleudert. Wenn die Flinte 3000 Gramm, die Kugel 30 Gramm wiegt und die Kugel per Secunde 300 Meter vorwärts geschleudert wird: dann die Büchse mit der Geschwindigkeit von 3 Meter rückwärts geschleudert. Also 3000 gr X 3 m = 30 gr X 300 m. –

Werfe ich einen Stein von einem Abhang auf die Erde, so scheint die Bewegung nur eine Richtung zu haben, in Wahrheit ist sie das Resultat einer gegenseitigen Anziehung von Stein und Erde. Die Erde bewegt sich wirklich aufwärts, dem Stein entgegen, ganz unmerklich: aber, da die Masse der Erde sehr groß ist im Vergleich mit der Masse des Steins, so muß die Geschwindigkeit außerordentlich gering sein. st gw X Schnelligk. nach abwärts = Erdgw x Schnell. nach aufwärts. Allgemein: wenn A seine anziehende oder abstoßende Kraft auf B ausübt, so zieht B wiederum A an oder stößt es ab. Trotz unsrer Unkenntniß der Einzelwesen läßt sich dies Gesetz erkennen.

"Bewegungsgröße" ist das Produkt der Masse und der Geschwindigkeit. Bei der Flinte sind also die Bewegungsgrößen in beiden Richtungen gleich. Was unterscheidet doch hier die Flintenkugel und den Büchsenkolben? Die Flintenkugel kann Widerstand überwinden: diese durchdringende Gewalt ist das Merkmal einer mit sehr großer Geschwindigkeit begabten Substanz. Nennen wir dies Vermögen Energie: sie steht im Verhältniß zum Gewicht oder zur Masse des Körpers. Es ist dasselbe, ob eine Kugel von 60 gr Gewicht sich mit Geschwindigkeit von 100 Meter per Sec bewegt oder 2 Kugeln, jede von 30 gr. – Aber die Energie steht nicht im einfachen Verhältniß zur Geschwindigkeit; sie wächst viel schneller mit der Geschwindigkeit. Wird die Geschwindigkeit einer Kugel verdoppelt, so wächst ihre Energie nahe aufs Vierfache. Ist die Geschwindigkeit

2(fach), dann die Energie 4(fach)

3 (fach), dann die Energie 9(fach)

Die Energie ändert sich nach der Quadratzahl ihrer Geschwindigkeitszahl.

Wie sollen wir nun Arbeit messen? Als Einheit des Gewichts das Kilogramm (2 Zollpfund), als Einheit der Länge den Meter (= 3,186 rhein. Fuß).

Heben wir nun ein Kilogramm 1 Meter hoch, so wenden wir Energie auf: diese betrachten wir als Arbeitseinheit: Kilogrammeter.

Multiplizirt man das gehobene Gewicht (in Kilogr) mit der senkrechten Höhe (in Met.), durch welche es gehoben wird, so erhält man als Resultat die geleistete Arbeit (in Kilogrammetern). Die Energie ist dem Quadrate der Geschwindigkeit proportional, ob wir nun die Energie an der Dicke der Bretter, welche er durchdringen kann oder an der Höhe messen, zu welcher er, der Schwerkraft entgegen, aufsteigen kann.

 

[Dokument: Notizbücher]

[Sommer 1875]

10 [1]

Wer den höchsten Augenblick geniesst, erblindet.

10 [2]

Eine Liebe, die noch ganz jung ist – kuhwarm.

10 [3]

Du sollst über alle Dinge Gott lieben (eben nicht fürchten) und ihm vertrauen.

10 [4]

Das Holländerhafte im Willen Wagner's. Vernichtungsfluch. Gehemmter Wille. Das Eifersüchtige Zornige.

10 [5]

König von Baiern. Abendschatten. Herberge.

10 [6]

Mathematik.

Mechanik (mit Geschichte).

Physik.

Chemie.

Naturwissenschaften descript<iv>.

Physiologie.

Kosmos.

Geographie.

Geschichte.

Nationalökonomie.

Philosophie.

10 [7]

Bei den kräftigsten Schritten des Lebens resonirt der Tod.

10 [8]

Schriftsteller. Sprech-Stil. Vor Feinden. Unruhiger Rhythmus hier und da fortreissend. Gebrochene Dialectik. Betonen des Autoritativen.

10 [9]

Diener und Freund, Kurwenal.

10 [10]

Das Christenthum, eine mit ausschweifender Gründlichkeit zu Ende gedachte und gehandelte Form des Alterthums. Das Alexandrinische – die Richtung ist geblieben. Die Gewalt nehmend und dafür gebend – die Cultur den bisherigen Gewaltmächten.

10 [11]

Das mittheilende Erfindsamkeit-Talent. Hineinpassen des Gedankens in gegebene Umstände. Dazu gehört auch Schriftstellerei (aus Noth, da das Beispiel nicht möglich war).

10 [12]

Das Genossenschaftliche der B<ayreuther> Unternehmung.

10 [13]

Die Zukunft der Kunst (wenn die Menschheit ihr Ende begreift).

Ich könnte mir auch eine vorwärts blickende Kunst denken, die ihre Bilder in der Zukunft sucht. Warum giebt es solche nicht? Die Kunst knüpft an die Pietät an.

10 [14]

Die sich Zurückhaltenden, aus Desperation, wie Jacob Burckhardt.

10 [15]

Jede Kunst schiesst in's Kraut, bei einer Höhe der Entwicklung.

10 [16]

Wie W<agner> der Musik erst die Zunge löst und die Glieder bricht.

10 [17]

Gegensatz der Höhe der Kunst und der elenden Männergesangsmusik. Bei den Griechen sorgte der Staat.

10 [18]

Schilderung der Hauptcharactere.

Überblick der Arten. Reichthum.

10 [19]

Musiker – Dichter – Schriftsteller – Schauspieler.

10 [20]

Griechen. Philologen, Kastenlehrer (einer höheren Kaste).

Wagner.

Religion.

Volkserziehung.

Mann und Weib.

Staat.

Gesundheit und Krankheit.

Universitäten, die Gelehrten.

Arbeiter und Aristokraten.

Handel.

Presse.

Schule der Erzieher.

10 [21]

Ich bin bereit.

 

[Dokument: Mappe loser Blätter]

[Sommer 1875]

Vorarbeit zu

„Richard Wagner

in Bayreuth"

11 [1]

35. Zu Wagner. Der Kampf mit der anagch; darin ruht aller Fortschritt, daß man verlernt, irgend etwas für Nothwendigkeit zu halten. Wagner hat die Desperation vom modernen Menschen genommen, als ob er immer nur Epigone sein müsse. Während sonst in allem wir der alten Cultur verpflichtet sind, mit Staat Gesellschaft Religion: bringt er den Menschen an's Licht, der in uns vor aller Kultur ist und damit wirft er die schwere Last von sich.

11 [2]

36. Er empfindet die Schmach der modernen Kunst innerhalb der modernen Gesellschaft, den Widerspruch der Anforderungen, er erträgt es nicht, quietistisch in der Ecke zu bleiben, sondern als Künstler verlangt er für die Kunst ihre öffentliche Würde und wird an allem zum Revolutionär. Alles an ihm ist prophetisch. Die Wortgelehrten haben nichts mehr zu sagen. Die Schrift-kunst und Poesie ist zum ersten Male erkannt und verachtet. Indem er christlichen und nordischen Mythus beseelt, spricht er doch gar nichts Dogmatisches aus und ist nicht rückständig, wie sonst der Dichter. Das Evangelium der Liebe gegenüber der Macht, der Convention, dem Geist des Handels und des Geldes und der Verträge. Er hat den Sinn für die Armen und Zurückgesetzten in unserer Cultur, den Mimen und Musiker entdeckt er. Er macht die Herzen weich und erschüttert. Und im Umkreis von Jahrhunderten saugt er alles Interesse an sich und ist der Wendepunkt. Der größte Künstler.

11 [3]

Charakter der neuen Cultur: das Wissen ihr Fundament, der Nutzen ihre Seele. Woher nimmt man nun die Hoffnungen einer edleren Menschheit? Woher soll die Menschenliebe kommen? Der Veredlung des Einzelnen kann die Religion jetzt nicht mehr nützen, sein Wahrheitssinn empört sich. Die „Liebe zu Gott" ist eine Phrase. Da wäre es denn vorbei mit der Cultur? Der Nutzen bestialisirt und das Wissen mumisirt. Und die Rachegelüste der bisher unterdrückten Menschheit! Was bindet zusammen? Wo ist das Gemeinsame? Ist nicht alles Mittel zur Unterdrückung gewesen, die Kunst voran? Es ist der Haß und die Lust zu vernichten nur zu begreiflich. – Hier ist nun der Künstler Wagner ein Symptom des Entgegengesetzten. Es spricht der Geist der Verneinung des Bisherigen aus ihm; ebenfalls aber das Gefühl des tiefsten Mitleidens, des Hülfreichen, das den Kampf mit der Nothwendigkeit aufnimmt: das Prometheische des Künstlers. Fast hätte er bei diesem Kampf seine Kunst verloren: der Ekel war zu groß. „Ihr heroisch Weisen, gebt euer Herzblut drum."

Das Mitleiden, das zur Mitthat drängt!

11 [4]

34. Es sind Elemente da in Wagner, die reaktionär erscheinen: das Mittelalterlich-chiristliche, die Fürstenstellung, das Buddhaistische; das Wunderhafte. Von hier aus mag er manchen Anhänger gewonnen haben. Es sind seine Mittel sich auszudrücken, die Sprache, die noch verstanden wird, aber einen neuen Inhalt bekommen hat. Diese Dinge sind bei dem Künstler künstlerisch, nicht dogmatisch zu nehmen. Auch das National-Deutsche gehört hierzu. Er sucht für das Kommende im Gewesenen die Analogien, so erscheint ihm das Deutsche Luthers, Beethovens und seiner selbst, das Deutsche und seine großen Fürsten, als Bürgschaften, daß etwas Analoges von dem, was er für nöthig in der Zukunft hält, einmal da war; Tapferkeit Treue Schlichtheit Güte Aufopferung, wie er alles dies in der herrlichen Symbolik seines „Kaisermarsches" zusammengesagt hat – das ist sein Deutschthum. Er sucht den Beitrag, den die Deutschen der kommenden Cultur geben werden. Das ist freilich nicht der „Historismus" der Gelehrten Deutschlands, wie Hillebrand meint. Denn das ist wirklich Reaktion und Lügengeist und Optimismus. Sondern in dem großen unbefriedigten Herzen, das weit größer ist als eine Nation – das nennt er deutsch: man nennt es vulgärer Weise das Kosmopolitische des Deutschen, das ist aber nur die Karikatur. Die Deutschen sind nicht national, aber auch nicht kosmopolitisch, die größten Deutschen; nur ihre Feinde haben ihnen den dummen Wahn, man müsse beschränkt sein, eingeimpft.

11 [5]

32. Die Liebe im Tristan ist nicht schopenhauerisch, sondern empedokleisch zu verstehen, es fehlt ganz das Sündliche, sie ist Anzeichen und Gewähr einer ewigen Einheit.

11 [6]

33 – In Wagner sind gefährliche Neigungen: das Maaßlose (wie leicht hätte sein Genie sich zersplittern können! Aber es ist, wie bei den Griechen, als Künstler ist er owjown, als Mensch nicht), die Neigung zu Pomp und Luxus (durch die fortwährende Entbehrung aufgestachelt, das Loos aller Künstler), das Eifersüchtige (er ist gezwungen zu einem Sich-messen an allen modernen Kräften, namentlich Künstlern, um das Wagnerhafte, aber Embryonische an ihnen zu entdecken und so sich doch als nothwendig zu fühlen; wenn er aber der Entwicklung auf sich hin Nothwendigkeit zumißt, so sieht er die andern Entwicklungen als Ab- und Nebenwege, auch Irrwege an, als entzogene Kräfte, als Vergeudung, und zürnt darüber; er zürnt auch dem Ruhme, der solchen Irrsternen gefolgt ist, weil es seinem Wege den Sonnenschein und seinem Werke die Fruchtbarkeit nimmt), das Vielgewandte, Vielverstehende (das Lesen in fremden Individuen, das Überschauen läßt kaum einen recht menschlichen Verkehr zu, wie man auch mit einem Weisen nicht umgehen kann. Einzig naht ihm die Liebe, aber diese blind, während er sieht. So gewöhnt er sich, sich lieben zu lassen und dabei zu herrschen: er hilft andern vor der Verzweiflung.) List und Kunst der Täuschung, zahllose vorgeschobene Motive, Auswege, gleichsam Nothbehelfe im Drama seines Lebens; die er blitzschnell findet und anwendet. Immer Recht haben, sein Unrecht bezieht sich höchstens auf die Form, den Grad, oder das gesammte Material war ihm nicht bekannt. – Alle diese Gefahren sind die Gefahren des Dramatikers, besonders gesteigert durch seinen Kampf, der um die Mittel nicht verlegen sein läßt. Er hat etwas von seinen Helden, sie sündigen nicht. – Nun liegt die Religion der Musik um sein ganzes Wesen: er fühlt es wie Verträge Macht Glanz Kampf und Sieg nicht beseligt, wie alles mächtige Wollen ungerecht macht, und so nennt er die Liebe das Höchste. Die Empedokleische. Er will ja helfen, nützen, erretten – und dies verurtheilt ihn zu einem solchen Leben der Leidenschaft und des Ungenügens.

11 [7]

28. Im Drama ist seine Leidenschaft langathmig und hat ihre Bogengestalt, ansteigend, rasch absteigend; er ist nicht so idyllisch und breitet sich wie ein sanfter See aus. Er bewegt sich unruhig, an verborgenen Felsenzacken gleichsam, zuckend, und plötzlich, allmählich geräth er in eine fortreißende Bewegung, die Unruhe ist in eine Ruhe der schnellen breiten Bewegung übergegangen und nun stürtzt er hinunter in die Tiefe, prachtvoll und mächtig. Die Lust an der Leidenschaft, etwas von der Meereslust an der Brandung und Unwetter.

11 [8]

29. Die vielköpfige Leidenschaft im Drama sein Element: es ist der seelische Vorgang in einer Gruppe von Personen, den er zugleich empfindet. Sein Orchester ist der Ausdruck der verflochtenen Leidenschaft, symbolisch, ohne Ende; der Mensch aller Zeiten wird sich hier wiedererkennen. Er hat ein Ausdrucksmittel, welches über Sprache Convention Gebärde weit hinaus ist; oder vielmehr: Wort, Gebärde dienen zur Verdeutlichung der inneren bewegten Welt des Gemüths.

11 [9]

30. Das Volksthümliche: höchst merkwürdig, da er als Schriftsteller nicht einfach, nicht direkt ist, sondern sich müht, eine ihm unnatürliche Sprache zu sprechen. Er spricht die der höchsten Bildung, aber der alten, unvolksthümlichen, gelehrt-abstrakten; sobald er in sein Element kommt, wirft er dies alles von sich. Auch die Sentenz: man ist auf den Zustand zurückversetzt, wo man noch dichtete und fast noch nicht dachte: in die Zeit, wo die Sprache entstand.

31. Wie volksthümlich er ist, sehe man im Vergleich zu Goethe. Das ganze Faustproblem ist für uns dem Mittelalter kaum entkommenen Menschen sehr verständlich; von dieser Zeitbeziehung abgesehen, ist es die unverständlichste Dichtung. Goethe selbst wußte es, aber benutzte die „barbarischen Avantagen". Wie muß ein Volk zugerichtet sein, damit es den Faust als Volksstück gern haben konnte! Goethesche Lieder sind dem Volkslied nachgesungen, aber nicht vorgesungen: wie es der große Dichter thut.

11 [10]

Letzter Akt der Götterdämmerung: alles Abendröthe, Sommerluft, Spätsommer, tiefes Glühen, Trauer webt in allem. Siegfried von seinen Thaten erzählend die rührende Erinnerung. Tragisch jäh bricht die Nacht ein.

11 [11]

Wie war mir doch in Nirmsdorf, in der goldenen Aue! der Mond ist aufgegangen. In Plauen am Bach unter Schmetterlingen im Frühling. In Pobles, als ich über die verlorene Kindheit weinte. In Röcken, als ich bunte Schneckenhäuser fand. Bei Naumburg, als ich Kalkspathe und Gips grub. In Pforta als die Felder leer waren und der Herbst kam. Als der Großvater mir Hölty's „Wunderseliger Mann" erklärte. Bei Bonn am Einflusse der Wied (?) in den Rhein überkam mich noch einmal das Gefühl der Kindheit. Dann in der Neugasse, wo ich immer die mahnende Stimme des Vaters hörte. – Die Geschichte, welche die Haushälterin des Pastors Hochheim erzählte. Auf der krummen Hufe im Mondschein Schlittschuh fahrend, „was ich des Tags verdient auf meiner Leyer". – Ravaillac.

 

11 [12]

25. Wagner ist Organisator von Massen: von großer Masse des Mythus, von großen langathmigen Scenen. Gesetzgeberisch für ganz große Verhältnisse. Deshalb kann er einfach sein, wie nie ein Dramatiker gewesen ist. Er erreicht damit die höchste Wirkung. Blick für den großen Rhythmus zeichnet ihn aus. In Betreff des Rhythmus im Kleinen ist er für das Lebensvolle, Bewegte, Vielartige; jede Musik erscheint steif nach der seinigen; er macht alles Vorhergehende zu einer archaischen Kunst. Es ist als ob es auch noch kein Orchester gegeben habe, bevor seines erklang: das beseelte Leben jedes Instrumentes war früher gar nicht da.

11 [13]

26. Das Überflüssige in der Kunst: selbst das Gute einer bestimmten Art soll einmal dasein. Der Reichthum der Kunst in der Mannichfaltigkeit der Formen und Wiederholungen hat den Nachtheil, die Form zu verbrauchen, abzustumpfen. Weshalb man sehr streng gegen Nachahmer sein soll. Die griechische Tragödie war vorbei, als die Dilettanten darüber herfielen. – Das Schönste ist die Unnachahmbarkeit Shakespeares und Wagners. D. h. in vielen Dingen, Mitteln der Wirkung werden sie sofort massenhaft nachgeahmt, und es giebt jetzt keinen begabten Componisten, der nicht bereits Wagnerisches Gepräge hätte, in den Melismen, der Harmonik, der freien langen Melodie usw. Die Gefahr von solcher Nachahmung ist sogar sehr groß, wie bei Michel Angelo. Um so stärker muß man sich von der Zusammengehörigkeit der Wagnerischen Mittel und Zwecke überzeugen, um es fast mit Ekel zu empfinden, wenn dann die Mittel isolirt zu ganz andren und kleinen Zwecken verwendet werden. Wagner muß auf Musiker die Wirkung haben, daß er diese zu Virtuosen der Ausübung und zu strengen Lehrmeistern macht; aber das wahnsinnige Componiren sollte er ihnen verleiden.

27. Besonders ist die Gefahr des Naturalismus groß, nach Wagner. Das Erschreckende, Berauschende usw. seiner selbst wegen erstrebt. Eine ungeheure Fülle von Mitteln ist ja da.

11 [14]

Um die Erbschaft der Vergangenheit antreten zu können, müssen wir uns auch verpflichtet fühlen, ihre Schulden zu bezahlen. Man muß gut machen, was sie versäumt und verbrochen hat: das ist der billige Dank dafür, daß wir an dem Theil haben dürfen, was sie gewonnen und errungen hat.

11 [15]

24. Die vor-Wagnerische Musik hatte einen episch-lyrischen Charakter; eine Stimmung z. B. eine andächtige bußfertige, heitere usw. wollte sich aussprechen; eine gewisse Gleichartigkeit der Formen und längere Dauer setzten endlich den Hörer in diese Stimmung. Die Gesammtform eines Stimmungsbildes bekam gewisse Gesetze von Anfang und Schluß, Vermeidung von Langeweile und Monotonie bestimmte die Länge. Nun kamen die Contrastwirkungen der aufeinander folgenden Stimmungen auf und später auch, in demselben Tonstück, der Contrast des Ethos. Sehr häufig ein männliches und ein weibliches Motiv. Das sind alles noch uranfängliche Stufen der Musik. Dabei will sie meistens nur unterhalten, und höchstens rühren: die Stimmungen dürfen nicht zu tief, nicht zu stark sein und die Contraste deshalb auch nicht zu kühn. Allmählich lernte man aber doch eine Menge symbolischer Formen für alle Arten von Stimmungen erfinden. Und nun geschah etwas Neues: man bekam die willkürliche Contrastirung satt und überhaupt die Stimmung, das hJ oz und seine Gegensätze; während man auf der anderen Seite immer raffinirter wurde in seltenen Stimmungen, in der Zeichnung abnormer Charaktere (blasirter, kindlicher, greisenhafter, nationaler). Beethoven erfand die Sprache der Leidenschaft, nicht mehr der Stimmung: und damit war die Form der Stimmungsmusik unmöglich: nicht mehr ein idyllischer See war jetzt zu malen. Ein innerer dramatischer Vorgang – denn jede Leidenschaft hat einen dramatischen Verlauf – erzwang sich seine Form; vielfach hemmte und störte das überlieferte Thema der Stimmungsmusik, das wie ein steifes Gesetz die Leidenschaft einschnürte. Es war oft ein Widerspruch: das Pathos, das sich in der Art des Ethos aussprechen sollte. Für das Pathos ist die große Form nöthig, um den großen geschwungenen Bogen jeder Leidenschaft wiederzugeben; die Symphonie wurde von Beethoven dafür erkannt, doch noch mit Anlehnung an die Contraste der Zustände; so daß er oft drei vier Stufen aus dem ganzen Verlauf einer Leidenschaft herausnahm und die Linie der ganzen Leidenschaft mehr errathen ließ, dadurch daß er vier Punkte ihrer Flugbahn hinzeichnete. Dadurch entstand für viele Zuhörer eine Entfremdung von der Musik: sie konnten die Flugbahn nicht erkennen, und die Contrastwirkungen der einzelnen Theile waren auch unfaßlich. Und so entstand bei den geringeren Musikern die reine Willkür der Theile und ihrer Folge; der Zusammenhang des Ganzen fehlte, es waren vier Stücke. (So wie Aeschylus vier Punkte aus dem Leben und Mythus herausnahm und später die Stücke selbständig wurden.) Also: die Erfindung der großen Form der Leidenschaft führte, nicht verstanden, zurück auf den Einzelsatz mit subjektivem Inhalt und das Spannungsverhältniß der Theile zu einander hörte ganz auf; nur daß man häufig wieder zur früheren Contrastwirkung zurückgriff. Denn man muß Leidenschaft haben, um sie darstellen, um sie verstehen zu lernen: Musiker, wie Schubert, Schumann Mendelssohn haben nur Ethos, und deshalb ist die nach-Beethovensche Symphonie ein so wunderliches Gebilde. Im Einzelnen stammeln sie die Sprache des Beethovenschen Pathos, das verwirrt den Zuhörer noch mehr. Mittel passen nicht zu der Absicht und die Absicht ist überhaupt nicht klar. Die lange Cdur Symphonie von Schubert ist langweilig, weil die einzelnen Sätze nur scheinbar im Ganzen, in Wahrheit nur im Kleinen, Einzelnen, ihre Berechtigung haben. Das Einzige, was diese Musiker gewirkt haben, ist, daß sie eine Menge von Ausdrucksformen zugänglicher, verbreiteter gemacht haben, besonders auch im Liede. – Beispiel an der neunten Symphonie Beethoven's: hier giebt der erste Satz den Gesammtton und -Wurf der Leidenschaft und ihres Ganges: das braust immer fort, die Reise durch Wälder Klüfte Ungeheuer: da braust in der Ferne der Wasserfall, da stürzt er in mächtigen Sprüngen hinab, mit einem ungeheuren Rhythmus in seinem Donner. Ruhe auf der Reise, ist der zweite Satz (Selbstbesinnung der Leidenschaft und Selbstgericht), mit Vision einer ewigen Ruhe, welche über alles Wandern und jagen wehmüthig-selig nieder lächelt. Der dritte Satz ist ein Moment aus der höchsten Flugbahn der Leidenschaft: unter den Sternen ist ihr Lauf, unruhig, kometenhaft, irrlichthaft, gespenstisch-unmenschlich, eine Art von Abirrung, die Rastlosigkeit, inneres flackerndes Feuer, ermüdend, quälendes Vorwärtsziehen, ohne Hoffen und Lieben: höhnisch derb mitunter, wie ein nie Ruhe findender Geist herumschweift, auf Gräbern. Und nun der vierte Satz: herzzerschmetternder Aufschrei: die Seele trägt ihre Last nicht mehr, sie hält den ruhelosen Taumel nicht aus, sie wirft selbst die Vision ewiger Ruhe von sich, die in ihr auftaucht, sie knirscht, sie leidet schrecklich. Da erkennt sie ihren Fluch: ihr Alleinsein, ihr Losgelöstsein, selbst die Ewigkeit des Individuums ist ihr nur Fluch. Da hört sie, die einsame Seele, eine Menschenstimme, die zu ihr wie zu allen Einzelnen redet und zwar als zu Freunden spricht und zur Freude der Vielsamkeit auffordert. Das ist ihr Lied. Und nun stürmt das Lied von der Leidenschaft für das Menschliche überhaupt herein, mit seinem eigenen Gange und Fluge: der aber nie so hoch gewesen wäre, wenn nicht die Leidenschaft des nächtlich fortstürmenden einzelnen Vereinsamten so groß gewesen wäre. Es knüpft sich die Mitleidenschaft an die Leidenschaft des Einzelnen an, nicht als Contrast, sondern als Wirkung aus jener Ursache. –

So bei Beethoven. Wagner erfindet nun, nach Beethoven, die Darstellung der verflochtenen Leidenschaften und braucht jetzt das sichtbare Drama zur Verdeutlichung, Wort und Gebärde. Er stellt Menschen gegenüber; er entwindet sich des Subjektiven der Leidenschaft, er stellt nicht mehr sich dar: oder zwar doch sich selbst, aber als Resonanz mehrerer leidenschaftlich handelnder Personen, deren Seelenleben in ihm nachlebt, in dem kunstvollen In- und Nebeneinander. Die Aufgabe ist so hoch, daß die Undeutlichkeit eine große Gefahr ist, und deshalb ist auf Deutlichkeit der Musiksprache Wagner's ganze Kraft gerichtet.

Er hat erreicht, was noch nie einer erreicht hat: die allerstärkste und deutlichste Sprache des Gefühls. Alle frühere Musik erscheint steif, schwächlich, manierirt, ängstlich. Die unglaubliche Festigkeit und Bestimmung jedes Gefühls grades ist bei ihm das Einzige: er hat das innerhalb der Musik gethan, was der Erfinder der Freigruppe innerhalb der Plastik that: darauf ruht seine Dirigentenkraft im Modificiren des Tempo's; er hat einen gleichsam objektiveren und hart gewordenen Eindruck der zartesten oder wildesten Regungen vor sich, den er trifft, mit zwingender Sicherheit, er schießt immer als Schütze, in's Herz. Alles ist ihm so individualisirte Leidenschaft, der Sturm und das Feuer hat sie, die ganze Natur lebt und webt, niemals unbestimmt, nie stimmungshaft, sondern wie etwas Wollendes, Begehrendes. – Nun ist das Drama bei ihm das bewegte Leben mehrerer Leidenschaften und ihre Geschichte, gleichsam ein Bündel von Kräften und Feuerzungen, die sich kreuzen, abstoßen, aufflammen, ersterben machen.

Durch die Oper waren viele einzelne Ausdrucksmittel der Leidenschaft erfunden worden und populär verständlich gemacht. Denn es ist nicht nur nöthig, diese Symbolik zu erfinden, sondern sich auch eine verstehende Hörerschaft zu erziehn. Im Concert ist dies am wenigsten geschehn; da herrscht die Affektation der "höheren Kunst" und des höheren Geschmacks. Aber in der mißrathenen dramatischen Unform der Oper wurde viel Verständniß für das Symbolische eingeschmuggelt. Hier wollte man den Effekt und war ehrlich genug dazu, fern von der vornehmen Gleißnerei, welche die „Würde der effektlosen Kunst" vertritt; da bekam man allmählich eine ganze große Summe von Effekten d. h. von verständlichen symbolischen Formen: da konnte nun ein Genie kommen und sich ihrer bemächtigen. Denn keine Form ist so gemein, daß sie nicht in der Hand des Genie's zum Ausdruck des Höchsten und Edelsten umgedeutet werden könnte. – Von der Seite Schillers her (und Shakespeares) ist das Gefühl für die langathmige Leidenschaft auf der Bühne erzogen worden: ein hoher Grad von Cultur, da das Volk sonst immer nur Stückwerk will und das Ganze und Lange preisgiebt. – Alle diese partiellen Vorbildungen und Vorbereitungen brachten immer ihr eignes Maß von Absurdität und Gelehrtenhaftem mit sich; und der aesthetische Ausdruck, das Schreiben und Reden darüber war ganz ekelhaft. Es gehörte der Blick des Genie's dazu, daß trotzdem eine Erziehung zum Drama und zur Musik der Leidenschaft da gewesen sei und daß es nur gälte, jetzt einmal alles, was ursprünglich zusammengehörte, aber, historisch, jetzt einzeln angelehrt worden war, wieder zusammenzufügen und den Versuch zu wagen, ob man jetzt das Ganze verstehe. Die ersten Versuche Wagner's gelangen nur mäßig, ja fast hätte er verzweifeln wollen. Das in Deutschland übliche Kleben am Dogma, am Hergebrachten wandte gegen die neue Gattung alles das ein, daß ihr zu jeder vorher dagewesenen Gattung vieles fehle: man sah die schlechte Oper, die schlechte symphonische Musik, das schlechte Shakespear'sche Drama in dem Werke Wagner's. Einzelne empfanden die Wirkung, und diese waren für Wagner jetzt das Publikum. Diese lehrte er, sich um die bisherige Aesthetik nicht kümmern. Während er sich seine Zuhörer und Zuschauer entfesselte, entfesselte er immer mehr seine eigene Kraft von allem Angelernten. Das göttliche Gefühl überkam ihn immer mehr, sein Reich gefunden zu haben, wo er Herrscher war. Es geht durch den Tristan ein Wohlgefühl von neuerlangter Meisterschaft, von rücksichtslosem Sagen, was er kann und will, das wohl in keinem Werk der Welt seines gleichen hat.

Jetzt erst hat er die große Form (die langathmige Leidenschaft, die vielköpfige Leidenschaft) gefunden; die Angst vor dem Mißverstehen, die ihn bis dahin zwang, das einzelne Stück immer noch zu sehr herauszuheben und zu isoliren (z. B. im Lohengrin), das Publikum gleichsam durch Annäherung an die gewohnte Form zu locken, kurz das Verführen-Wollende, das hat ihn jetzt verlassen. Nichts ist ihm unerträglicher als seine Zuhörer zu verlieren, darin ist er wahrhafter Künstler, der von der beseligenden Welt seines Wesens verständlich reden will; ein Kunstwerk, das sich nicht zu verstehen giebt, ist ein Widerspruch. Denn die Kunst ist eben die Kraft, das wirklich mitzutheilen, was man erlebt hat, weiter nichts! – Nun erkannte er die Schwächen der Mittheilbarkeit des Wort-Dramas als der Musik für sich. Das erstere hat durch den Gedanken das Wort die Gebärde auf das Gefühl zu wirken, gehört also damit in die Rhetorik. Aber nicht immer ist die Leidenschaft beredt, hier muß sie es sein, und zwar weitschweifig. Das Wort ist eine zu verbrauchte und abgenutzte Art sich mitzutheilen, und so muß der Wortdichter die Sprache und den Gedanken ungewöhnlich färben, um so den Ausdruck der Leidenschaft zu finden, geräth aber damit leicht ins Unverständliche; anderseits muß er durch Tiefe der Gedanken und Sentenzen das Ganze heben und geräth so in's Unwahre, d. h. die Leidenschaft spricht sich wirklich so nicht aus und theilt sich also auch nicht mit. Durch die Verbindung von Musik und Sprache und Gebärde erlangt Wagner vor allem, daß er die Grundregungen des Inneren, welche durch Wort und Gebärde nur ausgedrückt werden, selbst, direkt darstellt; und jetzt wird Wort und Gebärde leichtverständlich. Jetzt kann der dramatische Darsteller wieder natürlich sein (der frühere mußte affektiren, Sentenzen sprechen usw.). Der ganze Haushalt des Dramas durfte einfacher sein, das idealisirende Element war nicht erst durch große Complicirtheit des Baus usw. zu schaffen, die Kraft der Musik vermochte in jedem Augenblick alles zu heben. Die Sprache convertirte sich aus einer Gedankensprache in eine Gefühlssprache, wurde gedrängter, warf die unsangbaren Hülfszeitwörter weg usw. Mit diesem neuen Lichtapparat hatte er es in der Hand, dem innern Leben eine Überzeugung zu geben, wie sie nie ein Künstler erreicht haben kann: er konnte dem Wunderbaren einen augenblicklichen Glauben verschaffen. Deshalb konnte er auch Prozesse darstellen, die wenig Handlung in banalem Sinne sind, sondern <sich> fast ganz im Innern abspielen und doch mit der höchsten Verständlichkeit an die Theilnahme der Hörer appelliren, z. B. im Tristan. Daraus folgt nun eine Veredelung der leidenschaftlichen Gebärde, des Plastischen, überhaupt bringt die Musik, weil sie die Empfindung gleichsam streckt (denn die gesungene Leidenschaft ist länger als die gesprochene), eine Überwindung der unplastischen Aufgeregtheit mit sich, des Allzubewegten, an denen das Wortdrama leidet. – Nachdem dies alles der Künstler als seinen Machtbereich wußte, griff er nach dem Stoffe, der groß genug war, zu zeigen, daß hier eine Macht da sei, wie sie kein Künstler der Welt besessen hat – zur Tragödie der Götter und Helden überhaupt. „Die Geschichte der Religion als Tragödie."

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Instrumentation: er hat die Blasinstrumente erst zu großen Wirkungen erzogen, alle früheren sind Dilettanten, ihm gegenüber, auch Beethoven.

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Der dramatische Darsteller hat jetzt ein Vorbild in der Musik. Es ist ja durch ein Untertauchen in das fremde Wesen entstanden, Wagner schwindelt nicht wie die Dichter mit Drachen Kröten usw.: der Umfang des von ihm Erlebten und Darstellbaren ist unbegrenzt.

Selbstbeherrschung des Künstlers, der eine dreifach waltende Phantasie wie drei Rosse zügelt, zum höchsten Ziele.

Kein symphonisches Ausschweifen.

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23. Ein Wort über den Dichter Wagner. Denken in sichtbaren und fühlbaren Vorgängen, nicht in Gedanken ist das eigentlich Dichterische: dies zeigt sich im Mythus; dem nicht ein Gedanke zu Grunde liegt, wie man gewöhnlich meint, sondern der selbst ein Denken ist, aber nicht in Begriffen, ich meine ein Weltbild, welches nicht in Worten zu umspannen ist, sondern in Vorgängen. Wie sich Musik ausnimmt für einen Tauben, der nur die Chladnischen Sandfiguren sieht, so ist der Mythus für den Nichtdenker, das Volk; und für dies dichtet der Dichter, der darin selbst zum Volk, ich meine zu den Nichtdenkern, gehört. Der Ring des Nibelungen ist ein ungeheures Gedankensystem ohne die begriffliche Form des Gedankens. Vielleicht könnte ein Philosoph etwas ganz Entsprechendes zur Seite stellen, das ganz ohne Bild und Handlung wäre: dann hätte man zwei disparate Sphären. Aus der einen könnte man in die andre nicht hinein: um zur einen, müßte man reiner Denker, um zur andren zu kommen, reiner Dichter sein. Die Gedanken, welche die Helden der Dichtung äußern, sind nicht die Gedanken des Dichters als Dichter: er denkt in Vorgängen, die Folge der Scenen, und das, was vorgeht, ist sein Denken. Nur die vielen Halbdichter bringen eine Verwirrung hervor: d. h. die Künstler, die nicht ganz Dichter sind. – Wenn nun Wagner bald den christlich-germanischen Mythus, bald Schiffahrer-Legenden, bald buddhaistische, bald heidnisch-deutsche Mythen, bald protestantisches Bürgerthum nimmt, so ist deutlich, daß er über der religiösen Bedeutung dieser Mythen frei steht und dies auch von seinen Zuhörern verlangt; so wie die griechischen Dramatiker darüber frei standen und schon Homer. Auch Aeschylus wechselte nach Belieben seine Vorstellungen, selbst von Zeus. Fromm ist ein Dichter niemals. Es giebt keinen Cultus, keine Furcht und Angst <und> Schmeichelei vor diesen Göttern, man glaubt nicht an sie. Der Grieche, der im Bühnenhelden in abergläubischer Weise den Gott sah, war nicht der Zuschauer, den Aeschylus wollte. Die Religiosität der Götzen und Fetische muß vorüber sein, wenn jemand so frei in Vorgängen denken soll, als Dichter. Wagner fand einen ungeheuren Zeitpunkt vor: wo alle Religion aller früheren Zeiten in ihrer dogmatischen Götzen- und Fetischwirkung wankt: er ist der tragische Dichter am Schluß aller Religion, der „Götterdämmerung". So hat er die ganze Geschichte sich dienstbar gemacht, er nimmt die Historie als sein Denkbereich in Anspruch: so ungemein ist sein Schaffen, daß er durch alles Gewordene nicht erdrückt wird, sondern nur in ihm sich auszusprechen vermag. – In welchem Lichte sieht er nun alles Gewordne und Vergangne? – Die wunderbare Bedeutung des Todes ist hier voranzustellen: der Tod ist das Gericht, aber das frei gewählte, das ersehnte Gericht, voll schauerlichen Liebreizes, als ob es mehr sei als eine Pforte zum Nichts. (Bei jedem starken Schritt des Lebens auf dem Bretterhaus resonirt dumpf der Tod.) Der Tod ist das Siegel auf jede große Leidenschaft und Heidenschaft, ohne ihn ist das Dasein nichts werth. Für ihn reif sein ist das Höchste, was erreicht werden kann, aber auch das Schwierigste und durch heroisches Kämpfen und Leiden Erworbene. Jeder solche Tod ist ein Evangelium der Liebe; und die ganze Musik ist eine Art Metaphysik der Liebe; sie ist ein Streben und Wollen in einem Reich, welches dem gewöhnlichen Blick wie das Reich des Nichtwollens erscheint, ein sich Baden im Meere der Vergessenheit, ein rührendes Schattenspiel vergangener Leidenschaft.

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22. Wagner's Kunst gehört nicht zur jetzigen Kunst: er ist weit voraus oder darüber. Man soll seine Existenz nicht unserm Zeitalter zum Verdienst anrechnen, zumal es alles gethan hat um seine Existenz zu verhindern. Zähle auf, was Wagner gefördert hat – worin er nicht gehemmt, sondern unterstützt wurde (darunter als Gegenstück Meyerbeer anzuführen, der seinen Tages- und Zeiterfolg auf das Künstlichste in Scene setzte – Wagner hat immer das Gegentheil gethan, besonders seine „Freunde" waren immer schlimm daran, er erlaubte ihnen nie auszuruhen, plötzlich war er ihnen mit etwas Neuem aus dem Gesichtskreis, sie standen wie die jünger im Faust mit Sehnsucht und sahen nach oben). Ebensowenig sollen die Leipziger ihn als ihr Stadtkind verherrlichen dürfen: vielmehr haben sie durch ihr Verhalten gegen Wagner ihr Verhalten gegen die Lutherische Reformation in Erinnerung gebracht. Meine Betrachtung Wagner's bleibt als "unzeitgemäße" gerechtfertigt. Denn alle sonstige Kunst und Wissenschaft, die Musiker und Musikgelehrten dazu, haben ihm den Weg verlegen wollen. – Mir liegt daran, nicht von Wagners Gegnern zu sprechen; denn ich müßte von Jedermann reden. Wer hat sich nicht versündigt? Durch flaches Nicht-hören-wollen oder Halbhören usw. Aber ich schweige: wie ich es verstehe, zeige aber der Titel, daß ich diese Betrachtung unzeitgemäß nenne.

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21. Wie Unrecht thäte man, anzunehmen, Wagner sei es um die Kunst allein zu thun und er betrachte sie als das Heilpflaster für alle übrigen elenden Zustände! Sie ist ihm nur der Trost der anagch gegenüber, aber wo ist die Grenze der anagch, wenn man auf das weite Menschheitsleben blickt! Für das Individuum bleibt es der Haupttrost, seiner individuellen anagch gegenüber; zugleich aber stählt er so das Individuum, daß er den Kampf für das Allgemeine aufnimmt. Gerade das Drama Wagner's zeigt den Kampf des Individuums bis aufs Messer mit dem, was als anagch gilt, Gesetz, Herkommen, Vertrag, Macht, Geld; das Individuum kann nicht schöner leben, als wenn es in diesem Kampfe zum Tode reift und sich opfert. Dem hinsterbenden Individuum tritt das unerschöpfliche Leben der Gattung gegenüber; was ist unüberwindlich für diese! – Immerhin ist die Kunst für eine Ruhepause im Kampf, nicht für den Kampf selbst: für jene Minuten, wo man rückblickend und vorblickend alles symbolisch versteht, wo eine leise Müdigkeit uns befällt. Die Kunst ist der Traum für den Schlaf des Kämpfers, der erquickende Traum für den erquickenden Schlaf des Kämpfers. Der Tag bricht gleich wieder an, die heiligen Schatten verschweben, und da ist die Kunst fern. Aber ihre Tröstung liegt über dem Menschen von der Frühstunde her. So ist sie die höchste Weltbeglückerin, obschon ihr Glück wie ein Schatten ist. So ist die Kunst eine höhere Stufe der Religion, ohne deren gemeine Grundmotive, Betteln bei den Göttern und Abkaufen von etwas, ohne die niedrige Sucht nach Gewinn. Und so erscheint auch historisch die Kunst am Aussterben der Religionen; freilich werden dann gewöhnlich die Religionen noch durch die Kunst conservirt, durch Tempel Festaufzüge Ritual, dramatische Schaustellungen; dazu die vererbte Dankbarkeit gegen die mythischen Gestalten, welche der Kunst zu Gute kommen. Ein Zustand der Menschen, welcher die Kunst und Religion entbehren könnte, ist vielleicht keine Unmöglichkeit, aber wir können ihn uns noch nicht einmal imaginiren. Die beiden größten Leiden – 1) die Unsicherheit des Wissens, die Nichtgemeinsamkeit desselben bei allen Menschen und 2) die Ungleichheit des Könners – diese Leiden sind kunst bedürftig. Man kann nicht glücklich sein, so lange um uns herum alles leidet: man kann nicht sittlich sein, so lange der Gang der Dinge durch Macht und Gewalt und Ungerechtigkeit bestimmt wird; man kann nicht einmal weise sein, so lange nicht die ganze Menschheit im Wetteifer nach Weisheit gerungen hat. Überall findet der Einzelne sein Ungenügen: wie sollte er es aushalten können ohne zugleich in seinem Kampfe und Streben und Untergange etwas Erhabenes und Bedeutungsvolles zu erkennen? Das zeigt ihm die Tragödie; sie hat Lust am Rhythmus der Leidenschaft und am Opfer derselben; sie erhält die tragische Gesinnung aufrecht und zeigt sie in allem Wechsel der Sitten und Religionen als vorhanden. Lieber sterben als seinem innersten Zuge, seiner Leidenschaft, deren Verkörperung wir sind, untreu werden! Wehe der Menschheit, wenn dieser tragische Sinn ihr je entschwände! Nur ist die Kunst keine direkte Lehrerin und Erzieherin für das Handeln; die Objekte, die die tragischen Helden erstreben, sind nicht ohne Weiteres erstrebenswerthe Dinge. Es ist wie im Traum; was wir während der Bezauberung der Kunst für erstrebenswerth halten, so daß der Tod lieber zu wählen ist als darauf zu verzichten, das ist nicht oder selten im Leben zu gebrauchen; dafür ist die Kunst für die Ruhe und Rast, für den Schlaf des Thätigen; ihre Probleme sind vereinfacht, erleichtert, es sind lauter Abkürzungen der unendlich complizirten Rechnung des wirklichen Lebens. Aber gerade darin liegt ihre Größe und Unentbehrlichkeit, daß sie den Schein einer einfacheren Welt, einer präziseren Lösung seiner Räthsel erregt. Niemand kann diesen Schein entbehren; je complizirter die Erkenntniß von den Gesetzen des Daseins wird, um so inbrünstiger begehren wir nach jener Vereinfachung, wenn auch nur für Augenblicke; um so größer wird die Spannung zwischen Erkenntniß und Einzelnem; damit der Bogen nicht breche, ist die Kunst da. Da aber diese Kluft immer größer wird, und dem Einzelnen eine immer höhere Spannung zugemuthet wird, im Zeitalter der untergehenden Religionen, so kommen wir in eine Periode der Kunst, wie sie noch nie nöthig war und noch nie da war.

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Vom Theater und der Zerstreuungssucht. Der Mensch hält das Gewohnte für das Rechte. Unser ganzes Leben und Wesen ist eigentlich höchst ungewöhnlich und nachdenkenswerth – corrupt!

– Wagner ein umgekehrter Alexander: nicht ein Verbreiter der Cultur, sondern ein Concentrirer, ein Hohlspiegel, ein Zusammenzieher alles möglichen Culturhaften, aus der Weite in die Enge, aus der Zerstreutheit in einen Mittelpunkt zusammen. Seine Kraft zeigt sich darin, die Fäden zu ziehen, die so schlaff geworden sind. Das Adstringirende.

Man kann nicht glücklich sein, so lange – Und auch das Wissen ist ein Vorwurf, so lange man den Arbeitern – – –

Wagner als Küstenfahrer

Mährchen für Kinder und Weiber

Bayreuth Kampf mit den Elementen

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20. Die Geschichte der Entwicklung der Cultur seit den Griechen ist kurz genug, wenn man den eigentlichen zurückgelegten Weg in Betracht zieht und das Stillestehen, Zurückgehen, Zaudern, Schleichen gar nicht mit rechnet. Die Hellenisirung der Welt und die Orientalisirung des Hellenischen – die Aufgabe des großen Alexanders – ist immer noch das letzte große Ereigniß; die Übertragung einer fremden Cultur immer noch das Problem, an dem wir herumrechnen. Inzwischen ist der Alexandrinismus in immer höherer Kraft hervorgetreten; das verdummende Zwischenspiel des Christenthums – das rhythmische Spiel der beiden Faktoren gegen einander, an dem die Welt zu leiden hatte – natürlich abgerechnet, ist der Gang der Wissenschaft weiter geworden. Aber bei der unendlichen Zerstreuung des hellenischen Geistes ist die eigentliche Culturwirkung des Hellenischen auch immer fadenscheiniger und blässer; vor allem fehlt jede Einheit, es ist ein verwirrtes Wogen. So ist denn jetzt eine Reihe von Gegenalexandern nöthig geworden, die die ungeheure Kraft haben zusammenzuziehn und zu binden, die entferntesten Fäden heranzulangen und das Gewebe vor dem Zerblasenwerden zu bewahren. Nicht den gordischen Knoten der griechischen Cultur zu lösen, so daß seine Enden nach allen Weltrichtungen hin flattern, sondern ihn zu binden, nachdem er gelöst war – das ist jetzt die Aufgabe. In Wagner erkenne ich einen solchen Gegen-Alexander. Er hat, medizinisch zu reden, etwas Adstringirendes, er bannt und schließt zusammen, was vereinzelt und schwach, lässig war: insofern gehört er zu den ganz großen Culturgewalten und ist der Erste einer neuen Reihe von Menschen. Er waltet über den Religionen, über den Künsten, über den Wissenschaften der Geschichte und ist doch der Gegensatz eines Polyhistor, eines zusammentragenden zusammenrechnenden und ordnenden Talentes (wie Aristoteles für die Natur es war). Er ist ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammengebrachten, ein Vereinfacher der Welt. Dabei hat er so viel Menschheitsstufen in sich, um auch ganz in eine sofortige gegenwärtige Aufgabe sich hineinzudenken; er verbindet nicht nur die entferntesten Punkte des großen Meeres, sondern er kann auch, wenn er will, Küstenfahrer sein und sich der kleineren zeitgemäßen Arbeit gewachsen zeigen.

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19. Eine Reform des Theaters – es sieht für den oberflächlichen Beschauer fast lächerlich aus. Gut, es sei reformirt, was ist denn damit geschehn? wird er sagen. Nun, damit wäre der moderne Mensch verändert und reformirt; so nothwendig hängt hier alles zusammen. Es ist gar nicht möglich, die Würde der Kunst herzustellen, ohne nicht überall, in Sitte und Staat, mit Gerechtigkeit und Liebe zu neuern. Schon um zu begreifen, in wiefern die Stellung der Kunst entartet ist, in wie fern unsere Theater eine Schmach sind – muß man willig umlernen und das Herrschende Alltägliche einmal als etwas sehr Ungewöhnliches und Complicirtes verstehn. Die seltsamste Barbarei, gemeinste Ergötzlichkeit, gelehrtenhafte Absichten, Wichtigthun und Schauspielerei mit dem Ernst der Kunst, Geldgewinn, Eitelkeit der Gesellschaft, ermüdete Sinne – alles das trifft im Theater zusammen. Wirklich hat man nur das griechische dagegen zu halten, um zu sehn, wie gemein und dazu auf barocke Art gemein unsre Einrichtungen sind. Gesetzt, wir wüßten nichts von den Griechen, so wäre unserm Zustand vielleicht gar nicht beizukommen, und man hielte die Einwendungen für utopistische Träumereien. „Wie die Menschen einmal sind, gebührt ihnen eine solche Kunst – sie sind nie anders gewesen": – würde man sagen. An demselben Orte weihevolle Ergriffenheit und Sammlung, den Höhepunkt unseres Glückes, die höchste Bestärkung der edelsten Menschen, die hingebendste Aufopferung der Künstler, dies Schauspiel aller Schauspiele selbst, den siegreichen Schöpfer eines solchen Werkes zu sehen – ist es nicht Zauberei, das zu Stande gebracht zu haben? Müssen nicht die Menschen, die das erleben können, schon verwandelt und erneuert sein? Ist nicht ein Hafen in der wüsten Weite des Meeres gefunden, eine Stille über den Wassern? Sehe ich von dort aus zurück, wie kahl und ekelhaft kommt mir dann die moderne Art, mit der Kunst zu verkehren vor, wie entwürdigend das Singen und Musiciren in unsern Concerten und Geselligkeiten, das Lesen und Sprechen in unsern gelehrten Kreisen vor! Und wie erbärmlich ist die Stellung des modernen Staates, der sich noch dazu "Culturstaat" nennen läßt! Nur einen Wunsch habe ich bei einem solchen Blick, nie in diese flache Welt zurückkehren zu müssen oder so sehr als möglich gegen sie vertheidigt zu sein; während ich allen den wirklich Leidenden Hoffnung machen möchte, daß es noch Menschen giebt, welche für sie gegen die unterdrückenden Elemente eines luxusartigen Triebes kämpfen werden. Mit dem Handwerker, Bauer und Arbeiter will ich lieber zusammen wohnen als mit dem jetzigen „Gebildeten", mit dem frommen schlichten Manne ohne Gelehrsamkeit lieber als mit dem Gelehrten, ja selbst mit dem unverstellten Diener der Selbstsucht eher noch als mit dem maskirten.

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18. Wagner zeigt seine Macht besonders darin, wie er die Widerwilligen unterjocht. Kein begabter Musiker ist mehr, der nicht innerlich auf ihn hinhorchte und ihn hörenswerther fände als <die> übrige Musik zusammen. Viele, die durchaus etwas bedeuten wollen, ringen geradezu mit diesem sie überwältigenden inneren Reize, aber wo sehe man einen, der jetzt noch sich frei erhalten hätte? – sie werden kleinlicher, suchen schlechte Bundesgenossen und Freunde, schmeicheln der Zeit und verderben so: zumal aber wenn sie die große Form affektiren, sind sie nicht mehr ehrlich, sondern wollen täuschen. Besten Falls sind sie fleißig und lernen das, was in der Musik zu lernen ist: in Vertrauen darauf, daß die "Gebildeten" den schwierigen Unterschied zwischen Original und Kopie, zwischen Erlernbarem und Unlernbarem nicht merken, schaffen sie darauf los. Ihnen allen sei, wenn sie durchaus componiren wollen, die kleinste Form anempfohlen, etwas was ich mit freiem Ausdrucke das musikalische Epigramm nennen möchte, dafür reicht vielleicht der Witz und die Gestaltungskraft, und sie können ehrlich sein, dabei kann noch Herrliches entstehn, wie bei den Griechen, die sich auch auf die kleinste Form warfen, als die großen vorweggenommen waren.

Wagner selber will keine Componistenschule.

Da knüpft man sich an die früheren Meister mit ängstlicher Beflissenheit an, hält die Ohren zu und will lieber Schubert oder Händel oder irgend einen Charakter tragen als den Wagners. Unmöglich! Dieselbe Unentrinnbarkeit bei den schriftstellerischen Gegnern; von den eigentlichen Stroh- und Holz- und Zahlenköpfen abgesehn, ist jetzt jeder selbst nur mäßig begabte überwunden; und der Neid und Haß oder gar die Noth um Brod und Geld, die Verpflichtung, die man gegen Zeitungen eingegangen ist, die Furcht vor dem Publikum, die Anstandsfrage, wie man sich einen schicklichen Rückzug bereite, alles das giebt jetzt alledem, was über Wagner gesprochen und geschrieben wird, so einen ekelhaften Charakter. Hier und da bricht die eigentliche Wuth aus, und man ist so weit gegangen, alles was teuflisch ist in Verführungskünsten Berauschungen mit dem Namen „Wagner" zu bezeichnen. Alles neue Mittel, jene Macht zu mehren! Ob man in Japan oder in den Prérien Amerika's von Kunst redet, so kommt immer nur Eine Stellung in Betracht, die zu Wagner. Und vielleicht concentrirt sich die ganze moderne Kunstgeschichte, die letzten Jahrhunderte vorher und die nächsten nachher, um diesen einen Namen.

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17. Wie Wagner es versteht abzuschließen, zeigt seine Beschäftigung mit der deutschen Mythologie. Alle Gelehrten haben nur für ihn gearbeitet; jetzt nachdem das Werk der Wiederauferstehung des deutschen Mythus vollendet ist, ist jene Gelehrten-Gattung überflüssig geworden. Und so sollen sich Gelehrte überflüssig machen lassen! Nur in Hinblick auf solche endgültige Beseitigung ihrer Gattung durch einen Genius arbeiten sie ja! Als solche, die auf Erlösung hoffen, verzaubert zur unterirdischen sonnenlosen mühsamen Arbeit! – Wer hätte jetzt noch viel über Aeschylus und Soph<okles> zu sagen! Das Größere ist da, der Inbegriff auch ihrer Kunst, zugleich die höchste Rechtfertigung der Verehrung, welche sie genossen haben, fast auf Treu und Glauben hin. Ebenso ist die Religionsgeschichte an einen Wendepunkt gestellt, ebenso die Kunstgeschichte; eine ungeheure Summe von Wissen kann man jetzt wegwerfen, nachdem das erlösende Wort gesprochen ist; ein guter Theil von Gelehrsamkeit und Geschichte (Aesthetik namentlich) ist veraltet, zum Trödel geworden. Wie es andere verstehn, nicht abzuschließen, zeigt z. B. die Beschäftigung mit dem deutschen Mährchen; das war durch Gelehrte wieder entdeckt und den alten Weibern und Kindern abgelauscht worden. Statt nun den hohen Grad von Erniedrigung zu empfinden, der in der Verwandlung des Männer-mythus zum Alt-weiber-Mährchen liegt, und diesen Bann zu brechen, beschäftigte man sich mit alberner Kindlichkeit mit künstlerischer Verarbeitung des Mährchens, wie z. B. Schwind; und unsere blasirten Großstädter thaten kindlich! Die ganze deutsche Romantik war eine Gelehrtenbewegung, man wollte gern in's Naive zurück und wußte, daß man's so gar nicht war. Wer jetzt nicht heldenhaft ist, kann nicht in's Einfache und Naive hindurch; aber jene meinten, durch Verweichlichung Vergreisung Altjungferhaftes und eine Art von absichtlicher „zweiter Kindheit" dahin zu kommen. Man muß dem Volksliede nicht nachsingen, sondern vorsingen können, um ein volksthümlicher Sänger zu sein. Und das versteht Wagner, er ist volksthümlich in jeder Faser.

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16. Wagner's Diadochen: er vermacht sein Reich auch "dem Stärksten", aber hier ist nicht von Nach-Wagnerischer Kunst die Rede: man wird auf lange hinaus mit dem Musikschaffen vorsichtig werden, das Produziren und Dilettiren ist vorbei. Er erweist sich eben als eine ganz große Culturmacht darin, daß man gar nicht sagen kann, wo alles noch sein Einfluß ausbrechen kann. Er hat, nicht durch Begriffe allein, sondern durch die That, ein Fragezeichen vor unsere ganze modern sich nennende Cultur gesetzt. Sie ist nicht modern, sondern alt und ganz verdorben bereits. Hier ist mächtig zu erobern und zu siegen; die größten Reiche stehen offen; wer z. B. wird das Reich der Erziehung als morsch erkennen und niederwerfen? (Wenn man die stillen unzufriedenen tiefen Gelehrten zur offenen Empörung und Erklärung treiben könnte, so wäre das an dem bisherigen Gesammtbildungswesen der empfindlichste Aderlaß. Übrig blieben alle politisch Angesteckten unter den Gelehrten und die litteratenhaften Menschen aller Art.) Er hat errathen und verrathen, daß vieles sehr schwach ist; und der Widerstand der bisherigen Machtinhaber z. B. der Gelehrten dürfte nicht viele Schlachten aushalten können. Mit dem Namen „Bayreuth" bezeichne ich eine der tiefsten Niederlagen, welche die deutschen Gebildeten erlitten; sie waren nicht dabei, sie waren wüthend dagegen, die Verachtung der Kommenden wird sie treffen.

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<15.> Die sittliche Grundnatur Wagner's entfaltet sich immer leuchtender. Auch sie braucht Sonnenschein d. h. den Erfolg im Streben. Ein großes Ziel bringt große Gefahren! und die Unzulänglichkeit dazu und folglich auch die mangelnde Einsicht in diese Unzulänglichkeit – mitunter in den Umständen liegend? – macht böse, man sucht die Gründe in Anderen für das Mißlingen, geht Neben- und Schleichwege, immer im Glauben an sein Ziel und behandelt alle Welt als schuldig, wird gleichsam unterschwürig und reizbar, ungerecht; so geschieht es, daß gute Naturen verwildern, auf dem Wege zum Besten. – Selbst unter denen, welche der sittlichen Reinigung nachjagten, unter Mönchen und Einsiedlern, finden sich verwilderte und über und über erkrankte Menschen. – Wagner durch Mißlingen ausgehöhlt und zerfressen wäre eine fürchterliche Natur; es würde ihn die finstere Melancholie eines Umsturz-Dämons einhüllen. Man soll nur mit schamhafter Zurückhaltung vor dem unenthüllbaren Heiligen des Innern reden: aber ist es nicht zu fühlen, wie im Grunde des Rienzi, des Holländers, Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Hans Sachs, Wotan, Brünnhilde ein verbindender unterirdischer Strom der sittlichen Veredlung fortläuft, und wie immer reiner und heller dieser Strom fluthet? Welcher Künstler bietet uns ein ähnliches Bild? Vielleicht Schiller. Aber doch ist der Maßstab großartiger bei Wagner, der Weg auch viel ausgedehnter. Die Musik, nicht nur der Mythus spricht diese Läuterung aus: und im Ring des Nibelungen ist eine Höhe und Heiligkeit der Stimmung erreicht, daß wir an das Glühen der Eisund Schneegipfel denken müssen. Wie eine wilde Naturkraft, dunkel und unruhig, begann Wagner, suchte stürmisch Befriedigung, dort wo sie die Meisten finden, floh mit Ekel zurück, versuchte es mit Neuem, erstrebte Macht berauschenden Erfolg Taumel und wieder Entsagung, versuchte die Last von sich zu werfen, zu vergessen, neu zu beginnen; der gesammte Strom stürzte sich bald in dieses, bald jenes Thal, kroch in die dunkelsten Schluchten, riß ungestüm Felsen und Wälder an sich, zertrümmerte, tobte – in der Nacht dieses halb unterirdischen Wühlens stand ein Stern über ihm: die Treue, die selbstlose Treue. In immer neuen Bildern prägte er sie aus, Elisabeth zu Tannhäuser, der Bruder zur Schwester im Rienzi, Freund zum Freund, Diener zum Herrn, Elsa zu Lohengrin, Senta zum fliegenden Holländer, Brünnhilde zu Wotan's innerstem Wunsch, Brünnhilde zu Siegfried: warum leuchtete ihm dies Wort gerade heller und gab ihm unaufhörlich zu denken und in Vorgängen zu dichten? Es ist dies das Urgeheimniß Wagner's: das Verhältniß der beiden innersten Kräfte seines Wesens zu einander, Wille und Intellekt, – daß diese sich treu bleiben, ist die große Nothwendigkeit, das Eine, was für ihn noth thut, wodurch er ganz bleibt; während er die schrecklichen Gefahren der Untreue, der Verführungen dazu um sich sieht. Jeder dieser Triebe strebt für sich, in's Ungemessene, will Befriedigung, es ist die innerste Seelenangst Wagner's, daß sie treu bleiben. Seine künstlerischen Begabungen sollen sich ebenfalls treu bleiben, und doch lockt die edelste Art der Neugierde bei Seite, es lockt z. B. die Verführung zur symphonischen Form: fühlt Ihr's nicht, wie oft Wagner sich mit grausamem Entschlusse dem dramatischen Ganzen, das wie ein Schicksal unerbittlich ist, unterwirft und wie der Musiker nicht durchgeht, wozu er so große Lust hätte? – Diese Treue gegen sich selbst oder gegen ein höheres Selbst, eines Weiblichen zu einem Männlichen ist das innerste Problem Wagner's; von da aus versteht er die Welt. Man denke nur an die Überfülle von Talenten, die alle für sich wollen! Die Treue ist bei Wagner sogar der universalere Begriff, unter den die Liebe fällt, die Geschlechts- Geschwister- Kindesliebe. Das ganze Thema der Treue ist bei ihm ausgeschöpft: das Herrlichste ist wohl Brünnhilde, die gegen den Befehl Wotan's Wotan Treue bewahrt und dadurch die Erlösung der Welt möglich macht – ein mythischer Gedanke vom höchsten Range und ganz ihm zu eigen. Da ist aber auch das Gefühl der erlittenen Untreue das Furchtbarste, was je ein Künstler erdacht hat: der Schwur "bei des Speeres Spitze" durch Brünnhilde das Herzzerschneidenste, was es giebt; wie mit Tigertatzen fällt uns da die Leidenschaft an. Die vielen tragischen Möglichkeiten, die in der Treue liegen, hat Wagner für die Kunst erst entdeckt. Sein eigenes Leben ging durch diese Möglichkeiten hindurch und war dadurch eines der schwersten Leben, das gelebt werden kann. Auf der größten Hälfte seines Lebens liegt das Nicht-Hoffen; darum auch das Nichtverzweifeln; aber wie ein Wanderer mit schwerer Bürde durch die Nacht zieht, allein, so mag ihm oft zu Muthe gewesen sein: ein plötzlicher Tod erschien ihm dann nicht als ein schreckendes, sondern ein verlockendes liebreizendes Gespenst. Last, Weg und Nacht – alles mit einem Male fort! Die Treue hielt ihn und stritt mit dem Gespenst.

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14. Als Musiker hat Wagner etwas von Demosthenes, den furchtbaren Ernst um die Sache und den Griff und die Gewalt des Griffs, so daß er jedesmal die Sache faßt; er schlägt seine Hand darum, im Nu, und sie hält als ob sie aus Erz wäre. Er verbirgt wie jener die Kunst, er macht sie vergessen und doch ist er, wie jener, die letzte und höchste Erscheinung unter einer ganzen Reihe von gewaltigen Kunstgeistern. Er hat nichts Epideiktisches an sich, was alle früheren Musiker haben, die gelegentlich alle mit ihrer Kunst spielen und sich zeigen: man denkt bei Wagner weder an das Interessante, noch Ergötzliche, sondern fühlt nur das Nothwendige. Dazu gehörte eine ungeheure Willenskraft und die höchste künstlerische Reinheit des Charakters. Keiner hat sich so strenge Gesetze auferlegt wie Wagner, man erwäge nur das Verhältniß der Singstimme zur ungesungenen Rede und wiederum der Melodie der Stimme zum ganzen symphonischen Zusammenhang der Musik, um ein wahres Wunderwerk zu sehen! Und ist nicht jede Partitur Wagner's eine Art von Beweis dafür, daß es vor ihm gar keine rechte Anstrengung und Arbeit und Gewissenhaftigkeit gab? Der Fleiß und die Erfindsamkeit im Einzelnsten ist geradezu ein Ideal. Wie erscheint einem da ein Dichter! Wie etwas sehr Bequemes und Sorgenfreies, wie ein mit vielen Mußestunden beglückter Mensch, der die Arbeit scheut. Damit hat Wagner alle ausübenden Musiker hoch hervorgehoben, sie alle können mit ihrer Seele in ihrem Vortrage sein, weil ihre Aufgabe eine Seele fordert. Der virtuose Handwerker der Kunst ist durch Wagner abgethan; er reizt nicht mehr. Durch seine Mühe und Last und Zwang hat Wagner denen, die die Kunst ausüben, es leichter gemacht, er hat sie vor dem Gefühl, entwürdigt zu sein, geschützt. Und so hat Wagner allen denen geholfen, die sich mit Kunst abgeben; es wird bald nicht mehr möglich sein, daß der leichtfertige Betrieb der Kunst durch unsre Höfe, Stadttheater, Concertgesellschaften, weichliche Kunstfreunde und alle Art von "stillem Trunk ergebenen Leuten", die Kunst auf ihrem Kämmerlein in weichlicher Selbstbefriedigung treiben, sich vor der allgemeinen Verachtung rettet. Wir, die wir wissen, was alles an der einmal richtig erfaßten Kunst hängt, welches Geflecht von Pflichten – verachten wenigstens alle bestehenden Einrichtungen der Kunstpflege auf das Tiefste. Der Gegensatz ist freilich ins Ungeheure aufgerissen! und es ist möglich, daß die Nachkommen zu schwach sind, um ihn zu überwinden. Mit Demosthenes war es vorbei. Aber es sind noch genug Menschen da, welche das fruchtbare Land sind, auf welchem Wagner säen kann – genug, welche wenigstens zu kämpfen und zu arbeiten verstehen: Bayreuth beweist es. Da haben wir für die kommenden Tage schöne Arbeit mit Sicheln und Sensen dem Unkraute beizukommen. Durch diese Arbeit adeln wir uns; denn bisher war es in meinen Augen eine fast verächtliche Sache, ein "Kunstfreund" zu heißen, und ich schätzte die deutlich erkennbaren Kunstfeinde mehr; denn bei ihnen verrieth sich doch häufig das Gefühl, daß dies eine Beschäftigung einer üppigen und selbstsüchtigen Klasse sei, fern von der Noth des Volkes und im Grunde ein Mittel, sich gerade vom Volke zu "distinguiren". Nieder mit der Kunst, welche nicht in sich zur Revolution der Gesellschaft, zur Erneuerung und Einigung des Volkes drängt!

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13. Das Improvisatorische. Wagner hat zur Erklärung Shakespeare's darauf hingewiesen, wie er als improvisirender Schauspieler zu denken sei, der die Besonnenheit habe, seine Improvis<ation> zu fixiren; und ähnlich bezeichnet er sich als Musiker. "Selbstentäußerung"' als Wesen dieser Künste – Eingehen in fremde Seelen, Lust an dieser Vertauschung; ein solcher Seelenwechsel bei dem Musiker ist nun ein Phänomen höchster Art: das Nicht-Subjektive des Musikers etwas ganz Neues. So stellt Wagner die Meistersinger neben den Tristan – die herb-freudige Meisterschaft des Tristan, die durchgegohrne goldhellere Meisterschaft der Meistersinger: von einer solchen Möglichkeit hatten die älteren Musiker gar keine Vorstellung; wenn diese nicht ihre Stimmung, ihre Leidenschaft aussprechen wollten, waren sie steif oder spielten mit den überkommenen melodischen Typen. Besonders muß man Acht geben, wie mitunter die Musik entschieden im Gegensatz zu Wagner's persönlicher Stimmung steht: so ist Hagen als Hochzeitrufer eine der verwegensten Selbstentäußerungen Wagner's. Es versuche nur Einer das nachzumachen, nachdem er erst mit der Seele Partei ergriffen hat! Das Höchste ist vielleicht Mime. Und dann sehe man, wenn es Wunderthaten giebt, wie sehr da die Musik an diese Wunder glaubt, z.B. wenn Siegfried sein Schwert schmiedet: wozu eine Kraft der Entäußerung von der Zeit besteht, wovon unsre "Dichter" auch keine Ahnung haben. Wenn <sie> diese Wunder vorbringen, so schwindeln sie; wie unsere Philosophaster schwindeln, wenn sie sich in "Mystik" tauchen. Das ist aber der Fluch der jetzigen Philosophirer, daß sie sich mit ihrem phantasieleeren nüchternen und zugleich verworrenen Kopfe anstellen, als seien sie zur Mystik überhaupt befähigt; weshalb zu rathen ist, jedem, der mystische Wendungen macht, als einem unehrlichen Gesellen sechs Schritt fern zu bleiben; am wenigstens bedenklich ist es, wenn es nur Verlegenheits-Mystik ist, dort wo der Verstand unsicher wird, das Auge sich trübt, und der Besonnene sich zurückzieht – fast jeder Denker streift an solche Grenzen an. Wagner taucht in fremde Köpfe, Sinne, Zeiten hinein und hinab und macht uns nichts vor. Ein Riese, ein Höhlenwurm, Rheintöchter – das wäre alles für unsre "Dichter" Lügnerei und läppische Tändelei: sie haben den Zauber nicht im Leibe, um die Natur zu beseelen und das Belebten der Welt zu mehren! Es sei nur auf einen Augenblick – aber er war diesen Augenblick verwandelt, und trug den Eindruck davon: man höre, wie die Kröte kriecht!

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Da uns nicht allzu beglückten Menschen dieser Zeit einmal ein ganz großer Mensch geschenkt ist, so sollen wir uns darüber von Herzen freuen und es auch zeigen, daß wir uns freuen; denn hassenswürdig ist die Freude, die keine Genossen sucht, sondern sich in's Kämmerlein versteckt. Vielleicht vermögen wir so das Glück in der Welt etwas zu mehren: und bei dem vielen Haß und Eifer, von dem wir voll sind und häufig genug überfließen, sollten wir doch am wenigsten unser Glück den Andern vorenthalten: es ist unsre Gegengabe, und ich wünsche sehr, daß noch ein Überschuß dabei bleibt. Wenn die Wahrheit meist bitter ist und doch gesagt wird, so wäre es grausam und böse, die süße Wahrheit im Stillen für sich zu verspeisen und Niemandem einen Antheil zu gönnen.

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12. Daß die Kunst nicht die Frucht des Luxus von Klassen oder Einzelnen ist, sondern gerade einer vom Luxus befreiten Gesellschaft zugehört und ihre Entstehung zu verdanken hat, ist der neue Gedanke. Wie eine solche Gesellschaft beschaffen sein müsse, zeigt im mythischen Bilde Wagner in den Nibelungen: wo die Götter vernichtet, die Macht und das Geld seine fluchbeladene Bahn zu Ende gelaufen ist, wo der Geist der Treue, Liebe unter den Menschen herrscht. Die bisherige Kunst ist die Frucht des Luxus (doch nicht die kirchliche); auch die Musik hat einen Antheil daran gehabt und einen spielerischen Charakter erhalten, bis sie durch Beethoven zur Besinnung kam und von Wagner gereinigt wurde. Denn er ist der kathartische Mensch für die Kunst. Es sind wirklich die Armen und Schlechtbegüterten, auch die Wenig-Unterrichteten, an denen Wagner's Kunst ihren festesten Schutz hat. – Wagner hat ganz recht: wo die Politiker und die Weisen aufhören, da fängt der Künstler an, als Seher und Ahner der neuen Gedanken. Die nächste ungeheure Sphäre, die zu erobern ist, ist die Erziehung: und erst, wenn eine genügende Masse Menschen so im Widerspruche zu allen bestehenden Mächten sich fühlen, werden sie auch die Schultern gegen das Gebälk stemmen. Es ist eine sektirerische Kunst und wird eine sektirerische Erziehung sein: aber mit dem höchsten Streben, über die Sekte hinauszukommen. Es liegt in ihrem Wesen, nicht eine Grenze, eine Klasse abzusondern, nur durch äußere Gewalt kann sie eine Zeit Sekte sein. So lange es noch Menschen giebt, die nicht neu erzogen sind, haben die Neu-Erzogenen zu leiden.

„Wir sollen alle Genies sein" Wagner.

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11. Wagner's Prosa-Schriften, außerordentlich gedrängt den Gedanken nach, sind schwer zu verstehen, weil er nicht accentuiren will und weil im größeren Satzgefüge er Hochton und Tiefton nicht gegen einander abwägt; es ist ihm alles so wichtig, als ob alles unterstrichen wäre. Man wird diese Schriften bei weitem deutlicher finden, wenn man sie gut vorgetragen hört: denn sie sind im Sprechstil, nicht im Schreibstil geschrieben. Es ist ein unruhiger Rhythmus in ihnen, eine Ungleichmäßigkeit des Zeitmaßes, wodurch sie, als Prosa, in Verwirrung setzen; die Dialektik ist vielfach gebrochen, durch Gefühlssprünge und oft mit einer Art von Widerwilligkeit vorgetragen, gleichsam versteckt; gleichsam als ob der Künstler sich des begrifflichen Demonstrirens schämte. Am meisten beschwert den nicht ganz Vertrauten die Art der autoritativen Würde, die ganz eigen und schwer zu beschreiben ist: mir kommt es so vor, als ob Wagner häufig gleichsam vor Feinden spreche, mit denen er keine Vertraulichkeit haben mag und denen gegenüber er sich nicht natürlich, sondern zurückhaltend, abhaltend zeigt. Nun bricht häufig genug die fortreißende Leidenschaft durch diesen absichtlichen Faltenwurf hindurch; dann zerbricht die künstliche, schwere und mit Nebenworten reich geschwellte Periode, und es entschlüpfen ihm Sätze und ganze Seiten, die zu dem Schönsten gehören, was die deutsche Prosa hat: so namentlich im Beethoven. Im ganzen fehlte ihm, wenn er Prosa schrieb, der Leser; an das Volk dachte und als Volk fühlte er, wenn er als Künstler schuf; aber als prosaischer Erklärer – an wen richtete er sich da! ja sollte er den „Gebildeten" vor Augen haben, den Gelehrten? Fast mußte er es: und daher das Erzwungene, Sich-zwingende. Die Noth gab ihm seine theoretischen Schriften ein, er schildert es selbst: man nahm ihm ja sein schönstes Mittel, sich mitzutheilen, das Beispiel. Immerhin möchte ich wissen, bis zu welchem Grad der Verwirrung das Reden über Wagner und über Musik gerathen wäre, wenn er nicht geschrieben hätte: und gewissen Schriften wie dem Beethoven, Schauspieler und Sänger, "über das Dirigiren" wohnt eine verstummen machende Kraft bei, wie sich das im Fortgange unserer Gesittung immer deutlicher zeigen muß. Hier ist ein ganz Großer, der von Erlebtem redet: was hätten die Kleinen, die nichts erlebt haben, unsere Aesthetiker und Kunsthistoriker noch zu sagen! Aber selbst die älteren namhaften aesthetischen Schriften sind seitdem im Werthe gesunken; man bedarf jetzt der Wagnerischen Schriften mehr als des Lessingschen Laokoon und der Schillerschen Prosa-schriften. Dabei sind sie reicher, auch leichter zu verstehen als Schiller's aesthetische Schriften, auch viel principieller; und verdienen deshalb viel mehr als die schillerschen an den Schulen und Universitäten gelesen und erklärt zu werden. Sie sind überhaupt die wichtigsten aesthetischen Schriften, die es giebt – schlimm daß man so etwas überhaupt noch sagen muß! Da ist alles – Problem und Lösung – erlebt erlitten und siegreich errungen, kein albernes Heiligsprechen und Schwören auf Aristoteles, wie selbst bei Lessing, tritt dazwischen. Zudem sind sie ein treffliches Übungsmittel in einer der schönsten Aufgaben, einen großen Künstler im Werden zu belauschen, zu sehn, wie er sich selbst verbessert – auch wenn er stolpert, schlägt er noch Feuer heraus -, befreit, verdeutlicht und "verinhaltlicht" aus dem Unbestimmten heraus kommt. Diese Schriften haben gar nichts Kanonisches, Strenges: sondern das Kanonische liegt in den Werken. Es sind Versuche, das Erlebniß zu begreifen, in Begriffen abzuhäuten. Wer es besser kann, thue es besser; es war ein schlimmer Zwang für Wagner, es überhaupt thun zu müssen. Es nahm ihm ja Keiner Zeit seines Lebens eine Last ab.

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Zum Schlusse.

10. Die große Begabung ist das herrlichste Schauspiel von der Welt; wo sie erscheint, wird die Erde zu einem sommerlichen Garten und die Rosensträuche wollen gar nicht zu blühen aufhören. Alles muß ihr zum Heile werden, so schwere Schulen sie auch durchgeführt wird. Sie nährt sich von Gift und wird gesund und stark dabei, wenn ein Andres daran auch verderben sollte. Jede Gefährlichkeit macht sie beherzter, jeder Sieg sie besonnener. Das Gespött der umgebenden Welt ist ihr Reiz und Stachel, sie genießt es wie Lob und Balsam: schläft sie, so "Schläft sie nur neue Kraft sich an"; verirrt sie sich, so kommt sie mit der wundersamsten Beute aus Irrniß und Verlorenheit wieder heim. Sie macht den Leib immer gesunder und zehrt nicht am Leben, je mehr sie lebt; sie waltet über dem Menschen wie eine beschwingte Leidenschaft und läßt ihn gerade dann fliegen, wenn der Fuß im Sande ermüdet oder am Gestein wund worden ist. Sie kann nicht anders als mittheilen, und jeder darf an ihrem Dufte theilhaben; mildthätig und barmherzig ist sie ohne alles Nachdenken, sie sieht die Person nicht an und geizt nicht mit ihren Gaben. Zurückgewiesen, schenkt sie reichlicher, gemißbraucht von dem Beschenkten, giebt sie auch das kostbare Kleinod, das sie hat, noch hinzu; und noch niemals waren die Beschenkten der Gabe ganz würdig: so lautet die älteste und die jüngste Erfahrung. Dadurch ist die große Begabung das räthselvollste Ding, ein Abgrund in dem Kraft und Güte gepaart ruhen, eine Brücke zwischen Selbst und Nichtselbst: wer möchte den Zweck nennen, wozu sie überhaupt da ist? Sollte wirklich das Größere des Geringen wegen vorhanden sein, die größte Begabung um der kleinsten willen, die große Tugend und Heiligkeit um der Gebrechlichen willen? Wäre dies der Fall – nur einen Augenblick gönne man uns so eine überschwängliche Möglichkeit: so würde dies wie ein sonniger Strahl von Liebe sein, in dem das ganze Erdenleben vergoldet glänzte.

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9. Es ist durch Wagner wieder einmal bewiesen, daß der Einzelne, während eines gewöhnlichen Menschenlebens, etwas ganz Neues zeigen kann, daß einem, der auf den Kanon der Allmählichkeit der Entwicklung schwört, Hören und Selen vergeht. Alle begabten Menschen sind sehr geschwind – ich will einmal sehen, wie lange es dauert, bis unsere nichtgeschwinden Zeitgenossen nachgekommen sind; ihr Glaube an die Langsamkeit und an die Ameisen-Arbeit Vieler ist keine Schmeichelei auf ihre eigne Begabung. Von einem solchen Werk wie den Nibelungen, von einem Unternehmen wie dem Bayreuther, gab es keine Vorzeichen, keine Übergänge, keine Vermittlungen. Den langen Weg zum Ziele und das Ziel selbst wußte Keiner außer Wagner; es ist eine Weltumsegelung im Reich der Kunst, wobei, wie es scheint, nicht nur eine neue Kunst, sondern die wahre Kunst selber entdeckt wurde. Alle bisherigen modernen Künste sind dadurch als vereinzelte als Einsiedler- oder Luxus-Künste entwerthet; die halbtodten Erinnerungen an die wahre Kunst, die wir Neueren von den Griechen her hatten, dürfen nun ruhen. Es ist für Vieles an der Zeit, jetzt abzusterben. Alle spielsüchtige verweichlichte Kunst ist tödtlich erschrocken, alle mönchisch-einsame, verkümmerte Kunst erlöst. Das viele Reden und Lärmen, welches die moderne Bildung von der Kunst gemacht hat, wird als eine schamlose Zudringlichkeit empfunden werden, jetzt wo jeder jünger der neuerstandenen Kunst sich zu einem fünfjährigen pythagoreischen Schweigen verpflichtet. Er verlangt nach heiligeren Wassern und nach Weihungen; denn wer hätte nicht an dem widerlichen Götzendienst der bisherigen Kunst Hände und Gemüth besudelt! Schweigen und Reinsein – das gelobt er sich.

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8. Hervorragend ist Wagner's Trieb zur Mittheilung und seine Erfindsamkeit im Mittheilen. Ein Gedanke, wie der seinige, in der höchsten Kraft empfangen und zur Schönheit geboren, würde verurtheilt erscheinen, ein Hirngespinst zu bleiben, wenn Wagner nicht diese biegsame und unersättliche Mittheilbarkeit besäße. Er denkt seinen Gedanken in die jedesmaligen Umstände und Zeiten hinein, und erscheint dann der Ausdruck desselben verkümmert, so ist er trotzdem selbst in Wagner's Kopf und Herz rein und groß geblieben. Wo eine kleine oder bedeutende Gelegenheit sich von Ferne zeigte, seinen Gedanken durch ein Beispiel zu zeigen, war er bereit; wo eine halbwegs empfängliche Seele sich ihm aufthat, warf er seinen Samen hinein. Er knüpft Hoffnungen an, wo der kalte Beobachter mit den Achseln zuckt; er täuscht sich hundertfach, um einmal gegen diesen Beobachter Recht zu behalten – und um auf die Dauer gegen alle Skeptiker überhaupt Recht zu behalten. Die kleinen und großen Orchester, die er führte, die einzelnen Musiker und Schauspieler, denen er ein Wort sagte, die Städte, die ihn im Ernste seiner Thätigkeit sahen, die Fürsten und Frauen, die halb mit Scheu halb mit Liebe etwas von ihm zu erhaschen suchten, die verschiedenen europäischen Länder, denen er zeitweilig angehörte, die auf das Eifrigste weitergesprochenen Nachrichten, die er von seinen Plänen gab (und von denen schon seit Jahrzehnten die aesthetischen Berichterstatter der Zeitungen fast gelebt haben), die Schriften, mit denen er sich half, wenn er nicht zur That kommen konnte, die Schüler, die er sich erzog – überall ein Echo seines Gedankens, oft absichtlich entstellt, aber tausendfältig; und man braucht nicht lange mehr zu warten, so entspricht der Obermacht jenes gewaltigen Tones, den er in die Welt hineinrief, auch die Übermacht des Echos. Dann ist es nicht mehr möglich, ihn nicht zu hören. Während er so durch alle hindurch geht, wird er nicht der Sklave derer, welchen er sich mittheilt: er selber schreitet höher und bleibt nicht im Banne des einmal ausgesprochenen Worts, und überhaupt irgendeiner eigenen Vergangenheit. Man überlege nur, und schaudere bei dieser Überlegung: was stand auf dem Spiele, wenn Wagner jenen Gedanken nie durch ein solches Beispiel hätte zeigen können, wie er es jetzt in Bayreuth zeigt!; und wie groß war selbst die Wahrscheinlichkeit, daß ein Gedanke, von dem die anderen Menschen sich nicht träumen ließen, auch nur ein Traum im Kopfe dessen geblieben wäre, der ihn erdachte, und daß an Stelle von Bayreuth man von einem "Utopien" spräche. Es ist ja erstaunlich, was behagliche Menschen alles Utopien nennen: hier aber wären die unbehaglichtsen und kühnsten Menschen fast im Recht gewesen, von Utopien zu sprechen. Ein höherer Grad von Ekel und Verzweiflung an den Menschen, eine trotzigere Selbstigkeit des Erfinders hätte genügt: und im Grunde haben Wagner's Zeitgenossen auch alles gethan, um ihn zum Ekel zu bringen und in sich selber zurück zu drängen. Aber er wurde nicht müde und blieb gütig in seinem Willen, mitzutheilen.

Er verschmerzte das Ungeschick und die prüde Beklemmtheit, mit der man hier und da sich herbeiließ, seine Kunst zu fördern, als ob der nächtliche Volksauflauf in den Straßen Nürnbergs (in den Meistersingern) durch Ballettänzer wiederzugeben sei; er vertrug es, obwohl oft mit dem bittersten Zwange, daß sein Werk gerade unter den von ihm bekämpften Namen und Formen, in der Entstellung zur "Oper", Besitz von den Menschen ergriff; er erduldete selbst das Herbste – der große Dulder -, seine Freunde von "Erfolgen" und "Siegen" berauscht zu sehen, wo sein einzig-hoher Gedanke gerade mitten hindurch zerknickt und verleugnet war. Zum Entgelt für alle diese tiefsten Nöthe sagte er endlich: mein großes Werk ist fertig, jetzt sollt ihr es sehn – dort auf dem Hügel bei Bayreuth. Das war seine Rache: er theilte sein höchstes Besitzthum mit, den angesammelten Schatz von zwanzig Meisterjahren! – Aber der, welchem gegeben wird, muß auch annehmen können: und der große Sinn des Gebens fordert einen großen Sinn des Nehmens. Hier ist aber der Schatz fast übergroß: um ihn zu heben, mußte Wagner auch seine Kraft, sein Vertrauen, sein Wagen, sein blitzartiges Erfassen, sein treues Benehmen auf uns Alle übertragen: und diese dämonische Übertragbarkeit der ganzen Wagnerischen Natur ist fast noch eben so wunderbar als seine Natur selbst. An jedem Orchester, das Wagner führt, kann man ein Beispiel sehen; die von ihm benannte und zuerst geübte "Modifikation des Tempo's" ist im Grunde die Übertragung des Wagnerischen Seelenrhythmus auf die Seelen der von ihm geleiteten Musiker; und wie so die Seelen der Musiker erlöst und ins Hohe verwandelt sind, ist auch wiederum die Seele der Musik aus dem eisernen Gitterwerk der mathematisch zertheilten Zeit erlöst und redet nun erst vernehmlich zu uns. Und so, wie Wagner sich den Musikern mittheilt, wird sich der Geist und Rhythmus seines Bayreuther Werkes den Schauern und Hörern nittheilen müssen, so daß ihre Seele ausgeweitet, ihre Bogen schon ausgespannt sind, wie nie zuvor: nur dann erst wird das Ungeheure ganz gethan sein, wenn es auch in's Ungeheure wirkt und eine Furche hinter sich aufreißt, welche nicht wieder zugefüllt werden kann. Wohin diese Furche sich reißt, nach welcher Richtung, – wer möchte es ganz errathen? Aber eine Vermuthung, eine einzelne neben anderen, darf jetzt schon laut werden.

(Damit Übergang zur letzten Capitel. anagch, Bedeutung der Kunst, Fortsetzung, ihre Stellung in der wiederhergestellten Gesellschaft, Erziehung.)

11 [36]

Wagner ist groß, damit wir Alle groß werden.

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7. Man könnte auch die Freunde Wagner's zu seinen Gefahren rechnen; es ist höchst wunderbar, wie er fast unbewußt jeder Parteigestaltung sein Lebenlang ausgewichen ist, wie sich andrerseits hinter jeder Phase seiner Kunst ein Kreis von Anhängern zusammenschließt, scheinbar ihn einschränkend. Er geht mitten durch sie hindurch und läßt sich nicht binden. Sein Weg ist zu lang gewesen, als daß so leicht ein Einzelner ihn von Anfang an hätte mitgehen können; und so ungewöhnlich und steil – fast allen ging einmal der Athem aus. Fast zu allen Lebensperioden Wagner's hätten ihn seine Freunde gern dogmatisiren mögen, seine Feinde ebenfalls; und wenn eine geringere Art von Herrschsucht in ihm gewesen wäre, so hätte er viel zeitiger zum Herrn der deutschen Musikzustände werden können.

Der unselige Glaube, daß sich an ihn eine Schule von Componisten anlehnen müsse und werde, ist, wie ich vermuthe, nie der Glaube Wagner's gewesen; wozu er als Musiker erziehn wollte und erzog, das ist zu meisterhaften Dirigenten und Vortragskünstlern, zu wahrhaft dramatischen Sängern. Sonst ist es ja in der Entwicklung der Musik der Augenblick, wo eine bei weitem höhere Kraft und künstlerische Sittlichkeit sich darin offenbart, ein tüchtiger Meister der Darstellung und Ausübung zu werden als wieder fortzucomponiren d. h. das wahrhaft Große in seinen Wirkungen zu verflachen, dadurch daß man es nachmacht und seine Wirkungen vervielfältigt. Es ziemt sich ein viel weihevolleres Befassen mit Musik und gerade deshalb eine Beschneidung des albernen Produktionstriebs; während die Aufgabe, die große Kunst Beethovens und Wagners vorzutragen, eben erst gestellt ist und bei begabtesten Talenten unerhörten Fleiß und Charakter in Anspruch nehmen wird. Sodann das Volk zu erziehn zu dieser Höhe: was wiederum nur durch das Beste geschehn kann. Jetzt freilich hat der widerliche Betrieb unserer gebildeten Musikanstalten jenen größten Skandal nicht verhindert, welchen die Deutschen in der Kunst begangen haben – daß ein großer Krieg eine „Volksweise" als seinen musikalischen Ausdruck fand wie „die Wacht am Rhein"; ein so süßliches und gemeines Ding, daß jeder Landsknecht eines deutschen Heeres davor aus<ge>spuckt hätte. Und dann die Pflege des Männergesangs, wo man das glacirte Volkslied, mit zuckriger Harmonie und Tempokünsten einlernt! und deutsche Sängerfeste feiert, unserer großen Musik ins Gesicht lachend!

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5. Muße und Arbeit bei Wagner: es giebt für große Culturbewegungen immer Raststätten und Ruhepausen, und denen entsprechen auch wohl einzelne Begabungen ganz: so ist innerhalb der weihevollen und keuchenden Reformationsbewegung Montaigne ein solches In-sich-zur-Ruhe-kommen ein friedliches Dasitzen und Ausathmen; so las ihn gewiß Shakespeare. Ich empfinde mitunter diese Wohlthat bei Horaz, und es giebt Stimmungen, in denen solche Sätze eine zauberhafte Sänftigung in sich tragen. So weilt Wagner in der Historie; und es ist kein Zweifel, daß ihr heute diese Mission zufällt, im ungeheuren Ringen nach neuen Zielen einmal aufathmen zu können und sich gleichsam abgeschieden zu fühlen. Wenn die Deutschen seit einem Jahrhundert besonders den historischen Studien obgelegen haben, so zeigt dies, daß sie in der Bewegung der modernen Zeit die aufhaltende hemmende verzögernde und beruhigende Macht sind: was vielleicht Einige zu ihrem Lobe wenden dürften. Im Ganzen ist es ein höchstgefährliches Anzeichen, wenn das geistige Ringen eines Volkes vornehmlich der Historie zugewandt ist, ein Merkmal von Erschlaffung, von Rück- und Hinfälligkeit, von Müdegewordensein; dies stellen unsere Gelehrten in der Geschichte des modernen Geistes dar im Gegensatz zu allen Reformations- und Revolutions-Bewegungen, sie haben sich nicht die stolzeste Aufgabe zugestellt aber eine eigene Art friedfertigen Glücks sich gesichert. Jeder freiere männlichere Schritt führt freilich an ihnen vorüber, ein schaffender Mensch kann sich bei ihnen nur, wenn er einmal müde ist, aufhalten. So verhält sich Wagner zur Historie und Philologie; sie ist ihm ein Labsal auf der ungestümen Reise. Vielleicht wird die Historie dies nicht einmal sein können, wenn sie, wie es einst geschehen muß, in einem strengeren und tieferen Sinne und aus einer mächtigen Seele heraus geschrieben wird, als die deutschen Gelehrten bis jetzt gethan haben: es liegt etwas Beschönigendes, Unterwürfiges und Zufriedengestelltes auf allen ihren Arbeiten, und der Gang der Dinge ist ihnen recht. Es ist schon viel, wenn einer merken läßt, daß er gerade noch zufrieden sei weil es noch schlimmer hätte kommen können, die Meisten glauben unwillkürlich daß alles sehr gut sei, so wie es nun einmal gekommen ist. Wäre die Historie nicht immer noch eine verkappte christliche Theodicee, wäre sie mit mehr Gerechtigkeit und inbrünstigem Mitgefühl geschrieben, so würde sie zu einem furchtbaren Werkzeug der Revolution: während sie jetzt als Opiat gegen alles Umwälzende gedient hat. Ähnlich steht es mit der Philosophie; aus welcher ja die Meisten nichts andres lernen wollen als die Dinge ungefähr zu verstehen, um sich dann in sie zu schicken: und selbst in ihren edelsten Gestaltungen wird ihre stillende und tröstende Macht so stark hervorgehoben, daß die Ruhesüchtigen und Trägen meinen müssen, sie suchten das selbe, was die Philosophie suche. Mir scheint dagegen die wichtigste Frage aller Philosophien zu sein, wie weit die Dinge einen unabänderlichen Charakter haben: um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die Verbesserung der als veränderlich erkannten Seite der Welt los zu gehen. Das lehren sie auch selber durch die That, dadurch daß sie an der Verbesserung der sehr veränderlichen Einsicht der Menschen arbeiteten und ihre Weisheit nicht für sich behielten; das lernen auch die wahren jünger wahrer Philosophien: welche, wie Wagner, aus ihnen nur gesteigerte Tapferkeit und Entschiedenheit für ihren Gang aber keine Einschläferungssäfte zu saugen verstehen. Wagner ist dort am meisten Philosoph, wo er am thatkräftigsten und heldenhaftesten ist; und vielleicht giebt es keine kühnere Symbolik für das heldenhafte und philosophische Verhalten zur Welt als das Wort Siegfrieds zu den Rheintöchtern, als er die Erdscholle über sein Haupt wirft „so werf ich es weit von mir." Es ist dies die Philosophie, welche die Götter vernichtet, an der Wotans Speer zerschellt.

11 [39]

6. Wie er als Lernender dann wieder Herr wird über das Erlernte in Hinsicht auf Historie. Überkommt Wagner dann wieder seine bildende Kraft, dann ist ihm die Historie etwas anderes geworden; die Vergangenheit hat sich gleichsam geballt, verdichtet; er steht zu ihr wie der Grieche zu seinem Mythus, als zu etwas, an dem man mit Liebe und scheuer Andacht formt und weiterspinnt; sie ist biegsamer wandelbarer als eine Wirklichkeit geworden und trägt doch mehr Zeichen der einstmaligen Wirklichkeit als irgend ein vergangnes Ereigniß. Wo ist das ritterliche Mittelalter so mit Fleisch und Geist in ein Gebilde übergegangen, wie dies im Lohengrin geschehen ist? Und werden nicht die Meistersinger noch zu den spätesten Zeiten von dem deutschen Wesen erzählen, ja mehr als erzählen: werden sie nicht vielmehr eine der reifsten Früchte jenes Wesens sein, das immer reformiren, nicht revolviren kann und das auf dem breiten Grunde seines Behagens auch das edelste Unbehagen der erneuernden That nicht verlernt hat?

Zu erinnern, wie allein in der Musik überhaupt das völlig-Gelehrtenhafte überwunden ist – es ist der höchste Triumph des modernen Geistes, und der erste Musiker Wagner zeigt wieder in nuce dieselbe überwindende Kraft.

11 [40]

4. Die Sprache der Dichtungen. Wagner leidet an der Entartung und Schwächung unserer Sprache, an den Sünden und Verlotterungen früherer Jahrhunderte, an den Hülfszeitwörtern, den vielfältigen Verlusten und Verstümmelungen der Casusbezeichnungen, an dem schwerfälligen Partikelwesen unserer Syntax: während er mit tiefem Stolze sich der uralten Ursprünglichkeit und Unerschöpflichkeit, der tonvollen Kraft ihrer Wurzeln erfreut, an welchen er, im Gegensatz zu den höchst abgeleiteten und künstlich-rhetorischen Sprachen der romanischen Stämme, eine wunderbare Nähe und Vorbereitung zur Musik, zur wahren Musik empfand. Es geht eine Lust an dem Deutschen durch Wagner's Dichtungen, eine Herzlichkeit und Freimüthigkeit im Verkehre mit ihm, wie so etwas außer bei Goethe wohl bei keinem Deutschen sich nachfühlen läßt. Man sollte jedes Wort singen können, und Götter und Helden sollten es in den Mund nehmen: das war eine ungeheure Anforderung, die Wagner an seine sprachliche Phantasie <stellte,> bei der jeder Andere hätte verzagen müssen: denn unsere Sprache ist fast zu betagt und verwittert; und doch rief sein Schlag mit dem Stabe gegen den Felsen eine reichliche Quelle hervor. Verwegene Gedrängtheit, Leiblichkeit des Ausdrucks, Gewalt und rhythmische Vielartigkeit, ein merkwürdiger Reichthum von starken und bedeutenden Wörtern, Vereinfachung der Satzgliederung, eine fast einzige Erfindsamkeit in der Sprache des wogenden Gefühls, der Ahnung, eine mitunter ganz rein und frisch sprudelnde Volksthümlichkeit und Sprüchwörtlichkeit – solche Eigenschaften würden aufzuzählen sein, und doch wäre dann immer noch die mächtigste und wunderwürdigste vergessen. Wer hintereinander zwei solche Dichtungen, wie Tristan und die Meistersinger liest, wird in Hinsicht der Wort-Sprache ein ähnliches Erstaunen empfinden müssen, wie hinsichtlich der Musik: wie nämlich es möglich sei, über zwei Welten, so verschieden an Farbe Form Figur als an Seele, schöpferisch zu gebieten. Dies ist das Mächtigste an der Wagnerischen Begabung, etwas was nur einem großen Meister gelingen wird: für jedes Werk eine eigenartige Sprache auszuprägen und der neuen Innerlichkeit auch einen neuen Leib, einen neuen Klang zu geben. Gegenüber einer solchen allerseltensten Macht, wird der Tadel immer nur kleinlich und unfruchtbar bleiben, der sich auf einzelnes Übermüthiges und Absonderliches oder auf die häufigen Dunkelheiten bezieht; für die freilich, welche bisher am lautesten getadelt haben, war im Grunde nicht sowohl die Sprache als die Seele, die Art zu empfinden und zu leiden anstößig, nämlich ganz und gar unzugänglich und unerhört. Wir wollen warten, bis diese selber eine andere Seele haben, dann werden sie selber auch eine andere Sprache sprechen: und dann wird es, wie mir scheint, auch mit der deutschen Sprache überhaupt besser stehn als es jetzt steht: etwas Wagnerischer nämlich, und nicht mehr so David-Straussisch!

11 [41]

2. Der rhythmische Sinn im Großen. Die Anlage jedes Wagnerischen Dramas ist von einer Einfachheit, welche noch größer ist als die der antiken Tragödie; und dabei ist die dramatische Spannung die höchste. Dies liegt in der Wirkung der großen Formen, ihrer Gegensätze, ihrer einfachen Bindungen, das ist das Antike an dem Bau dieser Dramen. – Man durchdenke die Einleitungen der drei einzelnen Akte, das Verhältniß der drei Akte zu einander; hier zeigt sich eine schlichte Größe des Baumeisters, welche in der neueren Dichtung überhaupt nicht ihres Gleichen hat. Die Spannung beruht auf den Höhenverhältnissen der Leidenschaften, niemals auf dem Effekt des neuen und überraschenden Schauspiels. Ich wünschte mir den Grad von rhythmischer Augen-Begabung, um über das Ganze Nibelungenwerk in gleicher Weise hinschauen zu können, wie es in einzelnen Werken mir mitunter gelingt: aber ich ahne da noch eine besondere Gattung rhythmischer Freuden des höchsten Grades. Die Rheintöchterscene mit Siegfried im letzten Akt des letzten Dramas und die Rheintöchterscene mit Alberich im ersten Akt des ersten Dramas, der Liebesjubel der sich findenden Siegfrieds und Brünnhildens im letzten Akt des Siegfried und der Abschiedsjubel der sich Trennenden im ersten Akt der Götterdämmerung usw. Dann wieder die Nornenscene im Anfange des ersten Akts (Vorspiels) der Götterdämmerung. Im Tristan Liebessehnsucht (2. Akt), Todessehnsucht im dritten Akt. Im einzelnen Akt ist der Schluß oftmals (Tristan 1, Walküre 1, Siegfried 1) ein Sich-stürzen eines Stromes mit immer schnellerem Rauschen, die zunehmende Breite und zugleich Schnelligkeit der Empfindung, mit der höchsten Sicherheit. Andre Akte haben eine Katastrophe und darauf eine Erschütterung und Stillstehen der Empfindung über das Ungeheure, was geschehen: so Marke im 7ten Akt des Tristan; der Zug der Mannen mit Siegfrieds Leiche.

11 [42]

3. Ein heftiger Wille, der gleichsam auf allen Wegen, Höhlen und Schluchten ans Licht will, springend, kletternd, fliegend, wild an die Wände stoßend und flatternd; eine jähe elementare Strömung, die unbefriedigt nach allen Seiten über das Strombett hinausschießt; eine auf verborgenen Felsen unruhig ruhende, wund und wild gewordene Meeresgottheit, die am Sturme mehr Lust hat als an der glatten Spiegelung des Himmels – dies ist die eine Seite der Wagnerischen Natur, furchtbar und friedlos, sich und anderen zur Qual (mir gab die Norn den Geist, der stets "unbefriedigt"). Dieser Wille, mit einem engen Geiste verbunden und zufällig Macht gewinnend, wäre ein Verhängniß geworden. Nur ein ganz hoher und freier Geist konnte dieser wilden Natur einen Weg ins Gute und Hülfreiche weisen und sie davor bewahren, daß sie gegen sich selber zerstörerisch wüthete. Dieser Geist, der sich auf Wagner niederließ, und der wie eine Flamme dem hin und her geworfenen Seefahrer beim Unwetter die Richtung zeigte, war der Geist der Musik; er führte ihn, ohne ihn erst in Fesseln geschlagen zu haben; wie es zum Beispiel der Geist der Politik gethan haben würde, wenn er sich mit einer solchen Natur hätte paaren wollen. So durfte er frei bleiben, denn es war ein liebevoller mit Güte und Süßigkeit überschwänglich mild zuredender Geist, dem die Gewaltthat und das Machtwort verhaßt ist und der Niemanden in Fesseln sehen will. Es gab Stunden und Zeiten, wo ihn auf eine schreckliche Weise der Zweifel heimsuchte, ob ihm dieser Geist noch treu geblieben sei; und wenn er dann seinen edel-mächtigen Flügelschlag um sich fühlte, so drang eine tiefe heiße Dankbarkeit und eine Fülle von ungesprochenen Gelöbnissen zu ihm empor: Treue gegen den Geist der Musik wurde seine Religion. – Wie aber die Musik zu Wagner's Willen redete, erschließen wir zu halbem Wege daraus, wie Musik zu uns spricht: wer könnte aber hierüber ganz deutlich reden? Genug, daß fast alle andere Musik uns – nicht bloß mir: denn ich brauche wahrhaftig nicht von mir allein zu reden – daß fast alle andere Musik uns nur wie eine veräußerlichte befangene unfreie Sprache klingt, als ob gespielt werden sollte, vor solchen, die des Ernstes nicht würdig wären oder als ob gelehrt und demonstrirt werden sollte, vor solchen, die nicht einmal des Spieles würdig wären. Es giebt in aller andren Musik eben nur kurze Stunden, wo plötzlich jene Sprache zu uns dringt, die wir immer in Wagner's Musik hören: seltne, sie gleichsam überfallende Augenblicke der Vergessenheit, wo die Musik mit sich selber redet und den Blick aufwärts richtet, wie die Rafaelsche Caecilia, weg von den Hörern, die Zerstreuung und Lustbarkeit oder Gelehrsamkeit von ihr fordern. Ich wüßte nicht, auf welchem Wege ich je des reinsten sonnenhellen Glücks theilhaftig geworden wäre als durch Wagner's Musik: und dies obwohl sie durchaus nicht immer vom Glück redet, sondern von den furchtbaren und unheimlichen unterirdischen Kräften des Menschentreibens, von dem Leiden in allem Glücke und von der Endlichkeit unseres Glücks; es muß also in der Art, wie sie redet, das Glück liegen, das sie ausströmt. – Man rechne nur nach, woran Wagner seine eigentliche Lust und Wonne hat, an was für Scenen, Conflikten, Katastrophen – da begreift man, was er ist und was die Musik für ihn ist. Wotan's Verhältniß zu Siegfried ist etwas Wundervolles, wie es keine Poesie der Welt hat: die Liebe und die erzwungene Feindschaft und die Lust an der Vernichtung. Dies ist höchst symbolisch für Wagners Wesen: Liebe für das, wodurch man erlöst gerichtet und vernichtet wird; aber ganz göttlich empfunden!

11 [43]

Bei strömendem Regen und verfinstertem Himmel war der Grundstein gelegt worden. Im Zurückfahren zur Stadt schwiegen wir und Wagner sah mit einem Blick in sich lange hinein, der mit einem Wort nicht zu bezeichnen ist. Er begann an diesem Tage sein sechzigstes Lebensjahr. Ein beschleunigtes zusammendrängendes Schauen.

Alexander, der Asien und Europa kredenzt – sein innerer Blick – dies zu sehen!

Ich möchte diesem innerlichen Schauen nachschauen: von da aus nimmt sich das Bayreuther Werk am wundervollsten aus.

Die welche fallen, sollen in unglaublicher Schnelligkeit ihr ganzes Leben an sich vorüber fliegen sehen. So auch die, welche in einem bestimmten Ereigniß ihr Lebenswirken besiegeln: die Bedeutung des Grundsteins. Dieses unendlich beschleunigte innerliche Schauen Wagner's ist gewiß das höchste Schauspiel.

Wagner geschildert, wie er auf sein Werk in Bayreuth blickt: die Qual und Besorgniß vom ersten bis letztem Augenblick, das Gift in der Verunstaltung der Grundgedanken, es ist so vieles abzuwägen gegen einander!

Das Gefühl Wagner's, als der Grundstein gelegt war. Wer sein Gefühl bei der Aufführung zu dem Wagner's concentriren kann, hat gewiß das Höchste mit hinweg genommen.

11 [44]

Ein großes Ereigniß ist nur für den großen Beobachter groß. Das Bayreuther Ereigniß macht mir Sorge: wo sind die Augen, um alles zu sehen? Zumal ist vielleicht das höchste Schauspiel, Wagner selbst, erst von einer viel weiteren Warte zu überschauen. Und doch, um uns nun ganz freuen zu können, müssen wir nicht nur von uns aus, sondern von Wagner aus auf diese Bayreuther That schauen, uns in ihn versetzen.

11 [45]

1. Die Deutschen sind ein lernendes Volk; und wenn ausnahmsweise einmal eine große Begabung unter ihnen auftritt, so zeigt sie auch diese Begabung in einem Maaße, das für andere Völker unbegreiflich ist. Wagner's Kunst und Wollen bleibt gegenwärtig für Nichtdeutsche schon deshalb etwas Unbemeßbares, weil sie auf eine solche Polyphonie des verschiedenartigsten Wissens an ihren Künstlern nicht eingewöhnt sind und weil sie sich überhaupt schon durch die weite Spannung des deutschen Wissens noch mehr belästigt als verwundert fühlen. Um ein Meister in der Musik zu werden ist jetzt fast jedes Menschenleben schon zu kurz: man lernt kaum aus, wenn man sich das Gebiet zertheilt und zum Beispiel sein Vollenden in der Kunst des Vortrags sucht. Wagner wurde ein allseitiger Meister der Musik und der Bühne und in jeder ihrer technischen Vorbedingungen ein Erfinder und Mehrer. Aber er wurde viel mehr: und um dies zu werden, war es ihm so wenig wie irgend jemandem erspart, auf dem Gebiete, wo er schaffen und erfinden sollte, sich lernend die höchste Cultur anzueignen. Wagner der Erneuerer des einfachen Drama's, der Entdecker der Stellung der Kunst in der wahren menschlichen Gesellschaft, der dichtende Erklärer vergangener Lebensbetrachtungen, der Philosoph, der Historiker, der Aesthetiker Wagner, der deutsche Mytholog, der zum ersten Male einen Ring um das herrliche uralte Gebilde schloß und die Runen seines Geistes darauf eingrub – welche Fülle von Wissen hatte er zusammen zu bringen und zu umspannen, um dies alles werden zu können! Und doch erdrückte weder diese Summe seinen Willen zur That, noch leitete das Einzelne und Anziehendste ihn abseits; um das Ungeheure eines solchen Charakters zu messen, nehme man zum Beispiel das große Gegenbild Goethes, der wie ein vielverzweigtes Stromnetz erscheint, welches aber seine ganze Kraft nicht zum Meere trägt, sondern mindestens eben so viel auf seinen Wegen und Krümmungen verliert und verstreut als es am Ausgange mit sich führt. Es ist wahr, ein solches Wesen hat und macht mehr Behagen, es liegt etwas Mildes und Edel-Verschwenderisches um ihn herum: während Wagner's Kunst und Stromgewalt vielleicht erschrecken und abschrecken kann. Mag aber sich fürchten, wer will: wir Anderen wollen dadurch nur um so muthiger werden, dadurch daß wir einmal einen Helden mit Augen sehen, der "das Fürchten nicht gelernt hat". Er geht nicht nur durch das Feuer, sondern auch durch den Dampf des Wissens und der Gelehrsamkeit hindurch und findet sein ihm vorbestimmtes Werk.

11 [46]

Wagner in Bayreuth – ein Schauspiel bei dem Schauspiel!

A. Was er ist und wie er es ward. Musiker Dichter Schriftsteller. Das Improvisatorische. Ethisches. Gefährliches.

B. Was er kann.

1. Macht (1 abschließend 2 adstringirend 3 gesetzgeberisch 4 mittheilend).

2. Nachwirkung (die neunte Symphonie, das anscheinend Reaktionäre, "die heroisch Weisen", die anagch).

Der Philolog

das Deutsche

Selbsterziehung

die Dramen

die Sprache

der Dichtung

die Harmonie

das Plastische.

Macht Wagner's 1) abschließende

2) adstringirende

3) gesetzgeberische, in Massen organisirende

4) mittheilende.

11 [47]

Einleitung. Von wo aus ist das Bayreuther Ereigniß zu betrachten?

Etwas Neues in einem Leben – Schweigen – Reinsein 9. Wagners Blick.

Werden. Das sittliche Grundwesen 3: Gegensätze, Treue 15. 32. Geist der Musik.

Der Lernende 1: Historie vom Künstler bezwungen 6. Gefahren 33. Beförderndes 7. Unzeitgemäßes 22.

Sein und die Machtäusserung (Polyphonie und Einheit seiner Machtäusserungen).

Polyphonie der Begabung (Wirkung des dionysischen Willens, der überall heraus will). Die große Begabung zum Schluß?

Das Schauspielerische (wenn man von einem Defekt einmal alles erklären wollte).

Das Improvisatorische – Selbstentäußerung 13.

Entwicklung der Musik der Leidenschaft und des Drama's 24.28.29.

Der Dichter 23. Der Dialog.

Der rhythmische Sinn im Großen 2. Keine Wolkengebilde, wie es zuerst erscheint.

Der Ausruhende: Historiker und Philosoph 5.

Reichthum seiner Gestalten, an denen er mit tiefer Innigkeit hängt!

Der Prosaiker 11.

Der Mittheilende 8.

Das Demosthenische 14.

Sprache der Dichtung 4.

Wagner in den Wiederholungen am schönsten (Liebessce<nen>, Fragen usw., dieselben Motive – Trauermarsch).

Das Abschließende 17.

Gegen-Alexander, das Adstringirende 20. Historie bezwungen 6.

Organisator von Massen 25.

Volksthümliches 30. 31.

Die große Begabung 10.

Zukunft. Kunst und anagch 21. 35.

Reform des Theaters – nichts Geringes. Gesellschaft in Bayreuth und sonst 19.

Unterjochung 18.

Wagner's Diadochen 16.

Schmach der modernen Kunst 36.

Keine Luxus-Kunst: Reform der Gesellschaft 12.

Gefährliche Nachwirkungen. Naturalismus 27.

Componistenschule.

Überflüssiges in der Kunst 26.

Anscheinend reaktionäre Elemente 34.

Sammlung von großen Gestalten und Scenen.

Neunte Symphonie und Schluß der Nibelungen.

Er wird sein: der Seher einer neuen Ordnung.

Man denke sich die Ergriffenheit einer Gesellschaft, die Ernst gemacht hat mit der Abschaffung der Macht und der Lüge und nun das Werk schaut! Wer diesen Augenblick schauen könnte, würde für alles jetzige erblinden.

11 [48]

3. Die Urstimmung des dithyr<ambischen> Dram<atikers>.

4. Wort Melodie Gebärde.

5. Rhythmus im Großen.

6. Der Dichter.

7. Der Musiker.

8. Abschließendes Adstringirendes.

11 [49]

2. Es wird absichtlich versucht: Ableitung des Einflusses – wohin alles:

A) in's rein Aesthetische und Schilderung der Anhänger

Fade (oder Regellose) Gefahren der Nachahmung

B) in's Compromittirende Politische usw.

und Gefährliche. Anti-Wissenschaftliche

Religiös-Restaurative

Unsittlich-Caressiren

11 [50]

– gegen den Hochmuth der Wissenden und ihre Albernheit (über Phantasierecht, Eckermann, p. 251) nimmt er die Partei des Volks: er verbindet, er erinnert an die Unmöglichkeit eines Lebens im Wissen.

– davon weiß ich eine Viertelstunde eher was als viele; aber wenn ich alt bin, werde ich mit Allen etwas Gemeinsames haben.

11 [51]

Wer so glücklich ist, sich darüber Rechenschaft geben zu können, was Wagner ist, der hat auch bis zu irgend einem Grade an dem unvergleichlichen Glück theilgenommen, das Wagner selbst in sich trägt: an dem Glück seiner Begabung. Diese ist ein aufwachsender Wald, ein Aufschießen der mannichfaltigsten Kräfte, die sich gegenseitig in Schranken halten, so daß sie freudig und geradezu aufwärts steigen und alle zusammen ein Ganzes bilden. Einheit im Verschiedenen fühlen, um das Verschiedene innig zu lieben – das ist sein Geheimniß: sein Auge ist von Natur auf Beziehungen gerichtet, nicht nur auf die Beziehung der Künste zu einander, sondern auch auf die Verbindung von Staat Gesellschaft und Kunst: also im stärksten Maaße darf ihm eine gesetzgeberische Befähigung zugesprochen werden. Er übersieht große Verhältnisse mit einem Blick und läßt sich nicht durch das Kleine befangen.

Wie die innere Schauwelt des Epos der Plastik vorausgehen muß, so auch die innere Nachahmungs-welt der Musik der Schauspielkunst.

Ein leidenschaftliches Verlangen nach Luxus und Glanz in Wagner: gerade von da aus war er befähigt, diesen Trieb im Innersten zu verstehn, zu verurtheilen. Sein äußeres Leben verhielt sich zu diesem Hange wie ein neckendes Possenspiel mit seinem Wechsel von Dürftigkeit und Luxus. Mit der Kunst des Luxus kritisirte er sich selbst und durchschaute sich.

11 [52]

Als Musiker. Das Demosthenische.

Als Dichter. Sprache.

Prosaschriften.

Wirkung im Unterjochen der Gegner.

Abzuschließen, überflüssig machen.

Das Improvisatorische.

Trieb zur Mittheilung.

Freunde Wagners.

Er vermacht sein Reich an den Stärksten.

11 [53]

Mittheilung an die Freunde (ohne unterjocht zu werden), an die Feinde (unterjochend).

Abzuschließen.

Und wie es seinen Freunden nicht gelang, ihn mit ihrer Liebe zu unterjochen, so gelang es seinen Feinden nicht, sich durch ihre Feindschaft gegen das Unterjochtwerden zu schützen.

11 [54]

Wagner als Musiker.

Als Dichter. Sprache.

Rhythmiker.

Prosa-Schriftsteller.

Wagner zu Geschichte und Philosophie.

11 [55]

Musiker

Dichter

Mittheilender

Schriftsteller

für Freunde

Erzieher

Diadochen.

11 [56]

Was Wagner sein wird? –

der Gott will Macht: Verträge Schuld Unfreiheit

er sucht einen Helden, der frei für ihn kämpfe (gegen ihn), um seine Macht zu behaupten

Wandlung des Willens. –

nachher: nur um seine Schuld los zu werden.

Als Siegfried stirbt, wird Wotan seine Schuld ledig und wählt den Untergang.

11 [57]

Das was die Musik schon ahnt, das erfährt der Held erst an einem Ende seiner Bahn: sein Leben, der bemitleidenswertheste Vorgang der Welt, die Musik, die die mitleidigste Sache derselben ist, folgt ihm auf jedem Schritt. Wie vermag sie das? – Dies zu begreifen, müssen wir in das Wesen des dithyrambischen Dramatikers einen Einblick zu erlangen suchen. –

11 [58]

§ 6. Das Improvisatorische. Der dithyrambische Dramatiker.

Aber die Beethovensche Musik mußte vorangehn: die der unpersönlichen Leidenschaft.

§ 7. Der Musiker. Demosthenischer Rhythm<us->Sinn.

§ 8. Dichter und Schriftsteller. Mittheilung in Form des Rückblicks.

§ 9. Reiniger der Kunst, Reiniger seiner selbst: der „Kunstfreund" beseitigt. Die große Begabung.

§ 10. Diadochen. Mißverständnisse gefährlich: das anscheinend Reaktionäre – das anscheinend Naturalistische.

§ 11. Der Ring des Nibelungen.

11 [59]

Luxus-Kunst. Verwendung der Mittel zu unwahren Bedürfnissen. Abschwächung der wahren Bedürfnisse. Trennung der Menschen von einander. Überarbeitung vieler Menschen, um den Scheinbedürfnissen zu genügen, während die wahren Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Die sociale Frage ist die Fortexistenz des Luxus, d.h. des Unnöthigen und Überflüssigen und Unbefriedigenden im Verhältniß der Arbeit zur Kunst. Das praktische Gegenmittel ist der Cynismus der Schlichtheit auf der einen Seite (<1.> negativ: zum Beweise, daß man nicht jene Scheinbefriedigung nöthig hat; 2. Positiv: das Drama – – –

11 [60]

1 Als Lernender (Treue).

2 Der rhythmische Sinn im Großen.

3 Heftiger Wille und Geist der Musik (Treue).

4 Sprache der Dichtung.

5 Muße und Historie und Philosophie.

6 Historie vom Künstler bezwungen (Treue).

7 Freunde Wagner's als Gefahr. Keine Komponisten-Schule.

8 Talent der Mittheilung (Übergang zum Schlußcapitel).

9 Etwas Neues in einem kurzen Leben. Schweigen und Reinsein.

10 Die große Begabung.

11 Prosaschriften.

12 Keine Luxuskunst: Reform der Gesellschaft.

13 Improvisatorisches – Selbstentäußerung.

14 Das Demosthenische, Verachtung gegen die bisherigen Kunstfreunde.

15 Die ethische Entwicklung, Treue Hauptbegriff.

16 Wagner's Diadochen. Vieles sehr schwach.

17 Das Abschließende, er macht manchen Gelehrten überflüßig.

18 Unterjochung der Widerwilligen.

19 Reform des Theaters, in wiefern nichts Geringes. Die Menschen in Bayreuth und ihr Gegensatz sonst.

20 Gegenalexander, das Adstringirende, Vereinfacher der Welt.

21 Kunst und anagch.

22 Wagner nicht zeitgemäß. Was hat ihn gefördert!

23 Der Dichter am Schluß der Religionen.

24 Entwicklung der Musik der Leidenschaft und des Dramas. Schluß mit dem Stoffe des Nibelungenmythus.

25 Organisator von Massen.

26 Das Überflüssige in der Kunst.

27 Gefahr des Naturalismus nach Wagner.

28 Langathmige Leidenschaft.

29 Verflochtene Leidenschaft, vielköpfig.

30 Das Volksthümliche (zur Prosa).

31 Volksthümlich im Verhältniß zu Goethes Faust.

32 Die Liebe empedokleisch.

33 Das Gefährliche in Wagner.

34 Reaktionäre Elemente.

35 Kampf mit der anagch.

36 Schmach der modernen Kunst.

Dramatiker – dämonische Mittheilbarkeit

doppelseitig 1 sich anderen

2 andere sich (Selbstentäußerung).

Musiker.

Dichter.

Darsteller.

Gesammtorganisator.

 

[Dokument: Heft]

[Sommer bis Ende September 1875]

12 [1]

Einfluß der Oresteia. Vordramatischer Theil.

Die Linie der Geschlossenheit höchster Art in der Form bis zu einem Spiele wie mit zarten Wolken, bei keinem Componisten.

Die Unruhe des Menschen in Ämtern, deren Unvereinbarkeit er durchschaute.

Das Publikum hat Wagner doch anders beurtheilt als ich meinte.

12 [2]

Wagner hat ein großes Reich Innen-Natur aufgeschlossen auch historisch und über die ganze Entstehung der Kunst einsichtig gemacht.

In einer entnüchterten Welt weist er auf die Kräfte hin, woraus alles Gute und Große selbst für diese entnüchterte Welt gewachsen ist.

Er läßt einen neuen Strom solcher Urkräfte über uns hinströmen und zeigt die Unversiegtheit der inneren Quelle der Mensch<en->Natur.

12 [3]

Es giebt vielleicht ein paar ganz unaufmerksame Leute, die jetzt noch gar nichts von Bayreuth und den Dingen, welche sich jetzt an diesen Namen knüpfen, wissen: und dann zahllose, die viel Falsches davon wissen und erzählen. Aber auch das Wahre und Herrliche, was davon zu berichten bliebe, wie matt lebt es in den Empfindungen und Worten derer, die ehrlich genug sind, es anzuerkennen: und wiederum, wie unaussprechbar muß es ebendenselben erscheinen, welche ganz von dem Feuer jenes Geistes durchglüht sind, der hier zum ersten Mal zu der Menschheit reden will. Zwischen den Schwachempfindenden und den Sprachlosen stehe ich selber in der Mitte: dies zu bekennen ist weder vermessen noch allzubescheiden, sondern nur schmerzlich: weshalb gerade das, braucht Niemand zu wissen. Wohl aber entnehme ich aus meiner Mittenstellung ein Gefühl von Pflicht, zu reden und Einiges deutlicher zu sagen, als es bis jetzt in Bezug auf diese Ereignisse geschehen ist. Ich verzichte aus Noth darauf, die sehr verschiedenen Erwägungen, zu denen ich mich gedrängt fühle, in Form und Zusammenhang zu bringen; man könnte wohl den Eindruck eines Ganzen und Geschlossenen mit einiger Kunst der Täuschung hervorbringen: ich will ehrlich bleiben und sagen, daß ich es jetzt nicht besser machen kann, als ich es hier mache, ob ich es freilich schlecht genug mache.

12 [4]

Zukunft von den Bayreuther Sommern: Vereinigung aller wirklich lebendigen Menschen: Künstler bringen ihre Kunst heran, Schriftsteller ihre Werke zum Vortrage, Reformatoren ihre neuen Ideen. Ein allgemeines Bad der Seelen soll es sein: dort erwacht der neue Genius, dort entfaltet sich ein Reich der Güte.

12 [5]

Wagners Musik macht den Eindruck erhabener Arbeit, im Vergleich zu der flacheren Manier der älteren.

Das „Unbeugsam-Unbändige".

12 [6]

Wagner's Nachwirkung – alle Gefahren, denen er als Künstler entgieng, wird man völlig erst erkennen, wenn es Nachahmer geben sollte – hier ist nun aufzuzählen.

12 [7]

Erst glauben wir einem Philosophen. Dann sagen wir: "mag er in der Art, wie er seine Sätze beweist, Unrecht haben, die Sätze sind wahr". Endlich aber: es ist gleichgültig, wie die Sätze lauten, die Natur des Mannes steht uns für hundert Systeme ein. Als Lehrender mag er hundertmal Unrecht haben: aber sein Wesen selber ist im Recht; daran wollen wir uns halten. Es ist an einem Philosophen etwas, was nie an einer Philosophie sein kann: nämlich die Ursache zu vielen Philosophien, der große Mensch.

12 [8]

Wie durch Wagner die aesthetischen Gegensätze „subjektiv", „objektiv", romantisch, klassisch, naiv, sentimentalisch ganz aufgehoben sind; sie passen nicht.

12 [9]

– – – schreiben: zu Goethe's Zeit regierte ganz Andres.

Degeneration: jetzige Dichter und Litteraten, junges Deutschland, Romantik, Goethe.

Progeneration: Luther Goethe Schiller Schopenhauer Beethoven Wagner.

Fortpflanzung des deutschen Wesens hoch über allem (Nach-Luther).

Was die Kunst in unsrer Zeit ist. Meistens etwas Entwürdigtes oder Einsiedlerisch-Selbstisches.

Was ist Bayreuth?

Nichts Harmloses.

Stellung der Kunst zur anagch.

Vielleicht übertreibt unsere Empfindung etwas: wir sind genöthigt, zuviel Nöthe durch Eins wieder gut zu machen, durch Bayreuth.

Die Kunst ist jetzt im Geblüte einiger Menschen so mächtig geworden, um nun auch ihr Verhältniß zur übrigen Welt zu bestimmen.

Das ist eine Revolution, was jetzt in Bayreuth vor sich geht, die Constitution einer neuen Macht, die fern davon ist, sich nur aesthetisch zu fühlen.

Für den tieferen Blick ist es nichts Revolutionäres: sondern der Fortgang des deutschen Geistes in seinen Genien: in besonders schrecklicher ja verwirrender Beleuchtung durch das politische Prunken mit dem Nationalen (während das, was von den Nationalen verehrt wird, gerade uns beinahe als das Feindselige, mindesten als das Gefährlichste gilt).

Das aesthetische Phänomen fragt an: sucht voraus: giebt es noch verwandte Kräfte?

12 [10]

Es dauert lange, ehe das Drama ja die Expos<ition> beginnt.

Kindheit – etwas Altes Altkluges – die Jugend des Menschen, seine Naivetät viel später bei Modernen.

Leipzig – geistiges Anschmecken, Ungründlichkeit der Empfindung, geschmeidiges Wesen, schlechte herrschende Neigungen der Litteratur.

Er schien zu dilettantisiren, zu lüsteln und genüßeln ohne Genuß.

Über Mangel an Erfahrungen soll sich keiner beklagen, sondern höchstens über den Überfluß.

Im Tannhäuser kann die bessere Natur für die andere eigentlich nur leiden und bitten, sie sind getrennt.

Im Lohengrin Sehnsucht aus Macht zur Liebe, zur fraglosen Treue.

Im Holländer das düstere Schweifen, das zum Fluch wird: das Leid des Heimwehs.

Begehren nach Macht, Taumel der Sinne – Zurückschrecken vor der ekelhaften Sittlichkeit und Verlogenheit.

Er landete an der Theaterwelt, der leichtfertigen, besonders nichtigen.

Unruhig, große Dürftigkeit – immer mit einem äußersten Mittel bereit.

Er wuchs aus keiner Kunstschule heraus, ohne Lehrer.

12 [11]

Treue preisgeben zu Gunsten von Lebensstellungen Macht Einfluß (deutscher Meister).

12 [12]

das Gefährliche – Neigung zur Verstellung und List dramatisch – Treue – Kunstwerk der Zukunft Treue Lernen Treue – Abziehungen durch das Leben – Widerstand gegen Berufe (nur so weit um sich als Meister zu fühlen) Treue – Begabungen wollen einzeln. Bayreuth – Ziel.

12 [13]

Für wen schaffe ich? er durchschaut seine Zuhörer mit dern Blick <des> Dramatikers. Da sieht er eifersüchtig auf Andre. Das Bild der Zuhörer, Mißtrauen gegen sie, Verzweiflung (Frage ob noch Musiker – – –)

Erfolg – Stufe festhalten.

Freunde Symphonisches.

Wie kann einem Schaffenden wahre Liebe einwohnen?

12 [14]

Gemeinsame Noth.

Sagenstoffe.

Er wuchs in die einfache Erhabenheit des Mythus hinein.

Das lechzende Verlangen der Volksseele.

Er spricht zuerst dem Sinn der Volkssage nach.

Er untersucht die moderne Civilisation.

Endlich findet er den vorwärtsschauenden Blick, er schafft den Mythus um.

Er will selbst mit helfen, die politische Veränderung herbeizuführen: großer Irrthum, er wähnt den Augenblick zur Herstellung des Volkes vor der Thür! Revolutionär zu Gunsten der Theater!

Wirkung durch Schriften, nachhelfend! Die Wirkung wird immer noch als sofortige erstrebt. Auch als Künstler nimmt er darauf noch Rücksicht (Tannhäuser)!!

Er propagirte seinen Glauben als Künstler (auch als Schriftsteller), was am stärksten auf ihn wirkte und ihn bewegte, das faßte er zu Kunstwerken zusammen. Tannhäuser Lohengrin. Es war eine Frage: giebt es noch andre Wagner?

Er schloß von der tiefsten Wirkung, die er empfand, auf die, welche er machen werde. Kunstwerke wurden zu Fragen fühlt ihr so, wie ich fühle, so werdet ihr auch gleich bedürfen. Dabei entdeckte er das Mißverhältniß – furchtbare Vereinsamung. Er hatte keinen Wunsch mehr für den Bestand der politischen Welt.

Er nahm die Musik aus.

Dann, wenn eine Vielheit so leidet, wie er leidet – das wäre Volk. Dann würde sie auch gleich bedürfen. Denn auch sein Streben nach Macht war naturwüchsig, volksmäßig. Er sah sein Kunstwerk näher vor sich und glaubte auch das Volknahe. Er fand auf sich die tiefste Wirkung vom Volksglauben und vom dramatischen Gesange. Dies paarte er. Was auf ihn wirkte, werde einmal auf das Volk wirken: es werden die sein, welche eine gemeinsame Noth verbindet. Er multiplizirte sich zum Volk.

Dritte Periode: die Zeit erscheint ihm nichtig, er hat sich ganz auf sich zurückgezogen, die Wirkung liegt ihm fern, er legt Partitur neben Partitur hin, entsagt der Macht: die Zukunft wird ganz fern. Treue. Schopenhauer. Er wird einsam.

Es melden sich die Freunde, die Vorboten veränderter Zeiten und Sinne, Herberge gebend – er entdeckt die unvergleichliche Wirkung schon gethan zu haben.

Gefahr von Seiten der Freunde auf der früheren Stufe.

Er sieht in dem Kriege einen Kampf gegen die „Civilisation" und das Vertrauen auf die deutsche Tapferkeit.

Er begreift: seine Kunst ist das Kunstwerk der Zukunft und eine Vorläuferin, eine Anregung zur neuen Gesellschaft. Er versteht seine Stellung zum Kommenden anders, als auf der früheren Stufe.

Treue.

12 [15]

Wenn eine Vielheit dieselbe Noth erlitte, wie er sie leidet – das wäre Volk, sagt er sich. Dann würden ihre gleichen Bedürfnisse auch gleich befriedigt. Sieht er nun zu, was ihn selbst in seiner Noth am tiefsten tröstet und beseeligt, so findet er den Mythus und die Musik: hier empfängt er die tiefste Befriedigung, also muß er hier auch am tiefsten bedürfen, und Noth sein. Die Musik ist nun eine Ausnahmekunst, nicht dem Luxus dienstbar, sondern entstanden wie ein Trost der Niedrigen und Schlichten, er findet eine herrliche Zusammengehörigkeit beider und fühlt seine Kraft zum Drama als verbindende Kraft zwischen diesen Sphären. Sein Kunstwerk, das auf ihn jetzt so unvergleichlich wirkt, stellt er als eine Frage auf: wo sind die, auf welche es gleich wirkt? Diese werden auch gleich leiden und bedürfen, wie ich. Eine Vielheit von uns ist das Volk, das wir ersehnen. Nun erlebt er eine schreckliche Enttäuschung, obwohl er durch Schriften nachhilft; alles ist befremdet, man mißt nach alten Maßstäben, man kritisirt nach alter Weise herum, man fühlt nicht die neue Frage. Er verzweifelt, denn das Volk ist nicht da, seine Noth wird nicht empfunden, sein Kunstwerk ist eine Mittheilung an Taube und Blinde, die Aussicht auf Wirkung und Macht ist hoffnungslos. Er taumelt und geräth ins Schwanken. Die Möglichkeit eines Umsturzes der Dinge steht als Hoffnung vor ihm, vielleicht daß hinterher wieder zu pflanzen ist. – In Kürze ist er politischer Flüchtling und im Elend. Es ist die zweite große Krisis.

Vereinsamt, die Zeit erscheint ihm nichtig, er hat sich ganz auf sich zurückgezogen, keine Hoffnung mehr. Er streift jetzt jede Rücksicht auf Wirkung ab, alles Verführerische und Anfragende, das Verständniß Erleichternde, und spricht nur mit sich. Sein Weltblick wendet sich in die Tiefe, er sieht das Leiden im Fundament und reinigt sich von allem Optimismus. Sehnsucht aus dem Tag in die Nacht, Tristan. Er findet die deutsche lutherische Heiterkeit wieder, die andere Völker nicht begreifen, durchgegohrne Meisterschaft der M<eister>singer. Es kommen Freunde heran; viele beinahe gefährlich, sie wollen ihn dogmatisiren usw. Er geht hindurch unberührt, es handelt sich nicht mehr um Aesthetik und Musik für ihn. Ein ungeheures Werk, der Gesammtausdruck seiner Einsicht und Aussicht, mit einem wunderbaren metaphysischen Schwanken am Schluß. Macht resignirt aus Liebe. Er will dieses Werk zeigen, das Kunstwerk der Zukunft: während das jetzt nicht die Zukunft ist, auf die er rechnet. Der Krieg, symbolisch verstanden, giebt Muth.

12 [16]

Das Streben und Wollen der Macht ist jetzt unpersönlich geworden, ist rein in's Schaffen übergetreten. Seine Kunst der höchsten Vollkommenheit und Ausdrucksfähigkeit: er denkt nicht mehr an eine zu erlebende Wirkung. Er will das Werk hinterlassen, legt Partitur neben Partitur.

Über Nacht kam es plötzlich anders. Der deutsche Krieg wurde von ihm eigen nachempfunden, wie sonst nicht in Deutschland. Er bekam Glauben an eins, während er gar keinen mehr in Betreff von Deutschen hatte, die deutsche Tapferkeit mit Besonnenheit und Dauer verbunden, er sah etwas seinem Schaffen Verwandtes und war hoch beglückt. Vielleicht finde ich jetzt – nicht das Volk, sondern nur so viel Freunde und Mitleidende, denen ich das Werk zeigen kann, wie es gemeint ist. Es war ihm um Begründung des Stils, der Tradition zu thun, für eine sehr ferne Zukunft. – Wenn wir „das Kunstwerk der Zukunft" jetzt sehen, so sollen wir doch immer sagen, es ist nicht diese Zeit, welche Wagner mit jener "Zukunft" gemeint hat! Was Wagner sein wird, das ist noch etwas ganz andres als er jetzt sein kann.

12 [17]

Und nun trat in immer neuem Glanz der herrschende Gedanke seines Lebens vor ihn hin, fast verwandelt, aber beinahe noch mächtiger, reizvoller. Wirkung, unvergleichliche Wirkung! – womit! auf wen! Nicht mehr auf das Publikum der Theater, wie es ist, nicht mehr auf den modernen Menschen überhaupt, wie er zur Kunst sich eben verhält. Auch nicht mehr mit den Mächten der bisherigen Erfolge. In diesem Zeitpunkt des entscheidenden "Nicht mehr" begriff er das Wesen des Volkes und seinen Gegensatz, die Gesellschaft des Luxus.

12 [18]

In doppelter Weise erscheint die Vergangenheit verkürzt, einmal weil sie nur von Einem Sehwinkel, allerdings einem wichtigen und nothwendigen aus gesehn wird und sodann weil in der einmal so geschauten Welt vieles ausgeschieden wird, nach einem Maßstabe. Aber nicht nur die Vergangenheit wird so gleichsam durch Verkürzung überschaulicher gemacht: das ganze Leben, auch das der Gegenwart und Zukunft, erscheint in einem verkleinerten Maßstabe und kann so leichter beurtheilt werden. Der Grad, in dem die Menschen mit der Kunst umgehen, die Tiefe oder Oberflächlichkeit der Beziehungen, die Wahrheit oder Eitelkeit in diesem Verkehr, wird zum Urtheil über die Zeiten und Völker benutzt: ihr Bedürfniß nach Kunst als Zeichen ihrer Sittlichkeit und Weisheit. Man kann von einem Menschen ziemlich viel wissen, wenn man genau weiß, ob er überhaupt Kunst nöthig hat, ob bildende oder tönende, welchen Meistern er sich zuneigt usw. Nimmt der Künstler selber diese Abschätzung vor, so kann man ihm nicht verargen, wenn er hier einen Werthmesser überhaupt zu haben glaubt: in seiner Betrachtung des Lebens ist die Kunst das Sonnensystem. Menschen ohne Kunst sind für ihn undenkbar, wie Menschen ohne Raum und Zeitvorstellungen es sind. Er findet nichts, worin nicht Kunst sich ausspräche: in der Art, wie ein Mench denkt, träumt, geht, ißt, sich unterredet, schreibt, liest, kämpft, verehrt, erzieht, den Tag und das Leben eintheilt, wie er den Staat aufbaut, die Stände auseinanderhält: überall ist hier eine äußerliche Erscheinung und eine Gesinnung, aus der gehandelt wird, zu unterscheiden. In dieser äußerlichen Erscheinung, sowohl wie in dieser Gesinnung, ist etwas, was Kunst ist: ein gewisser schöpferischer Drang nach dem – – –

12 [19]

6. Wagner's Zweifel. – Ist die Welt alt, verarmt geworden?

Durch Beethoven Widerlegung seines Zweifels: Unschuld.

Pastorale – ewige Menschheit.

Musik reicht nicht aus. Strauß.

Gegen den absoluten Musiker, den einsiedlerischen Verächter der Scheinwelt. Drama keine Kunstart, kein Kunstzweig.

Beseelung der inneren Phantasie. Erregung der symbolischen Bewegungsmotive.

7. Veränderliches. Unveränderliches.

Das Drama als Prophezeiung eines reineren Lebens (im Gegensatz zu dem rückblickenden antiken Drama).

Versuch, Wagner auch als rückblickend zu verstehen: restaurative Richtungen. Das Volk. Genius.

8. Der zeugende Punkt in der Oper.

Schillers Ahnung.

Die drei Schwierigkeiten – Wortmelodie usw.

Überall Herausbildung aus dem Entarteten zum Kern.

Vorbildlich, es ist ein Zurückgehen scheinbar, noch mehr ein Abwerfen des Falschen Unechten Späten.

9. Reinigen vor und neben dem Schaffen.

Schriftsteller.

10. Der Dichter. Mythus. Sprache. Goethe.

11. Der Musiker.

12. Die Nibelungen: der Weltverkürzer: sein Leben und Wesen in ungeheurem Reflexe.

12 [20]

Ich sagte, es wäre möglich daß die erlöste Kunst zu den Menschen spräche und nicht gehört werde. David Strauß hat die Pastorale gehört und nichts gehört.

12 [21]

Was Thukydides über den Staat denkt.

Thukydides, Buch III cap. 84 ist echt. Es soll unklar sein, und in Stil und Gedanken den newteoismoz zeigen, etwas Revolutionäres. Ich meine, man ist vor den Gedanken dieses Capitels erschrocken; zum Theil hat man sie auch wohl nicht verstanden. Und so läßt man sich eines der wenigen Zeugnisse entgehen, wo Thukydides von seiner innersten Gesinnung redet, wo er sagt, was an der Menschennatur ist!

Der Mensch ist neidisch, ein Feind des Hervorragenden, sein Neid will schaden; so erträgt er eine Lage nicht, in der der Neid eine nicht schadende Kraft hat, den gesetzlichen Zustand.

Sie wollen lieber Rache als Recht, lieber egoistischen Gewinn an Stelle einer Lage, wo man ihnen keinen Schaden thut (kein Unrecht zufügt); sie ziehen vor to ceodainein mh adicein (heißt: dem, daß man sie nicht schädigt, ihnen Unrecht thut) – und doch waren sie in einer Lage, wo der Neid keinen schadenden Charakter hatte.

Sie waren vor einander und vor den Ausbrüchen ihrer Bösartigkeit im Neid geschützt: und nun begaben sie sich in einen schutzlosen Zustand hinein – warum? um Rache an anderen zu nehmen. Sie können eben ihre Affekte nicht beherrschen.

Hier hat Thukydides seine Theorie vom Staate gegeben: und auch gesagt, was geschehen muß, sobald der Staat aufhört – gegenseitige Zerfleischung und Auslassung aller Affekte. Da tritt die menschliche Natur rein hervor, durch den Staat ist sie im Zaum gehalten. Übrigens erscheint hier die poliz nicht als Produkt der Menschen, nicht als kluge Schutzanstalt der Egoismen gegen einander. Thukydides meint, die Menschen seien eben nicht klug genug dazu, sondern von Affekten beherrscht, momentan. Der Staat ist ihm wohl eine göttliche Institution. Die höchste Verehrung der nomoi blickt durch. Menschen könnten nach ihrer jusiz nicht stiften!

Im Staate herrscht Recht, nicht Rache, wird jeder geschützt vor Unrecht von dern anderen, und die Mißgunst hat keinen schädigenden Charakter. Trotzdem werfen sie ihn um, sie vergessen ihren eigenen Vortheil: so blind sind sie in ihrer Leidenschaft!

Für dia padouz epiJ umountez lese ich dia pantoz epijJ onountez -(dia pantoz kommt sonst dreimal bei Thukydides vor, v. Register).

Der Adel der Gesinnung besteht zu einem sehr großen Theil aus Gutmüthigkeit (euhJ ez): Mangel an Mißtrauen, Harmlosigkeit.

12 [22]

Zum Darwinismus.

Je mehr ein Mensch Gemeinsinn hatte, sympathische Affektionen, um so mehr hielt er zu seinem Stamme; und der Stamm erhielt sich am besten, wo die hingebendsten Einzelnen waren. Hier erstarkte die gute tüchtige Sitte, hier wurde die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit gegeben und anerzogen. – Doch ist hier die Gefahr der Stabilität, die Verdummung, groß.

Ungebundene, viel unsicherere und schwächere Individuen, die neues versuchen und vielerlei versuchen, sind es, an denen der Fortschritt hängt: unzählige dieser Art gehen zu Grunde ohne Wirkung, aber im Allgemeinen lockern sie auf und bringen so von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eine Schwächung bei, führen an irgend einer schwachgewordenen Stelle etwas Neues ein. Dies Neue wird von dem im Ganzen intakten Gesamtwesen allmählich assimilirt.

Die degenerirenden Naturen, die leichten Entartungen sind von höchster Bedeutung. Überall wo ein Fortschritt erfolgen soll, muß eine Schwächung vorhergehen.

Die stärksten Naturen haben den Typus fest und halten daran. –

Entartung ist immer Verstümmelung: aber selten ist eine Einbuße ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite. Der kränkere Mensch z. B. wird ruhiger und weiser; der einäugige wird Ein stärkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in's Innere schauen.

Nicht Kampf um's Dasein ist das wichtige Princip! Mehrung der stabilen Kraft durch Gemeingefühl im Einzelnen, Möglichkeit zu höheren Zielen zu gelangen, durch entartetende Naturen und partielle Schwächungen der stabilen Kraft. Die schwächere Natur, als die edlere wenigstens freiere, macht alles Fortschreiten möglich.

Ein Volk, das irgendwo schwach wird und anbröckelt, aber im Ganzen noch stark ist: das vermag die Infektion des Neuen aufzunehmen und zu assimiliren.

Ebenso der einzelne Mensch: das Problem der Erziehung ist, jemanden so fest und markig hinzustellen, daß er als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn gebracht werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm Wunden beizubringen: und wenn so der Schmerz, das Bedürfniß entstanden ist, kann auch dort etwas Neues und Edles inokulirt werden. Die Gesammtkraft wird es jetzt in sich hinein nehmen und so veredelt werden.

Die Deutschen wurden nicht nur verwundet, sondern fast zum Verbluten gebracht, man nahm <ihnen> Sitte Religion Sprache Freiheit. Sie sind nicht zu Grunde gegangen: aber daß sie eine tief leidende Nation sind, haben sie bewiesen, dadurch daß sie die Musik erfanden; sie haben den Segen der Krankheit erfahren. –

Dieser Lehre gegenüber ist der Darwinismus eine Philosophie für Fleischerburschen. Und die Stellung, die sie der Züchtung, die sie dem Weibe geben! Ist es denn wahr, daß die Weiber gerade nur für die stärksten Fleischerburschen Sinn und Neigung haben! Nicht einmal unter den Thieren ist es so.

Übrigens will ich mit meiner Betrachtung bei den Menschen verbleiben und mich hüten, aus den Gesetzen über die menschliche Veredlung auf Grund der schwächeren, entarteten Naturen, Schlüsse über die thierische Entwicklung zu machen. Ob es gleich noch viel mehr erlaubt wäre, dies zu thun als aus der Bestialität und ihren Gesetzen nun auch den Menschen bestialisch zu systematisiren: wie dies Herr Häckel in Jena thut, und seines Gleichen wie D. Strauß. –

12 [23]

Daß die idealeren Naturen nicht so gute Bürger sind –

12 [24]

Um zu erklären, was ich unter Wagner's zusammenziehender Kraft, unter dem Wort, er sei ein Vereinfacher der Welt, verstehe, schicke ich dies voraus. Er fand zwei neue Probleme, das der Musik und das des Drama's: er fand sie dort, wo alle großen Probleme liegen, auf der Gasse, vor Jedermanns Füßen und doch allen Augen verborgen. Was bedeutet es, daß der neuerer Zeit gerade eine solche Kunst wie die der Musik ersteht? Ist dies nicht ein Widerspruch für jeden, der das Bild dieser Zeit sich vor die Seele stellt? Muß er nicht sagen: aus dieser Zeit konnte die Musik nicht entstehn: was ist dann ihre Existenz? Ein Zufall? Aber erst könnte ein einzelner Meister zufällig sein, das Erscheinen einer solchen Reihe von Leuchten und Sonnen zeigt doch wahrlich, daß nicht an Kometen-Erscheinung zu denken ist. Wagner giebt nun eine Antwort: die Existenz der Musik hängt mit der Stärke der modernen Zeit zusammen, diese aber hat ungeheure Schwächen anderer Organe mit sich gebracht: und dieser erkrankte und erschöpfte Zustand ist es, dem in der Musik ein Heilmittel erwächst. Einmal hat sie ein Verhältniß zur Sprache, als eine universal vorwortliche Sprache zu der ganz ausgeraubten entkräfteten rhetorisch und poetisch vernützten Sprache: die allgemeine Erkrankung aller Sprechenden, die Unfähigkeit, sich noch wirklich mit einander zu verständigen: wenn schon die Poesie für jeden jetzt dichtet, so denkt jetzt die Sprache für jeden, er ist der Sklave derselben und niemand hat noch Individualität in diesem ungeheuren Zwang. Man muß, durch Musik gehoben, einmal sich so fern gestellt fühlen, daß man in allem, was gesprochen wird, geschrieben wird, das typisch Gleichartige wahrnimmt: dann kommt es einem so vor, als ob alle individuelle Bildung unmöglich sei, weil sie versucht, auf dem Wort sich zu gründen; und das reißt jetzt jeden in die alten Bahnen. Zweitens fühlte Wagner die Stellung der Musik zu der jetzt sichtbaren Erscheinungswelt des modernen Lebens: sie ist bildlos und deshalb antagonistisch allem Gebilde. Nun zeigt <sich> ebenfalls in allem, worin der Mensch jetzt an der Erscheinung herum bildet, eine unsägliche Erschöpfung: alles Dagewesene, alles schöner dagewesen, selbst das Häßliche ist erhabner dagewesen. Das Gehen Stehen und sich Bewegen, die Form der Geselligkeit, die Manieren der öffentlichen Sprecher, die Geberden der Jünglinge, die Künste der Frauen: alles, alles worin frühere Zeiten den Leib gebildet haben und zum Spiegel schöner oder großer Bewegungen gemacht haben, ist ganz verkommen oder späte Nachahmung: bestenfalls ist alles Renaissance und zwar Nachblüthe derselben (die französische Civilisation). Faßt man hier die Musik als den Antagonisten der Gymnastik, so ist in ihr jedenfalls ein Punkt gewonnen, von wo aus einem das moderne Leben widerlich barbarisch vorkommt. Denn der, welcher in dem rhythmischen Gange der großen Musik lebt, erkennt zuerst an sich und von da aus an allen andern, wie unfähig er für gewöhnlich ist, diesem reinen und erhöhten und doch machtvoll bewegten Innenleben der Musik etwas entgegenzustellen, was als Bild, als Erscheinung, dazu gehöre: während er gewöhnlich nur den peinlichen Eindruck bei diesem Suchen hat, daß er in ein Durcheinander von Verzerrungen und Übertreibungen hineinblicke. Nun ist der Eindruck der Musik selbst so stark, daß nicht nur der Rhythmus der Gymnastik vor ihm sich auszuweisen hat: alles, was ein rhythmisches Verhalten an sich hat, die ganze Lebensordnung von Individuen, die Politik von Völkern, das Verhalten der Handelsinteressen zu einander, der Kampf der Stände, das Widerspiel zwischen Volk und Nichtvolk – unwillkürlich wird es der mit Musik erfüllte Mensch an der Musik messen und verurtheilen: er begreift es, was es heißen will, einen Staat auf Musik zu gründen, was die Griechen nicht nur begriffen hatten, sondern auch forderten. Und zwar ist es auch nicht allein das Rhythmische; auch das Seelenvolle Ehrliche in der unpersönlichen Leidenschaft und doch das aus unerschöpflicher Tiefe aufquellende ruhige Feuer der Musik – dies alles wird ihm zum Richter seiner modernen Welt.

So verurtheilt Wagner diese Welt, weil sie dem Ideal, das er nicht als Bild aber als Seele der Musik in sich trägt, nicht entspricht. Er würde sie verneinen und aufheben müssen, wenn er nur Musiker wäre. Und in der That ist es sein tiefer Gegensatz gegen alle sonstigen Musiker unserer Zeit, daß sie von sich aus nicht diese Verneinung und Aufhebung wollen; er schließt daraus, daß sie jenes Feuer eben nicht im Leibe haben und in Folge dessen keine rechten Musiker sind. Entweder verneint euch als Musiker, hört auf welche zu sein oder hebt die Welt vermöge eurer inneren Kraft aus den Angeln – so ruft er ihnen zu.

Diese Verneinung kann nun verschiedenartig gedacht werden: revolutionär oder asketisch. Im ersten Falle wird der Musiker zuerst darauf sinnen, der Musik eine einflußreiche Stellung zu verschaffen, er wird ihre Verkümmerungen, ihre verächtliche Lage, ihren Mißbrauch zu leeren folgenlosen Unterhaltungen bekämpfen: indem er durch seine ernste Musik die Individuen weiht und zu Werkzeugen der umwälzenden Macht der Musik macht, wird er hoffen können, überall hin seinen Einfluß zu tragen: wer möchte z. B. zweifeln, daß eine Gesellschaft, die den wahren Geist Beethovenscher Musik in sich aufgenommen hat, unserer jetzigen Gesellschaft, in Staatsform Erziehung usw., sehr wenig ähnlich sehen würde! Zweitens kann jene Verneinung der gegenwärtigen Erscheinung leicht noch zu einer weiteren Stufe der Verneinung führen. Wer, wie Schopenhauer, in der Musik eine Welt hinter dieser Welt sieht, die noch nicht in die Form der Individuation eingegangen ist, und wer andererseits gerade den gebrechlichen tief hoffnungslosen Charakter des Lebens aus der trennenden Gewalt der Indiv<iduation> ableitet, muß in der Musik die wenngleich begriffs- und bildlose Conception einer besseren Welt machen, einer unschuldigen, liebevollen, heiter-tiefsinnigen.

Ganz auf diese Welt sich zurückziehend steht der Musiker dann, wie Wagner es an Beethoven geschildert hat, beinahe in der Sphäre der Heiligkeit: die unvergleich<liche> Reinheit Bewegtheit Gluth die kindliche Unmittelbarkeit, der völlige Mangel der Verstellung, die Abwesenheit der Convention das ist der Musik eigen, nicht den andern Künsten, die eben der Erscheinungswelt als Abbilder zu nahe stehen.

Hiermit könnte es nun erscheinen, daß ein Nebeneinander der Musik und der Erscheinungswelt eben ein Mißgebilde sein müsse, daß ihre Unverträglichkeit gerade fest stünde. Hier nun machte Wagner seinen zweiten Fund, er fand das Problem des Drama's wieder. Der Mensch, der die Seele der Musik in sich aufgenommen hat und von diesem Erfülltsein aus auf die allgemeine Natur und das Loos der Menschen zu allen Zeiten hinblickt, thut dies nicht mit Ekel, mit Haß: sondern so wie Beethoven die Natur in der Pastorale sieht, mit Liebe, mit einem alles verstehenden Mitleid. In größeren Bildern des menschlichen Wollens sieht er die Art seines eigenen Wollens, nur mit Wahn und trügerischen Zielen vor sich, so daß er das tragische Ergebniß dieses individuellen Wollens vorhersehen kann. Als Seele der Musik faßt er gerade die Liebe: und gerade das, was er am meisten in seiner Hoffnungslosigkeit des Strebens durchschaut, muß er am meisten lieben. Andererseits ist der große Musiker als Abbild des universalen Willens, in einer natürlichen Sympathie für das Individuum, das sich in der Ausdehnung seines Wollens dem universalen Willen nähert; das Feuer, das ihn durch's Leben führt, erkennt er als verwandt dem Feuer der in ihm waltenden Musik an: nur daß der Wille, der in der Musik erscheint, reiner unschuldiger und trugloser ist und bereits als unpersönlich gewordener Wille dem Eingang zur Selbstverneinung und dem Zustand der Heiligkeit sich nähert, von dem der ringende Held noch ferne ist: zwar vielleicht nicht so weit, denn gerade wegen der Heftigkeit seines Ringens kann er plötzlich einmal von der Einsicht in die Erfolglosigkeit überrascht werden.

12 [25]

Dichtung als Litteratur die französische Rhetorik des Stils eine Änderung durch die bildende Kunst zu erwarten ist albern der ganze moderne Mensch durch und durch von Musik noch leer, noch nicht von ihr geformt Mangel der Musik in der Erziehung, wie Tanz verzerrtes Gebilde sich zur Orchestik verhält, so der Schein zur griechischen Erscheinung: der französische Stil zum griechischen; Turnkunst jämmerliches Stückwerk.

12 [26]

Die gewohnte Leichtfertigkeit – oder ist es gar die thörichte Überhebung der modernen Menschen? – bringt es mit sich, daß den tief spürenden, der reichsten Erfahrung nachgehenden Einreden Platos gegen die Kunst jetzt kein Gehör mehr geschenkt wird; wer aber noch belehrbar ist, muß sehr bestimmt einsehen, daß das Walten einer mächtigen Kunst auch eine Menge Gefahren mit sich führt und daß gerade die größten Künstler eine Nachwirkung gehabt haben, welche den besorgteren Denkern fast bei jedem neuen Erscheinen solcher Mächte Furcht einflößen muß. Allzu leicht erscheint es so als ob die Kunst die Ziele des thätigen Lebens selber hinzustellen hätte, und mit gefährlichstem Mißverstande wird dann der Künstler als unmittelbarer Erzieher verstanden. Wird dagegen seine wundervolle Aufgabe mit Recht so begriffen, daß er für das kämpfende und zielesetzende Leben einzuweihen hat, so ist man ebenso im Recht, ihn sich auf das Schärfste vom Leben selber abgetrennt zu denken und seinen Nachwirkungen ein Strombett anzuweisen, welches nicht den Gang des Lebens durchkreuzt und bestimmt. Man würde Plato's Meinung treffen, wenn man mit einiger Härte darauf bestünde, daß es gleichgültig sei, was ein Künstler in socialer und politischer Hinsicht denke: daß es z. B. für die Athener ohne Gewicht sein mußte, ob Aeschylus sich für oder gegen die Beschränkung des Aeropag erklärte; ja ich glaube sogar, erst dadurch, daß man in dem Künstler gerade etwas Überzeitliches verehrt, wird man sich gegen das Gefährliche, was in seiner direkten Wirkung auf die Zeit liegt, einigermaßen schützen können. Ich will in diesem Zusammenhange darauf aufmerksam machen, daß es überaus nahe liegt und deshalb gefährlich ist, Wagner nicht als Künstler zu verstehen oder anders ausgedrückt: aus seinen Kunstwerken bestimmte Winke über die Gestaltung des Lebens entnehmen zu wollen. Es liegt dies so nahe, weil Wagner selber in verschiedenen Perioden den Versuch gemacht hat, bestimmtere Antworten auf die Frage nach dem Zusammenhang seiner Kunst mit dem Leben zu finden. Es giebt Aufsätze von ihm, die ganz von dem magischen Lichte eines seiner Kunstwerke überströmt sind – und jedes Kunstwerk hat ein ihm eigenthümlich gefärbtes Licht.

12 [27]

Liebe und Verachtung.

Schluß: worin vereinfacht er die Welt?

Nächstes Capitel: die historische Entwicklung der Musik.

Wagner als Reiniger der Kunst, ihrer Stellung zum Leben – selbst als Schriftsteller (zu schreiben, was ich leide).

12 [28]

Nach der Unterbrechung weiter. Der Vereinfacher der Welt, wie in der Philosophie.

Er sieht sie unter einem einzigen aber nothwendigen Sehwinkel: wie steht es mit der Kunst? Da verkürzt er die Geschichte sehr.

Er reinigt: er verscheucht die Vorstellung, daß die Welt organisch alt geworden sei.

Die Quelle der Natur noch eben so frisch, der Mensch noch unausgeschöpft.

Man muß nur Begriffswolken verscheuchen, falsche Beängstigungen, als ob der Mensch schon verarmt sei.

Der Haß gegen die weichlichen Kunstfreunde.

Das Wesen der Musik giebt ihm das Licht; sie steht im Gegensatz zu unsrer begrifflichen und litterarischen Welt (die Welt des Scheins unfruchtbar, Hillebrand mit seinen Hoffnungen lächerlich). Wagner bildet die innere Phantasie aus.

Schopenhauer faßt sie als etwas Metaphysisches, Wagner fragt: giebt es ein Leben, welches der Musik einmal entsprechen wird? (Griechen gründeten ihre Staaten auf Musik)

Daß es eine solche Welt geben muß, ersieht er als Dramatiker (das Drama ist keine Kunstart, kein Litteraturzweig).

Er sieht Phänomene vor sich gleichsam mit drei Dimensionen – hörbar schaubar begreifbar.

Wo hat er dies Phänomen zuerst gesehen? In der Oper.

Schillers Ahnung.

Der moderne Künstler hat immer erst zu reinigen, ehe er schaffen kann – meistens wird die Reinigung zuerst eine persönliche sein.

5. (b)

Wagner's Kampf im Kunstwerke.

6.

Wagner in der Oper. Das Publikum. Weg zu Beethoven.

Das anscheinend Reaktionäre-Romantische. Gegensatz zur Civilisation.

7.

Das anscheinend Desperative. Gegensatz zur Welt der Erscheinung.

So erscheint er fast als restaurativer Typus?

Logische Trägheit.

Fühlen Ahnen. Die Unbewußtheit, Instinktivität. – Aber alles dies ist nur als Schein zu nehmen: sein Charakter ist progressiv.

12 [29]

Wagner's Kampf im Kunstwerk.

Rienzi – Gegensatz zur "Ordnung", der Reformator. Holländer – das Mythische gegen das Historische.

Tannhäuser Lohengrin – das Katholische gegen das Protestantische (das Romantische gegen die Aufklärung).

Meistersinger – Gegensatz zur Civilisation, das Deutsche gegen das Französische.

Tristan – Gegensatz zur Erscheinung. Das Metaphysische gegen das Leben.

Nibelungen – freiwilliges Verzichten der bisherigen Weltmächte: Gegensätze von Weltperioden – mit Umwandlung der Richtung und der Ziele.

12 [30]

Goethe nennt all sein Wirken symbolisch.

So verstehe man auch den Lebensgang Wagner's symbolisch.

Er beginnt in einer verdorbenen Kunst und zwar den einzigen Punkt entdeckend, wo Kraft ist.

Von da aus reinigt er seine Vorstellung von dieser Kunst und sich selbst.

12 [31]

– – – Er geht nicht nur durch das Feuer, sondern auch durch den Dampf des Wissens und der Gelehrsamkeit hindurch – mit jener Treue gegen ein höheres Selbst oder, noch richtiger, durch die Treue eines höheren Selbst gegen ihn, welches ihn aus seinen schwersten Gefahren immer wieder herausführte. Dieses höhere Selbst verlangte von ihm nur Gesammtthaten seines polyphonen Wesens, und hieß ihn leiden und lernen, um jene Thaten thun zu können, es führte ihn zur Prüfung und Stärkung an immer schwereren Aufgaben vorbei. Die höheren Gefahren und Prüfungen aber nahten ihm nicht als dem persönlich Unbefriedigten und Leidenden, nicht als dem Lernenden, sie erwuchsen aus einer Verbindung von Leiden und Lernen, aus dem heftigen Triebe, dem eignen Leide, das er in immer höherer Verallgemeinerung empfand und zu dessen Verständniß er Historie und Philosophie hinzunehmen mußte, einen rettenden Gedanken entgegenzustellen: es sind die Gefahren der Absichten, durch welche der Künstler die Reinheit seines Werdens kreuzte; seine Kunst sollte diesen Absichten dienen, sie sollte mehr leisten und sofort leisten, als eine Kunst, noch dazu eine dunkel ans Licht ringende neue Kunst vermag; indem er sie der Reihe nach zum Heilmittel seiner selbst, des modernen Menschen und endlich des Lebens überhaupt bestimmte, verfiel er in die schwerste Krankheit, in welche ein Künstler verfallen kann, in die der bestimmten Absichten. Zuerst begehrte er von ihr alles das, was ihm sein persönliches Schicksal nicht bot: hier enttäuscht, verlangte er von ihr Befriedigung und Ersatz für jene ungeheuren Mängel, an denen die neuere Menschheit und jeder Einzelne in ihr leidet: auch hier enttäuscht und zur Hoffnungslosigkeit verurtheilt, ersah er in seiner Kunst die Religion, den Trost für das Dasein überhaupt. Und erst hier war das Absichtliche in seinem Wollen so in's Unbegrenzte gehoben, daß seine Kunst und alles Unabsichtliche seines Wesens sich völlig frei und ungehemmt ergehen konnte. –

12 [32]

4.

Darüber nachzudenken, was Wagner ist, an allen Lebens- und Machtäußerungen seiner vielspältig-einheitlichen Natur betrachtend vorüberzugehn: das wird die Heilung und Erholung sein, welche jedermann begehren muß, der darüber, wie Wagner wurde, gedacht und gelitten hat. Ein solches wahrhaft großes, wahrhaft frei gewordenes Können und Dürfen ist das herrlichste Schauspiel von der Welt; wo eine solche Begabung erscheint, wird die Erde, für den Betrachter wenigstens, zu einem sommerlichen Garten. Er kann, von dem Glück dieses Schauspiels aus, kaum anders als selbst in jenes leidvolle Werden eine verklärende und beinahe rechtfertigende Zweckmäßigkeit hineinzulegen: zu erwägen, wie der großen Natur alles zum Heil und Gewinn werden muß, so schwere Schulen sie auch durchgeführt wird: wie sie sich von Gift nährt und gesund und stark dabei wird, wie jede Gefährlichkeit sie beherzter, jeder Sieg sie besonnener gemacht hat. – – –

12 [33]

5.

Es giebt nichts Hoffnungsloseres, als von solchen complicirten und seltenen Zuständen der Seele zu Anderen zu sprechen, wenn diese nicht selber durch die Erinnerung an eigne ähnliche wenn auch vielfach schwächere Zustände und durch ein beschauliches Suchen in ihrem Innern dem Sprechenden auf halbem Wege entgegenkommen. Solche bereite Zuhörer aber vorausgesetzt, halte ich es allerdings für möglich, den ganz eigenen und einzigen Eindruck einer großen Begabung allmählich so deutlich für die Empfindung auszuprägen, daß wir von der entscheidenden Sicherheit dieses Eindrucks aus unwillkürlich auf jenen Zustand zurückschließen, in welchem der Künstler sich zum Schaffen gedrängt fühlt, d. h. den Eindruck der Welt auf sich als einen Anruf seiner eigensten Kraft empfindet. Auf ein Mitwissen um diesen Zustand kommt aber alles an, und jede Beschäftigung mit Kunst kann bei dem Nichtkünstler nur dies Ziel haben, zuletzt einen Eingang zu jenen sonst verborgenen Seelen-Mysterien zu entdecken, in denen das Kunstwerk geboren wird. Der Künstler ist nur gerade als Mittheilender über diese Mysterien Künstler; er will uns durch seine Art zu sprechen und sich mitzutheilen zu Mit-Eingeweihten machen, er will mit seinem Werke auf etwas hinweisen, was vor dem Werk, hinter dem Werk ist. „Die Natur ist nach Innen zu viel reicher, gewaltiger, seliger, furchtbarer, ihr kennt sie nicht, so wie ihr gewöhnlich lebt!" ruft uns der Künstler zu, „nun folgt mir einmal und laßt das trüberleuchtete Stück Natur und Leben, welches ihr allein als wirklich zu kennen scheint, hinter euch. Ich führe euch in ein Reich, das ebenfalls wirklich ist: ihr selber sollt sagen, wenn ihr aus meiner Höhle in euren Tag zurückkommt, welches Leben wirklicher ist!"

Wenn bis zu irgend einem Grade dies die Stimme jedes großen Künstlers an uns ist, so doch vor Allem die Stimme Wagner's. Das, wozu sie uns ladet, ist Rückkehr zur Natur; und in diesem Zusammenhang darf man am wenigsten fürchten, Mißverständnisse mit solch einem Worte zu erregen. Es handelt sich wahrhaftig nicht um eine bequeme Entschließung, sich einmal natürlich zu geben und in einer idyllischen Schlichtheit zu lustwandeln: so harmlos war jene Aufforderung nicht gemeint. Der Künstler weiß recht wohl, daß wir Alle, wenn er nicht den Weg uns zeigt, niemals den Eingang in die noch unbekannt gebliebene Urwelt der Natur finden werden. Denn übermächtig ist die Last, die auf uns liegt; ein Schleier aus kalten und künstlichen Begriffen und Lehrmeinungen gesponnen hält unser Auge; unser Gefühl regt sich kaum gegen die Gewohnheit der verwickeltsten und härtesten Gesetzbarkeiten oder regt sich in falschem Takte, wir haben auch die Sprache des Gefühls verlernt: so sind wir viel zu schwach und können gar nicht so weit aus eignen Kräften gehen, um die Natur zu finden. Aber auch die Hand unseres Ermahners und Befreiers ist übermächtig: er führt uns, ohne daß wir sehen, wohin: bis wir plötzlich fühlen und hören und mit allen Sinnen auf einmal wissen, wo wir stehen – in der freien Natur, und selber verwandelt zu natürlich Freien.

Die Bedeutung der Musik. Befreiung der Musik. Das Improvisatorische. Wagner unterjocht. Das Demosthenische. Wagner als Dichter, als Prosaiker. Das Adstringirende.

 

[Dokument: Druckmanuskripte]

[Sommer – Herbst 1875]

13 [1]

– – – Musste die wahre Musik erklingen, weil die Menschen sie am wenigsten verdienten, aber am meisten ihrer bedurften? Man versenke sich nur einmal in das überschwängliche Wunder dieser Möglichkeit: schaut man von da aus auf das Leben zurück, so leuchtet es, so trübe und umnebelt es vorher auch erscheinen mochte; es wird selber zum Abbild und Gleichniss der Musik Beethovens und spricht in der Form der Erscheinung von Erlösung und wiedergewonnener Unschuld. "Nie hat eine Kunst der Welt etwas so Heiteres geschaffen als diese Symphonien in A-dur und F-dur, mit allen ihnen so innig verwandten Tonwerken des Meisters aus der göttlichen Zeit seiner völligen Taubheit. Die Wirkung hiervon auf den Hörer ist Befreiung von aller Schuld – die Wirkung des Heiteren geht hier sofort über alle Befriedigung durch das Schöne weit hinaus. Jeder Trotz der erkenntnissstolzen Vernunft bricht sich hier sofort an dem Zauber der Überwältigung unsrer ganzen Natur; die Erkenntniss flieht mit dem Bekenntniss ihres Irrthums, und die ungeheure Freude dieses Bekenntnisses ist es, in welcher wir aus tiefster Seele aufjauchzen, so ernsthaft auch die gänzlich gefesselte Miene des Zuhörers sein Erstaunen über die Unfähigkeit unseres Sehens und Denkens gegenüber dieser wahrhaftigsten Welt uns verräth. – Aller Schmerz des Daseins bricht sich an diesem ungeheuren Behagen des Spieles mit ihm; der Weltenschöpfer Brahma lacht über sich selbst, da er die Täuschung über sich selbst erkennt; die wiedergewonnene Unschuld spielt scherzend mit dem Stachel der gesühnten Schuld, das befreite Gewissen neckt sich mit seiner ausgestandenen Qual. – Jetzt warf er den Blick auch auf die Erscheinung, die, durch sein inneres Licht beschienen, in wundervollem Reflexe sich wieder seinem Innern mittheilte. Jetzt spricht wiederum nur das Wesen der Dinge zu ihm und zeigt ihm diese in dem ruhigen Lichte der Schönheit. Jetzt versteht er den Wald, den Bach, die Wiese, den blauen Aether, die heitre Menge, das liebende Paar, den Gesang der Vögel, den Zug der Wolken, das Brausen des Sturmes, die Wonne der selig bewegten Ruhe. Da durchdringt all sein Sehen und Gestalten diese wunderbare Heiterkeit, die erst durch ihn der Musik zu eigen geworden ist. Selbst die Klage, so innig ureigen allem Tönen, beschwichtigt sich zum Lächeln: die Welt gewinnt ihre Kindesunschuld wieder. ,Mit mir seich heute im Paradiese' – wer hörte sich dieses Erlöserwort nicht zugerufen, wenn er der Pastoral-Symphonie lauschte?"

7.

– – –

 

[Dokument: Mappe loser Blätter]

[Herbst 1875 bis Frühling 1876]

14 [1]

1. Wotan strebt nach Macht, wird unfrei, in Schuld und Fluch verflochten: er bedarf des Freien.

2. Muß dem Liebsten widerstreben, es vernichten – muß die treueste Liebe (und Brünnhilde) bestrafen.

3. Ihn faßt Ekel vor der Macht.

4. Die Liebe zudem herrlichen freien Siegfried kehrt ihn um, er weist ihm die Welt, verzichtet.

5. Er sieht den Fluch auch auf das Liebste loskommen und leidet schrecklich, er sehnt sich nach dem Nichtsein.

6. Erst der Tod des Freien löst die Welt und die Götter vom Fluche: der Gerechtigkeit ist Genüge gethan – der Gott kann sterben.

14 [2]

14 [3]

Seine Schriften nicht volksthümlich.

Wohl aber seine Kunst: sie überwindet den Gegensatz von Volk und Gebildeten.

Das scheidet sie von aller Renaissance-Cultur (Goethe als Nachzügler, Philolog-Poet – auch "Faust").

Schon dadurch scheint er auf eine Zukunft hinzudeuten – nach Schillers Wort.

14 [4]

Nur soweit er für die Sicherstellung seiner Kunst sorgt, wendet er sich an bestehende Mächte, an den Gebildeten, an das Nationale – er denkt im Bunde mit dem mächtigsten Volke, dem der Reformation, fortzuleben, dem er die Mission zuertheilt "das Meer der Revolution in das Bette des ruhig fließenden Stromes der Menschheit abzudämmen."

Aber der Gedanke seines Kunstwerkes ist, wie der Gedanke jedes guten Deutschen, überdeutsch und nicht national: wie seine Reformation.

14 [5]

Schillers Zuruf.

Dagegen das anscheinend Reaktionäre.

14 [6]

Er steht vor der Religion so unbefangen wie Aeschylus vor verschiedenen Zeusen.

Wesentlich unreligiös.

Zukunft einer Gesellschaft von Wagner's – insofern er ein ganz moderner Mensch ist, ist es auch Kunst der Gegenwart.

14 [7]

Was er sein wird?

Der in eine Vergangenheit Zurückschauende und sie Deutende – diese Vergangenheit hat er vorweggenommen.

Einzelne Phasen in Wotan: um die Macht – Ekel – sie fahren lassen – dem freien Menschen sie weihen.

Schluß – Wagner's Worte: wo Staatsweisheit und Kunst usw.

Schiller's Worte.

Der Vereinfacher der Welt – der Deuter ihrer Geschichte.

14 [8]

Das grosse Ereigniss. Um es ganz zu verstehen, ist der Wagnerische Blick auf sich selber nöthig – wie er wurde, was er ist, was er sein wird.

I. Wie er wurde.

Gefahren Kindheit, Jugend zerfahren, ohne Naivetät

der Natur dann gefährlichste Spaltung seines Wesens: Bedeutung der Treue.

und der Unfrieden und Ungenügen des äusseren Lebens.

Begabungen. Gefahr des mächtigen Lerntriebes.

Die Treue siegt, sein Wesen bleibt ganz.

Welche Aufgabe hat er zu erfüllen?

Allgemeinste Aufgabe der Kunst in der modernen Zeit.

Specielle Aufgabe der Musik:

Gefahren, hinsichtlich der Sprache

in seiner der Erscheinungswelt

Aufgabe der unrichtigen Empfindung.

und Mission Allgemeine Stimmung und Seelenverfassung Wagner's

gelegen. als des schaffenden, seine Aufgabe er füllenden Künstlers

(dargestellt an den Stimmungen, welche seine Kunst im Hörer hervor bringt).

Speciellere Stimmungen in der Folge seiner Entwicklung.

II. Was er ist:

als Dichter

Bildner

Musiker

und im Ganzen

III. Was er sein wird.

Als Künstler der Zukunft strebt er nach der Begründung einer Styl-Tradition.

Seine Mittel zu diesem Zwecke:

Vorbildliche Beispiele,

Schriftwerke,

er sucht Schutz für seine Kunstwerke bei den bestehenden Mächten.

Aber er schafft allein für Menschen einer bestimmten Zukunft.

Deren Wesen ist aus seinen Kunstwerken zu errathen, insofern aus der Befriedigung auf das Bedürfniss zurückzuschliessen ist.

Die Motive seiner Kunst.

Unvereinbarkeit derselben mit dem Character der heutigen Menschheit.

Nicht sowohl Seher einer Zukunft, sondern Deuter und Verklärer einer Vergangenheit.

14 [9]

Kunst-Vermögen der Mittheilung

Höchste Fähigkeit sich mitzutheilen vermöge der höchsten Deutlichkeit

Dichter

verflochtene Leidenschaft

Strom eines Aktes

viel weiterer Kreis von Zuständen

großer rhythmischer Sinn im Bändigen der Leidenschaft, höchste Kunsteinheit im leidenschaftlichen Menschen

die gefährlichen Eigenschaften

Schicksal der Kunst sein Schicksal

Talent der Mittheilung

ohne vom Freunde unterjocht <zu werden>

aber wohl selber dem Freunde sich mittheilend

sonst durch Beispiel

einzige Schwierigkeit bei dem „Gebildeten"

– Schriften. Volksthümlichkeit (Faust)

14 [10]

9. Der Künstler

10. die dämonische Mittheilbarkeit

11. Das für jetzige Menschen nicht Mittheilbare:

Kunstwerk der Zukunft

Gedanke der Nibelungen

14 [11]

– Siegfried, aus einem Bunde wider alle Sitte

der freie Mensch, ohne Furcht

wird unfrei, treulos, durch Vergessenheit

noch in seinem Tode erlöst er die Welt vom Fluche

Wotan – – –

 

[Dokument: Heft]

[Frühling 1876?]

15 [1]

Hypothetische Sätze im Deutschen. "Wenn" drückt ursprünglich einen Wunsch aus; die Sätze dieser Form "ist dies so, so wird daraus" enthalten im Vordersatz eine Frage oder einen Zweifel. Deshalb ist diese letztere Form nicht völlig mit der ersteren zu verwechseln, noch weniger hat sie etwa allein Recht (wie dies W<agner> zu meinen scheint, der sie fast ausschließlich anwendet).

15 [2]

Lange Perioden soll man meiden: oder, falls sie nöthig sind, rein logisch beurtheilen; ich will, daß man das logische Gerüste deutlich klappern höre: denn sie sollen zur Erleichterung des Denkens dienen; Deutlichkeit ist die erste Forderung: was geht uns (Deutsche!) Schönheit und Numerus in der Periode an!

15 [3]

Es ist die rechte Zeit, mit der deutschen Sprache sich endlich artistisch zu befassen. Denn ihre Leiblichkeit ist ganz entwickelt: läßt man sie gehen, so entartet sie jählings. Man muß ihr mit Wissen und Fleiß zu Hülfe kommen und die Mühe an sie wenden, die die griechischen Rhetores an die ihre wendeten – als es auch zu spät war, noch auf eine neue Jugend zu hoffen. Jetzt stehen bis zu Luther's deutschem Stile alle Farbentöpfe zum Gebrauche da – es muß nur der rechte Maler und Kolorist hinzukommen. Es muß ein Handwerk entstehen, damit daraus einmal eine Kunst werde. Auch unsre Klassiker waren Stil-Naturalisten.

15 [4]

1. Vorbereitung und Erziehung. 2. Bauriss. 3. Baumaterial.

15 [5]

Nachtrag zu David Strauss.

p. 106 "man wisse ja längst, daß Gott ,allgegenwärtig' eines besonderen Sitzes nicht bedürfe"

p. 49 "so bringt Schleiermacher in seiner Art wieder einen Gottmenschen heraus."

p. 287 "keck umgreifende Klasse der Gesellschaft"

P. 238 "auf unserm Standpunkte ist von dem sittlichen Handeln sein Reflex im Empfinden oder die Glückseligkeit von selbst so unabtrennbar, daß derselbe durch äußere Umstände nimmermehr in seinem Glückseligkeitswerthe aufgehoben werden kann."

P. 49 "der christliche Kultus, dieses Gewand, für einen Gottmenschen zugeschnitten, wird schlotterig und verliert alle Haltung, sobald es einem bloßen Menschen um gelegt wird."

15 [6]

Lichtenberg: "ich weiss dass berühmte Schriftsteller, die aber im Grunde seichte Köpfe waren – was sich in Deutschland leicht beisammen findet – bei allem ihren Eigendünkel von den besten Köpfen, die ich befragen konnte, für seichte Köpfe gehalten worden sind."

15 [7]

Das allerneueste Testament vererbt seine Weisheit an die, welche "geistig arm" sind, weil sie entweder nichts oder zuviel oder nichts recht gelernt haben und schlechte Bücher z. B. nur ihre eigenen gelesen haben.

15 [8]

War es nicht die Meinung des Aristoteles dass man die Producte alter Männer – weil sie nicht völlig lebensfähig sind – tödten solle?

15 [9]

Otto Jahn, dem das Beethovensche Lied an die Freude nicht heiter genug erschien.

15 [10]

Die Wirkungen Hegel's und Heine's auf den deutschen Stil! Letzterer zerstört das kaum fertige Werk unserer grossen Sprachkünstler, nämlich das kaum errungene Gefühl für einheitliche Farbe des Stils; er liebt die bunte Hanswurstjacke. Seine Einfälle, seine Bilder, seine Beobachtungen, seine sentiments, seine Worte passen nicht zu einander, er beherrscht als Virtuose alle Stilarten, aber benutzt diese Herrschaft nur um sie durcheinander zu werfen. Bei Hegel ist alles nichtswürdiges Grau, bei Heine electrisches Farbenspiel, das aber die Augen eben so fürchterlich angreift, als jenes Grau sie abstumpft. Hegel als Stilist ist ein factor, Heine ein Farceur. –

15 [11]

Der neue Glaube kann keine Berge, wohl aber Worte versetzen. –

15 [12]

Empedocles sagte den Agrigentinern: sie hiengen den Lüsten nach, als ob sie den andern Tag sterben sollten, und sie bauten so, als ob sie niemals sterben würden. Strauss baut so, als ob sein Buch morgen sterben müsste, und benimmt sich so, als ob es gar niemals sterben sollte. –

15 [13]

Nicht das Straussische Buch, nur sein Erfolg ist das Ereigniss, das uns zu reden zwingt. Kein Gedanke ist darin, der werth wäre als gut und neu bemerkt zu werden. –

15 [14]

Wohlgewaschene Lumpen kleiden zwar reinlich, doch jedenfalls lumpenhaft.

15 [15]

Die süddeutschen Mundarten haben die einzige Vergangenheitsform längst eingebüßt.

Rückert stellt Imperfect, Präsens und Perfect in verderblicher Weise neben einander, z. B.

Als er nun bei der Gränze Zoll

nicht wollt' angeben, was er führt,

und seinen Kasten öffnen soll,

der Zöllner hat den Fund erspürt.

So ein Perfect in der Erzählung ist ganz tadelnswerth.

15 [16]

Weglassung des Particips: "die Post ist durch, der Bruder ist mit, das Lied ist aus, die Sonne ist unter, das Thor ist auf, der Gast ist fort, das Geld ist weg, die Festung ist über." "Er hat ein Halstuch um, er hat die Sache weg, er hat das Räthsel heraus."

15 [17]

Perfekte mit "haben" als Hülfszeitwort. Ursprünglich „er hat ein Haus gebautes", "ich habe ein Kleid gekauftes", also Apposition des Accusativs wie bei "er schießt den Hasen todt" ("todten" alt).

15 [18]

Aus dem Imperfect hat sich die Conjunktivform entwickelt. Die Vorstellung des Vergangenen umgebildet zu der des Nichtmehrvorhandenen: "er lebte" enthält „er lebt nicht mehr". Nun drückt Conjunktiv die Läugnung des Nichtvorhandenseins aus, entnommen aus dem "Nichtmehrvorhandensein". Im älteren Deutsch "ich spräche" für jede Nichterfüllung in der Zeit, jetzt unterscheiden wir "ich spräche" (noch nicht erfüllt) und "ich hätte gesprochen" (nie erfüllt). "Es gienge wohl", aber es geht nicht.

15 [19]

Der Conjunktiv des Präsens unterscheidet sich so vom Indikativ, daß der Indicativ ein Wissen, der Conjunktiv ein Glauben ausdrückt. Daraus die ungerade Rede entwickelt: man lehnt ein bestimmtes Wissen ab, aber spricht doch den Glauben aus, daß etwas wahr sei. Die ungerade Rede früher allein in der Form des Imperfect-Conjunctivs, und kommt so noch vor. Alt ich spräche" (conditional); neu "ich würde sprechen". Alt "er spräche" (in ungerader Rede), neu "er spreche" (Conjunctiv Präsens). – In der Schweiz sagt man „die Russen seien über den Balkan gegangen" für "sollen sein". Es ist gut und nachahmenswerth.

15 [20]

1 . Wir müssen streben, das Hülfszeitwortwesen zu beschränken!

2. Die Einschachtelung der Präpositionen zu meiden!

3. Man nehme sich mit "müssen" dürfen wollen sollen mögen können" in Acht!

4. Auch die Bildung mit "daß" ist übermäßig geworden.

5. Herstellung der Conjunctive und der Imperfecte!

6. Der Genetiv der Sache zu conserviren, statt der überwuchernden Präpositionen z. B. den Helden seiner Thaten preisen, den Fremden seiner Herkunft fragen, den Kranken seiner Wunden heilen. Erhalten noch in "anklagen, beschuldigen, zeihen, bezichtigen, überführen, überweisen, erlösen, erlassen (der Haft), entledigen, entbinden, überheben, entsetzen, berauben, verweisen (des Landes), entblößen, entladen, entlassen, entheben, würdigen, versichern, befreien, belehren (eines Besseren, der Zukunft)". Bei "sich" sind wir viel conservativer: „sich seiner Thaten rühmen, sich langen Lebens freuen" „sich eines Mannes annehmen" "sich einer Sache bedenken, sich der Gelegenheit bedienen, des Lebens wehren, des Todes fürchten" vielleicht "sich des Verfahrens ärgern, sich der Schickung grämen, sich der Gefahr scheuen."

15 [21]

Ganz recht ist beides "mich dünkt" und "mir dünkt", es friert mich" "mir friert". "ich schlage dir ins Gesicht, ich schlage dich ins Gesicht." Dativ oder Accusativ bei dünken, ekeln, schmerzen, ahnen.

15 [22]

Feierlich ist jetzt der Genetiv beim Verbum „es schenkte der Böhme des perlenden Weins", aber noch ganz gewöhnlich, z. B. wo die Leute Vergnügen an Wortspielen haben und selbst deren machen. Des Brotes genießen, des Gehörten erstaunen, des Krüppels spotten, der Gefahr achten, seiner Mutter vergessen. Einer besseren Zukunft sinnen, des nahenden Unglücks erschrecken, des fröhlichsten Lebens wimmeln, des muntersten Gesanges ertönen (der Wald z. B.), eines Kindes genesen.

15 [23]

Die Präposition "von" hat den Genetiv verdrängt. Nicht bei "satt, müde, voll, quitt, leer, frei, los, fähig, kundig, theilhaftig, habhaft, überdrüssig, beflissen, gewahr, bedürftig, bewußt, befugt, gedenk, verblichen, froh, werth, ansichtig". Die gemeinen Mundarten kennen den Genetiv fast gar nicht mehr.- "dem Nachbar sein Garten" (doch auch 's Nachbars sein Garten).

15 [24]

Amtmann's ist Genetiv (im Sinn von Amtmannsleute). Dativ Plural überall bei Ortsnamen auf -hausen -hütten -bergen -thalen -felden -walden -linden -eichen. Baden ist "zu den Bädern", Schiffhausen "zun Schiffhäusern". So in Rothenstein, Altenburg. Zu ausgelassen.

15 [25]

Aufgabe: ein schlichter Auszug aus Overbecks Buche „Christlichkeit der Theologie". Aus meiner „Geburt der Tragödie".

15 [26]

Warnung vor den Zusammensetzungen wie „Forschungshülfsmittel". "Culturkampf".

Ebenso vor dem Vertrauen auf die Tragkraft eines Wortes, wie z. B. "die Anschauung von der Leistungsfähigkeit der modernen Photographie in Verbindung mit Pressendruck".

15 [27]

Die verschiednen Stilarten:

A. Stil des Intellekts (unmetrisch) oder "der gefühllose Stil".

B. Stil des Willens (entweder Prosa oder Poesie –

1. des hJ oz 2. des paJ oz metrisch oder halbrhythmisch) oder

der Stil des unreinen Denkens".

Der Stil des Intellekts entsteht spät, immer auf Grundlage des Ethos-Stils. Aber zuerst meist poetisch (das Bild des Individuums bestimmt ihn, der Priester der Seher mit hJ oz), später

schlicht-alltäglich (nach dem Vorbild des vornehmen Mannes, der einfach und gewählt spricht). Die Ernüchterung der Denkart muß sich nun überall zeigen, ebenso der Haß gegen das unreine

Denken.

Die Schriftsprache entbehrt der Betonung und dadurch eines außerordentlichen Mittels, Verständniß zu erlangen. Sie muß sich also bemühen, dies zu ersetzen: hier ist ein Hauptunterschied der geschriebenen und gesprochenen Rede. Die letztere darf sich auf Betonung verlassen: die Schriftsprache muß übersichtlicher kürzer unzweideutiger sein, ihre größte Mühe ist es aber, die Leidenschaften der Betonung ungefähr nachfühlen zu lassen. Frage: wie hebt man ein Wort heraus, ohne den Ton zu Hülfe zu nehmen (da man keine Tonzeichen hat)? Zweitens: wie hebt man ein Satzglied heraus? Vielfach muß anders geschrieben als gesprochen werden. Deutlichkeit ist Vereinigung von Licht und Schatten.

Lesen Vorlesen Vortragen bedingen drei Arten des Stils. Hier ist Vorlesen die Art, bei der die Stimme am kunstvollsten behandelt werden muß, da sie den Mangel von Gestikulation zu ersetzen <hat>, Lesen die Art, wo der Stil am vollkommensten sein muß, weil hier Stimme und Gestikulation als Ausdrucksmittel wegfallen. Natürliche Gattungen könnte man z.B. die Vorlese-Gattung nennen, wenn hier die Gesten wirklich überflüssig wären, also nicht ersetzt zu werden brauchten (hinter einem Vorhang lesen): bei ganz Ruhigem, wo der Körper ruhig bleiben würde, z. B. Geschichte des Herodot. Natürlich wäre die Lese-gattung, wo Modulation der Stimme und Gesten gar nicht in Betracht kämen z. B. bei Mathematik.

 

[Dokument: Notizbücher]

[1876]

16 [1]

I Aesthetik II zur Ethik und Glückseligkeitslehre

16 [2]

Keiner klug – Trauung – Ruine – Mädchen Glück

16 [3]

Menschen, welche das Talent der Darstellung haben, sehen an den Dingen nur das Darstellbare. Sie begreifen vieles nicht. So auch die Schriftsteller und Lehrer. Diese Alle denken im Grunde immer nur an ihr Talent: ob sie sonst besser oder schlechter werden, ist ihnen gleich.

Als Mensch, Musiker, Philolog, Schriftsteller, Philosoph – in allem merke ich jetzt wie es mit mir steht – gleich, überall gleich! Wäre ich ehrgeizig, so wäre es vielleicht gar nicht zum Verzweifeln: aber da ich es so wenig bin, so ist es fast zum Verzweifeln. Bei Schloss Chillon geschrieben, Abends gegen 6.

16 [4]

Befreiung.

Philolog.

Ehe.

Lebensalter.

Religion.

Wagner.

usw.

16 [5]

Leopardi – Chamfort – Larochefoucault – Vauvenargues – Coleridge – Tischgespräche.

Übersetzen.

Geschichte der Litteratur.

Über Philologie.

Buch: Die freien Lehrer.

1. Weg zur Befreiung.

2. die Schule der Erzieher.

3. die Wanderer.

4. Heil dem Tode!

16 [6]

Askese unter der allgemeinen Betrachtung des Selbstmords, ebenso die unegoistische Aufopferung.

16 [7]

Jeder Mensch hat seine Recepte, um das Leben zu ertragen (theils es leicht zu erhalten, theils es leicht zu machen, wenn es einmal sich schwer gezeigt hat), auch der Verbrecher. Diese überall angewandte Lebenskunst ist zusammenzustellen. Zu erklären, was die Recepte der Religion eigentlich zu Stande bringen.

Nicht das Leben zu erleichtern sondern leicht zu nehmen.

Viele wollen es erschweren, um hinterdrein ihre höchsten Recepte (Kunst Ascese usw.) anzubieten.

16 [8]

"das leichte Leben"

(oeia zwontez)

"Weg zur geistigen Freiheit"

die Griechen

Lehrer

Ehe Eigenthum und Arbeit.

16 [9]

Das leichte Leben,

Weg zur Freiheit.

Tod der alten Cultur.

Lehrer.

Weib und Kind.

Eigenthum und Arbeit.

16 [10]

Unzeitgemässe Betrachtungen.

1. Der Bildungsphilister (Falschmünzerei der Bildung).

2. Die Historie.

3. Der Philosoph.

4. Der Künstler.

5. Der Lehrer.

6. Weib und Kind.

7. Eigenthum und Arbeit.

8. Griechen.

9. Religion.

10. Befreiung.

11. Staat.

12. Natur.

13. Geselligkeit.

16 [11]

  1. Natur 1883
  2. Weib und Kind 1878
  3. Eigenthum und Arbeit 1881
  4. Der Lehrer 1882

5. Geselligkeit 1884

6. Die Leichtlebenden 1880

7. Griechen 1879

8. Freigeist 1877

9. Staat 1885

16 [12]

Sieben unzeitgemässe Betrachtungen – 1873-78.

Zu jeder Betrachtung Nachtrag in Aphorismen.

Später: Nachträge zu den unzeitgemässen Betrachtungen (aphoristisch).

16 [13]

Jeden Tag eine Freude machen – „Freund".

16 [14]

aus der Tugend eine Noth machen

16 [15]

1 Tag nichts essen jede Woche.

Abends nur Milch und Thee.

Täglich 4 Stunden unterwegs. (mit Notizbuch)

Sammlung: zur deutschen Sprache.

Sentenzen.

Unzeitgemässe Betrachtungen 29.- 37. Lebensjahr

38.- 48.

49.- 58.

16 [16]

Es giebt verschiedene Stufentreppen zur Freiheit. Kann einer auf dieser nicht hinauf (z. B. wenn sein Gemüth störrisch ist) so vielleicht auf jener. Die eine Kraft wird dann abnorm stark entwickelt, z. B. der Sinn für Unabhängigkeit, der so gut zur Freiheit führen kann wie die Abhängigkeit in Liebe.

16 [17]

Das Mütterliche ist in jeder Art Liebe: aber nicht das Väterliche.

16 [18]

Zeichen einer rücksichtslosen Überlegenheit von Seiten befreundeter Menschen sind sehr schmerzlich und gehen tief in's Herz.

16 [19]

Consilia juventutis plus divinitatis habent. Bacon.

16 [20]

Mein Styl hat eine gewisse wollüstige Gedrängtheit.

16 [21]

Der Dichter muss ein Ding erst genau sehn und es nachher wieder ungenau sehen: es absichtlich verschleiern. Manche versuchen dies direkt; aber da gelingt's nicht (wie bei Schiller). Die Natur muss durch das Gewand durchleuchten.

16 [22]

Der hinwegthut, ist ein Künstler: der hinzuthut, ein Verläumder.

16 [23]

Die Etymologien bei Wagner sind ächt künstlerisch, obschon unwissenschaftlich: das ist das rechte Verhältniss zur Natur.

16 [24]

delirium tremens des Asceten

16 [25]

Das mächtige Nachleben des Freigeistes – er betrachtet sich als eine Lehre welche der Menschheit eingebrannt ist.

Freigeist aus Selbstvertheidigung, aus Machtverlangen.

16 [26]

oft Rache für Ohnmacht (Isocrates)

16 [27]

Der Tiefstand der deutschen Cultur bei Straussens Buch nach dem Kriege – entsprechend der gemeinen genusssüchtigen Gesinnung – der Pegel im Strom der deutschen Cultur.

16 [28]

Ein freidenkender Mensch macht die Entwicklung ganzer Generationen vorher durch.

16 [29]

Menschen die wie Hillebrandt nur der öffentlichen Meinung um einige Jahre voraus sind: die ebenfalls nur eine öffentliche Meinung haben.

16 [30]

Auf eine ununterbrochene Reihe guter Ahnen bis zu seinem Vater herauf kann man stolz sein: es ist eine Legitimation des eignen Selbst vor uns selbst. Aber eine einzige Unterbrechung in der Kette macht den Adel zunichte. Hast du keinen gewaltthätigen habsüchtigen ausschweifenden boshaften grausamen unter deinen Ahnen? soll man jeden fragen. – Insofern bin ich adelig im 4ten Grade: weiter zurück kann ich nicht sehen.

16 [31]

Viele Männer sind über den Ehebruch ihrer Gattinnen für sich gar nicht ungehalten, vorausgesetzt, dass sie dieselben dadurch ohne Einbusse los werden.

16 [32]

Der Ungehorsam der Söhne gegen die Väter geht immer gerade so weit als möglich, d. h. der Gehorsam zeigt sich als das gerade noch erlaubte Minimum. Es steht aber ganz in der Hand der Väter, die Grenze zu ziehn, weil sie die Erziehung und damit die Gewöhnung in der Hand haben.

16 [33]

Ziel: einen Leser so elastisch zu stimmen, daß er sich auf die Fussspitzen stellt.

16 [34]

Freigeisterei Feenmärchen Lüsternheit heben den Menschen auf die Fussspitzen.

16 [35]

Sich Zeit lassen zum Denken: das Quellwasser muß wieder zusammenlaufen.

16 [36]

Die Illusion des Geschlechtstriebs hat den seltsamen Charakter periodisch unheilbar zu sein: er fängt immer wieder in seine Netze, obwohl zwischeninne Zeiträume der völligen Enttäuschung liegen.

16 [37]

Wenn man kein Glück hat, soll man sich Glück anschaffen.

16 [38]

Die Unthätigkeit bei den "Thätigen". Sie wissen den Grund nicht, warum sie arbeiten, sie verlieren vitam ohne Sinn: es fehlt ihnen die höhere Thätigkeit, die individuelle, sie denken als Beamte Kaufleute, aber sind unthätig als Menschen einziger Art.

16 [39]

Der höhere Ehrgeiz in der vita umbratica: gründlich sich unterscheiden!

16 [40]

Es ist das Unglück der Thätigen dass ihre Thätigkeit immer ein wenig unvernünftig ist: sie rollen so bewusstlos fort wie der Stein fällt.

16 [41]

Vielleicht nützen wir dem allgemeinen Wohle mehr durch unser Schlechtergehen und Untergehen als wenn wir siegten.

16 [42]

Jeder hat über jedes seine eigene Meinung, weil er ein eignes Wesen ist – doch muss er sich sehr besinnen!

Die Dinge zerfallen in solche über welche ein Wissen und solche über welche Meinungen möglich sind.

16 [43]

Mit der Freiheit steht es wie mit der Gesundheit: sie ist individuell.

16 [44]

Der Freigeist wird nur einen Zipfel eines Ereignisses fassen, aber es nicht in seiner ganzen Breite haben wollen (z. B. Krieg -Bayreuth).

16 [45]

Moderne Klöster – Stiftungen für solche Freigeister – etwas Leichtes bei unsern grossen Vermögen.

16 [46]

Gespräch der Freigeister: wie mehrere einen steilen Berg erklettern, nicht mit einander kämpfend und sich den Boden streitig machend – das abscheuliche Disputiren.

16 [47]

Wie steht der Freigeist zuletzt zum activen Leben? Leicht gebunden – kein Sclave seiner Handlungen.

16 [48]

Der Gelehrte hat Würde verloren, er macht den hastig geniessenden activen Menschen Concurrenz.

16 [49]

Zeitig sein äusserliches Ziel erreichen, ein kleines Amt, ein Vermögen, das gerade ernährt. So leben dass ein Umsturz aller Dinge uns nicht sehr erschüttern kann.

16 [50]

Sonnenlicht glitzert in dem Grund und zeigt worüber die Wellen fliessen: schroffes Gestein.

16 [51]

Die Schätzung des contemplativen Lebens hat abgenommen. Ehemals waren Gegensätze der Geistliche und der esprit fort: eine Art Neugeburt beider in Einer Person jetzt möglich.

16 [52]

Es kommt darauf an, wie viel Athem ihr habt, um in dies Element tauchen zu können: habt ihr viel, so werdet ihr den Grund sehen können.

16 [53]

Um eine Sache ganz zu sehen, muss der Mensch zwei Augen haben, eins der Liebe und eins des Hasses.

16 [54]

Die productiven Menschen werden selten Freigeister; die Dichter bleiben religiös rückständig. Die Politiker – – –

16 [55]

Das Bild des Freigeistes ist unvollendet im vorigen Jahrhundert geblieben: sie negirten zu wenig und behielten sich übrig.

 

[Dokument: Heft]

[Sommer 1876]

17 [1]

Über das Aesthetische: einiges Derbe.

Das Weglassen ein Hauptmittel des Idealismus. Man darf so genau nicht zusehn, man zwingt den Zuschauer in eine große Ferne zurück, damit er von dort aus betrachte (wie bei der Dekorations-Malerei). Wie wichtig ist der Ansatz der Entfernung des Betrachters! Hier darf der schaffende Künstler nicht schwanken. Gerade hier zeigt sich, wie genau er vom stärksten Gefühle seines Zuhörers ausgehen muß.

Das Metron legt Flor über die Realität; einiges künstlichere Gerede verdeckt etwas und hebt; das "Dumpfe". Die letzten Mittel, womit die Kunst wirkt, recht naiv nachzuempfinden! Ist sehr selten! Es sind ziemlich alberne Sachen, die dabei herauskommen. Ebenso ist es bei der Religion.

Der große Werth des unreinen Denkens für die Kunst.

Zum Nachahmen gehört Liebe und Verspottung zusammen, wie bei Archilochos. Ist wohl der fruchtbarste Zustand der menschlichen Seele!

17 [2]

Zu der unbesiegbaren Nothwendigkeit des menschlichen Daseins gehört das Unlogische: daher kommt vieles Sehr Gute! Es steckt so fest in der Sprache, in der Kunst, in den Affekten, Religion, in allem, was dem Leben Werth verleiht! Naive Leute, welche die Natur des Menschen in eine logische verwandeln wollen! Es giebt wohl Grade der Annäherung, aber was geht da alles verloren! Von Zeit zu Zeit bedarf der Mensch wieder der Natur d. h. seiner unlogischen Urstellung zu den Dingen. Daher rühren seine besten Triebe.

17 [3]

Die zwei Welten hinter einander: Siegfrieds Leben, im Hintergrunde das Götterschicksal. Höchst metaphysisch empfunden.

17 [4]

Es ist den Deutschen wieder einmal so gegangen, wie nach der Reformation; ebenso haben sie jetzt Schiller und Goethe's Reformation, den hohen Geist, aus dem sie wirkten, völlig eingebüßt; alles was jetzt gelobt wird, ist ein volles Gegenstück dazu, und so hat sich bei den Ehrlichen eine Art Verachtung gegen jenen Geist ausgebildet. Es kommt durchaus darauf an, daß der Mensch groß ist; was dazu gehört, ist nicht zu schnell zu taxiren; aber das Nationale, wie es jetzt verstanden ist, fordert als Dogma geradezu die Beschränktheit. Wie fühlen sich die Schächer über Schiller hinaus!

17 [5]

Zum Darwinismus.

Das Allgemeingefühl mit der Menschheit.

Zum Staate.

Zur Religion.

17 [6]

Herzliches Mitleid mit sich selbst ist die höchste Empfindung, zu der es der Mensch bringen kann.

17 [7]

Genug, daß es dadurch zeitweilig zum Einschlafen gebracht wird, und daß der Mensch dann nicht mehr an sein Leiden denkt. Es ist das Beste an der Welt, daß es für ihren Wahn Schlaf und Vergessenheit giebt: alle ethischen Systeme rechnen auf diesen besten Zug an der schlechtesten Welt.

17 [8]

Das Leben verlohnt sich nicht mit aller der Mühe.

17 [9]

Viele Menschen fürchten nicht den Tod, aber das gar zu lange Sich-Ausspinnen des Sterbens z. B. durch Krankheit und ziehen diesem Zustande das Leben vor.

17 [10]

Da sagt jemand: "mir soll jener Autor nicht nahe kommen; er sagt den Menschen so viel Schlechtes nach, er muß selber recht schlecht sein." Antwort: aber du selber mußt dann noch schlechter sein, denn du sagst den besten Leuten, die es giebt, den Wahr-Redenden und Sich-selbst-nicht-Schonenden, Schlechtes nach und noch dazu Unwahres!

17 [11]

Der kranke Mensch ist oft an seiner Seele gesünder als der gesunde Mensch.

17 [12]

Religiöse Betrachtung der Welt ohne Schärfe und Tiefe des Intellekts macht die Religion zur ekelhaftesten Sache der Welt.

17 [13]

Es giebt Frauen, welche wo man auch gräbt, kein Inneres haben, sondern reine Masken sind: fast gespenstische Wesen, blutsaugerisch, nie befriedigend.

17 [14]

Wir fürchten die feindselige Stimmung des Nächsten, weil wir wissen, daß er durch diese Stimmung hinter unsre Heimlichkeiten kommt und uns zu verachten lernt, wie wir uns selbst verachten.

17 [15]

Wie kommt es, daß wir mehr von der Verachtung Anderer als von der eignen leiden? Sie ist uns schädlicher.

17 [16]

Der geniale Zustand eines Menschen ist der, wo er zu einer und derselben Sache zugleich im Zustand der Liebe und der Verspottung sich befindet.

17 [17]

Der Zweck des Staates soll nie der Staat, sondern immer der Einzelne sein.

17 [18]

Wer die Dinge sich für seine Vorstellung verschönern will, muß es machen, wie der Dichter, der einen Gedanken verschönern will: er spannt ihn in das Metron, und legt das Gespinst des Rhythmus über ihn: dazu muß er den Gedanken ein wenig verschlechtern, damit er in den Vers paßt. Das Verschlechtern der Erkenntniß, um dann die Dinge der Kunst zu beugen: ein Geheimniß der Lebenslustigen.

17 [19]

Der feinste Kunstgriff des Christenthums war, von Liebe zu reden: wie es auch der Plato's war. Es ist etwas so Vieldeutiges Sammelndes Erinnerndes darin und die niedrigste Intelligenz empfindet noch den Schimmer dieses Wortes: das älteste Weib und der vernünftigste Mann danken der Liebe die edelsten uneigennützigsten Augenblicke ihres Lebens.

17 [20]

Daß die Juden das schlechteste Volk der Erde sind, stimmt damit gut überein, daß gerade unter Juden die christliche Lehre von der gänzlichen Sündhaftigkeit und Verwerflichkeit des Menschen entstanden ist – und daß sie dieselbe von sich stießen.

17 [21]

Weg zur geistigen Freiheit.

Stufen der Erziehung.

Eltern. Verwandtschaft Nachbarn. Freunde. öffentliche Schulen Lehrer. Völker-geschichte. Natur. Mathematik. Geographie. Reisen. Das Alterthum. Die Lebensalter, Umgang mit Älteren. Der Staatsdienst. Der Menschendienst. Einordnung in religiöse Bekenntnisse. Ehe. Weiber. Kinder. Einsame. Ehelose. Erwerb. Ehre. Die Güterlosen. Die Ehrlosen. Die Presse. Die Verewigung. Umgang mit Todten. Wohlthat des Todes, Reifsein. Zu frühe Einsicht in die Ziel- und Nutzlosigkeit.

17 [22]

Unzeitgemäße Betrachtungen. Ich habe zusammengebunden und gesammelt, was Individuen groß und selbstständig macht, und auch die Gesichtspunkte, auf welche hin sie sich verbünden können. Ich sehe, wir sind im Aufsteigen wir werden der Hort der ganzen Cultur in Kürze sein. Alle anderen Bewegungen sind kulturfeindlich (die socialistische ebenso als die des Großstaates, die der Geldmächte, ja die der Wissenschaften).

Ich will den Menschen die Ruhe wiedergeben, ohne welche keine Cultur werden und bestehen kann. Ebenso die Schlichtheit.

17 [23]

Mir liegt nur an den Motiven der Menschen: das objektive Bestehen der Erkenntniß ist mir ein Greuel. Die höchste Erkenntniß wird, wenn sich die Menschen verschlechtern, wegewischt.

17 [24]

Ich sehe auf Knaben- und Jünglingsjahre mit Leidwesen zurück und fühle von Tag zu Tage mehr die Befreiung. Übergang aus Befangenheit in Unbefangenheit.

17 [25]

Spannung der Empfindung beim Entstehn der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung. Angst für den Genius und sein Werk und dabei der Anblick der Straußischen Behäbigkeit. Das Gefälschte aller geistigen Lebensmittel! Die Erschlaffung aller Erkennenden! Die wankende Moralität in Recht und Unrecht, und die unbändige Genußsucht im Gemeinen! Die verlogene Art von Glück!

17 [26]

Ruhe Einfachheit und Größe!

Auch im Styl ein Abbild dieses Strebens, als Resultat der concentrirtesten Kraft meiner Natur.

"Der Weg zu dir selber."

17 [27]

Wie die Erkenntniß den Willen entzünden kann, so kann die halbe Erkenntniß ihn trüben, und ungesund machen: so daß er nicht mehr Hunger und Durst in rechter Weise hat, und nicht einmal erlöst werden kann. Herstellung des Individuums, um dann wirklich zu wissen, was es verlangt!

17 [28]

Der Zweck der Kindererzeugung ist, freiere Menschen, als wir sind, in die Welt zu setzen. Kein Nachdenken ist so wichtig, wie das über die Erblichkeit der Eigenschaften.

17 [29]

Die Natur weist den Mann auf mehrfache Verheirathung nach einander an: zuerst ein älteres Mädchen. Übergang derselben später in's Mütterliche.

„Alcestis will sterben für ihren Gatten", spendet ihm mütterliche Liebe: sie will eine zweite Verheirathung zulassen. Sie wird aus dem Hades zurückgeholt.

17 [30]

Mich setzen die Menschen in Erstaunen, welche so nach ihrer Jugend zurückseufzen z. B. nach den Studentenjahren: es ist ein Zeichen, daß sie unfreier geworden sind und sich selbst damals besser befanden. Ich empfinde gerade umgekehrt und kenne nichts weniger Wünschbares als Kindheit und Jugend: ich fühle mich jetzt jünger und freier als je.

17 [31]

Es geht ein Wandrer durch die Nacht

Mit gutem Schritt;

Und krummes Thal und lange Höhn

Er nimmt sie mit.

Die Nacht ist schön –

Er schreitet zu und steht nicht still,

Weiß nicht, wohin sein Weg noch will. –

Da singt ein Vogel durch die Nacht. –

– "Ach Vogel, was hast du gemacht?

Was hemmst du meinen Sinn und Fuß

Und gießest süßen Herzverdruß

Auf mich, daß ich nun stehen muß

Und lauschen muß,

Zu deuten deinen Ton und Gruß?" –

Der gute Vogel schweigt und spricht:

Nein Wandrer, nein! Dich grüß ich nicht

Mit dem Getön;

Ich singe weil die Nacht so schön.

Doch du sollst immer weiter gehn

Und nimmermehr mein Lied verstehn.

Geh nur von dann'

Und klingt dein Schritt von fern heran

Heb' ich mein Nachtlied wieder an

So gut ich kann. –

Leb wohl, du armer Wandersmann! –

17 [32]

Der Künstler hat Untreue des Gedächtnisses nötig, um nicht die Natur abzuschreiben, sondern umzubilden.

17 [33]

"Über den Dingen". Wer die Präposition „über" ganz begriffen hat, der hat den Umfang des menschlichen Stolzes und Elends begriffen. Wer über den Dingen ist, ist nicht in den Dingen – also nicht einmal in sich! Das letztere kann sein Stolz sein.

17 [34]

Mißerfolg und Verachtetwerden sind gute Mittel, um frei zu werden. Man setzt seine Verachtung dagegen: ihr gebt mir nichts dazu! So bin ich nun, wie ich bin.

17 [35]

Der Mensch macht sich, älter werdend, überflüssig.

17 [36]

Ich habe mir hier und da in den Unzeitgemäßen Betrachtungen Ausfallspforten noch gelassen.

17 [37]

Das Coelibat hat die katholischen Länder fast um die Kinder von Geistlichen gebracht: milde halb sich verneinende Menschen.

17 [38]

Der Mensch wirft sich herum bald auf diese bald <auf> jene Seite, groß ist die Pein.

17 [39]

Glitzernder Sonnenschein der Erkenntniß fällt durch den Fluß der Dinge auf deren Grund.

17 [40]

In den einzelnen Geschlechtern, ebenso in einzelnen Culturperioden, strebt der Wille darnach, matt und gut zu werden und abzusterben.

17 [41]

Die Schätzung des contemplativen Lebens hat abgenommen. – Deshalb ist meine Betrachtung unzeitgemäß. Ehemals waren der Geistliche und der esprit fort Gegensätze, beide innerhalb des contemplativen Lebens.

17 [42]

Wie steht der Freigeist zum activen Leben? Leicht an dasselbe gebunden, kein Sklave desselben.

17 [43]

Die activen Menschen verbrauchen nur die von den contemplativen gefundenen Ideen und Hülfsmittel.

17 [44]

Für die Zukunft des Menschen lebt der Freigeist so daß er neue Möglichkeiten des Lebens erfindet und die alten abwägt.

17 [45]

Epikurs Kanon zu benutzen.

17 [46]

Wiederherstellung der Ruhe und Stille für das Reich des Intellektes, Beseitigung des modernen Lärms.

Eine Beruhigungssucht und Vertiefung muß über die Menschen kommen, wie es nie eine gab, wenn sie erst einmal der modernen Hatz müde geworden sind.

17 [47]

Zu Freigeistern und zu Freunden derselben eignen sich jene entsetzlichen Menschen nicht, welche in Jedermann einen Patron und Vorgesetzten sehen oder eine Brücke zu irgend einem Vortheile und welche sich durchschmeicheln. Viel eher werden die zu Freigeistern, welche in Jedermann, auch in Freunden, Gönnern Lehrern etwas Tyrannisches sehen, welche große Wohlthaten entschieden ablehnen.

17 [48]

Auch der Ehrgeizige kann zum Freigeist werden, denn er hat hier ein Mittel sich gründlich zu unterscheiden.

17 [49]

Was ist das Ziel aller Sprachwissenschaft, wenn nicht einmal eine Universalsprache finden? Dann wäre der europäische Universalmensch da. Wozu dann noch das fürchterliche Sprachen lernen!

17 [50]

Wer sein Geld als Freigeist gut verwenden will, soll Institute gründen nach Art der Klöster, um ein freundschaftliches Zusammenleben in größter Einfachheit für Menschen zu ermöglichen, welche mit der Welt sonst nichts mehr zu thun haben wollen.

17 [51]

Die moderne Krankheit ist: ein Übermaaß von Erfahrungen. Deshalb gehe jeder zeitig mit sich heim um nicht an den Erfahrungen sich zu verlieren.

17 [52]

Es ist ein böses Symptom, daß man von der Vaterlandsliebe und der Politik ein solches Aufheben macht. Es scheint daß nichts Höheres da ist, was man preisen kann.

17 [53]

Die moderne Bewegtheit wird so groß, daß alle großen Ergebnisse der Cultur dabei verschwinden, es fehlt allmählich an dem ihnen gemäßen Sinne. So läuft die Civilisation in eine neue Barbarei aus. Die Menschheit darf aber nicht in diesen einzigen Strom der "Thätigen" geleitet werden. Ich hoffe auf das Gegengewicht, das beschauliche Element im russischen Bauern und im Asiaten. Dies wird irgend wann einmal in größerem Maaße den Charakter der Menschheit corrigiren.

17 [54]

Nach dem Westen zu wird der Wahnsinn der Bewegung immer größer, so daß den Amerikanern schon alle Europäer behaglich und genießend vorkommen.

Wo die beiden Ströme zusammentreffen und sich verschmelzen, kommt die Menschheit zu ihrem Ziele: die höchste Erkenntniß über den Werth des Daseins (dort nicht möglich, weil die Aktivität des Denkens zu gering, dort nicht möglich, weil diese Aktivität anders gerichtet ist).

17 [55]

Ich imaginire zukünftige Denker, in denen sich die europäisch-amerikanische Rastlosigkeit mit der hundertfach vererbten asiatischen Beschaulichkeit verbindet: eine solche Combination bringt das Welträthsel zur Lösung. Einstweilen haben die betrachtenden Freigeister ihre Mission: sie heben alle die Schranken hinweg, welche einer Verschmelzung der Menschen im Wege stehen: Religionen Staaten monarchische Instinkte Reichthums- und Armutsillusionen, Gesundheits- und Rassenvorurtheile – usw.

17 [56]

Jeder, der geheimnißvoll von seinen Plänen spricht, kommt uns albern und wichtigthuerisch vor. Es wird so viel nicht sein.

Nicht von einer Sache sprechen wollen erscheint als unberechtigtes Selbstgefühl und gilt als pedantisch.

17 [57]

Die Seelen-Unruhe, die ich verwünsche, ist vielleicht gerade der Zustand, der mich zur Produktion treibt. Die Frommen, welche völligen Frieden ersehnen, entwurzeln ihre besten Thätigkeiten.

17 [58]

Der Freigeist ist "götterneidisch" auf das dumme Behagen der Menschen. nemesshticon ist der Götterneid.

17 [59]

Das schlichte Aussehen der Wahrheit.

17 [60]

Hemmungen nöthig, um Genius hervorzubringen.

17 [61]

Zwischen drei Begabungen die mittlere Linie finden – mein Problem.

17 [62]

Jede Liebhaberei central zu machen und einzuflechten in die vorhandenen Talente.

17 [63]

Die Laster haben vielen Anlaß zur Freigeisterei gegeben. Ebenso die Furcht vor den ewigen Strafen: man schüttelte diese lästigen Gedanken weg und wurde dabei die Religion los.

17 [64]

Religiöse Meinungen kann man sich leicht abgewöhnen, wenn man nur zeitig anfängt.

17 [65]

Hauptfehler des heutigen Unterrichts ist, daß er stundenweise gegeben wird und alles durcheinander.

17 [66]

Es leben die edlen Verräther!

17 [67]

Demokratische aufrichtige Staaten haben die höchste Erziehung um jeden Preis Allen zu gewähren.

17 [68]

Daß die Kunst das Wahre der Natur darstelle ist die Illusion welche sie erregt, nicht die philosophische Wirklichkeit.

17 [69]

Heilige Mißgunst

17 [70]

Reinlichkeit zur Reinheit steigern: vielleicht selbst zum Begriff der Schönheit bei den Griechen.

17 [71]

Die allgemeinen Ansichten vererbt man durch Angewöhnung, um nun seine ganze Energie seinen persönlichen Vortheilen innerhalb des gegebenen Kreises zuzuwenden. Es schützt vor Vergeudung der persönlichen Kraft.

17 [72]

Menschliches und Allzumenschliches.

Wege zur Befreiung des Geistes.

Die Erleichterung des Lebens.

Weib und Kind.

Staat und Gesellschaft.

17 [73]

Fünf kleine Handlungen der Freiheit wirken mehr als alle Freidenkerei.

17 [74]

Wir können wie die leicht lebenden Götter leben wenn wir das lebhafte Entzücken an der Wahrheit haben.

17 [75]

1. Die gebundenen Geister.

2. Die Art der höheren Entwicklung, Nothwendigkeit der Freigeisterei.

3. Entstehung des Freigeistes – Entwicklung, Nicht-Angewöhnung.

4. Theilweise Freigeister.

17 [76]

Staaten Ehen usw. beruhen auf dem Glauben, nicht auf dem Wissen. Aber das ist ein pudendum: es war frech vom Christenthum, das Geheimniß zu proklamiren und den Glauben zu fordern und das Wissen abzulehnen.

Überall beruht eine Religion auf dem Glauben.

Der Staat ist da, also ist sein Princip im Recht. Das monarchische Princip muß wahr sein, denn die Monarchie existirt.

17 [77]

Daß Christus die Welt erlöst habe, ist dreist.

17 [78]

Es gehört zur Reinheit, daß man im Verlaufe des Lebens immer weniger Zuflucht zum Metaphysischen sucht.

17 [79]

Das unreine Denken und der Stil.

17 [80]

Die Kunst nach den Wirkungen und nach den Ursachen beurtheilen – zwei Aesthetiken!

17 [81]

Der Asket schlecht<es> und unregelmäßiges Gehirn.

Ekstasis Wollust des Intellekts.

17 [82]

Die Muße und der Müssiggang gehen verloren! wieder verleumdet!

17 [83]

§ Wie Erfolge gemacht werden: v. geistige Freiheit.

§ Müssiggang.

17 [84]

Es liegt vor Aller Augen, daß nach dem letzten Kriege der Deutschen und der Franzosen ungefähr jeder Deutsche um einen Grad mehr unehrlich genußgierig habsüchtig gedankenlos geworden war: die allgemeine Bewunderung vor Strauß war das Denkmal, welches man dem tiefsten Stande des Stromes der deutschen Cultur gesetzt hat: ein freier denkender altgewordener Theologe wurde der Herold des öffentlichen Behagens.

17 [85]

Zum Schluß: die Freigeister sind die leichtlebenden Götter.

17 [86]

Mit Religion verdirbt man sich den Kopf – gar nicht nachdenken.

17 [87]

Sie sollten nicht zu sich erziehen sondern über sich hinaus.

Kein großer Mann weist auf sich, sondern immer über sich.

17 [88]

Da ich noch nicht das Unglück, die Last habe, zu den berühmten Männern gerechnet zu werden – aus meiner bescheidenen Obskurität heraus – – –

17 [89]

Die Menschen legen den Ursachen dieselben Prädikate bei wie den Wirkungen.

17 [90]

Charakterlosigkeit kann das Zeichen von einem Übergewicht des Geistes sein.

17 [91]

Wenn alle zu Freigeistern werden, wird das Fundament schwach: eine solche Cultur fällt endlich ab oder verfliegt wie Thau und Nebel.

17 [92]

Daß wir uns beim Anfang aller Laster doch noch sehr in der Nähe der Tugend befinden.

17 [93]

Der Freigeist handelt wenig: daher Unsicherheit gegenüber dem Charaktervollen.

Er schweift auch im Denken aus: leicht Scepsis.

17 [94]

Ein Volk, welches anfängt Politik zu treiben, muß sehr reich sein, um daran nicht zu Grunde zu gehen.

17 [95]

Ein urkatholisches Frankreich und ein griechisch-katholisches Rußland gehn nie in einem Joch – deshalb hat der deutsche Staatsmann die deutsche Bewegung gefördert.

17 [96]

Mit denselben Mitteln, mit denen man den Kleinstaat zertrümmert hat, zertrümmert man den Großstaat.

17 [97]

Freihändler sind Verbrecher Staatsmänner usw.

17 [98]

Das gebundene Denken gefordert als Moralität: Katzen tödten ein Verbrechen bei den Aegyptern. Man straft die Handlung, nicht die Gesinnung: nicht um abzuschrecken, sondern das allgemeine Verderben von Seiten eines Gottes abzukaufen.

17 [99]

Falsche Analogie der Schweizer Bewegung – sie verlangen den Kleinstaat. Ihre Kantone waren keine Kleinstaaten.

17 [100]

Auf die reine Erkenntniß der Dinge läßt sich keine Ethik gründen: da muß man sein wie die Natur, weder gut noch böse.

17 [101]

Ich möchte die Definition des Schuftes. Der Räuber, der Mörder, der Dieb ist es nicht.

17 [102]

In der katholischen Kirche ist ein Ohr (durch die Beichte) geschaffen, in welches man sein Geheimniß, ohne Folgen, hineinsagen kann. Welche Erleichterung! Auch der Gedanke ist gut, ein Unrecht durch eine Gutthat (wenn auch Anderen erwiesen) gut zu machen. Das ist die wahre "Strafe".

17 [103]

Hat einer seine Bedürfnisse befriedigt, so überkommt ihn die Langeweile; wie kann er diese beseitigen? Nur dadurch, daß er neue Leidenschaften sich Schafft, um dann auch diese zu befriedigen. Man erzeugt ein Bedürfniß, indem man sich eine Noth macht: welche durch Gewohnheit allmählich ihren peinlichen Charakter verliert und zur Lust wird. Man denke an das Tabakrauchen.

17 [104]

Freie und gebundene Geister.

Weib und Kind. Stände und Beschäftigungen.

Erleichterung des Lebens.

Menschliches und Allzumenschliches.

17 [105]

Die Pflugschar.

Eine Anleitung zur geistigen Befreiung.

Erstes Hauptstück: Freie und gebundene Geister.

Zweites Die Erleichterung des Lebens.

Drittes Stände und Beschäftigungen.

Viertes Weib und Kind.

Fünftes Die Gesellschaft.

Sechstes Der Mensch mit sich allein.

Siebentes Die Schule der Erzieher.

 

[Dokument: Manuskripte]

[September 1876]

Die Pflugschar.

18 [1]

"Willst du mir folgen, so baue mit dem Pfluge!, dann geniessen deiner Viele, dein geneusst sicherlich der Arme und der Reiche, dein geneusst der Wolf und der Aar und durchaus alle Creatur."

Der Meier Helmbrecht.

Wege zur geistigen Freiheit.

18 [2]

1.2. Alle öffentlichen Schulen sind auf die mittelmässigen Naturen eingerichtet, also auf Die, deren Früchte nicht sehr in Betracht kommen, wenn sie reif werden. Ihnen werden die höheren Geister und Gemüther zum Opfer gebracht, auf deren Reifwerden und Früchtetragen eigentlich Alles ankommt. Auch darin zeigen wir uns als einer Zeit angehörig, deren Cultur an den Mitteln der Cultur zu Grunde geht. Freilich die begabte Natur weiss sich zu helfen: ihre erfinderische Kraft zeigt sich namentlich darin, wie sie, trotz dem schlechten Boden, in den man sie setzt, trotz der schlechten Umgebung, der man sie anpassen will, trotz der schlechten Nahrung, mit der man sie auffüttert, sich bei Kräften zu erhalten weiss. Darin liegt aber keine Rechtfertigung für die Dummheit Derer, welche sie in diese Lage versetzen.

18 [3]

3. Loslösung von der nicht verstehenden Umgebung: – Eine tiefe Verwundung und Beleidigung entsteht, wenn Menschen, mit denen man lange vertraulich umgegangen ist und denen man vom Besten gab, das man hatte, gelegentlich Geringschätzung gegen uns merken lassen. Wer mit den Menschen vorsichtig umgeht und sie nicht verletzt, um nicht verletzt zu werden, erfährt gewöhnlich zu seinem Schrecken, dass die Menschen seine Vorsicht gar nicht gemerkt haben oder gar, dass sie sie merken und sich über sie hinwegsetzen, um ihren Spaass dabei zu haben.

18 [4]

4. Mittel, Leute von sich zu entfernen: – Man kann Niemanden mehr verdriessen und gegen sich einnehmen, als wenn man ihn zwingen will, an Dinge zu denken, welche er sich mit aller Gewalt aus dem Sinne schlagen will, z. B. Theologen an die Ehrlichkeit im Bekennen, Philologen an die erziehende Kraft des Alterthums, Staatsmänner an den Zweck des Staates, Kaufleute an den Sinn alles Gelderwerbes, Weiber an die Zu- und Hinfälligkeit ihrer Neigungen und Bündnisse.

18 [5]

8. Es ist nützlich, mehr zu fordern: – Wer etwas erreichen will, muss sehr nachdrücklich noch mehr fordern; man bewilligt ihm dann das geringere Maass seiner Forderung und ist zufrieden damit, dass er sich zufrieden giebt.

18 [6]

12. Werth einer gedrückten Stimmung. – Menschen, welche unter einem inneren Druck leben, neigen zu Ausschweifungen, – auch des Gedankens. Grausamkeit ist häufig ein Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betäubung begehrt; ebenso eine gewisse grausame Rücksichtslosigkeit des Denkens.

18 [7]

24. Reist man von Ort zu Ort weiter, und fragt man überall, welche Köpfe an jedem Ort die höchste Geltung haben, so findet man, wie selten überlegene Intelligenzen sind. Gerade mit den geachteten und einflussreichen Intelligenzen möchte man am Wenigsten auf die Dauer zu thun haben, denn man merkt ihnen an, dass sie nur als Anführer der vortheilhaften Ansichten diese Geltung haben, dass der Nutzen Vieler ihnen ihr Ansehen giebt. Ein Land von vielen Millionen Köpfen schrumpft bei einem solchen Blicke zusammen, und Alles, was Geltung hat, wird Einem verdächtig.

Bei den Schutzzöllnern und Freihändlern handelt es sich um den Vortheil von Privatpersonen, welche sich einen Saum von Wissenschaft und Vaterlandsliebe angelogen haben.

18 [8]

27. Ohne Productivität ist das Leben unwürdig und unerträglich: gesetzt aber, ihr hättet keine Productivität oder nur eine schwache, dann denkt über Befreiung vom Leben nach, worunter ich nicht sowohl die Selbsttödtung, als jene immer völligere Befreiung von den Trugbildern des Lebens verstehe – bis ihr zuletzt wie ein überreifer Apfel vom Baume fallt. Ist der Freigeist auf der Höhe angelangt, so sind alle Motive des Willens an ihm nicht mehr wirksam, selbst wenn sein Wille noch anbeissen möchte: er kann es nicht mehr, denn er hat alle Zähne verloren.

18 [9]

31. Den Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit soll man wie die ersten Zähne verlieren, dann wächst einem erst das rechte Gebiss.

18 [10]

32. Von der Todesfurcht zu erlösen ist vielleicht das Eine Mittel: ein ewiges Leben zu lehren; ein andres sichereres jedenfalls, Todesverlangen einzuflössen.

18 [11]

33. Religiöse Meinungen gewöhnt man uns in den ersten fünfzehn Jahren unseres Lebens an, und in den nächsten fünfzehn Jahren wieder ab, im zehnten Lebensjahr ist jetzt gewöhnlich ein Mensch am religiösesten. – Wenn es nützlich sein sollte, den Menschen zuerst an die Brust der Amme Religion zu legen und ihn die Milch des Glaubens trinken zu lassen, so dass er erst später, und allmählich, an Brod und Fleisch der Erkenntniss gewöhnt wird: so scheint mir doch die Zeit zu lang, in Anbetracht der Kürze des menschlichen Lebens. Die jetzige Oekonomie würde vielleicht im Rechte sein, wenn der Mensch erst im sechzigsten Jahr in die Blüthezeit seiner Kraft und Vernunft träte. Aber thatsächlich wird er jetzt zu gleicher Zeit weise und kraftlos. –

18 [12]

38. Es ist entweder das Zeichen einer sehr ängstlichen oder sehr stolzen Gesinnung, in Jedermann, auch in Freunden, Gönnern, Lehrern, die Gefahr eines tyrannischen Übergewichtes zu sehen, und sich in Acht zu nehmen, grosse Wohlthaten zu empfangen. Aber es wird keinen Freigeist geben, der nicht diese Gesinnung hätte.

Menschliches und Allzumenschliches.

18 [13]

51. Menschen, deren Umgang uns unangenehm ist, thun uns einen Gefallen, wenn sie uns einen Anlass geben, uns von ihnen zu trennen. Wir sind hinterdrein viel eher bereit, ihnen aus der Ferne Gutes zu erweisen oder zu gönnen.

18 [14]

52. Man denkt sich den moralischen Unterschied zwischen einem ehrlichen Manne und einem Spitzbuben viel zu gross; dagegen ist gewöhnlich der intellectuelle Unterschied gross. Die Gesetze gegen Diebe und Mörder sind zu Gunsten der Gebildeten und Reichen gemacht.

18 [15]

55. Es giebt viel mehr Behagen, als Unbehagen in der Welt. Practisch ist der Optimismus in der Herrschaft; – der theoretische Pessimismus entsteht aus der Betrachtung: wie schlecht und absurd der Grund unseres Behagens ist; er wundert sich über die geringe Besonnenheit und Vernunft in diesem Behagen; er würde das fortwährende Unbehagen begreiflich finden.

18 [16]

57. Die Seelenunruhe, welche die philosophischen Menschen an sich verwünschen, ist vielleicht gerade der Zustand, aus dem ihre höhere Productivität hervorquillt. Erlangten sie jenen völligen Frieden, so hätten sie wahrscheinlich ihre beste Thätigkeit entwurzelt und sich damit unnütz und überflüssig gemacht.

18 [17]

58. Jeder, der geheimnissvoll von seinem Vorhaben spricht, oder der merken lässt, dass er gar nicht davon spreche, stimmt seine Mitmenschen ironisch.

18 [18]

60. In Lastern und bösen Stimmungen sammelt oft der gute Hang in uns sein Quellwasser, um dann stärker hervorzubrechen. Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer aufstehen.

18 [19]

62. Was kann das Motiv für die jetzt geforderte Abschliessung der Nationen von einander sein, während doch alles Andere auf Verschmelzung derselben hinweist? Ich glaube dynastische Interessen und kaufmännische Interessen gehen da Hand in Hand. Sodann benutzen alle liberalen Parteien die nationale Abschliessung als einen Umweg, um das sociale Leben freier zu gestalten. Während man grosse Nationalstaaten aufbaut, wird man viele kleinere Machthaber und den Einfluss einzelner bedrückender Kasten los; dabei versteht es sich von selbst, dass dieselbe Macht, welche jetzt den Kleinstaat zertrümmern muss, einstmals den Grossstaat zertrümmern muss. Ein blindes Vorurtheil ist es dagegen, es seien die Racen und die Verschiedenheit der Abstammung, was jetzt die Nationen zu Grossstaaten umbildet.

18 [20]

64. Über den Fleiss machen die Gelehrten viele schöne Worte; die Hauptsache ist, dass sie sich ohne ihren Fleiss zu Tode langweilen würden.

18 [21]

65. Das Christenthum und La Rochefoucauld sind nützlich, wenn sie die Motive des menschlichen Handelns verdächtigen: denn die Annahme von der gründlichen Ungerechtigkeit jedes Handelns, jedes Urtheilens hat großen Einfluß darauf, daß der Mensch sich von dem allzuheftigen Wollen befreie.

18 [22]

66. Junge Leute klagen oft, dass sie keine Erfahrungen gemacht haben, während sie gerade daran leiden, zu viele gemacht zu haben: es ist der Gipfel der modernen Gedankenlosigkeit.

18 [23]

67. Die Philosophen zweiten Ranges zerfallen in Nebendenker und Gegendenker, das heisst in solche, welche zu einem vorhandenen Gebäude einen Seitenflügel entsprechend dem gegebenen Grundplane ausführen (wozu die Tugend tüchtiger Baumeister ausreicht), und in solche, die in fortwährendem Widerstreben und Widersprechen so weit geführt werden, daß sie zuletzt einem vorhandenen System ein anderes entgegenstellen. Alle übrigen Philosophen sind Überdenker, Historiker dessen was gedacht ist, derer die gedacht haben: jene wenigen abgerechnet, welche für sich stehen, aus sich wachsen und allein "Denker" genannt zu werden verdienen. Diese denken Tag und Nacht und merken es gar nicht mehr, wie die welche in einer Schmiede wohnen, nicht mehr den Lärm der Ambose hören: so geht es ihnen wie Newton (der einmal gefragt wurde, wie er nur zu seinen Entdeckungen gekommen sei, und der einfach erwiderte: "dadurch daß ich immer daran dachte.")

18 [24]

68. In doppelter Weise ist das Publicum unhöflich gegen einen Schriftsteller: Es lobt das eine Werk desselben auf Unkosten eines anderen vom gleichen Autor und dann: es fordert, wenn der Autor einmal geschrieben hat, immer neue Schriften – als ob es dadurch, dass es beschenkt worden wäre, ein Übergewicht über den Geber bekommen habe.

18 [25]

71. Zeichen einer rücksichtslosen Überlegenheit von Seiten befreundeter oder durch Dankbarkeit uns verpflichteter Personen sind sehr schmerzlich und schneiden tief in's Herz.

18 [26]

77. Man klagt über die Zuchtlosigkeit der Masse; wäre diese erwiesen, so fiele der Vorwurf schwer auf die Gebildeten zurück; die Masse ist gerade so gut und böse wie die Gebildeten sind. Sie zeigt sich in dem Maasse böse und zuchtlos, als die Gebildeten zuchtlos sich zeigen; man geht ihr als Führer voran, man mag leben wie man will; man hebt oder verdirbt sie, je nachdem man sich selber hebt oder verdirbt.

18 [27]

90. Fast jeder gute Schriftsteller schreibt nur Ein Buch. Alles Andere sind nur Vorreden, Vorversuche, Erklärungen, Nachträge dazu; ja mancher sehr gute Schriftsteller hat sein Buch nie geschrieben, zum Beispiel Lessing, dessen intellectuelle Bedeutsamkeit sich hoch über jede seiner Schriften, jeden seiner dichterischen Versuche erhebt.

18 [28]

91. Ich unterscheide grosse Schriftsteller, nämlich sprachbildende – solche, unter deren Behandlung die Sprache noch lebt oder wieder auflebt – und classische Schriftsteller. Letztere werden classisch in Hinsicht auf ihre Nachahmbarkeit und Vorbildlichkeit genannt, während die grossen Schriftsteller nicht nachzuahmen sind. Bei den classischen Schriftstellern ist die Sprache und das Wort todt; das Thier in der Muschel lebt nicht mehr, und so reihen sie Muschel an Muschel. Aber bei Goethe lebt es noch.

18 [29]

92. Wie kommt es, dass der Verliebte die Wirkung der Tragödie und jeder Kunst stärker empfindet, während doch das völlige Schweigen des Willens als der eigentliche contemplative Zustand bezeichnet wird? Es scheint vielmehr, dass der Wille gleichsam erst aufgepflügt werden muss, um den Saamen der Kunst in sich aufzunehmen.

Das leichte Leben.

18 [30]

101. Jeder Mensch hat seine eigenen Recepte dafür, wie das Leben zu ertragen ist und zwar wie es leicht zu erhalten ist oder leicht zu machen ist, nachdem es sich einmal als schwer gezeigt hat.

18 [31]

104. Wenn das Leben im Verlauf der Geschichte immer schwerer empfunden werden soll, so kann man wohl fragen, ob die Erfindungsgabe der Menschen zuletzt auch für die höchsten Grade dieser Erschwerung ausreicht.

18 [32]

112. Der Mensch, der diesen christenmässigen Trost nicht hat und dem andererseits die Philosophie nicht das Gegengeschenk der völligen Unverantwortlichkeit machte, ist schlimm daran: er kennt sich selber nur zu gut und verachtet sich, weil er sein Wesen irrthümlicher Weise sich als Schuld bemisst; desshalb sieht er auf den Mit-Menschen mit Angst, dass der nicht hinter seine Heimlichkeiten kommt. Er hält den Mit-Menschen entweder wirklich besser als sich, weil er ihn weniger kennt, oder er stellt sich, als ob er ihn für besser halte, um ihn für sich zu gewinnen und zu einem gleichen Gefühle gegen sich zu stimmen. Die Eitelkeit und Ehrsucht der Menschen ruht meistens auf dem Gefühl der eigenen Verachtung: sie wollen, dass man sich über sie täusche; sie freuen sich über jedes Urtheil des Mit-Menschen, wenn es für sie günstig lautet, selbst, wenn sie wissen, dass es falsch ist; ihr Bestreben ist, zu verhüten, dass über sie die ganze Wahrheit an's Licht komme.

18 [33]

113. Die Mittel gegen Schmerzen, welche Menschen anwenden, sind vielfach nur Betäubungen. Alle solche Mittel aber gehören einer niedrigen Stufe der Heilkunst an. Betäubungen durch Vorstellungen findet man in den Religionen und Künsten, die insofern in die Geschichte der Heilkunst gehören. Besonders verstehen sich Religionen darauf, durch Annahmen die Ursache des Leidens aus den Augen zu rücken, zum Beispiel dadurch, dass sie Aeltern, denen ein Kind gestorben ist, sagen, es sei nicht gestorben und in Hinblick auf den Leichnam hinzufügen, ihr Kind lebe sogar als ein schöneres fort.

18 [34]

115. Es ist bekannt, dass Liebe und Verehrung nicht leicht in Bezug auf dieselbe Person mit einander empfunden werden können. Das Schwerste und Seltenste wäre aber dies, daß höchste Liebe und der niedrigste Grad der Achtung sich bei einander fänden; also Verachtung als Urtheil des Kopfes und Liebe als Trieb des Herzens. Und trotzdem, dieser Zustand ist möglich und durch die Geschichte bewiesen. Der, welcher sich selbst mit der reinsten Art von Liebe lieben könnte, wäre der, welcher sich zugleich selbst verachtete, und welcher zu sich spräche: verachte Niemanden, ausgenommen dich selbst, weil du dich allein kennen kannst. Diess ist vielleicht die Stellung des Stifters der christlichen Religion zur Welt. Selbstliebe aus Erbarmen mit sich und seiner völligen Verächtlichkeit ist Kern des Christenthums ohne alle Schaale und Mythologie. Das Gefühl dieser Verächtlichkeit entspringt aus Selbsterkenntniss und diese wieder aus Rachebedürfniß. Hat jemand genug an sich gelitten, sich selbst genug verletzt durch Sündhaftigkeit aller Art, so beginnt er gegen sich das Gefühl der Rache zu fühlen. Eindringende Selbstbetrachtung und zuletzt Selbstverachtung sind die natürlichen Folgen, bei manchen Menschen selbst Askese, d. h. Rache an sich in Thätlichkeit des Widerwillens und Hasses. Auch darin, dass der Mensch sich mehr Mühe und Hast zumuthet, zeigt sich derselbe Hang zur Rache an sich. Dass bei alledem der Mensch sich noch liebt, erscheint dann wie ein Wunder, und gewöhnlich legt man eine solche geläuterte und unbegreifliche Liebe einem Gotte bei, aber der Mensch selbst ist es, der einer solchen Liebe fähig ist in einer Art von Selbstbegnadigung denn er kann nicht aufhören, sich zu lieben, da seine Liebe nie Sache des Kopfes sein kann. In diesem Zustande wird die Liebe Herr über das Gefühl der Rache, der Mensch vermag wieder zu handeln und weiter zu leben; er hält freilich dieses Handeln und alles irdische Streben nicht sehr hoch, es ist fast zwecklos, aber er kann nicht anders, als handeln; wie der Christ der ersten Zeit sich durch den Hinblick auf den Untergang der Welt tröstet und dann endlich seiner verächtlichen, zum Handeln treibenden Natur verlustig zu gehen hofft, so kann jetzt jeder Mensch wissen, dass es mit der Menschheit jedenfalls einmal vorbei sein wird und damit muss sich der Ausdruck der Ziellosigkeit auf alles menschliche Streben legen; dazu wird er immer mehr hinter die Grundirrthümer in allen Bestrebungen kommen und sie an's Licht bringen; ihnen allen liegt unreines Denken zu Grunde. Er wird zum Beispiel einsehen, dass alle Aeltern ihr Kind ohne Verantwortung erzeugen und ohne Kenntniss des zu Erziehenden erziehen, sodass sie nothwendig Unrecht thun und sich an einer fremden Sphäre vergreifen. Es gehört diess eben zur Unseligkeit der Existenz, und so wird der Mensch zuletzt bei allem, was er thut, sich voller Ungenüge fühlen und das Höchste, was er erreichen kann, wird sein: Mitleid mit sich zu haben; die Liebe und das Mitleid mit sich selber sind für die höchsten Stufen der Erschwerung des Lebens aufgespart, als die stärksten Erleichterungsmittel.

Weib und Kind.

18 [35]

116. Auf die verfängliche Frage, woher bist du Mensch? antworte ich: aus Vater und Mutter, dabei wollen wir einmal stehen bleiben.

18 [36]

118. Wenn ich überall eine Erniedrigung der Deutschen finde, so nehme ich als Grund an, dass seit vier Jahrzehnten ein gemeinerer Geist bei den Ehestiftungen gewaltet hat, zum Beispiel in den mittleren Klassen die reine Kuppelei um Geld und Rang; die Töchter sollen versorgt werden und die Männer wollen Vermögen oder Gunst erheirathen; dafür sieht man den Kindern auch den gemeinen Ursprung dieser Ehen an.

18 [37]

119. Das Beste an der Ehe ist die Freundschaft. Ist diese gross genug, so vermag sie selbst über das Aphrodisische mildernd hinwegzusehen und hinwegzukommen. Ohne Freundschaft macht die Ehe beide Theile gemein denkend und verachtungsvoll.

18 [38]

123. Das Beisammenleben der Ehegatten ist das Hauptmittel, um eine gute Ehe selten zu machen, denn selbst die besten Freundschaften vertragen diess nur selten.

18 [39]

124. Zu dem Rührendsten in der guten Ehe gehört das gegenseitige Mitwissen um das widerliche Geheimniss, aus welchem das neue Kind gezeugt und geboren wird. Man empfindet namentlich in der Zeugung die Erniedrigung des Geliebtesten aus Liebe.

18 [40]

125. Für die Existenz braucht kein Sohn seinem Vater dankbar zu sein, vielleicht darf er ihm sogar wegen bestimmter vererbter Eigenschaften (Hang zu Jähzorn, Wollust) zürnen. Väter haben viel zu thun, um es wieder gut zu machen, dass sie Söhne haben.

18 [41]

126. Väter, welche ihr eigenes Ungenügen recht herzlich fühlen und sich nach der Höhe des Intellektes und Herzens fortwährend hinauf sehnen, haben ein Recht, Kinder zu zeugen.

Einmal geben sie diesen Hang diese Sehnsucht mit, sodann ertheilen sie schon dem Kinde manchen grossen Wink über das wahrhaft Erstrebenswerthe, und für solche Winke pflegt der Erwachsene seinen Aeltern einzig wirklich dankbar zu sein.

18 [42]

130. Der Mensch ist dazu bestimmt entweder Vater oder Mutter zu sein, in irgend welchem Sinne. Ohne Productivität ist das Leben grässlich, desshalb mache ich mir aus der Jugend nichts, denn in ihr ist es nicht möglich oder nicht vernünftig, zu produciren.

18 [43]

131. Wären die Weiber so beflissen auf die Schönheit der Männer, so würden endlich der Regel nach die Männer schön und eitel sein – wie es jetzt der Regel nach die Weiber sind. Es zeigt die Schwärmerei und vielleicht die höhere Gesinnung des Mannes, dass er das Weib schön will. Es zeigt den größeren Verstand und die Nüchternheit der Weiber (vielleicht auch ihren Mangel an ästhetischem Sinne), dass die Weiber auch die hässlichen Männer annehmen; sie sehen mehr auf die Sache, das heisst hier: Schutz, Versorgung; die Männer mehr auf den schönen Schein, auf Verklärung der Existenz, selbst wenn diese dadurch mühsäliger werden sollte.

18 [44]

135. Es setzt die Liebe tief unter die Freundschaft, dass sie ausschliesslichen Besitz verlangt, während einer mehrere gute Freunde haben kann, und diese Freunde unter sich einander wieder Freund werden.

18 [45]

140. Frauen, welche ihre Söhne besonders lieben, sind meistens eitel und eingebildet. Frauen, welche sich nicht viel aus ihren Söhnen machen, haben meistens Recht damit, geben aber zu verstehen, dass von einem solchen Vater kein besseres Kind zu erwarten gewesen sei: so zeigt sich ihre Eitelkeit.

Über die Griechen.

18 [46]

143. Denkt man sich die Griechen als wenig zahlreiche Stämme, auf einem reichbevölkerten Boden, wie sie das Festland im Innern mit einer Race mongolischer Abkunft bedeckt fanden, die Küste mit einem semitischen Streifen verbrämt und dazwischen Thrazier angesiedelt fanden, so sieht man die Nöthigung ein, vor Allem die Superiorität der Qualität festzuhalten und immer wieder zu erzeugen; damit übten sie ihren Zauber über die Massen aus. Das Gefühl, allein als höhere Wesen unter einer feindsäligen Überzahl es auszuhalten, zwang sie fortwährend zur höchsten geistigen Spannung.

18 [47]

146. Der platonische Sokrates ist im eigentlichen Sinne eine Carricatur; denn er ist überladen mit Eigenschaften, die nie an Einer Person zusammensein können. Plato ist nicht Dramatiker genug, um das Bild des Sokrates auch nur in einem Dialoge festzuhalten. Es ist also sogar eine fliessende Carricatur. Dagegen geben die Memorabilien des Xenophon ein wirklich treues Bild, das gerade so geistreich ist, als der Gegenstand des Bildes war; man muss dieses Buch aber zu lesen verstehen. Die Philologen meinen im Grunde, dass Sokrates ihnen nichts zu sagen habe, und langweilen sich desshalb dabei. Andere Menschen fühlen, dass dieses Buch zugleich sticht und beglückt.

18 [48]

153. Die Götter machen den Menschen noch böser, wenn sie ihm nicht wohl wollen; das ist nicht nur griechisch, das ist Menschennatur. Wen Einer nicht lieben mag, von dem wünscht er im Stillen, dass er schlechter werde und so gleichsam seine Abneigung rechtfertige. Es gehört diess in die düstere Philosophie des Hasses, die noch nicht geschrieben ist.

Fortsetzung von

"Menschliches und Allzumenschliches."

18 [49]

154. Ein dummer Fürst, der Glück hat, ist vielleicht das glücklichste Wesen unter der Sonne, denn der Anstand des Hofes lässt ihn sich gerade so weise dünken, als er zum Glücke nöthig hat. Ein dummer Fürst, der Unglück hat, lebt immer noch erträglich, denn er kann seinen Unmuth und sein Misslingen an Anderen auslassen. Ein kluger Fürst, der Glück hat, ist gewöhnlich ein glänzendes Raubthier; ein kluger Fürst, der Unglück hat, dagegen ein sehr gereiztes Raubthier, welches man in einen Käfig sperren soll; er täuscht sich nicht über seine Fehlgriffe und das macht ihn so böse. Ein kluger Fürst, der dabei gut ist, ist meistens sehr unglücklich, denn er muss Vieles thun, für das er zu gut oder zu klug ist.

18 [50]

155. Im Grunde hält man das Streben und die Absichten eines Menschen, seien sie auch noch so gefährlich und absonderlich, für entschuldigt oder mindestens für verzeihlich, wenn er sein Leben dafür einsetzt. Die Menschen können vielleicht durch nichts so deutlich ausdrücken, wie hoch sie den Werth des Lebens nehmen.

18 [51]

156. Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht darin, dass wir sie wie Schufte behandeln. Ich wünschte einmal, die Definition des Schuftes zu hören. Das eigentlich Schuftige scheint für das Auge der Justiz unerkennbar zu sein und desshalb erreicht auch ihr Arm es nicht.

18 [52]

157. Der Sinn der ältesten Strafen ist nicht: vor dem Vergehen abzuschrecken, sondern erstens: ein Versuch, den Schaden wieder gut zu machen, zum Beispiel durch ein Bussgeld an die Verwandten des Erschlagenen; zweitens gehören Maassregeln hieher, welche das Gemeinwesen trifft, um sich als Ganzes vor dem Zorn einer beleidigten Gottheit zu sichern, desshalb muss der Mörder bei Homer aus seiner Heimath flüchtig werden; es liegt kein sittlicher, wohl aber ein religiöser Makel auf ihm: er gefährdet das Gemeinwesen, zu dem er gehört. Diese Gattung von Maassregeln ist bei uns überflüssig.

18 [53]

158. Der Grundgedanke eines neuen menschlicheren Strafrechts müsste sein: ein Unrecht einmal insofern zu beseitigen, als der Schaden wieder gut gemacht werden kann; sodann die böse That durch eine Gutthat zu compensiren. Diese Gutthat brauchte nicht den Beschädigten und Beleidigten, sondern irgend jemandem erwiesen zu werden; man hat sich ja durch den Frevel selten am Individuum, sondern gewöhnlich am Gliede der menschlichen Gesellschaft vergangen, – man ist dadurch der Gesellschaft eine Wohlthat schuldig geworden. Diess ist nicht so gröblich zu verstehen, als ob ein Diebstahl durch ein Geschenk wieder gut zu machen wäre; vielmehr soll Der, welcher seinen bösen Willen gezeigt hat, nun einmal seinen guten Willen zeigen.

18 [54]

162. Man kann zweifeln, ob dem guten Menschen, den es nach Erkenntniss dürstet, dadurch genützt wird, dass er immer besser wird. Ein Wenig mehr Sünde gelegentlich macht ihn wahrscheinlich weiser. Jedermann von einiger Erfahrung wird wissen, in welchem Zustande er das tiefste verstehende Mitgefühl mit der Unsicherheit der Gesellschaft und der Ehen hatte.

18 [55]

163. Eigentlich hat der einmal bestrafte Dieb einen Anspruch auf Vergütung, insofern er durch die Justiz seinen Ruf eingebüsst hat. Was er dadurch leidet, dass er von jetzt ab als Dieb gilt, geht weit über das Abbüssen einer einmaligen Schuld hinaus.

18 [56]

164. Die katholische Kirche hat, durch die Institution der Beichte, ein Ohr geschaffen, in welches man sein Geheimniss ohne gefährliche Folgen ausplaudern kann. Diess war eine grosse Erleichterung des Lebens, denn man vergisst seine Schuld von dem Augenblick an, wo man sie weitererzählt hat, aber gewöhnlich vergessen die Anderen sie nicht.

18 [57]

165. Wer das Nichtsein wirklich höher stellt, als das Sein, hat im Verhalten zu dem Nächsten dessen Nichtsein mehr zu fördern, als dessen Sein; weil die Moralisten dieser Forderung ausbiegen wollen, erfinden sie solche Sätze, dass Jeder nur sich selber in's Nichtsein erlösen könne.

18 [58]

167. Auf die reine Erkenntniss der Dinge lässt sich keine der bisherigen Ethiken gründen; aus ihr folgt allein diess, dass man sein muss, wie die Natur, weder gut noch böse. Die Forderung, gut zu sein, entspringt aus unreinem Erkennen.

18 [59]

168. Unrecht hinterlässt mitunter in Dem, welcher es thut, eine Wunde, doch nicht häufig. Gewissensbisse sind eher die Ausnahme, als die Regel. Jemanden, der uns zuwider ist, so zu beleidigen, dass wir seinen Umgang los sind, erzeugt sogar ein seliges Aufathmen über die erlangte Freiheit. Vielleicht aber ist hier das Unrechtthun Nothwehr.

18 [60]

169. Der Staatsmann muss seinen Unternehmungen ein gutes Gewissen vorhängen können und braucht dazu die begeisterten Ehrlichen und noch mehr Die, welche so zu scheinen vermögen.

18 [61]

173. Wer den Trieb zur Reinlichkeit auch im Geistigen hat, wird es nur eine Zeit lang in den Religionen aushalten und sich dann in eine Metaphysik flüchten; später wird er sich von Stufe zu Stufe auch der Metaphysik entschlagen. Es ist wahrscheinlich, dass der Trieb zur Reinlichkeit im Moralischen eher einen entgegengesetzten Weg einschlagen wird; dafür ist dieser Trieb immer mit der Unreinheit des Denkens verbunden und macht dieses vielleicht immer unreinlicher.

18 [62]

176. Die Pflugschar schneidet in das harte und das weiche Erdreich, sie geht über Hohes und Tiefes hinweg und bringt es sich nah. Diess Buch ist für den Guten und den Bösen, für den Niedrigen und den Mächtigen. Der Böse, der es liest, wird besser werden, der Gute schlechter, der Geringe mächtiger, der Mächtige geringer.

 

[Dokument: Heft]

[Oktober – Dezember 1876]

Bex vom 3 October an

19 [1]

1. Philologie ist die Kunst, in einer Zeit, welche zu viel liest, lesen zu lernen und zu lehren. Allein der Philologe liest langsam und denkt über sechs Zeilen eine halbe Stunde nach. Nicht sein Resultat, sondern diese seine Gewöhnung ist sein Verdienst.

19 [2]

2. Die Geschichte der Philologie ist die Geschichte einer Gattung von fleißigen aber unbegabten Menschen. Daher die unsinnige Bekämpfung und spätere Überschätzung einiger scharfsinnigeren und reicheren Naturen, welche unter die Philologen gerathen sind.

19 [3]

3. Daß die Philologen dazu befähigt sind (mehr als z.B. die Mediciner), die Jugend zu erziehen, ist ein Vorurtheil, welches noch dazu täglich durch die Erfahrung lügen gestraft wird. Man macht es also hier, wie bei den Straßenfegern, welche auch niemand darauf hin prüft, ob sie am besten verstehen, die Straße zu fegen; genug daß sie den Willen zu diesem unsauberen Geschäft haben. Ebenso weist jeder Stand das Geschäft der Jugenderziehung von sich ab und ist zufrieden, daß die Philologen es – nicht thun.

19 [4]

4. Das Alterthum ist in allen Hauptsachen von Künstlern Staatsmännern und Philosophen entdeckt worden, nicht von Philologen: und dies bis auf den heutigen Tag.

19 [5]

5. Daß man eine Sophokleische Tragödie an 100 Stellen falsch verstehen und an vielen verdorben Stellen einfach vorübergehen, aber doch die Tragödie besser verstehen und erklären kann als der gründlichste Philologe, das wollen die Philologen nicht glauben.

Wer einen geistreichen Autor liest und am Schlusse glaubt, er habe alles verstanden, exc. – der ist glücklich.

19 [6]

6. Ich glaube Shakespeare besser zu verstehen als neuenglische Sprachlehrer, obwohl ich viele Fehler mache. Im Allgemeinen wird sogar jedermann einen alten Autor besser verstehen als der philologische Sprachlehrer: woher kommt das? – Daher daß Philologen nichts außer altgewordenen Gymnasiasten sind.

19 [7]

8. Feineren Geistern wird von solchen ein Zwang angethan, welche immer Geschichten erzählen, über die man lachen soll: wo es nicht genügt zu lächeln.

19 [8]

12. Ein Meister wird seinen Umgang unter Meistern anderer Künste wählen und unter seinen Schülern sein, aber nicht bei den Fachgenossen und überhaupt nicht bei denen, welche nur Fachleute sind, und keine Meister.

19 [9]

14. Die welche sich mit uns freuen können, stehen höher und uns näher als die welche mit uns leiden. Mitfreude macht den „Freund" (den Mitfreuenden), Mitleid den Leidensgefährten. – Eine Ethik des Mitleidens braucht eine Ergänzung durch die noch höhere Ethik der Freundschaft.

19 [10]

15. Die Menschen werden je nach ihrer Heimat Protestanten Katholiken Türken, wie einer, der in einem Weinlande geboren wird, ein Weintrinker wird.

19 [11]

17. Wer sich im Ganzen viel versagt, wird sich im Kleinen leicht Indulgenz geben. So hat es vielleicht keinen Stand gegeben, welcher unter dem Erotischen so sehr allein Ausschweifungen verstand, wie den katholischen Priesterstand, welcher der Liebe entsagte. Dafür erlaubte er sich die gelegentliche Lust.

19 [12]

18. Man kann höchst passend reden und doch so daß alle Welt über das Gegentheil schreit. So redete Sokrates sehr passend, aber vor einem weltgeschichtlichen Forum: seine Richter urtheilten umgekehrt. – Die Meister reden sich zu ihren Hörern herab.

19 [13]

19. Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen. Daß ein Sohn sich einen Vater adoptirt, ist vernünftiger als das Gegentheil: weil er sehr viel genauer weiß, was er braucht.

19 [14]

20. Das Ansehen der Ärzte beruht auf der Unwissenheit der Gesunden und Kranken: und diese Unwissenheit wiederum beruht auf dem Ansehen der Ärzte.

19 [15]

21. Der beste Arzt wird nur Einen Patienten haben können; jeder Mensch ist eine Krankheitsgeschichte.

19 [16]

23. Einen Autor, der sich nicht nennt, zu errathen und zu verrathen heißt ihn so behandeln als ob man mit einem verkleideten Verbrecher oder mit einer schelmischen Schönen zu thun habe, was oft genug erlaubt sein mag,: aber es giebt Fälle, wo man seine Verschwiegenheit mindestens ebenso zu ehren hat, wie die eines incognito reisenden Fürsten.

19 [17]

Die Schätzung von Eigenschaften kann nur vergleichend sein, das eigne Interesse will die höchste Schätzung.

Wetteifer oder Vernichtung.

19 [18]

24. Die Illusion des Geschlechtstriebs ist ein Netz, das, wenn es zerrissen wird, sich immer von selbst wieder strickt.

19 [19]

27. Um den Vortheil einer gefährlichen Geldspekulation zu haben, muß man es wie beim kalten Bade machen – schnell hinein, schnell heraus.

19 [20]

28. Der dramatische Musiker muß nicht nur Ohren, sondern auch Augen in den Ohren haben.

19 [21]

32. Die Arbeiter klagen daß sie überarbeitet werden. Aber dieselbe Überarbeitung findet sich überall, bei den Kaufleuten Gelehrten Beamten Militärs: bei den reichen Klassen erscheint die Überarbeitung als innerer Trieb der allzugroßen Thätigkeit, bei den Arbeitern wird sie äußerlich erzwungen, das ist der Unterschied. Eine Milderung dieses Triebes käme indirekt auch dem Arbeiter zu Gute. Er möge nicht glauben, daß der jetzige Banquier genußreicher oder würdiger als er lebt.

19 [22]

35. Die meisten Schriftsteller schreiben schlecht weil sie uns nicht ihre Gedanken sondern das Denken der Gedanken mittheilen. Oft ist es Eitelkeit was die Periode so voll macht, es ist das begleitende Gegacker der Henne, welche uns auf das Ei aufmerksam machen will, nämlich auf irgend einen inmitten der vollen Periode stehenden kleinen Gedanken.

19 [23]

36. Der Mensch ist als Kind vom Thier am weitesten entfernt, sein Intellekt am menschlichsten. Mit dem fünfzehnten Jahre und der Pubertät tritt er dem Thiere einen Schritt näher, mit dem Besitzsinne der dreissiger Jahre (der mittleren Linie zwischen Faulheit und Begehrlichkeit) noch einen Schritt. Im sechzigsten Lebensjahr verliert sich häufig noch die Scham; dann tritt der siebzigjährige Alte ganz als entschleierte Bestie vor uns hin: man sehe nur nach Augen und Gebiß.

19 [24]

38. Der ungehorsam und Unabhängigkeit, namentlich innerliche, der Söhne gegen die Väter geht gewöhnlich gerade so weit als möglich d. h. als es der Vater irgend wie noch erträgt; woraus sich ergiebt daß es viel unangenehmer ist Vater zu sein als Sohn.

19 [25]

Ironie ist unedel.

19 [26]

41. Sobald man begriffen hat, daß ein Fürst bei politischen Veränderungen seines Landes nicht mehr in Betracht kommt und nur noch für die Höflinge und das Landvolk interessant ist, soll man ihm aus dem Wege gehen, da man ihn nicht als Privatmann behandeln darf.

19 [27]

42. Der Thätige will sich durch die Kunst zerstreuen, der Künstler verlangt höchste Sammlung. Folglich müssen sie mit einander unzufrieden sein und sich in einander verbeißen. Die Kunst ist eben gar nicht für diese Thätigen da, sondern für jene, welche einen Überschuß von Muße haben und also ihren höchsten Ernst ausnahmsweise dem Künstler schenken können: für die Existenz dieser Klasse der müssigen Olympier haben jene Thätigen (seien sie Arbeiter oder Banquiers oder Beamte) mit ihrer Überarbeit zu sorgen. Ist die Existenz dieser Klasse ein Übel, so ist auch die Kunst ein Übel.

Kunst die Thätigkeit der Müssigen.

Lüste bilden die Muße der Thätigen.

19 [28]

43. In 50 Jahren versteht sich jeder kräftige Mann in Europa auf die Waffen und das militärische Manövriren, der besser Befähigte sogar auf die Taktik. Jeder der von da an Meinungen zur Herrschaft bringen wird, mag wissen, daß er ein geübtes Heer für seine Meinungen gewonnen hat. Das wird die Geschichte der Meinungen bestimmen.

19 [29]

45. Dreiviertel aller Lügen sind durch die Antithese in die Welt gekommen.

19 [30]

Ton der Jugend zu laut.

19 [31]

Der Eitele und der Verliebte wähnen, einer andren Person wegen eitel oder verliebt zu sein.

19 [32]

50. Der beste Autor schämt sich Schriftsteller zu sein, er ist zu reich an Gedanken und zu vornehm, als daß er sich nicht schämen sollte, seinen Reichthum anders als nur gelegentlich sehen zu lassen.

19 [33]

51. Um eine Traube und ein Talent zur Reife zu bringen, dazu gehören ebenso Regen- als Sonnentage.

19 [34]

52. Man unterschätzt den Werth einer bösen That, wenn man nicht in Anschlag bringt, wie viel Zungen sie in Bewegung setzt, wie viel Energie sie entfesselt und wie vielen Menschen sie zum Nachdenken oder zur Erhebung dient.

19 [35]

53. Die Verdunkelung von Europa kann davon abhängen ob fünf oder sechs freiere Geister sich treu bleiben oder nicht.

19 [36]

54. Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, niemand für sein Wesen: richten ist soviel als ungerecht sein. Dies gilt auch, wenn das Individuum über sich richtet. – Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht und doch geht hier jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit: aus Furcht völlig die Sehkraft zu verlieren, also der vermeintlichen Folgen wegen.

19 [37]

55. Moralität wird allein dadurch verbreitet, daß was den Intellekt aufhellt möglichst viel neue und höhere Möglichkeiten des Handelns kennen lehrt und damit eine Menge neuer Motive des Handelns zur Auswahl darbietet, sodann daß man Gelegenheiten giebt. Der Mensch wird von einem niederen Motiv sehr häufig nur deshalb ergriffen, weil er ein höheres nicht kannte, und er bleibt mittelmäßig und niedrig in seinen Handlungen, weil ihm keine Gelegenheit geboten wurde, seine größeren und reineren Instinkte hervorzukehren. – Viele Menschen warten ihr Lebenlang auf die Gelegenheit, auf ihre Art gut zu sein.

19 [38]

56. Bei der Wahl zwischen einer leiblichen und geistigen Nachkommenschaft, hat man zu Gunsten letzterer zu erwägen, daß man hier Vater und Mutter in Einer Person ist und daß das Kind, wenn es geboren ist, keiner Erzielung mehr, sondern nur der Einführung in die Welt bedarf.

19 [39]

59. Von zwei übeln Empfindungen kann allmählich die Philosophie erlösen: erstens von der Furcht auf dem Sterbebette, weil da nichts zu fürchten ist, zweitens von der Reue und Gewissensqual nach der That, weil jede That ganz unvermeidlich war. Hinsichtlich alles Vergangenen ist ein kalter Fatalismus die philosophische Gesinnung.

Der Unmuth über eine That wird aber vielleicht nicht geringer, wenn ich einsehe, daß sie Nothwendigkeit war: es ist ein Schmerz, der sich nicht durch Vorwurf Rache usw. erleichtern kann. Denn seine ganze Natur sein esse der That zu bezichtigen ist nur eine neue Stufe derselben Unvernunft, welche uns für jede einzelne Handlung verantwortlich machen will. Weil der Unmuth da ist, so muß Verantwortlichkeit da sein, also irgendwo eine Freiheit: so kam Schopenhauer auf den Begriff der intelligiblen Freiheit. Aber die Thatsache des Unmuths beweist nicht die rationelle Vernünftigkeit dieses Unmuthes: und nur, wenn es so stünde, würde man in der Schopenhauerschen Weise fortschließen können. – Der Unmuth ist übrigens zwar jetzt da, aber kann vielleicht abgewöhnt werden.

Wenn aber die schlechte ungeschickte Handlung keinen Unmuth nach sich zieht, so würde diese kalte Gesinnung, welche man sich in Hinsicht der Vergangenheit angewöhnt hätte, auch die Freude am Gethanen entwurzelt haben. Nun wird aber das Handeln der Menschen durch die Anticipation der zu erwerbenden Lust oder Unlust bestimmt: fällt diese weg, so hielte ihn keine Empfindung mehr von der schlechten Handlung zurück, und zöge ihn nichts mehr zu der guten That hin. Er würde in Hinsicht auf das Kommende ebenso kalt wie in Hinsicht auf das Vergangene. Jetzt träte die kalte Überlegung ein, ob Leben oder Nichtleben vorzuziehen sei: und der Selbstmord aus Besonnenheit wäre die Folge. In Erkenntniß oder Witterung dieses Sachverhaltes sträubt sich jeder Mensch, und auch jede Ethik gegen die Aufhebung der Freiheit: letztere mit Unrecht, da die Philosophie durchaus nicht auf die Consequenzen der Wahrheit sondern nur auf sie zu achten hat. – Dass das Leben als Ganzes keine Folge der Empfindung (Lust oder Unlust) haben soll, wird aus demselben Grunde abgewehrt (daher die Bedeutung, die dem Sterbebette zugeschrieben wird).

19 [40]

65. „Werde der, der du bist": das ist ein Zuruf, welcher immer nur bei wenig Menschen erlaubt, aber bei den allerwenigsten dieser Wenigen überflüssig ist.

19 [41]

66. Die Ethik jeder pessimistischen Religion besteht in Ausflüchten vor dem Selbstmorde.

19 [42]

70. Und was kam ihrer Tugend zu Hülfe? Die Stimme des Gewissens? – O nein, die Stimme der Nachbarin.

19 [43]

71. Selbstgenügsame Leute zeigen mitunter sich aus Gutmüthigkeit eitel: z. B. um die Eitelkeit bestimmter Klassen nicht zu beschämen.

19 [44]

72. Der Selbstgenügsame wird eitel, wenn er die höhere Selbstgenügsamkeit eines Anderen empfindet, was aber selten vorkommt.

19 [45]

73. Es läßt keinen Schluß auf die Begabung zu, ob jemand vorwiegend eitel oder selbstgenügsam ist: das größte Genie ist mitunter eitel gleich einem jungen Mädchen und wäre im Stande sich die Haare zu färben. Diese Eitelkeit ist vielleicht die übriggebliebene und großgewachsene Gewohnheit, aus der Zeit her, wo er noch kein Recht hatte, an sich zu glauben und diesen Glauben erst von anderen Menschen in kleinen Münzen einbettelte.

19 [46]

79. Man entkommt häufig seinen Verfolgern eher dadurch daß man langsamer als daß man schneller geht; das gilt namentlich bei litterarischen Verfolgungen.

19 [47]

Kotzebue – „in ihm leben weben und sind wir".

Shakespeare, Zufall in der Geschichte des Theaters.

Schiller ist ein besserer Theaterdichter.

19 [48]

84. Der Fromme fühlt sich dem Unfrommen überlegen: an christliche Demuth will ich glauben, wenn ich sehe daß der Fromme sich vor dem Unfrommen erniedrigt.

19 [49]

Ich verändere manche Rhythmen der Periode wegen der Leser.

19 [50]

90. Man schenkt jemandem lieber sein ganzes Herz als sein ganzes Geld. – Wie kommt das? – Man schenkt sein Herz und hat es noch, aber das Geld hat man nicht mehr.

19 [51]

93. Kein Schriftsteller hat bis jetzt genug Geist gehabt, um rhetorisch schreiben zu dürfen.

19 [52]

96. Eine schöne Frau hat doch Etwas mit der Wahrheit gemein (was auch die Lästerer sagen mögen!): beide beglücken mehr, wenn sie begehrt, als wenn sie besessen werden.

19 [53]

99. Ein Bündniß ist fester, wenn die Verbündeten an einander glauben als von einander wissen: weshalb unter Verliebten das Bündniß fester vor der ehelichen Verbindung als nach derselben ist.

19 [54]

100. Kein Fürst, der Krieg führen wollte, war je um einen casus belli verlegen. Aber alle Motive, welche wir öffentlich zu erkennen geben, zeigen, daß wir Alle nie um einen casus belli verlegen sind. Jede Handlung wird aus Motiven gethan und aus einem angeblichen Motive.

19 [55]

103. Ein Staatsmann zertheilt die Menschen in zwei Gattungen, erstens Werkzeuge, zweitens Feinde. Eigentlich giebt es also für ihn nur Eine Gattung von Menschen: Feinde.

19 [56]

108. Entweder macht man sich mit Hülfe einer Religion das äußere Leben schwer und das innere leicht oder umgekehrt: ersteres ist der Fall beim Christenthum, letzteres beim Zugrundegehen der Religionen. Daraus ergiebt sich, daß eine Religion entsteht um das Herz zu erleichtern und zu Grunde geht, wenn sie hier nichts mehr zu erleichtern hat.

19 [57]

110. "Ein Geist ist gerade so tief als er hoch ist" sagte Jemand. Nun denkt man bei der Bezeichnung "hoher Geist" an die Kraft und Energie des Aufschwunges, Fluges, bei der Bezeichnung „tiefer Geist" an die Entferntheit des Zieles, zu welchem, der Geist seinen Weg genommen halt. Der Satz will also sagen: ein Geist kommt eben so weit als er fliegen kann. Dies ist aber nicht wahr: selten kommt ein Geist so weit, als er überhaupt fliegen konnte. Also muß der Satz lauten: selten ist ein Geist so tief als er hoch ist.

19 [58]

111. Wenn früher die Pocken die Kraft und Gesundheit einer körperlichen Constitution auf die Probe stellten und den Menschen, welche sie nicht bestanden, tödtlich wurden: so kann man vielleicht jetzt die religiöse Infektion als eine solche Probe für die Kraft und Gesundheit der geistigen Constitution betrachten. Entweder überwindet man sie, oder man geht geistig daran zu Grunde.

19 [59]

Elemente der Bildung.

  1. Irrthümer.
  2. Falsche Schlüsse.
  3. Leidenschaften.
  4. Die gebundenen Geister.
  5. Vergessenheit.

6) Der Mensch als Sache.

  1. Die entartenden Naturen.
  2. Die Entstehung des Wahrheitssinns.

9) Zukunft der Kultur.

19 [60]

113. Verträge europäischer Staaten gelten jetzt genau solange als der Zwang da ist, welcher sie schuf. Das ist also ein Zustand, in welchem die Gewalt (im physischen Sinn) entscheidet und zu ihrer Consequenz führt. Dies ist folgende: die Großstaaten verschlingen die Kleinstaaten, der Monstrestaat verschlingt den Großstaat – und der Monstrestaat platzt auseinander, weil ihm endlich der Gurt fehlt, der seinen Leib umspannte: die Feindseligkeit der Nachbarn. Die Zersplitterung in atomistische Staatengebilde ist die fernste noch scheinbare Perspektive der europäischen Politik. Kampf der Gesellschaft in sich trägt die Gewöhnung des Krieges fort.

19 [61]

114. Es giebt keinen Erzieher mehr; man kauft sich unter diesem Namen immer nur Leute, welche selber nicht erzogen sind. – Es giebt Lehrer, aber keine Erzieher, Stallknechte, aber keine Reiter.

19 [62]

116. Hier und da versucht eine Partei, einige Fetzen des verunreinigten Christenthums zu säubern und sich mit ihnen zu kleiden – die Wirkung ist gering: denn frischgewaschene Lumpen kleiden zwar reinlich, aber immer nur lumpenhaft.

19 [63]

117. Beim Anblick der zahllosen Kirchen, welche das Christenthum einstmals baute, muß man sich sagen: es ist gegenwärtig nicht genug Religion da, um diese Gebäude abzutragen. Ebenfalls: es fehlt jetzt an Religion, um die Religion auch nur zu vernichten.

19 [64]

112. Die Öffentlichen Meinungen gehen aus den privaten Faulheiten hervor. Aber was geht aus den privaten Meinungen hervor? – Die öffentlichen Leidenschaften.

19 [65]

118) wir leben in einer Cultur, welche an den Mitteln der Cultur zu Grunde geht.

Aufhebung der Nationen – der europäische Mensch.

Enthaltung von Politik.

Beiseiteziehen der Talente.

Verachtung der Presse.

Religion und Kunst nur als Heilmittel.

Schlichtes Leben.

Geringschätzung der gesellschaftlichen Unterschiede.

Höheres Tribunal für die Wissenschaften.

Befreiung der Frauen.

Die Freundschaften – verschlungene Kreise.

Organisation der Oekonomie des Geistes.

Die Institutionen folgen den Meinungen von selbst.

19 [66]

Gruss an die Moralisten.

Abwesenheit der Moralisten.

Die Thätigen.

Die welche frei werden wollen.

Freigeist.

Verwundung.

Ohne Produktivität unmöglich – also Freigeist.

Seufzer über frühere Jugend.

Vater oder Mutter.

Erzeugung des Genius.

Mitte des Wegs.

Dichter als Erleichterer.

Aesthetik.

Dichter. Schriftsteller. Philologen.

Kunst – Thätige.

Gesellschaft.

Weib und Kind.

Staat (Griechen).

Religiöses.

Höhere moralische Sätze (gut und Böse) (Eitelkeit).

Höchste Erleichterung des Lebens.

fatum tristissimum.

19 [67]

Stimme der Geschichte.

Alles Allgemeine voran:

freigeisterhafter Rundgang: um den Menschen vom Herkömmlichen loszulösen.

1. Der Mensch mit sich allein.

2. Weib und Kind.

3. Gesellschaft.

4. Kunst – Dichter – Aesthetik.

5. Staat.

6. Religiöses.

7. Erleichterung des Lebens.

19 [68]

Homo liber de nulla re minus quam de morte cogitat et ejus sapientia non mortis sed vitae meditatio est. Spinoza.

19 [69]

Wer schärfer denkt, mag die Bilder der Dichter nicht, es wird zuviel des Ungleichartigen zugleich mit in's Gedächtniß gebracht; wie einer der scharf hört, die Obertöne eines Tons als mißtönenden Akkord hört.

19 [70]

c. 4. der Freigeist und der Philosoph.

5. innerhalb einer Cultur: Beispiele.

6. gegenwärtige Stellung.

7. Zukunft.

19 [71]

Der Mitleidende fühlt sich als der Stärkere, das giebt die Lust, als bereit zum Eingreifen, wenn er nur helfen könnte. Der Schmerz wie der aesthetische ein Nachklingen.

19 [72]

Themata:

über die Maxime.

über die Novelle.

Gegen die Dichter.

Der Philosoph aus Vergnügen, der wohl an die Vorgänger, nicht an die Nachfolger denkt (worin Vergnügen?).

Unterschied von Freigeist und Philosoph.

Thukydides als Ideal des Freigeist-Sophisten.

Ursprung des Mitleides.

Der Selbstmord in den Religionen.

Der Kranke.

Eitelkeiten der Gelehrten.

19 [73]

Man sucht die Dinge, welche eine ähnliche Empfindung in uns hervorrufen, miteinander in Verbindung zu bringen z. B. Frühling Liebe Schönheit der Natur, Gottheit usw. Diese Verflechtung der Dinge entspricht in gar nichts der wirklichen causalen Verknüpfung. Dichter und Philosophen lieben so die Dinge zu arrangiren; Kunst und Moral kommen zusammen.

19 [74]

Sie nennen die Vereinigung der deutschen Regierungen zu Einem Staate eine "große Idee". Es ist dieselbe Art von Menschen, welche eines Tages sich für die vereinigten Staaten Europas begeistern wird: es ist die noch größere Idee".

19 [75]

Die Verschiedenheit der Sprachen verhindert am meisten, das zu sehen was im Grunde vor sich geht – das Verschwinden des Nationalen und die Erzeugung des europäischen Menschen.

19 [76]

Alle Grundlagen der Cultur sind hinfällig geworden: also muß die Cultur zu Grunde gehen.

19 [77]

Die 10 Gebote des Freigeistes.

Du sollst Völker weder lieben noch hassen.

Du sollst keine Politik treiben.

Du sollst nicht reich und kein Bettler sein.

Du sollst den Berühmten und Einflußreichen aus dem Wege gehn.

Du sollst dein Weib aus einem anderen Volke als dem eignen nehmen.

Du sollst deine Kinder durch deine Freunde erziehen lassen.

Du sollst dich keiner Ceremonie der Kirche unterwerfen.

Du sollst ein Vergehen nicht bereuen, sondern seinetwegen eine Gutthat mehr thun.

Du sollst, um die Wahrheit sagen zu können, das Exil vorziehen.

Du sollst die Welt gegen dich und dich gegen die Welt gewähren lassen.

19 [78]

Cap. II. Der Freigeist in der Gegenwart.

Cap. III. Ziele des Freigeistes: Zukunft der Menschheit.

Cap. IV. Entstehung des Freigeistes.

19 [79]

Zukunft in einigen Jahrhunderten. Ökonomie der Erde, Aussterbenlassen von schlechten Racen, Züchtung besserer, eine Sprache. Ganz neue Bedingungen für den Menschen, sogar für ein höheres Wesen? jetzt ist es der Handelsstand, welcher ein völliges Zurücksinken in die Barbarei verhindert (Telegraphie, Geographie, industr<ielle> Erfindung, usw.).

19 [80]

Die Wahrheit zu sagen, wenn die Unwahrheit herrscht, ist mit so viel Vergnügen gemischt, dass der Mensch ihretwegen das Exil, ja noch Schlimmeres erwählt.

19 [81]

Il maudit les savants et ne voulut plus vivre qu'en bonne compagnie. Voltaire (Zadig)

19 [82]

Philologen.

Woher die Verdummung der Gymnasiasten? Durch das Beispiel der Lehrer, die alles verdummen, die Autoren usw.

Weshalb sind die Philologen auf verdorbene Stellen so eifrig? Aus Eitelkeit: ihnen liegt nichts an den Alten, aber sehr viel an ihnen selbst.

Giebt es eine geistreiche Schulausgabe?

19 [83]

Weil die Menschen an der Welt so weit sie erklärlich ist nicht viel finden, was wertvoll ist, so meinen sie, das Wahre und Wichtige müsse im Unerklärlichen liegen; sie knüpfen ihre höchsten Empfindungen und Ahnungen an das Dunkle Unerklärliche an. Nun braucht in diesem unaufgehellten Reiche gar nichts Wesentliches zu liegen, es könnte leer sein: es würde für den Menschen dasselbe dabei herauskommen, wenn er nur in seiner Erkenntniß eine dunkle Stelle hätte: daraus zaubert er dann hervor was er braucht und bevölkert den dunklen Gang mit Geistern und Ahnungen.

19 [84]

Wenn der Mensch sich gewöhnt, sich streng an die Wahrheit zu halten und vor allem Metaphysischen Unaufgehellten sich zu hüten, so wäre vielleicht einmal der Genuß von Dichtungen mit dem Gefühl etwas Verbotenes zu thun verbunden: es wäre eine süße Lust, aber nicht ohne Gewissensbisse hinterdrein und dabei.

19 [85]

Das sogenannte metaphysische Bedürfniß beweist nichts über eine diesem Bedürfnisse entsprechende Realität: im Gegentheil, weil wir hier bedürftig sind, so hören wir die Sprache des Willens, nicht die des Intellekts und gehen irre, wenn wir dieser Sprache glauben. Ein Gott wäre anzunehmen, wenn er beweisbar wäre, ohne daß ein Bedürfniß ihn uns nöthig erscheinen ließe.

19 [86]

Themata.

Vom Freigeiste.

Das Unerklärliche und das Erklärliche.

Untergang der alten Kultur.

Ursachen der Kunst.

Der Selbstmord.

Eitelkeit der Gelehrten.

Die Maxime.

Der Schriftsteller.

Der Kranke.

Die Verbesserlichkeit der Menschen.

Über die Novelle.

Der Umgang.

Der Intellect der Weiber.

Die Freundschaft.

Phasen der Moral.

Über die Macht.

Einfachheit d<es> Guten.

Die Hoffnung.

Der Adel.

Kampf gegen das Schicksal.

Gut und Böse.

Ersatz religiöser Motive.

Versprechen.

Intellect und Moralität.

Langeweile – Musse.

Strafe und Reue.

Philologen als Lehrer.

Thukydides Typus des Sophist<ischen> Freisinns.

19 [87]

Die Urtheile der Geschworenengerichte sind aus demselben Grunde falsch, aus dem die Censur einer Lehrerschaft über einen Schüler falsch ist: sie entstehen aus einer Vermittlung zwischen den verschieden gefällten Urtheilen: gesetzt den günstigsten Fall, einer der Geschworenen habe richtig geurtheilt, so ist das Gesamtresultat die Mitte zwischen dem richtigen und mehreren falschen Urtheilen d. h. Jedenfalls falsch.

19 [88]

Ein Dichter muß keinen so bestimmten Begriff seines Publikums in der Seele haben wie der Maler eine bestimmte Entfernung vom Bilde, wenn es richtig beschaut werden soll, und eine bestimmte Sehschärfe der Beschauer verlangt. Die neueren Dichtungen werden nur theilweise von uns genossen, jeder pflückt sich, was ihm schreckt; wir stehen nicht in dem nothwendigen Verhältnisse zu diesen Kunstwerken. Die Dichter selber sind unsicher und haben bald diesen bald jenen Zuhörer im Auge; sie glauben selber nicht daran, daß man ihre ganze Intention faßt und suchen durch Einzelheiten oder durch den Stoff zu gefallen. Wie jetzt alles, was ein Erzähler gut macht, beim heutigen Publikum verloren geht: welches nur den Stoff der Erzählung will und interessirt fortgerissen überwältigt sein möchte: durch das Faktum, welches die Criminalakten z. B. am besten enthalten, nicht durch die Kunst des Erzählers.

19 [89]

Vorhistorische Zeitalter werden unermeßliche Zeiträume hindurch vom Herkommen bestimmt, es geschieht nichts. In der historischen Zeit ist jedesmal das Faktum eine Lösung vom Herkommen, eine Differenz der Meinung, es ist die Freigeisterei, welche die Geschichte macht. Je schneller der Umschwung der Meinungen erfolgt, um so schneller läuft die Welt, die Chronik verwandelt sich in das Journal, und zuletzt stellt der Telegraph fest, worin in Stunden sich die Meinungen der Menschen verändert haben.

19 [90]

Ein schönes Weib in der Ehe muß sehr viele gute Eigenschaften haben, um darüber hinwegzuhelfen, daß sie schön ist.

19 [91]

Mittheilbarkeit der Wahrheit, der Meinungen überhaupt.

19 [92]

Was leistet eine Meinung? – fragt der Staatsmann. Ist sie eine Kraft?

19 [93]

Die Menschen werden gewöhnt, eine fremde Meinung höher zu taxiren als die eigne.

19 [94]

Die Frommen fragen: beglückt euch diese Meinung? – das gilt als Beweis für und gegen die Wahrheit. Wenn nun ein Irrsinniger glaubt er sei Gott und darin glücklich ist – wie es vorkommt – so ist folglich bewiesen, daß es einen Gott giebt.

19 [95]

In einer Tragödie wird nothwendig die Beredsamkeit herrschen, welche in einer Zeit gerade geübt und hochgeschätzt wird. So bei den Griechen, so bei den Franzosen, so auch bei Shakespeare. Bei ihm ist der spanische Einfluß, der am Hofe Elisabeths herrschte, unverkennbar: die Überfülle der Bilder, ihre Gesuchtheit ist nicht allgemein menschlich, sondern spanisch. In der italiänischen Novelle wie in Le Sage herrscht die vornehme Redekultur des Adels und der Renaissance. – Wir haben keine höfische Beredsamkeit und auch keine öffentliche wie die Griechen: deshalb ist es mit der Rede im Drama nichts, es ist Naturalisiren. Goethe im Tasso geht auf das Vorbild der Renaissance zurück. Schiller hängt von den Franzosen ab. Wagner giebt die Kunst der Rede ganz auf.

19 [96]

Der Mensch hat die Neigung, für das Herkömmliche, wenn er Gründe sucht, immer die tiefsten Gründe anzugeben. Denn er spürt die ungeheuren segensreichen Folgen, so sucht er nach einer tiefen weisheitsvollen Absicht in der Seele derer, welche das Herkommen pflanzten. – Aber es steht umgekehrt; die Entstehung Gottes, der Ehe ist flach und dumm, das Fundament des Herkommens ist intellektuell sehr niedrig anzusetzen.

19 [97]

Wenn man einen Glauben umwirft, so wirft man nicht die Folgen um, welche aus ihm herausgewachsen sind. Diese leben vermöge des Herkommens weiter: das Herkommen schließt die Augen über den Verband von Glauben und Folge. Die Folge erscheint ihrer selbst wegen da zu sein. Die Folge verleugnet ihren Vater.

19 [98]

Was ist die Reaktion der Meinungen? Wenn eine Meinung aufhört, interessant zu sein, so sucht man ihr einen Reiz zu verleihen, indem man sie an ihre Gegenmeinung hält. Gewöhnlich verführt aber die Gegenmeinung und macht einen neuen Bekenner: sie ist inzwischen interessanter geworden.

19 [99]

Aristoteles meint, durch die Tragödie werde das Übermaß am Mitleide und Furchtsamkeit entladen, der Zuhörer kehre kälter nach Hause zurück. Plato meint dagegen, er sei rührseliger und ängstlicher als je. – Plato's Frage über die moralische Bedeutung der Kunst ist noch nicht wieder aufgeworfen. Der Künstler braucht die Entfesselung der Leidenschaft. Wir lassen uns die Leidenschaften, welche der athenische Komiker bei seinen Zuhörern entladen will, kaum mehr gefallen: Begierde Schmähsucht Unanständigkeiten usw. Thatsächlich ist Athen weichlich geworden. Als Ersatz der Religion kann die Kunst nicht gelten: denn für den, welcher vollendet hat, ist sie überflüssig, für den welcher im Kampf ist, kein Ersatz der Religion, sondern höchstens eine Beihülfe der Religion. – Vielleicht ist ihre Stellung so, wie sie Mainländer nimmt, eine Beihülfe der Erkenntniß, sie läßt den Frieden und den großen Erfolg der Erkenntniß von ferne wie blaue Berge sehen. Ersatz der Religion ist nicht die Kunst, sondern die Erkenntniß.

19 [100]

Die Religionen drücken nicht irgend welche Wahrheiten sensu allegorico aus, sondern gar keine Wahrheiten – das ist gegen Schopenhauer einzuwenden. Der consensus gentium in

Religionsansichten ist doch eher ein Gegenargument gegen die zu Grunde liegende Wahrheit. Nicht eine uralte Priesterweisheit, sondern die Furcht vor dem Unerklärlichen ist der Ursprung der Religion: was von Vernunft darin ist, ist auf Schleichwegen in sie hineingekommen.

19 [101]

Das Studium der Psychologie gehörte zur antiken Rhetorik. Wie weit sind wir zurück! Die Parteipresse hat thatsächlich ein Stückchen Psychologie, auch die Diplomatie – alles als Praxis. Die neue Psychologie ist unerläßlich für den Reformator.

19 [102]

Der neue Reformator nimmt die Menschen wie Thon. Durch Zeit und Institutionen ist ihnen alles anzubilden, man kann sie zu Thieren und zu Engeln machen. Es ist wenig Festes da. „Umbildung der Menschheit!"

19 [103]

Es ist alles zuzugestehen, was die Religion Nützliches für den Menschen habe: direkt Glück und Trost verleihen. Wenn man die Wahrheit nicht mit dem Nutzen verschwistern kann, ist ihre Sache verloren. Weshalb sollte die Menschheit sich für die Wahrheit opfern? ja sie kann es gar nicht. Alles Wahrheitsbestreben hat bis jetzt den Nutzen im Auge: die entfernte Nützlichkeit der Mathematik war es, die der Vater an seinem studirenden Sohn achtete. Man hätte einen Menschen als blödsinnig genommen, der sich mit etwas beschäftigt, bei dem nichts herauskommt, oder gar Schaden. Man hielte den für gemeingefährlich, der den Menschen die Luft die sie athmen verdirbt. Ist die Religion nöthig, um zu leben, so ist der, welcher sie erschüttert, gemeingefährlich: ist die Lüge nöthig, so darf sie nicht erschüttert werden. Also – ist die Wahrheit möglich in Verbindung mit dem Leben? –

19 [104]

Man sorgt für sich – und dann noch für den Sohn: die letztere Rücksicht hindert den Menschen ganz individuell und rücksichtslos zu leben. Er will Institutionen, die seinem Sohn zu Gute kommen. Daran hängt die Continuation der Menschheit: haben die Menschen keine Kinder, so fällt alles unter den Haufen. Die Sorge für das Kind sorgt für den Besitz und die gesicherte Stellung: für Eigenthum und Ordnung der Gesellschaft. Habsucht und Ehrgeiz sind die Triebe, welche vielleicht mit dieser Sorge um die Brut zusammenhängen: sie sind durch Vererbung sehr groß, auch wenn im speziellen Falle die Brut fehlt: wenn dem Streben das Ziel, der Kopf abgeschnitten ist: trotzdem bewegt der Leib sich noch.

19 [105]

Ein guter Erzieher kann in den Fall kommen, den Zögling scharf zu beleidigen, nur um eine Dummheit, die er sagen will, im Keime zu ersticken.

19 [106]

Der Märtyrer wider Willen und der Ehrliche der verachtet wird, als Feigling usw., während er nur so ist, wie er sein kann.

19 [107]

Es ist in der Art der gebundenen Geister, irgend eine Erklärung keiner vorzuziehn; dabei ist man genügsam. Hohe Cultur verlangt, manche Dinge ruhig unerklärt stehen zu lassen: epecw.

19 [108]

Die dunkle Sache gilt als wichtiger gefährlicher als die helle. Die Angst wohnt im Innersten der menschlichen Phantasie. Die letzte Form des Religiösen besteht darin, daß man überhaupt dunkle unerklärliche Gebiete zugesteht; in diesen aber, meint man, müsse das Welträthsel stecken.

19 [109]

Durch die Pfahlbauten usw. ist bewiesen, daß es einen Fortschritt der Menschheit gegeben hat. Ob aber auf Grund der letzten 4000 <Jahre> der Menschheit diese Annahme erlaubt ist, ist fraglich. Aber die Wissenschaft ist fortgeschritten: damit ist die höchste Form der bisherigen Cultur vernichtet und kann nie wieder entstehen.

19 [110]

Der Instinkt ist einem Wurm gleich, dem man den Kopf abgeschnitten hat und der sich doch in der gleichen Richtung weiter bewegt.

19 [111]

Die Liebe ist von Schopenhauer gar nicht erklärt. Das Geschlechtliche einmal. Dann die spezielle Neigung aus aesthetischen Miturtheilen, welche durch Vererbung sehr stark geworden sind. Der Schwarze will die Schwarze und verachtet die Weiße. Mit dem „Genius der Gattung" ist gar nichts gewonnen.

19 [112]

Nicht um unsterblich zu sein, nicht in Rücksicht auf die Propagation sind die Menschen verliebt: gegen Platon. Sondern des Vergnügens halber. Sie wären es, auch wenn die Weiber unfruchtbar wären; erst recht! Die griechische Päderastie nicht unnatürlich, deren causa finalis, nach Plato, sein soll, „schöne Reden zu erzeugen".

19 [113]

Jeder Mensch nimmt an sich das höchste Interesse, ist aber gewohnt, das Urtheil der Anderen höher zu respektiren als das eigne: Glaube an Auktorität, angeerbt und angezogen, Fundament von Gesellschaft Sitte usw. Aus diesen beiden Prämissen ergiebt sich die Eitelkeit: der Mensch stellt seinen eigenen Werth durch das Urtheil Anderer vor sich selber fest.

19 [114]

Alles Sittliche ist irgend wann einmal noch nicht „Sitte" sondern Zwang gewesen. Erst seit es Herkommen giebt, giebt es gute Handlungen.

19 [115]

Unegoistische Regungen auf egoistische zurückzuführen ist methodisch geboten. Der sociale Instinkt geht auf den Einzelnen zurück, der begreift, daß er nur erhalten bleibt, wenn er sich einem Bunde einverleibt. Die Schätzung des Socialen wird dann vererbt und, da die nützlichsten Mitglieder auch die geehrtesten sind, immer fort gestärkt. Jetzt ist eine helle Flamme da, für das Vaterland alles zu leiden (auch für jede ähnliche Vereinigung z. B. die Wissenschaft). Der egoistische Zweck ist vergessen. Das "Gute" entsteht, wenn man den Ursprung vergißt. – Der elterliche Instinkt ist erst in der Gesellschaft großgezüchtet worden, man braucht Nachkommen, so nimmt man die Ehe in Schutz und ehrt sie. – Auch die unegoistische Liebe (zwischen den Geschlechtern) ist erst wohl eine erzwungene Sache, durch die Societät erzwungen. Später erst gewöhnt und vererbt und endlich wie eine ursprüngliche Regung. Zuerst geht der Trieb nur auf eine Befriedigung, ohne Rücksicht auf das andre Individuum, grausam. – Ob auch alle elterlichen Instinkte der Thiere auf Societät zurückzuführen sind? –

19 [116]

Hier beginnen die "Gedanken und Entwürfe" aus Herbst und Winter 1876.

22 Dezember 1876 schrieb ich diese letzte Seite.

19 [117]

Einleitung.

An Goethe zu erinnern „wenn einer redet soll er positiv reden".

19 [118]

Menschliches und Allzumenschliches.

Gesellige Sprüche.

19 [119]

Die Sentenz als Thema der Geselligkeit.

19 [120]

Die alte Cultur.

1. Das unreine Denken im Fundamente der Cultur.

2. Sittlichkeit.

3. Religion.

4. Kunst (Sprache).

5. Die Freigeister.

6. Die Frauen.

7. Die Heiligen.

8. Die Schätzung des Lebens.

9. Recht.

10. Völker.

11. Wissenschaft.

12. Verschwinden der alten Cultur.

 

[Dokument: Mappe loser Blätter]

[Winter 1870 – 1877]

20 [1]

14. Es giebt eine doppelte Aesthetik. Die eine geht von den Wirkungen der Kunst aus und schliesst auf entsprechende Ursachen; sie steht mit diesem Verfahren unter dem Zauber der Kunst und ist selber eine Art Dichtung und Rausch: ein Hineinerklingen der Kunst in die Saiten der Wissenschaft. Die andere Aesthetik geht von den vielfach absurden und kindischen Anfängen der Kunst aus: sie vermag die thatsächlichen Wirkungen daraus nicht abzuleiten und wird desshalb versuchen, die Empfindung über die Kunst überhaupt zu ermässigen und jene Wirkungen auf alle Weise zu verdächtigen, als ob sie erlogen oder krankhaft seien. Woraus klar wird, welche Aesthetik der Kunst nützt, welche nicht und inwiefern beide keine Wissenschaft sein können.

20 [2]

16. In der That sind diese Folgen bedenklich. Wenn die schlechte, ungeschickte Handlung irgend wann einmal keinen Unmuth mehr nach sich zieht, so würde diese kalte Gesinnung, an die man sich in Hinsicht auf das Vergangene gewöhnt hätte, auch die Freude am Gethanen entwurzelt haben. Nun wird aber das Handeln des Menschen durch die Anticipation der zu er werbenden Lust oder Unlust bestimmt: fällt diese in Hinsicht auf sogenannte moralische Lust oder Unlust weg, so hält ihn keine Empfindung mehr von der schlechten Handlung zurück, und zöge ihn nichts mehr zu der guten That hin: es sei denn die Rücksicht auf das Nützliche oder Schädliche; die Moral wiche einer Nützlichkeitslehre. Der Mensch würde in Hinsicht auf das Kommende eben so kalt und klug werden wie in Hinsicht auf das Vergangene. Dann würde er für die kalte Ueberlegung reif sein, welchen Werth sein gegenwärtiges Leben habe, das immer noch schmerzhaft genug sein könnte, nebst der Erwägung, ob nicht vielleicht das Nichtsein dem Sein vorzuziehen sei. In Erkenntniss oder Witterung dieses Sachverhaltes, sträubt sich jeder Mensch und auch jede philosophische Ethik gegen die Aufhebung der Verantwortlichkeit: letztere mit Unrecht, da die Philosophie durchaus nicht auf die Consequenzen der Wahrheit, sondern nur auf sie selber zu achten hat. – Dass das Leben des Menschen als Ganzes keine Folge der Empfindung in Lust oder Unlust haben solle, sondern mit Vernichtung und völliger Empfindungslosigkeit schlösse, wird aus demselben Grunde gemeinhin abgelehnt: man fürchtet den Glauben an den Werth des Lebens zu schwächen und die Lust zum Selbstmorde zu ermuthigen. Der Wille zum Leben wehrt sich gegen die Schlüsse der Vernunft und versucht diese zu trüben: daher die Bedeutung, die man den letzten Augenblicken des Lebens auf dem Sterbebette beilegt, als ob da noch etwas zu fürchten oder zu hoffen wäre.

20 [3]

1. Eine Sentenz ist ein Glied aus einer Gedankenkette; sie verlangt, dass der Leser diese Kette aus eigenen Mitteln wiederherstelle: diess heisst sehr viel verlangen. Eine Sentenz ist eine Anmaassung. – Oder sie ist eine Vorsicht: wie Heraclit wusste. Eine Sentenz muss, um geniessbar zu sein, erst aufgerührt und mit anderem Stoff (Beispiel, Erfahrungen, Geschichten) versetzt werden. Das verstehen die Meisten nicht und desshalb darf man Bedenkliches unbedenklich in Sentenzen aussprechen.

20 [4]

12. In einen heftigen Affect der Liebe geräth man leichter aus einem Zustand der Verliebtheit, welche auf eine andere Person gerichtet ist, als aus dem der völligen Kälte und Freiheit des Gemüthes.

20 [5]

20. Wie viel mehr an Güte und Glück unter den Menschen gäbe es, wenn sie fürderhin das, was sie bisher Gotte gaben, einander gäben, an Zeit, Kraft, Vermögen, Ueberwindung des Herzens, Selbstlosigkeit, Liebe. Wie viel mehr? – Vielleicht nicht gar zu viel.

20 [6]

21. Mancher will sich durch Lob, Bewunderung, Neid Anderer von seinem eignen Werthe überzeugen oder überreden; daran liegt ihm viel mehr als an allem Uebrigen und er gebraucht jedes Mittel, sogar das der Selbstüberlistung und Selbstberauschung. Ja er zieht es hundertmal vor, sich lieber zu bewundern als sich zu nützen und liebt sich viel mehr als ihm vortheilhaft ist. An ihm ist die Eitelkeit nur das Mittel der Selbstgefälligkeit. Er will nicht sowohl hervorragen als sich hervorragend fühlen, gleichgültig ob er es ist.

20 [7]

25. Woher stammt der Neid der Götter? Es scheint, dass der Grieche nicht an ein ruhiges und stilles, sondern allein an ein übermüthiges und frevelhaftes Glück glaubte; es erbitterte ihn, den Glücklichen zu sehen. Es muss ihm wohl im Ganzen schlecht zu Muthe gewesen sein; denn seine Seele war allzu leicht beim Anblicke des Glückes verwundet. Wo es ein ausgezeichnetes Talent gab, da war die Schaar der Eifersüchtigen ausserordentlich gross. Traf jenes ein Unglück, so sagte man: es that auch Noth, er war gar zu übermüthig; und jeder hätte sich doch ebenso benommen, wenn er das gleiche Talent gelabt hätte, nämlich übermüthig; ebenso wie jeder bei Gelegenheit den Gott spielen mochte, der das Unglück auf das Talent schickt.

20 [8]

30. Die Eitelkeit hat zwei Quellen, entweder in dem Gefühl der Schwäche oder in dem der Macht. Der Mensch, sobald er seine Hülflosigkeit als Einzelner und das Maass seiner Kräfte und Besitzthümer wahrnimmt, sinnt auf Austausch mit den Nächsten. Je höher diese seine Kräfte und Besitzthümer taxieren, um so mehr kann er für sich bei diesem Austausche gewinnen. Nun kennt er von Allem, was er besitzt, die schwachen Seiten nur zu genau. Desshalb verdeckt er diese und stellt die starken glänzenden Eigenschaften an's Licht. Dies ist die eine Art der Eitelkeit; dazu gehört die andere, welche den Schein von glänzenden Eigenschaften, die in Wahrheit nicht da sind, erwecken will: beide zusammen bilden die sehende Eitelkeit (welche Verstellung ist). Der auf diese Weise eitle Mensch will Begehrlichkeit nach sich und damit höhere Taxation erzeugen. Neid entsteht, wenn einer begehrlich ist, aber keine oder kaum eine Aussicht hat, seine Begehrlichkeit durch Tausch zu befriedigen. Wir sind alle begehrlich nach fremdem Besitz. Einmal weil wir die Schwächen des eigenen Besitzes zu gut kennen und seine Vorzüge uns durch Gewöhnung reizlos geworden sind, sodann weil der Andere seinen Besitz in das günstigste Licht gestellt hat. Wir scheinen verliebter in unsern Besitz, um ihn begehrenswerther erscheinen zu lassen. Beim Tausch glaubt jeder den Andern übervortheilt und selber den höheren Gewinn zu haben. Der Tauschende hält sich für klug; die sehende Eitelkeit vermehrt im Menschen den Glauben an seine Klugheit. Der Tauschende meint, er sei der Täuschende, aber der, mit welchem er tauscht, glaubt von sich dasselbe. – Wir schätzen das Beneidetwerden, weil die Andern, welche uns nicht beneiden, sondern einen Tausch anbieten können, durch die gesteigerte Begehrlichkeit der Neidischen zu einer höheren Taxation unserer Güter gedrängt werden. – Das Gefühl der Macht, vererbt, erzeugt die blinde Eitelkeit (während jenes die sehende, nach dem Vortheile hin sehende war); die Macht discutiert und vergleicht nicht, sie hält sich für die höchste Macht, sie macht die höchsten Ansprüche; bieten andere ihre Begabungen und Kräfte mit demselben Anspruche an, so bleibt jetzt nur der Krieg übrig: durch einen Wettkampf wird über das Recht dieser Ansprüche entschieden oder durch Vernichtung des einen Mitbewerbers, mindestens seiner hervorragenden Fähigkeit. Eifersucht ist der gereizte Zustand des Mächtigen im Verhältniss zum mächtigen Mitbewerber; Neid, der hoffnungslose Zustand, ihm nicht zuvorkommen zu können: also wenn er im Kriege unterliegt. Der Neid bei sehender Eitelkeit entsteht aus ungestillter Begehrlichkeit; der Neid bei blinder Eitelkeit ist die Folge einer Niederlage.

20 [9]

35. Die Resignation besteht darin, dass der Mensch die starke Anspannung aller Sehnen seines Denkens und Fühlens aufgiebt und sie in einen Zustand zurückversetzt, wo sein Denken und Fühlen gewohnheitsmässig und mechanisch wird. Dieses Nachlassen ist mit einer Lust verbunden und die mechanische Bewegung ist wenigstens ohne Unlust.

20 [10]

38. Man kann die grösste Begabung und geistige Erfindsamkeit unterdrücken, wenn man unersättlich im Producieren ist und dem Quellwasser keine Zeit lässt sich zu sammeln.

20 [11]

17. – – – Um das Beispiel einer übermässigen und fast verunglückten Inoculation zu nehmen: die Deutschen, ursprünglich von jener ausserordentlichen Geschlossenheit und Tüchtigkeit, welche Tacitus, der grösste Bewunderer ihrer Gesundheit, schildert, wurden durch die Inoculation der römischen Cultur nicht nur verwundet, sondern fast bis zum Verbluten gebracht: man nahm ihnen Sitte, Religion, Freiheit, Sprache, so viel man konnte; sie sind nicht zu Grunde gegangen, aber dass sie eine tief leidende Nation sind, haben sie durch ihr seelenvolles Verhalten zur Musik bewiesen. Kein Volk hat so viel wunde Stellen, wie die Deutschen, und eben desshalb haben sie eine grössere Begabung zu jeder Art von Freigeisterei. – Ich will bei dieser Betrachtung absichtlich bei dem Menschen verbleiben und mich hüten, aus den Gesetzen über die menschliche Veredelung auf Grund der schwächeren und entarteten Naturen, Schlüsse auf die thierischen Naturen und deren Gesetze zu machen. – Aus dieser ganzen Betrachtung kann der Freigeist den Beweis entnehmen, dass er auch den gebundenen Geistern nützlich ist: denn er hilft dazu, dass das Product der gebundenen Geister, ihr Staat, ihre Cultur, ihre Moral nicht erstarren und absterben; er lässt in Stamm und Aeste immer von Neuem den belebenden Saft der Verjüngung fliessen.

20 [12]

22. Es ist vielleicht das wichtigste Ziel der Menschheit, dass der Werth des Lebens gemessen und der Grund, wesshalb sie da ist, richtig bestimmt werde. Sie wartet desshalb auf die Erscheinung des höchsten Intellectes; denn nur dieser kann den Werth oder Unwerth des Lebens endgültig festsetzen. Unter welchen Umständen aber wird dieser höchste Intellect entstehen? Es scheint, dass die, welche die menschliche Wohlfahrt im Ganzen und Groben fördern, sich gegenwärtig noch ganz andere Ziele setzen, als diesen höchsten, werthbestimmenden Intellect zu zeugen. Man begehrt für möglichst viele ein Wohlleben herzustellen und versteht dieses Wohlleben noch dazu äusserlich genug.

20 [13]

4. Man liebt oft einen Ort, einen Menschen und gelt ihm fürderhin aus dem Wege; so gross ist die Neugierde des Herzens.

20 [14]

31. Man muss sehr flach sein, um aus den gewöhnlichen Gesellschaften nicht mit Gewissensbissen heimzukehren.

20 [15]

34. Es ist practisch, im Verkehr mit Freunden und Gattinnen viel Vertrauen aber wenig Vertraulichkeit, im Verkehr mit der übrigen Welt dagegen wenig Vertrauen und viel Vertraulichkeit zu haben.

20 [16]

79. Einen Freigeist wird sein Gewissen mehr beissen, wenn er seine Ehe mit kirchlichen Ceremonien begonnen, als wenn er ein Mädchen verführt hat; obwohl letzteres tadelns- und strafenswerth, ersteres es nicht ist.

20 [17]

108. Wer seine Gesundheit lobt, der hat eine Krankheit mehr.

20 [18]

Erziehung zum Freigeist.

Erste Stufe: unter der Herrschaft des persönlichen Nutzens.

Zweite Stufe: unter der Herrschaft des Herkommens.

Dritte Stufe: unter der Herrschaft der Religion.

Vierte Stufe: unter der Herrschaft der Kunst.

Fünfte Stufe: unter der Herrschaft einer metaphysischen Philosophie.

Sechste Stufe: unter dem Gesichtspunct des allgemeinen Nutzens.

Siebente Stufe: unter der herrschenden Absicht auf Erkenntniss.

Januar bis Mitte Februar

Sorrent 1877

20 [19]

Operette

Positivismus ganz nothwendig

Fatum

verfeinerter Heroismus

ein Staatsmann Menschenfreund

20 [20]

Man liebt grobe Consequenz – Overbeck

20 [21]

Melodie des europäischen Menschen: woraus sich ergiebt, daß noch einiges an diesem Menschen zu thun ist.

Was ist jetzt,- die herrschende Melodie in Europa, l'idée fixe musicale? Eine Operettenmelodie (natürlich die Tauben ausgenommen oder W<agner>).

 

[Dokument: Notizbücher]

[Ende 1876 – Sommer 1877]

21 [1]

Gletscher Steinchen Blümchen

21 [2]

Alle Schriftsteller erleben zu bewusst, zu unsicher.

21 [3]

Kamm, Halsband, Ohrringe Broche – Ein Stil es ist Filigran.

21 [4]

"anständige Verbrecher"

"die Eitelkeit des Gelehrten"

"Freundschaft"

"Lob des Irrthums"

"der europäische Mensch"

21 [5]

Eitelkeit verträgt sich mit Selbstverachtung – höhere Warte des Selbstmordes.

21 [6]

Periode der grossartigen Mot<ive> das Persönliche nicht das Unpersönliche.

21 [7]

Offenheit Verstecktheit als Ausgangspuncte der Tugenden niederer Bevölkerung.

Vornehm-vulgär für die höhere Kaste.

21 [8]

Wir hören nicht gerne Handlungen erzählen, welche der Erzählende uns nicht zutraut: oder sie müssen ganz in's Erstaunliche und Ausnahmsweise gehen.

21 [9]

der Freigeist

die Ehe

das leichte Leben

psychologische Beobachtungen

21 [10]

Die munteren hüpfenden Bewegungen des Wallfisches machen Freude als ob sie Spiel und Lust bedeuteten: inzwischen ist es die Qual die die Natur im Innern ihm macht. So bewundert man die Munterkeit grosser Staatsmänner.

21 [11]

Menschheit, eine unordentlich fungirende Maschine mit ungeheuren Kräften.

21 [12]

Auf vulkanischem Boden gedeiht alles.

21 [13]

Schopenhauer zur Welt wie Blinder zur Schrift.

21 [14]

Das Ahnungsvolle Intuitiv-Unlogische im deutschen Wesen ist Zeichen, dass es zurückgeblieben, noch mittelalterlich-bestimmt ist – manche Vorzüge liegen darin, wie in allen Dingen.

21 [15]

Die deutsche Zukunft ist nicht die der deutschen Geldbeutel.

21 [16]

Bildung des Auges wichtiger als des Ohres.

21 [17]

Weg vom Freidenken geht nicht zum Freihandeln (individuell) sondern zum regierungsweisen Umgestalten der Institutionen.

21 [18]

Säugethier Zeugethier

21 [19]

elfter Finger – Fingerhut

21 [20]

Es verwundet, den Hochverehrten sich zum Dank verpflichten.

21 [21]

Traum von der Kröte.

21 [22]

Ehrgeizige Menschen, durch Krankheit zur Unthätigkeit verurtheilt, werden sich selbst die bösesten Feinde. Der thätige Ehrgeiz ist eine Hautkrankheit der Seele, er treibt alles Schädliche nach aussen.

21 [23]

Wer sich erlaubt öffentlich zu sprechen ist verpflichtet sich auch öffentlich zu widersprechen, sobald er seine Meinungen ändert.

21 [24]

Es giebt nur Gründe gegen den Selbstmord individuell. Starke Medizin. Moralische Gründe gar nicht.

21 [25]

Man muss nicht zu viel Recht haben wollen, aber auch nicht zu wenig.

21 [26]

Der Freund der moralischste Mensch. Aristoteles.

21 [27]

Auf That kommt alles an – Nutz.

21 [28]

Für die jetzige, europäische Cultur ist characteristisch die langsame Berauschung und das Stillestehen an einer gewissen Grenze.

21 [29]

Man denkt nie soviel an eine Freundin oder Geliebte, als wenn die Freundschaft oder Liebschaft im letzten Viertel steht.

21 [30]

Wer an den Vergnügungen erst vorsichtig herumkostet, behält nachher kaum einen Mund voll Annehml<ich>k<eit> übrig.

21 [31]

Das Egoistische gilt als böse, in den meisten Fällen mit Unrecht; denn dass es schädigt, giebt ihm nicht diesen Character. Es will sich erhalten, Character der Nothwehr (selber Emotion der Nerven zu haben kann Bedürfniss sein). Ohne Bedürfniss schädigen und mit Absicht ist Unsinn.

21 [32]

Man klagt dass socialistische Arbeiter denselben besitzsüchtigen bürgerlichen Sinn haben, sobald, sie das Ziel erreichen.

Falsch: Das ist das Richtige. Die Anschauungen aus der Lage: niemand ist Schutzzöllner wenn – – –

21 [33]

Alles gesellschaftliche Essen und Trinken, widerwärtig.

21 [34]

Musik anhören Rauchen Essen und Trinken – von der lutherischen schwerfälligen Gemüthlichkeit aus.

21 [35]

Gegen den Rausch.

21 [36]

Nützlichkeit im Wesen der Moral – der Grenzbewohner als Mörder.

21 [37]

Inconsequenz des Princips, mit in den Gang hineingerissen, eingewachsen, fortwachsend, mitunter dem Princip eine andere Richtung gebend.

21 [38]

Glockenlaute – goldenes Licht durch die Fenster. Traum. Ursache a posteriori hineingedichtet wie bei den Augenempfindungen.

21 [39]

Eduard Leuchtenberg Roon

Pflugschaar.

1 Sentenzen.

2 Zur Kenntniss des Menschen.

3 Allgemeine Orientirung.

4 Religion.

5 Kunst.

6 Moral.

21 [40]

Liebe und Hass blödsichtig einäugig, ebenso „Wille".

21 [41]

Unsern höchsten Stimmungen entsprechende Naturerklärung ist metaphysisch.

21 [42]

Stelle im Tristram über Barbarei.

C. Desmoulins

Henker

Cynismus die Hinrichtung erfrischt.

21 [43]

Der Socialismus beruht auf dern Entschluss die Menschen gleich zu setzen und gerecht gegen jeden zu sein: es ist die höchste Moralität.

21 [44]

Der Reiz der Wissenschaft hebt sich jetzt noch durch den Contrast.

21 [45]

Wer es kann, der folge mir in der Gerechtigkeit gegen verschiedene Culturen.

21 [46]

Philosophie ist die Fata Morgana welche die Lösung den ermüdeten Jüngern der Wissenschaften vorspiegelt.

21 [47]

Inhaltsreiche Menschen haben in Bezug auf die selben Dinge Ebbe und Fluth, Zuneigung und Abneigung. Man muss jede dieser verschiedenen Strömungen – – –

21 [48]

Die Wahrheit steht hier ganz auf dem Kopf, was für die Wahrheit besonders unschicklich ist.

21 [49]

Leichenzug im Carneval einstmals historisch wie jetzt die anderen Wagen.

21 [50]

Tristan: Auf- und Überschwung der Leidenschaft.

21 [51]

Gewisse Erkenntnisse schützen sich selbst: man versteht sie nicht.

21 [52]

Glaube an die Wahrheit

Wer sich erniedrigt

Mitleid schweigt

21 [53]

Die Wissenschaft macht dem, welcher sie fördert, Lust: sehr wenig dem, welcher Resultate empfängt.

Aber anders mit Kunst Religion usw. Wir müssen das Reich der Unwahrheit in uns halten: dies ist die Tragödie.

21 [54]

Violette (mehr roth als blau) Tapeten Vorhänge nerven beruhigend, ein amerikanischer Arzt hat Wahnsinn damit kurirt.

21 [55]

Hat man sich auch einer Religion entwöhnt, so glaubt man doch einen Satz besser bewiesen, wenn seine Stimmung uns religiös anmuthet z. B. "ein ganz sicheres Evangelium".

21 [56]

A. Bedingungen der Erzieher.

  1. Beschaulichkeit
  2. 2. mehrere Culturen durchlebt

  3. eine Wissenschaft.

<B.> Themata:

C. Erholungen – – –

Centra der Cultur nöthig, sonst die Verflachung: warum die Höfe, die Universitäten, die grossen Städte es nicht sind?

21 [57]

Pflüger. Richter zugl<eich> Seelsorger.

Vorrede hinterdrein.

21 [58]

Contrast tief leidender Betrachtung, ihrer Erfordernisse zur Tröstung und der wissenschaftlichen Cultur.

21 [59]

Würdige Beurtheilung eines Metaphysikers wie Schopenhauer als Zeugniss für den Menschen (aber einen unwissenschaftlichen).

21 [60]

Wenn der Mensch sofort mit Einsicht in die Wahrheit begabt wäre, die Schule des Irrtums nicht durchgemacht hätte?

21 [61]

Wirkung des Feuertodes, die Grausamkeit als Kraftquelle für die Nächsten.

21 [62]

Die Wahrheit einflusslos wie die gehende Sonne.

21 [63]

Anfang: unsere Erzieher sind selber nicht erzogen.

Schluss: Tod so lange wie möglich zu verscheuchen. Aeternität.

21 [64]

Auferstehung je 300 Jahre.

21 [65]

F<rage>. Wenn man etwas nimmt hat man es?

Ja.

Aber die Jungfrauschaft?

21 [66]

Hat man angefangen öffentlich zu denken, so muß man sich erlauben, sich öffentlich zu widersprechen.

21 [67]

Goethe's Lieblingsproblem im Wilhelm Meister.

21 [68]

Separiren geistiger Phasen mit Bewusstsein, Zeichen von Cultur.

21 [69]

Frauen Heirathen Trauung

21 [70]

Optim<ismus> Pessim<ismus> nichts

21 [71]

Graugrün Oberkleid und blau hell Unterkleid mit weissen Spitzen

21 [72]

Die bösen Handlungen auf Irrthümern beruhend z. B. Rache auf dem Glauben an Verantwortlichkeit, ebenso Grausamkeit, soweit Triumph der Macht.

21 [73]

Alle bösen Eigenschaften gehen auf den Erhaltungstrieb des Einzelnen zurück, der doch gewiss nicht böse ist. Missgunst bei Hunger, wenn ein anderer – – –

21 [74]

Aus einem metaphysischen Zeitalter in ein realistisches [+] ist ein tödtlicher S<prung> Übergänge [+]

21 [75]

Gegen Aristoteles, Geistergeschichten – durch die Kunst das Mitgefühl der Menschen gemehrt, darauf Moral, ebenso durch die Religion.

21 [76]

Wie wäre der Genius der Cultur?

21 [77]

Einzug der Wissenschaft in die Welt auf Schleichwegen nicht effectvoll.

21 [78]

Warum zögern wir noch und betrüben uns selber durch unsere Freuden – es ist gleichgültig – aber wer uns ein schändliches [- -] geben will [– – –] sonst braucht man sich nicht

zu schämen.

21 [79]

Mädchen-Affe.

21 [80]

Was wir lieben, daran sollen wir alle guten Seiten– – –

Nun lieben wir uns selber – – –

21 [81]

Entweder schätzen wir uns auf Grund eignen Urtheils oder auf Autorität.

Vergleichung ein Hauptmittel zur Lust an uns.

21 [82]

I Zur Geschichte der Cultur.

II Menschliches, Allzumenschliches.

III Sentenzen-Buch.

IV Entstehung der griechischen Litteratur.

V Schriftsteller und Buch.

VI Philologica.

21 [83]

Moralität hängt oft vom Erfolg <ab>.

21 [84]

Schluss gelöbniss über Wissenschaft. Wenn ihr es könnt, werdet ihr müssen.

 

[Dokument: Notizbücher]

[Frühling – Sommer 1877]

22 [1]

Fenster grüner Gaze

22 [2]

Den Freunden Gruss und Widmung.

22 [3]

<Die unendliche Melo>die – man verliert das Ufer, überlässt sich den Wogen.

22 [4]

Roheit, welche sich als Kraft giebt – Kunst.

22 [5]

So zu handeln, dass die Menschheit usw.: Da müsste man das Vortheilhafte übersehen können. Wer sagt dass überhaupt für das Ganze eine Art Handeln zuträglich sei? die Geschichte sagt das Gegentheil. Man ist dem Egoismus viel mehr verpflichtet.

22 [6]

Unwissende Menschen, welche mit einer Philosophie bekannt geworden sind, haben den Eindruck, als ob sie jetzt allen anderen Wissenschaften überlegen wären und als ob sie in allem mitsprechen könnten – nichts irrthümlicher.

22 [7]

Feuer Ernst und Glück, wie selten im Augen und Ausdruck eines Jünglings.

22 [8]

1. Philologie.

2. Der Stil berühmter deutscher Schriftsteller.

3. Zur Aesthetik der Musik.

4. Zur Moral.

5. Entstehung der griechischen Litteratur (Entstehung eines Buches darin).

6. Das Zeitalter "gegen Metaphysik".

7. Gefahren der Musik in der Zukunft.

22 [9]

Jene uns verborgene Welt viel bedeutungsleerer als die bekannte. Unwillkürlich nimmt man das Gegentheil an. Aber Noth als Mutter, Irrthum als Vater haben den Glauben geschaffen.

22 [10]

Vorrede über Philologie. Alles als Übung.

Homer's und Hesiod's Wettkampf.

Athene als Liebesgöttin.

Solon's Elegie eine Sammlung.

Der Prolog der Choephoren.

Beispiel kunstvoller Responsion.

Leben Demokrit<'s>.

Sceptische Ansichten über Metrik.

Conjectanea als Anhang.

22 [11]

Einleitung in die Philosophie der Gegenwart.

1 Allgemeine Gesichtspuncte (Philosophen).

2 Zur Religion.

3 Zur Musik.

4 Zur Kunst.

5 Wissenschaft und Fortschritt.

22 [12]

Vom Standpuncte des Nutzens ist die Erhaltung der Religion durchaus zu wünschen, Nutzen selbst im höchsten Sinn (Moralität) genommen (nämlich der vormundschaftliche Staat).

Aber sie ist nicht zu erhalten, weil keine aufrichtigen Lehrer mehr da sind.

Also wäre das Erziehungswesen umzustürzen? nach der Absicht der katholischen Kirche? Aber alle sonstigen Vortheile des Lebens ruhen auf der Wissenschaft.

Conflict nicht zu verschärfen – englische Praxis. Consequent sind die Menschen nicht.

Das Aufhören dieses Glaubens entfesselt Kraft, bis jetzt durch metaphysische Tröstungen zurückgehalten. Deshalb nicht zu unterschätzen.

Diese Kräfte sind den bestehenden Ordnungen feindlich.

Ist Revolution nothwendig? – Zunächst ist ein kleiner Bruchtheil der europäischen Menschheit in Betracht.

Den Regierungen freieste Behandlung anzurathen, nichts zu unterdrücken, vielmehr sich voranstellen in der geistigen Befreiung: je geistiger man die Masse macht, um so geordnetere Wege sucht sie.

Von Seiten der Privatpersonen – Gründung eines Vereins dessen M<itglieder> sich aller religiösen Formen enthalten. Propaganda in der ganzen Welt. Damit Überbrückung der Nationen (Gegenstück zur katholischen Überbrückung).

22 [13]

Auch Wein, auch Kunst (Feste) gehört zu diesen Tröstungen. Weg! Vereine gegen geistige Getränke sehr zu Diensten der Freigeister.

22 [14]

Die nationale Idee und Kriege ausgezeichnete Gegenmittel gegen Revolution.

Entflammung der religiösen Interessen (Sinn des Culturkampfs) ebenfalls.

Eine zeitweilige Verrohung nicht zu scheuen (durch Übermacht von Naturwissensch<aft> Mechanik).

22 [15]

Ob Lebenserfahrungen in Gestalt von Sentenzen dargestellt einen Nutzen für Andere haben, weiss ich nicht, für den welcher sie macht sind sie eine Wohlthat: sie gehören zu den Mitteln der Erleichterung des Lebens.

Und von den unangenehmsten dornenreichsten Ereignissen oder Lebensstrichen kann man immer noch Sentenzen abpflücken (und einen Mundvoll Annehmlichkeit daraus haben) und sich dabei ein wenig wohl fühlen.

22 [16]

Der Staat hat die Wissenschaft, nicht die Religion, die Astronomie, nicht die Astrologie zu vertreten. Letztere verbleibt dem Privatmann.

22 [17]

Es giebt kürzere und längere Bogen in der Culturentwicklung. Der Höhe der Aufklärung entspricht die Höhe der Gegen-Aufklärung in Schopenhauer und Wagner.

Die Höhepuncte der kleinen Bogen kommen am nächsten dem grossen Bogen – Romantik.

22 [18]

Unser Ziel muss sein: Eine Art der Bildungsschule für das ganze Volk – und ausserdem Fachschulen.

22 [19]

Schlüssel zu der menschlichen Handlung.

Ein anderer Schlüssel.

22 [20]

Wie ist es möglich dass einer sich in allem verachtet (sich „sündhaft" durch und durch weiss) und doch noch liebt? Die wissenschaftliche Erklärung ist eine ganz andere als der religiöse Mensch sich giebt. Jene Liebe misst er Gotte zu: wenn er in alle möglichen Erlebnisse die Zeichen einer gütigen barmherzigen Gesinnung hineinlegt, jede getröstete Stimmung als Wirkung von dem auffasst, also alle besseren Empfindungen einem Wesen ausser sich als dem wirkenden Urheber zuschreibt, so bekommt die Liebe, mit der er sich im Grunde selber liebt, den Anschein einer göttlichen Liebe. Diese ist unverdient, schliesst der Mensch weiter, ist Gnade.

Voraussetzung ist, dass der Mensch sich freiwillig fühlt und schlecht: dies nur durch eine falsche unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen. Er legt in den einen Theil seiner Handlungen den Begriff Sünde hinein, in den andern Theil den Begriff göttliche Gnadenwirkungen. Falsche Psychologie, Phantastik in der Ausdeutung der Motive ist Wesen, des Christenthums.

22 [21]

– – – dem der Staat die Herrschaft des Teufels ist.

22 [22]

Der Verleger denkt, aber der Buchdrucker lenkt.

22 [23]

Oedes graues Auge frühesten Morgens, nasse scharfe Luft.

22 [24]

Was ewig im Gesang soll leben, muss im Leben untergehen (Restauration-Kunstblüthe).

22 [25]

Modif<icirte> Tempos. – Man ehrt den grossen Künstler der Vergangenheit weniger durch jene unproductive Scheu, welche jede Note liegen lässt, wie er sie gestellt hat, als durch thätige Liebe und jene Versuche, ihn immer von neuem wieder zum Leben zu erwecken, im Leben zu erhalten.

22 [26]

Freigeist. Psychologisches. Moral. Kunst. Religion. Metaphysik.

Übergang von Religion zu Kunst mit "unreinem Denken", "unlogische Stellung zur Welt".

Dann der „Dichter".

Palliative. Erleichterungsmittel des Lebens. Kunst usw.

22 [27]

Moral

Religion

Kunst

zuletzt: Weise werden

22 [28]

Metaphysik: einige Sprossen zurück, nur der erkennende Mensch soll immer über die Leiter hinausschauen, wir sind als volle Menschen nicht nur Erkenntniss.

22 [29]

Wie der Nebel ein Gebirge niedriger erscheinen lässt, so geistige Verstimmung.

22 [30]

Ich wünsche dass man esse um satt zu werden und nicht nur weil es gut schmeckt – Grund wozu Wissenschaft.

22 [31]

Der Hunne Attila "Mensch Gewitterwolke".

22 [32]

Es lehrt wenn nicht Bescheidenheit so doch Vorsicht. Schopenhauer Goethe.

22 [33]

Erscheinung. Es liegt an unseren Irrthümern, welche in die Constitution unseres Intellects hineinreichen, dass Ding und Erscheinung sich nicht decken.

22 [34]

Wenn ihr Augen habt zu sehen, so gebraucht auch den Mund zu sagen: "ich sah es anders" damit – – –

Höhle von Salamanca.

22 [35]

– wenn man dabei an die unbewussten Heilwirkungen und Ähnliches denkt – – –

22 [36]

Alle Kunst weist den Gedanken an Werden ab. Alle will Improvisation scheinen, augenblickliches Wunder (Tempel als Götterwerk, Statue als Verzauberung einer Seele in Stein). So alle Musik. In gewisser Musik wird dieser beabsichtigte Effect durch Kunstmittel (Unordnung) nahe gelegt.

22 [37]

Nöthig, den ganzen Positivismus in mich aufzunehmen, und doch noch Träger des Idealismus zu sein (Vorrede).

22 [38]

Selbständ<iges> Leben. Buch 9.

22 [39]

Musik der schönen Seele

22 [40]

Verrechnung in der Anarchie

22 [41]

Für jemand sterben ist ein geringer Beweis von Liebe.

22 [42]

Dichter-Weisheit.

22 [43]

Liebe so unparteilich wie der Regen der den Sünder bis auf die Haut unter Umständen nass macht.

22 [44]

hängende Wolken der Trübsal, der Verstimmung

22 [45]

Kindisch und schaurig und wehmutsvoll

klang die Weise der Zeit mir oft:

sehet nun sing ich ihr Lied?

hört, ob das Glockenspiel

nicht sich verwandelt in Glockenernst

oder ob es klingt

hoch herab wie vom Genua-Thurm

Kindisch jedoch ach schaurig

Schaurig und wehmutsvoll.

22 [46]

Die Schule soll die grösste Freiheit im Rel<igiösen> lehren, das nüchternste strenge Denken. Die Unklarheit und die gewohnten Neigungen werden sehr weite Grenzen zielen.

22 [47]

Geist der Jugendlichkeit, der Vorrechte, selbst zu einigen Unarten hat, – diess fehlt mir jetzt.

22 [48]

Diese Schrift welche unter dem aufrührerischen Gesamttitel Unzeitgemässe Betrachtungen in vier aufeinander folgenden Theilen der Öffentlichkeit übergeben wurde und welche zwischen Ostern 1873 und August 1876 in allem Wesentlichen vollendet wurde – – –

Herz erst in Unzeitgemässen Betrachtungen ausgeschüttet. Aber Wind und Wetter, welche das Leben noch mehr als unser Stern führen und die mir nicht gerade günstig <waren>, waren mir doch vielleicht darin günstig dass – – –

22 [49]

– sei es auch dass dieselbe eine spottende Irreführung der deutschen Leichtgläubigkeit wäre – – –

22 [50]

Jagd im Buche.

Kräftiger Eber und auch zierlicher Rehe gewiss.

22 [51]

Der Charakter der dramatischen Musik, der deutschem Wesen ebenso fern steht wie der Charakter der Bismarckschen Politik.

22 [52]

Wollen ist in jedem Falle eine Selbsttäuschung. Wir können es nur im Gegensatz zum Müssen, als freies Wollen denken: und dies ist ein Irrthum.

22 [53]

– deutscher Jüngling – Ironie – Wohlgelauntheit Lachen Lächeln Wurmfrass Wichtigthun

22 [54]

Wer Religion und Kunst – Goethe – – –

Manfred: Eckermann Riemer – – –

22 [55]

Flöte der Zeit vorblasen, dass rascher und wirbelnder ihr Tanz wird – später die grosse Ruhe, wo schauernd, wie in später Nachmitternacht alles gespenstisch scheint. Ich selbst bin in der Zeit, sie in mir – Selbsterlebtes, Selbst orgiasmus.

22 [56]

Wille. Von einer Eigenschaft dieses Gefühls, zu wollen, wohin zu streben, ist uns unmittelbar gar nichts bewusst.

22 [57]

Der Eine sagt: ich empfinde, aber alle Wesen empfinden, von Anfang an. Der Andere: ich kann es nie erklären, wie an einem bestimmten Puncte der historischen Entwicklung die Empfindung entstanden sein soll: also war sie immer.

22 [58]

Weil ich in mir, als Letztes Unauflösbares, Empfindung antreffe, so muss dies in allen Wesen ebenfalls der Fall sein.

Dass aber Empfindung bei Wesen ohne Gehirn (ohne Denken) wirklich das sei, was wir Empfindung nennen, und nicht ein bloss mechanischer Vorgang, der von uns nur als Empfindung ausgedeutet wird –

dass Empfindung unter Beihülfe des Intellects zu Stande kommt.

Gedächtniss Vorausbildung eigentlich ein Gehirnvorgang.

22 [59]

das Jauchzen des erkenn<enden> Menschen

22 [60]

Duell. Blut wischt ein übereiltes Wort weg, Blut giebt selbst einer zweideutigen Handlung hinterdrein die Achtung einer ehrlichen. – Selbstmord, bei Ajax um das überreizte Ehrgefühl zu befriedigen.

22 [61]

Ist von Sorrento's Duft Nichts hängen blieben?

Ist alles wilde, kühle Bergnatur,

Kaum herbstlich sonnenwarm und ohne Lieben?

So ist ein Theil von mir im Buche nur:

Den bessern Theil, ihn bring ich zum Altar

Für sie die Freundin Mutter Arzt mir war.

22 [62]

Wir denken nicht nur innerhalb des Traumes, sondern der Traum selber ist das Resultat eines Denkens.

22 [63]

Ich finde den Mangel an Gerechtigkeitssinn bei Frauen empörend. Wie sie mit ihrem dolchspitzen Verstand verdächtigen usw.

22 [64]

Die früheren Schriften waren Gemälde, zu denen ich die Farben aus den Stoffen, welche ich darstellte, wie ein Chemiker nahm und wie ein Artist verbrauchte.

22 [65]

Der Autor, das Mädchen, der Soldat, die Mutter ist das unegoistisch?

22 [66]

Urprobleme.

Sprache.

Schriftsteller.

Stil.

Gymn<asium>.

Erziehung.

Freigeist.

22 [67]

Wie es für den Menschen keine absolut menschlichen Gebärden giebt, sondern sie immer der Symbolik einer bestimmten Culturstufe, eines Volksthums, eines Standes eignen müssen, so giebt es bei keiner Kunst eine absolute Form. „Formen sprengen" bedeutet nur eine neue Symbolik zur Herrschaft bringen. Alle Form aber ist Convention oder Zwang.

22 [68]

Freunde.

Ihr glaubt mich allein – nun nehmt des Einsamen Gefährten auf.

22 [69]

Ich habe wohl ein Recht, dieser Dichtung hier zu gedenken. Das was ich selber nicht zu sagen vermochte, was aber, wie viele Tropfen Lichtes, mir hier und da auf die Seele gefallen ist – das hat sie gesagt, die Lichttropfen weiter geworfen [-]

Meine Ergänzung: und zwar wie ein zerbrochenes Stück Arm und Bein sich zu einem Ganzbilde verhält.

22 [70]

Die guten Künstler sollen nicht hinhören.

22 [71]

Nicht verdient – Stolz.

22 [72]

– altberühmte Person Hutten Voltaire.

Unter den 7 berühmten Schwaben Strauss voran Muth.

22 [73]

Die gute Meinung über mich habe ich von Anderen erst gelernt und subtrahire fortwährend davon ab, mit Grübelei, wenn ich krank bin.

Ein ruhiges freudiges Alleinsein mit mir, in guten Gedanken und Lachen – wie ich auch bin –

22 [74]

Wann erst die Sprache als Wissenschaft galt – Schilderung der weiteren Sprach förderer. Manuscript Basel

22 [75]

Mag Vernunft den Vernünftigen erbauen

Der Künstler soll nur die Kunst verdauen

Und doch hat ein Künstler dies Buch geschrieben

Nicht seine Vernunft that's, es that sein Lieben.

22 [76]

Wir hören wohl das Hämmern des Telegraphen aber verstehen es nicht.

22 [77]

Charactere:

wie sich der gemalte Schuh des Malers zum Schuh des Schuhmachers verhält,

wie die Kenntniss des Malers vom Schuh zu der Kenntniss des Schuhes vom Schuhmacher,

so Charactere von Dichtern entworfen zu wirklichen Characteren.

22 [78]

Lipiner. Der schönste Erfolg, wenn es zwingt das Buch wegzulegen, Athem holen; Thränen tiefer Verzückung, trunkenes Schwimmen im Wohlk<lang> welcher die Augen schliessen macht, wie als ob man in die blaue Tiefe südlicher See taucht; wehmutsvolle Ergriffenheit, wenn wir vor uns selber beschämt über uns hinweg sehen.

22 [79]

Wenn die Erkenntniss und immer wieder die Erkenntniss für viele andere Entbehrungen schadlos halten soll, und nun das Organ derselben der Kopf auch da noch Schmerz und Widerspruch –

22 [80]

Im bairischen Walde fieng es an

Basel hat was dazu gethan

In Sorrent erst spann sich's gross

und breit Und Rosenlaui gab ihm Luft und Freiheit

Die Berge kreissten, am Anfang Mitt' und End'!

Schrecklich für den, der das Sprichwort kennt!

Dreizehn Monat bis die Mutter des Kinds genesen –

Ist denn ein Elephant gewesen?

Oder gar eine lächerliche Maus? –

So sorgt sich der Vater. Lacht ihn nur aus!

22 [81]

Jacob Burckhardt.

Seit dies Buch mir erwuchs hält Sehnsucht mich und Beschämung

Bis solch Gewächs dir einst hundertfach reicher erblüht.

Jetzt schon kost' ich des Glücks, dass ich dem Grösseren nachgeh‘,

Wenn er des goldnen Ertrags eigner Pflanzung sich freut.

22 [82]

Die Form eines Kunstwerks hat immer etwas Lässliches. Der Bildhauer kann viele kleine Züge hinzuthun oder weglassen – ebenso der Klavierspieler. Man muss es so stellen, dass es wirkt: d. h. dass Leben auf Leben wirkt. Als ob jemand eine Geschichte aus seinem Leben erzählt. Einschlafen –

22 [83]

Glückselige Insel

Robinson

22 [84]

Strauss – Wagner

22 [85]

Bestätigung dass Jugend [– – –] Prometheus

22 [86]

Beethoven – jener edle süsse Traum welcher aus dem Herzen in den Geist dringt und ihn in rothumflossenen Dämmerungen nach den Weiten spähen heisst: Hunger einer einsamen Seele.

22 [87]

Das ausserordentliche Vergnügen welches man der Moral (bei Erzählungen) und der Kunst verdankt.

22 [88]

Gef<esselter> Prom<etheus> als Regenbogenbrücke über den letzten Jahrtausenden schwebend, das höchste Cultur-Gedicht.

22 [89]

Freundin! Der sich vermass, dich dem Glauben an's Kreuz zu entreissen,

schickt dir dies Buch: doch er selbst macht vor dem Buch ein Kreuz.

22 [90]

Als der Buddaismus mit seiner milden Reisesser-Moral den Kriegen entgegen arbeitete, wurde Indien aus der Geschichte der Culturmächte gestrichen.

22 [91]

Der Eine hat eine undeutliche Schrift weil sein Auge schwach ist: so liest er sich selber schwer. Der andere sieht viel schärfer und liest auch dessen Handschrift besser als jener – – –

22 [92]

Dem Meister und der Meisterin

Entbietet Gruss mit frohem Sinn,

Beglückt ob einem neuen Kind,

Von Basel Friedrich Freigesinnt.

Er wünscht dass sie mit Herzbewegen

Auf's Kind die Hände prüfend legen

Und schauen ob es Vater's Art

Wer weiss? selbst mit 'nem Schnurrenbart –

Und ob es wird, auf Zween und Vieren

Sich tummeln in den Weltrevieren.

In Bergen wollt' zum Licht es schlüpfen

Gleich neugebornen Zicklein hüpfen

So gleich zu suchen eignen Gang

Und eigne Freude Gunst und Rang

Oder vielleicht Einsiedlers Klaus

Und Waldgethier sich wählet aus?

Was ihm auf seinem Erdenwallen

Beschieden sei: es will gefallen

Nicht Vielen: Fünfzehn an der Zahl

Den Andern werd'es Kreuz und Qual,

Dass nur, zur Abwehr ärgster Tücke

Des Meisters Treuaug segnend blicke!

Dass nur den Weg zur ersten Reise

Der Meisterin kluge Gunst ihm weise!

22 [93]

Dies ist der Herbst.

Die Sonne schleicht zum Berg

Und steigt hinauf

und ruht bei jedem Schritte.

Auf müd gespannten Fäden spielt

Der Wind sein Lied:

Die Hoffnung flieht,

Er klagt ihr nach.

O Frucht des Baums,

Du zitterst, fällst!

Welch ein Geheimniss zeigte dir

Die Nacht,

Dass eis'ger Schauder deine Wange,

Die purpurne, verhüllt? –

Ich bin nicht schön,

So spricht die Sternenblume,

Doch Menschen lieb' ich,

Und Menschen tröst' ich,

Sie sollen jetzt noch Blumen sehn,

Nach mir sich bücken,

Ach! und mich brechen –

In ihren Augen glänzet dann

Erinnerung an schönre auf

Und Glück.

Ich seh's und sterbe dann,

Und sterbe gern.

Dies ist der Herbst. –

22 [94]

Um Mittag, wenn

Der junge Sommer in's Gebirge steigt,

Da spricht er auch,

Doch sehen wir sein Sprechen nur:

Sein Athem quillt wie eines Wandersmanns

In Winterfrost:

Es geben Eisgebirg und Tann und Quell

Ihm Antwort auch,

Doch sehen wir die Antwort nur.

Denn schneller springt vom Fels herab

Der Sturzbach wie zum Gruss

Und steht als weisse Säule horchend da.

Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne

Als sonst sie blickt.

Und zwischen Eis und todtem Graugestein

Blickt plötzlich Leuchten auf:

Wer deutet dir's?

In todten Mannes Auge

Wird wohl noch einmal Licht:

Sein Kind umschlang ihn harmvoll

Küsst' ihn.

Da sagt des Auges Leuchten:

„Ich liebe dich"

Und Schneegebirg und Bach und Tann

Sie sagen auch

Zum Sommerknaben nur

Dies Eine Wort:

Wir lieben dich!

Wir lieben dich!

Und er – er küsst sie harmvoll,

Inbrünstiger stets

Und will nicht gehn:

Er bläst sein Wort wie Schleier nur

Von seinem Mund – ein schlimmes Wort. –

Da horcht es rings

Und athmet kaum:

Da überläuft es schaudernd wie

Ein Glitzern am Gebirg

Rings die Natur:

Sie denkt und schweigt. –

Um Mittag war's

Mein Gruss ist Abschied

Ich sterbe jung. –

22 [95]

Wenn Denken dein Schicksal ist, so verehre dies Schicksal mit göttlichen Ehren und opfere ihm das Beste, das Liebste.

So geht alle Zwietracht, alles Widerstrebende in Eintracht und Einklang zusammen.

22 [96]

Schwur dessen der sich der Erkenntniss weiht.

22 [97]

Ein Mensch der durch Lob und Tadel verdirbt – ein Baum der durch Sonnenschein und Regen verdirbt – beide sind schon verdorben und alles wird ihnen zum Anlass des Untergangs.

22 [98]

Die Dichter werden dann um Elend und Unordnung förmlich beten lernen.

22 [99]

Ich bin gewiss nicht undankbar, aber ich sehe keine Pflicht, mich mit dem Strick der Dankbarkeit zu erdrosseln.

22 [100]

„das schönste Gedicht das je ein Jüngling gedichtet hat'"

22 [101]

Zur Natur werden!

22 [102]

Frauen welche denen Holbeins nicht nur äusserlich gleichen und vielleicht nichts wesentlich Verschiedenes in Kopf und Herzen tragen.

22 [103]

Ironie gemein – ironische Kochkunst: unwissend stellen – um so schärfer unser Wissen hervortreten zu lassen.

Gegensatz der Bescheidenheit: unwissend fühlen, wo der Andere das Wissen und Können bewundert.

22 [104]

Schimpfworte hat jedermann gern, aber nie hat jemand geglaubt, dass ihm selber eins mit Recht zukomme.

22 [105]

Die Klugheit gebietet, sich für das, was man gilt, auch zu geben oder vielleicht für etwas Geringeres.

22 [106]

Ich habe noch nie einen bedeutenden Menschen gesehen der durch Lob verdorben worden ist. – Aber es ist ein sicherer Maassstab, wenn jemand durch Lobsprüche faul wird: er ist unbedeutend.

22 [107]

Der Fehler fast jeder Philosophie ist ein Mangel an Menschen-Kenntniss, eine ungenaue psychologische Analyse. Die Moralisten fördern insofern die Erkenntniss mehr als sie sich bei den vorhandenen Analysen der menschlichen Handlungen nicht beruhigen.

Um die falschen psychologischen Facta breitet der Philosoph sein Naturwissen und hüllt alles in metaphysisches Bedürfniss.

22 [108]

Man wird die Menschen und die Welt viel harmloser finden.

22 [109]

"Du sollst Gott über alle Dinge lieben."

22 [110]

Die Entwicklung des Liedes der Oper giebt der absoluten Musik immer eine neue Zukunft (durch Vermehrung der Symbolik).

22 [111]

Wie ein und dasselbe Christenthum dem Einen jene trübäugige Armsündermiene, dem Anderen ein fröhliches Wohlwollen in's Gesicht malt.

22 [112]

Ein geübtes Auge, um aus der vielfach überschriebenen Handschrift der menschlichen Züge und Gebärden die Vergangenheit deutlich lesen zu können.

22 [113]

Bewusstes Empfinden ist Empfindung der Empfindung, ebenso bewusstes Urtheilen enthält das Urtheil dass geurtheilt wird. Der Intellect ohne diese Verdoppelung ist uns unbekannt, natürlich. Aber wir können seine Thätigkeit, als die viel reichere, aufzeigen. (Es ergiebt sich, dass „Empfindung" in dem ersten Stadium empfindungslos ist. Erst der Verdoppelung kommt der Name zu. Bei der Verdoppelung ist das Gedächtniss wirksam.) Fühlen ohne dass es durch das Gehirn gegangen ist: was ist das? – Lust und Schmerz reichen nur so weit als es Gehirn giebt.

22 [114]

Es beliebt uns Mittelglieder zu nennen: es waren die entartenden Exemplare die sich so nicht halten konnten.

22 [115]

Wenn jemand beim Anblick von Leidenden und Sterbenden hart ist, wie will man dies tadeln?

22 [116]

Alles Bleibende ergreift, macht Sehnsucht – so sehr verwechseln wir das Bleibende und das Gute.

22 [117]

Die Kraft wohnt in einem bestimmten Gegenstand, ist an eine Lokalität gebunden. Zerstört man den Gegenstand, so auch die Kraft oder das Leben. Der Gegenstand selbst wird "Tod" oder "Leben" genannt – "in dem Ei ist mein Tod" "hier ist dein Tod" – namentlich russisch – erinnert an die Metaphysiker welche auch die "Kraft" lostrennen vom Willen.

22 [118]

"Bildungsphilister". Aber es ist nicht gut den Winden predigen dass sie uns den Staub nicht in's Gesicht blasen – sie laufen doch, wohin sie müssen.

22 [119]

Nun ich seh' mehr als ihr

Will 's euch erzählen

22 [120]

ein blinder [-], doch in Schuh und Rock

[- ]das ist, [– – –]

[- -] als Ziege und Ziegenbock

22 [121]

Nun ist doch sonnenklar

Ein Mensch hat Leib und Seele, ein Paar

22 [122]

Ich weiss was Schatten ist und Licht

Was Leib und Seele – ihr wisst's nicht

22 [123]

Zieg an Ziege ohne Zagen

Drängt an meinem Knie vorbei

Leckt die Hand und scheint zu fragen

Was ich blind und einsam sei.

22 [124]

Da steckt wohl das Seelchen drin

Er schont es auf Reisen das ist der Sinn

22 [125]

Doch hinter seiner viel werthen Gestalt

Hat jeder ein Bündel angeschnallt

Da steckt er die Seele wohl hinein

Er schont sie auf Reisen wie ich vermein'

22 [126]

Wie der Leib den Schatten wirft

Wirft die Seele Licht

Schatten haben sie allgesamt

Seele aber nicht

22 [127]

Der blinde Knabe am Gebirgswege.

22 [128]

Ich denke ich habe durch meine Kritik von Religion Kunst Metaphysik ihren Werth gesteigert: Kraftquellen mehr als je.

22 [129]

Er kommt dann heim und packt das Seelchen aus

Dasselbe – – –

22 [130]

Wenn ich so am Wege sitze

Bis der Schatten kälter wird,

Bis Ziegenherden ohne Furcht an meinem Knie vorbei

22 [131]

Ich muss Heidelbeerkraut und Tann um mich und vor mir einen Gletscher haben.

22 [132]

Sitz' den ganzen Tag am Wege

Bis der Schatten kälter wird,

Und in tieferem Gehege

Abwärts zieht Herd und Hirt

Alle Ziegen drängen trau<lich>

Sich an meinem Knie vorbei

Lecken mir die Hand

dass ich blind und einsam sei

22 [133]

<Sich> aller moralischen Phrase (Opfer Pflicht) entäussern, die grosse Comödie der Heuchelei gar nicht mitspielen (denn an diesen Fäden leiten Euch die, welche die Heuchelei durchschaut haben, nach ihren Zielen: weil sie Euch für zu feige und dumm halten). Wahr sein – das sei euch wieder „moralisch".

22 [134]

Zwei Knaben sassen wohl

im Heidelbeerkraut

und sahen dem grossen

grünen Käfer zu,

auf dessen Rücken

ein Sonnentropfen

glitzerte:

er fiel aus

kühlem Tannenschatten

hinunter.

22 [135]

Ecce ecce homunculus.

 

[Dokument: Mappe loser Blätter]

[Ende 1876 – Sommer 1877]

23 [1]

Die geschickten Bewegungen des Fußes beim Ausgleiten Stolpern Klettern sind nicht die Resultate eines blind wirkenden aber zweckmäßigen Intellektes, sondern einmal angelernt, wie die Bewegungen der Finger beim Klavierspiel. Jetzt wird sehr viel von dieser Fertigkeit gleich vererbt.

23 [2]

Die Menschen setzen das Ähnliche hin als das Gleiche, z. B. den Priester gelegentlich als den Gott; den Theil gleich dem Ganzen z. B. in der Magie.

23 [3]

Man kann nicht erklären, was die Empfindung ist: aber ich glaube, es ist nicht viel, wenn man es weiß, und gewiß steckt kein Welträthsel dahinter.

23 [4]

Dieselbe Manier zu denken, welche noch jetzt die große Masse bestimmt, ja auch den gebildeten Einzelnen, falls er sich nicht sehr besinnt, hat den sämmtlichen Phänomenen der Cultur zum Fundamente gedient. Diese partie honteuse hat die ungeheuersten und herrlichsten Folgen nach sich gezogen, auch die Cultur hat ein pudendum zum Geburtsschooß, wie der Mensch.

23 [5]

Aristoteles meint, der Weise sojoz sei der welcher sich nur mit dem Wichtigen Wunderbaren Göttlichen beschäftige. Da steckt der Fehler in der ganzen Richtung des Denkens. Gerade das Kleine Schwache Menschliche Unlogische Fehlerhafte wird übersehn und doch kann man nur durch sorgfältigstes Studium desselben weise werden. Der Weise hat sehr viel Stolz abzulegen, er hat nicht die Augenbrauen so hoch zu ziehn, zuletzt ist es der, welcher ein Vergnügen sich macht, das Vergnügen des Menschen zu stören.

23 [6]

Ist für etwas z. B. Eigenthum Königthum die Empfindung erst erregt, so wächst sie fort, je mehr man den Ursprung vergißt. Zuletzt redet man bei solchen Dingen von „Mysterien", weil man sich einer überschwänglichen Stärke der Empfindung bewußt ist, aber genau genommen keinen rechten Grund dafür angeben kann. Ernüchterung ist auch hier von Nöthen, aber eine ungeheure Quelle der Macht versiegt freilich.

23 [7]

Epikur's Stellung zum Stil ist typisch für viele Verhältnisse. Er glaubte zur Natur zurückzukehren, weil er schrieb, wie es ihm einfiel. In Wahrheit war so viel Sorge um den Ausdruck in ihm vererbt und an ihm großgezogen, daß er nur sich gehen ließ und doch nicht völlig frei und ungebunden war. Die „Natur", die er erreichte, war der durch Gewohnheit angezogene Instinkt für den Stil. Man nennt dies Naturalisiren; man spannt den Bogen etwas schlaffer z. B. Wagner im Verhalten zur Musik, zur Gesangskunst. Die Stoiker und Rousseau sind im gleichen Sinne Naturalisten: Mythologie der Natur!

23 [8]

Kunst die Wissenschaft verhindernd bei den Griechen.

23 [9]

Warum überhaupt einen Erhaltungstrieb annehmen? Unter zahllosen unzweckmäßigen Bildungen kamen lebensfähige, fortlebensfähige vor; es sind millionenjahrelange Anpassungen der einzelnen menschlichen Organe nöthig gewesen, bis endlich der jetzige Körper regelmäßig entstehen konnte und bis jene Thatsachen regelmäßig sich zeigen, welche man gewöhnlich dem Erhalt<ungs>trieb zuschreibt. Im Grunde geht es dabei jetzt ebenso nothwendig, nach chemischen Gesetzen, zu, wie beim Wasserfalle mechanisch. Der Finger des Klavierspielers hat keinen "Trieb" die richtigen Tasten zu treffen, sondern nur die Gewohnheit. Überhaupt ist das Wort Trieb nur eine Bequemlichkeit und wird überall dort angewendet, wo regelmäßige Wirkungen an Organismen noch nicht auf ihre chemischen und mechanischen Gesetze zurückgeführt sind.

23 [10]

Alle Ziele und Zwecke, die der Mensch hat, waren einmal in seinen Vorfahren auch bewußt; aber sie sind vergessen worden. Der Mensch hängt in seinen Richtungen sehr von der Vergangenheit ab: Platon<ische> anamnhsiz. Dem Wurm ist der Kopf abgeschnitten, aber er bewegt sich in gleicher Richtung.

23 [11]

Auch dunkle Krankheiten z. B. Wahnsinn Veitstanz hat man verehrt und religiös idealisirt. Dabei sind ihre Äußerungen immer schöner und großartiger geworden. Derselbe Vorgang bei dem heftigen Affekt der Liebe, den man als Gott faßte, und so nicht nur für die Vorstellung, sondern in der Wirklichkeit idealisirte.

23 [12]

Es war ein sehr glücklicher Fund Schopenhauers als er vorn "Willen zum Leben" sprach: wir wollen diesen Ausdruck uns nicht wieder nehmen lassen und seinem Urheber dafür im Namen der deutschen Sprache dankbar sein. Aber das soll uns nicht hindern einzusehen, daß der Begriff Wille zum Leben vor der Wissenschaft sich noch nicht das Bürgerrecht erobert hat, ebenso wenig als die Begriffe "Seele" „Gott" Lebenskraft usw. Auch Mainländers Reduktion dieses Begriffs auf viele individuelle "Willen zum Leben" bringt uns nicht weiter, – man erhält dadurch statt einer universalen Lebenskraft (welche zugleich als außer, über und in den Dingen gedacht werden soll!) individuale Lebenskräfte, gegen welche dasselbe einzuwenden ist wie gegen jene universale. Denn bevor der Mensch ist, ist auch sein Individualwille noch nicht: oder was sollte dieser sein? Im Leben selber aber sich äußernd – ja ist denn das Wille zum Leben? Doch mindestens Wille im Leben zu bleiben, also, um den bekannteren Ausdruck zu wählen, Erhaltungstrieb. Ist es wahr, daß, wenn der Mensch in sein Inneres blickt, er sich als Erhaltungstrieb wahrnimmt? Vielmehr nimmt er nur wahr, daß er immer fühlt, genauer daß er irgend an welchem Organe irgend welche, gewöhnlich ganz unbedeutende Lust- oder Unlustempfindungen hat: die Bewegung des Blutes des Magens der Gedärme drückt irgend wie auf die Nerven, er ist immer fühlend und immer wechselt dies Gefühl. Der Traum verräth diese innere fortwährende Wandlung des Gefühls und deutet sie phantastisch aus. Die Stellungen, die die Glieder im Schlafe einnehmen, machen eine Umstellung der Muskeln nöthig und beeinflussen die Nerven und diese wieder das Gehirn. Unser Sehnerv unser Ohr unser Getast ist immer irgend wie erregt. Aber mit dem Erhaltungstrieb hat diese Thatsache einer fortwährenden Erregtheit und Bemerkbarkeit des Gefühls nichts gemein. Der Erhaltungstrieb oder die Liebe zum Leben ist entweder etwas ganz Bewußtes oder nur ein unklares irreführendes Wort für etwas anderes: daß wir der Unlust entgehen wollen, auf alle Weise, und dagegen nach Lust streben. Diese universale Thatsache alles Beseelten ist aber jedenfalls keine erste ursprüngliche Thatsache, wie es Schopenhauer vom Willen zum Leben annimmt: – Unlust fliehen, Lust suchen setzt die Existenz der Erfahrung und diese wieder den Intellekt voraus. – Die Stärke der Wollust beweist nicht den Willen zum Leben, sondern den Willen zur Lust. Die große Angst vor dem Tode, mit der Schopenhauer ebenfalls zu Gunsten seiner Annahme vom Willen argumentirt, ist in langem Zeitraum großgezüchtet durch einzelne Religionen, welche den Tod als entscheidende Stunde ansehen; sie ist hier und da so groß geworden. Falls sie aber unabhängig davon beobachtet wird, so ist sie nicht mehr als Angst vor dem Sterben d. h. dem ungeprobten und vielleicht zu groß vorgestellten Schmerz dabei, dann vor den Verlusten, welche durch das Sterben eintreten. Es ist nicht wahr daß man das Dasein um jeden Preis will, z. B. nicht als Thiere, auf welche Schopenhauer so gern hinweist um die ungeheure Macht des allgemeinen Willens zum Leben festzustellen.

23 [13]

Gelehrte wie Paul de Lagarde meinen, die Thatsachen des religiösen Bewußtseins müsse man vermöge der Wissenschaft festhalten. Aber wohl kann man sie constatiren, beschreiben, wissenschaftlich erklären: aber für das Individuum ist es dann mit ihnen vorbei. Denn der gute Glaube an sie ist zerstört, wenn man begriffen hat, wie irrthümlich menschlich es in ihrem Wesen aussieht. Die Wissenschaft ist der Tod aller Religionen, vielleicht einmal auch der Künste.

23 [14]

Der Weise kennt keine Sittlichkeit mehr außer der, welche ihre Gesetze aus ihm selbst nimmt; ja schon das Wort "Sittlichkeit" paßt für ihn nicht. Denn er ist völlig unsittlich geworden, insofern er keine Sitte kein Herkommen, sondern lauter neue Lebensfragen und deren Antworten anerkennt. Er bewegt sich auf unbegangenen Pfaden vorwärts, seine Kraft wächst, je mehr er wandert. Er ist einer großen Feuersbrunst gleich, die ihren eigenen Wind mit sich bringt, und von ihm gesteigert und weiter getragen wird.

23 [15]

Um der Kultur seine Erkenntniß zu weihen, sind wir in dem denkbar glücklichsten Zeitpunkte: jede Freiheit der Erkenntniß ist erobert und abgerungen und doch stehen wir allen Grundempfindungen, auf denen die alte Kultur ruht, noch nahe. Es wäre möglich, daß dies letztere einige Generationen später fehlte! –

23 [16]

Der Moment, in welchem die Luftschifffahrt erfunden und eingeführt wird, ist günstig für den Socialismus, denn der verändert alle Begriffe von Boden-Eigenthum. Der Mensch ist überall und nirgends, er wird entwurzelt. Man muß durch Gesellschaften sich sicherstellen, in strenger gegenseitiger Verpflichtung und Ausschließung aller Nichtverpflichteten. Sonst geht alles in die Lüfte und läßt sich anderswo nieder, wenn er nicht zahlen kann, nicht Verpflichtung halten mag.

23 [17]

Menschen, die keine wissenschaftliche Cultur haben, schwatzen, wenn sie über ernste und schwere Gegenstände reden und thun es mit Anmaaßung. Sokrates behält recht. Das Wichtigthun der Menschen ist beinahe so schlimm als völlige Verrücktheit. Freilich, zum Handeln, zum Ausbau der Cultur ist dieser Eifer diese Art Wahnsinn für Meinungen sehr wesentlich. Ohne Wuth kommt nichts zu Stande. Trotzdem: da die Erkenntniß von Wahrheiten überhaupt da ist und Vergnügen gewährt, so wollen wir ihre Fahne hoch halten, wenn auch mit keiner Grimasse des Pathos.

23 [18]

Selbst bei den freisinnigsten Denkern schleicht sich Mythologie ein, wenn sie von der Natur reden. Da soll die Natur das und das vorgesehen, erstrebt haben, sich freuen oder: "die menschliche Natur müßte eine Stümperei sein, wenn sie –„ Wille, Natur sind Überbleibsel des alten Götterglaubens.

23 [19]

Alle die, welche Maximen machen, verfallen leicht in den Fehler, vom Menschen etwas Allgemeines auszusagen, was von Zeiten oder Classen der Gesellschaft gilt; aber dasselbe haben alle Philosophen gethan, welche über die Menschen geschrieben haben – erst die Historie in Verbindung mit der Thiergeschichte läßt erkennen, wie groß der Mangel an Besonnenheit war. So verweist Schopenhauer, um zu zeigen, daß das Leben der Menschen einen moralischen metaphysischen Zweck habe, darauf, daß am Ende des Lebens man sich um seine moralischen Qualitäten bewußt werde – als ob ein solches Gefühl, wenn es jetzt wirklich allgemein existirte, irgend etwas anderes beweisen könnte als daß durch bestimmte Meinungen und Glaubenssätze die Menschen sich gewöhnt haben, in der Nähe des Todes an ihre Sünden zu denken: das heißt: eine solche Thatsache, wie sie Schopenhauer hinstellt, beweist, daß gewisse metaphysische Vorstellungen existiren und existirt haben, nicht aber daß sie wahr sind. Nun kommt dazu, daß es eine zeitlich sehr begrenzte Thatsache ist und daß z. B. im Alterthum man sehr oft, ohne an Sünden zu denken, starb. Und wenn es eine ganz allgemein, für alle Perioden der Menschheit und für jeden Menschen geltende Beobachtung wäre, es ist kein Beweis für die Wahrheit des von Schopenhauer behaupteten Satzes damit gegeben.

23 [20]

Wenn Männer mit starken geistigen Bedürfnissen an die Verbindung mit Frauen denken, so überkommt sie das Gefühl als ob sie sich einem Netz näherten, welches sich immer mehr zusammenzieht, und sie argwöhnen einen immer währenden Zwang, ja zuletzt, wenn es sich um Erziehung der Kinder handelt, einen immer neu auflodernden Kampf.

23 [21]

Wenn man eine Natur- und Menschenerklärung Sucht, welche unsern höchsten und stärksten Stimmungen entspricht, so wird man allein auf metaphysische stoßen. Wie es ohne alle diese erhabenen Irrthümer um die Menschen aussehen würde – ich glaube thierisch. Dächte man sich ein Thier mit dem Wissen einer strengen Naturkunde begabt, es würde damit kein Mensch werden, sondern im Wesentlichen als Thier fortleben, nur daß es in seinen vielen Mußestunden z. B. als Pferd vor der Krippe, gute Bücher läse, welche ihm es völlig begreiflich machten, daß die Wahrheit und das Thier sich gut vertragen.

23 [22]

Fast bei allen Philosophen ist die Benutzung des Vorgängers und die Bekämpfung desselben nicht streng, und ungerecht. Sie haben nicht gelernt ordentlich zu lesen und zu interpretiren, die Philosophen unterschätzen die Schwierigkeit wirklich zu verstehen, was einer gesagt hat und wenden ihre Sorgfalt nicht dahin. So hat Schopenhauer ebensowohl Kant als Plato völlig mißverstanden. Auch die Künstler pflegen schlecht zu lesen, sie neigen zum allegorischen und pneumatischen Erklären.

23 [23]

Ebensowohl Gott als der Teufel kann mit Fug und Recht zu dem Menschen sprechen: "Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, – so haben wir dich unbedingt." In diesem Punkte sind sie Verbündete. Übrigens sieht man dabei daß es mit jenem "unbedingt" nicht viel auf sich hat.

23 [24]

Ursprünglich sieht der Mensch alle Veränderungen in der Natur nicht als gesetzmäßig, sondern als Äußerungen des freien Willens d. h. blinder Zuneigungen Abneigungen Affekte Wuth usw. an: die Natur ist Mensch, nur so viel übermächtiger und unberechenbarer, als die gewöhnlichen Menschen, ein verhüllter in seinem Zelte schlafender Tyrann; alle Dinge sind Aktion wie er, nicht nur seine Waffen Werkzeuge sind belebt gedacht. Die Sprachwissenschaft hilft beweisen, daß der Mensch die Natur vollständig verkannte und falsch benannte: wir sind aber die Erben dieser Benennungen der Dinge, der menschliche Geist ist in diesen Irrthümern aufgewachsen, durch sie genährt und mächtig geworden.

23 [25]

Man wirft dem Socialismus vor, daß er die thatsächliche Ungleichheit der Menschen übersehe; aber das ist kein Vorwurf, sondern eine Charakteristik, denn der Socialismus entschließt sich, jene Ungleichheit zu übersehen und die Menschen als gleich zu behandeln d. h. zwischen allen das Verhältniß der Gerechtigkeit eintreten zu lassen, welches auf der Annahme beruht, daß alle gleich mächtig, gleich werthvoll seien; ähnlich wie das Christenthum in Hinsicht auf sündhafte Verdorbenheit und Erlösungsbedürftigkeit die Menschen als gleich nahm. Die thatsächlichen Differenzen (zwischen gutem und schlechtem Lebenswandel) erscheinen jenem zu gering, so daß man sie bei der Gesammtrechnung nicht in Anschlag bringt; so nimmt auch der Socialismus den Menschen als vorwiegend gleich, den Unterschied von gut und böse, intelligent und dumm als geringfügig oder als wandelbar: worin er übrigens in Hinsicht auf das Bild des Menschen, welches ferne Pfahlbauten-Zeiten gewähren, jedenfalls Recht hat: wir Menschen dieser Zeit sind im W<esentlichen> gleich. In jenen Entschluß, über die Differenzen hinweg zu sehen, liegt seine begeisternde Kraft.

23 [26]

Immer mehr, je entwickelter der Mensch ist, nimmt er die Bewegung, die Unruhe, das Geschehen wahr. Dem weniger entwickelten scheint das Meiste fest zu sein, nicht nur Meinungen, Sitten, sondern auch Grenzen, Land und Meer Gebirge usw. Das Auge entschließt sich erst allmählich für das Bewegte. Es hat ungeheure Zeiten gebraucht, um das Gleichbleibende, scheinbar Dauernde zu fassen, das war seine erste Aufgabe, schon die Pflanze lernte vielleicht an ihr. Deshalb ist der Glaube an "Dinge" dem Menschen so unerschütterlich fest geworden, ebenso wie der an die Materie. Aber es giebt keine Dinge, sondern alles fließt – so urtheilt die Einsicht, aber der Instinkt widerspricht in jedem Augenblick.

23 [27]

Schopenhauer concipirt die Welt als einen ungeheuren Menschen, dessen Handlungen wir sehen und dessen Charakter völlig unveränderlich ist: diesen können wir eben aus jenen Handlungen erschließen. Insofern ist es Pantheismus oder vielleicht Pandiabolismus, denn er hat kein Interesse, alles was er wahrnimmt in's Gute und Vollkommene umzudeuten. Aber diese ganze Unterscheidung zwischen Handlungen als Wirkungen und einem an sich seienden Charakter als Ursache ist schon am Menschen falsch, erst recht in Hinsicht auf die Welt. So etwas wie der Charakter hat an sich keine Existenz, sondern ist eine erleichternde Abstraktion. Und dies ist der Werth solcher Metaphysiker wie Schopenhauer: sie versuchen ein Weltbild: nur ist Schade, daß es die Welt in einen Menschen verwandelt: man möchte sagen, die Welt ist Schopenhauer im Großen. Das ist eben nicht wahr.

23 [28]

Die bittersten Leiden sind die, welche keine große Erregung mit sich bringen – denn die hohe Leidenschaft, sie sei welche sie wolle, hat ihr Glück in sich – sondern jene, welche nagen, wühlen und stechen: also namentlich die, welche durch rücksichtslose Menschen, welche ihre Art von Übermacht benutzen, uns zugefügt werden: etwa mit dem erschwerenden Umstande daß sie dabei von einer intimen Vertrautheit mit uns, durch einen Verrath der Freundschaft, Gebrauch machen. Das einzige große Gefühl, mit welchem man über solche Leiden hinwegflöge, wäre Haß mit der Aussicht auf Rache, auf Vernichtung des Andern. Aber gewöhnlich sagt sich der bessere Mensch, daß der Übelthäter gar nicht so boshaft war als er uns erscheint und daß manche Verdienste für ihn sprechen: so unterdrückt er den Gedanken an Wiedervergeltung, wird aber dabei nicht froh; er ist an die Zeit gewiesen, an das Schwächerwerden aller Erinnerungen. –

23 [29]

Zwei Dinge sind schädlich: der nagende Verdruß über eine Unbilde, mit seinem hundertfachen Wiederkäuen Ausspeien des Erlebten, dann matte imaginäre Rachebefriedigungen – eine wirkliche Rache und eine schnelle, wenn ihre Folgen uns auch mit Schmerz belasten, ist viel gesünder. Sodann das Leben in erotischen Vorstellungen, welche die Phantasie beschmutzen und allmählich eine Oberherrschaft gewinnen, bei welcher die Gesundheit leidet. – Die Selbsterziehung hat hier vorzubeugen: beiden Trieben muß auf die natürliche Art entsprochen werden und die Vorstellung rein erhalten werden. Die versagte Rache und die versagte Liebe machen den Menschen krank, schwach und schlecht.

23 [30]

Vorsicht vor Ringen! (Ringe sind gewundene Schlangen, welche sich harmlos stellen.) diese golden gewundenen Schlangen stellen sich zwar harmlos –

23 [31]

In welchem Gedichte wird soviel geweint wie in der Odyssee? – Und höchst wahrscheinlich wirkte das Gedicht auch ebenso auf die zuhörenden Griechen der älteren Zeit; jeder genoss dabei unter Tränen die Erinnerung an alles Erlittene und Verlorne. Jeder ältere Mann hatte eine Anzahl Erlebnisse mit Odysseus gemein, er fühlte dem Dulder alles nach. – Mich rührt oft das gar nicht Rührende, sondern das Einfache Schlichte Tüchtige bei Homer und ebenso in Hermann und Dorothea zu Thränen, z. B. Telemachos im ersten Gesang

23 [32]

Vielleicht ist der unegoistische Trieb eine späte Entwicklung des socialen Triebes; jedenfalls nicht umgekehrt. Der sociale Trieb entsteht aus dem Zwange, welcher ausgeübt wird, sich für ein anderes Wesen zu interessiren (der Sclave für seinen Herrn, der Soldat für seinen Führer) oder aus der Furcht, mit ihrer Einsicht, dass wir zusammen wirken müssen, um nicht einzeln zu Grunde zu gehen. Diese Empfindung, vererbt, entsteht später, ohne dass das ursprüngliche Motiv mit in's Bewusstsein trete; es ist zum Bedürfniss geworden, welches nach der Gelegenheit ausschaut sich zu bethätigen. Für andere, für eine Gemeinsamkeit, für eine Sache (wie Wissenschaft) sich interessiren erscheint dann als unegoistisch, ist es aber im Grunde nicht gewesen. –

23 [33]

Gründliche Kenner der Nordamerikaner sagen dass "die herrschende Meinung in den Vereinigten Staaten sich gegen jeden erklärt, der es unterlässt nach dem Höchsten zu streben, was für ihn erreichbar ist. Zurückbleiben aus freiem Willen gilt geradezu als Schande, als eine Art von Vergehen, gegen die Gesellschaft."

23 [34]

Die Welt ohne Eros. – Man bedenke, dass, vermöge des Eros, zwei Menschen an einander gegenseitig Vergnügen haben: wie ganz anders würde diese Welt des Neides der Angst und der Zwietracht ohne diess aussehen!

23 [35]

Tragische Jünglinge. – In der Neigung der Jünglinge für die Tragödie, in ihrer Manier sich trübselige Geschicke zu prophezeien, von den Menschen schlecht zu denken, ist etwas von jener Lust versteckt, welche in ihnen rege wird, wenn einer ausruft: "Wie weise ist er für sein Alter: wie kennt er schon den Lauf der Welt!"

23 [36]

Es ist ein herrliches Schauspiel: aus lokalen Interessen, aus Personen, welche an die kleinsten Vaterländer geknüpft sind, aus Kunstwerken, die für einen Tag, zur Festfeier gemacht wurden, aus lauter Punkten kurzum in Raum und Zeit erwächst allmählich eine dauernde die Länder und Völker überbrückende Cultur; das Lokale bekommt universale, das Augenblickliche bekommt monumentale Bedeutung. Diesem Gange in der Geschichte muss man nachspüren; freilich stockt einem mitunter der Athem, so zersponnen ist das Garn, so dem Zerreissen nahe der Knoten, welcher das Fernste mit dem Späten verbindet! – Homer, erst für alle Hellenen, dann für die ganze hellenische Culturwelt und jetzt für jedermann – ist eine Thatsache, über die man weinen kann.

23 [37]

Schopenhauer sagt mit Recht: "Die Einsicht in die strenge Nothwendigkeit der menschlichen Handlungen ist die Gränzlinie, welche die philosophischen Köpfe von den anderen scheidet." Falsch dagegen: "der letzte und wahre Aufschluß über das innere Wesen des Ganzen der Dinge muß nothwendig eng zusammenhängen mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns". Ebenso falsch: "zu schließen sind Alle, zu urtheilen Wenige fähig".

23 [38]

Auch wenn man Martern und den Tod für seinen Glauben erduldet, beweist man nichts für die Wahrheit, sondern nur für die Stärke des Glaubens an das, was man für Wahrheit hält. (Das Christenthum freilich geht von dem unstatthaften Einfalle aus: "was stark geglaubt wird, ist wahr". "Was stark geglaubt wird, macht selig, muthig, usw.") Das Pathos der "Wahrheit" ist an sich nicht förderlich für dieselbe, insofern es dem erneuten Prüfen und Forschen entgegenwirkt. Es ist eine Art Blindheit mit ihm verbunden, ja man wird, mit diesem Pathos, zum Narren: wie dies Winkler sagt. Man muß von Zeit zu Zeit skeptische Perioden durchleben, wenn anders man ein Recht haben will sich eine wissenschaftliche Persönlichkeit zu nennen. Schopenhauer hat seine Position vielfach mit Fluchen und Verwünschungen und fast überall mit Pathos verschanzt; ohne diese Mittel würde seine Philosophie vielleicht weniger bekannt geworden sein (z. B. wenn er die eigentliche Perversität der Gesinnung es nennt, an keine Metaphysik zu glauben").

23 [39]

Der welcher über die inneren Motive des Menschen schreibt, hat nicht nur kalt auf sie hinzudeuten; denn so kann er seine Schlüsse nicht glaubhaft machen. Er muß die Erinnerung an diese und jene Leidenschaft, Stimmung erwecken können, und muß also ein Künstler der Darstellung sein. Dazu wiederum ist nöthig, daß er alle diese Affekte aus Erfahrung kennt; denn sonst wird er indigniren durch Kälte und den Anschein von Geringschätzung dessen, was die anderen Menschen so tief bewegt und erschüttert hat. Daher muß er die wichtigsten Stufen der Menschheit durchgemacht haben und fähig sein, sich auf sie zu stellen: er muß religiös, künstlerisch, wollüstig, ehrgeizig, böse und gut, patriotisch und kosmopolitisch, aristokratisch und plebejisch gewesen sein und die Kraft der Darstellung behalten haben. Denn bei seinem Thema ist es nicht wie bei der Mathematik, wo ganz bestimmte Mittel des Ausdrucks, Zahlen Linien da sind, welche ganz unzweideutig sind. Jedes Wort über die Motive des Menschen ist unbestimmt und andeutend, man muß aber stark anzudeuten verstehen, um ein starkes Gefühl darzustellen.

23 [40]

Es giebt tröpfelnde Denker und fließende, wie sich die Quellen ebenso unterscheiden. Lichtenberg hält fleißig unter und bekommt endlich den Becher voll; aber er hat die Zeit nicht gehabt, uns den Becher voll zu reichen; seine Verwandten haben uns die Tropfen zugemessen. Da wird man leicht unbillig. An sich erweckt der fließende Denker den Anschein der vollen Kraft, aber es kann auch nur Täuschung sein.

23 [41]

Nicht nur der Glaube an Gott, auch der Glaube an tugendhafte Menschen, Handlungen, die Schätzung "unegoistischer" Triebe, also auch Irrthümer auf psychologischem Gebiet haben der Menschheit vorwärts geholfen. Es ist ein großer Unterschied, ob einer die Helden Plutarchs mit Begeisterung nachahmt oder anzweifelnd analysirt. Der Glaube an das Gute hat die Menschen besser gemacht: wie eine Überzeugung vom Gegentheil die Menschen schwächer mißtrauischer usw. macht. Dies ist die Wirkung von La Rochefoucauld und vom Verfasser der psychologischen Beobachtungen: diese scharfzielenden Schützen treffen immer ins Schwarze, aber im Interesse der menschlichen Wohlfahrt möchte man wünschen, daß sie nicht diesen Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung hätten.

23 [42]

Der Reiz mancher Schriften z. B. des Tristram Shandy beruht unter anderem darauf, daß der angeerbten und angezogenen Scheu, manche Dinge nicht zu sehen, sich nicht einzugestehen, in ihnen widerstrebt wird, daß also mit einer gewissen "Keuschheit der Seele" ein schelmisches Spiel getrieben wird. Dächte man sich diese Scheu nicht mehr angeerbt, so würde jener Reiz verschwinden. Insofern ist der Werth der vorzüglichsten Schriften sehr abhängig von der ziemlich veränderlichen Constitution des inneren Menschen; die Stärkung des einen, die Schwächung des anderen Gefühls läßt diesen und jenen Schriftsteller ersten Ranges langweilig werden: wie uns z. B. die spanische Ehre und Devotion in den Dramatikern, das Mittelalterlich-Symbolische bei Dante mitunter unerträglich ist und ihren Vertretern in unserem Gefühle Schaden thut.

23 [43]

Die außerordentliche Unsicherheit alles Unterrichtswesens hat darin ihren Grund, daß es kein gemeinsam anerkanntes Fundament mehr giebt, und daß jetzt weder Christenthum noch Alterthum noch Naturwissenschaft noch Philosophie eine überstimmende und herrschende Macht haben. Man bewegt sich schwankend zwischen sehr verschiedenen Ansprüchen: zuletzt will gar noch der Nationalstaat eine "nationale" Kultur, um damit die Unklarheit auf den Gipfel zu bringen – denn national und Kultur sind Widersprüche. Selbst an den Universitäten, den Festungen der Wissenschaft, giebt es Leute, welche über der Wissenschaft noch als höhere Mächte Religion oder Metaphysik, mit der Heimlichkeit von Verräthern, anerkennen.

23 [44]

Die Lehrer ganzer Klassen setzen einen falschen Ehrgeiz hinein, ihre Schüler individuell verschieden zu behandeln. Nun ist aber im höchsten Maaße wahrscheinlich, daß der Lehrer, bei seiner geringen und einseitigen Beziehung zu den Schülern, sie nicht genau kennt und einige grobe Fehler in der Beurtheilung des einen oder andren Charakters macht (welche zudem bei jungen Leuten noch biegsam sind und nicht als vollendete Thatsache behandelt werden sollten). Der Nachtheil, welchen die Erkenntniß der Klasse, daß einige Schüler grundsätzlich immer irrthümlich behandelt werden, mit sich bringt, wiegt alle etwaigen Vortheile einer individualisirenden Erziehung auf, ja überwiegt bei weitem. Im Allgemeinen sind alle Lehrer-Urtheile über ein Individuum falsch und voreilig: und kein Beweis von wissenschaftlicher Sorgfalt und Behutsamkeit. Man versuche es nur immer mit einer Gleichsetzung und Gleichschätzung aller Schüler und nehme das Niveau ziemlich hoch, ja man behandle alles Censurengeben mit ersichtlicher Geringschätzung und beschränke sich darauf, den Gegenstand des Unterrichts interessant zu machen, so sehr daß der Lehrer es sich, vor der Klasse, anrechnet, wenn ein Schüler sich auffällig uninteressirt zeigt -: es ist ein bewährtes Recept, und läßt überdies das Gewissen des Lehrers ruhiger. – Es versteht sich übrigens von selbst, daß Klassenerziehung eben nur ein Nothbehelf ist, wenn der einzelne Mensch durchaus nicht von einem einzelnen Lehrer erzogen werden kann und somit der individuelle Charakter und die Begabung ihren eigenen Wegen überlassen werden müssen: was freilich gefahrvoll ist. Aber ist der einzelne Erzieher nicht ebenfalls eine Gefahr? –

23 [45]

Verwunderung der Naiven daß der Staat die Erziehung und Schule nicht ganz unparteiisch fördert: wozu hätte er sonst sie mit aller Mühe in die Hand genommen! Das Mittel, die Geister zu beherrschen. (Anwartschaft aller Lehrer auf Stellen! so hat man sie.)

23 [46]

Wir gewinnen eine neue Freude hinzu, wenn uns die metaphysischen Vorstellungen Humor machen, und die feierliche Miene, die Rührung der angeblichen Entdeckung, der geheimnißvolle Schauer wie eine alte Geistergeschichte uns anmuthet. Seien wir nicht gegen uns mißtrauisch! Wir haben doch die Resultate langer Herrschaft der Metaphysik in uns, gewisse complexe Stimmungen und Empfindungen, welche zu den höchsten Errungenschaften der menschlichen Natur gehören; diese geben wir mit jenem unschuldigen Spotte keineswegs auf. – Aber warum sollen wir nicht lachen, wenn Schopenhauer die Abneigung vor der Kröte uns metaphysisch erklären will, wenn die Eltern Gelegenheitsursachen für den Genius der Gattung werden usw.?

23 [47]

Rée als scharfzielender Schütze zu bezeichnen welcher immer ins Schwarze trifft.

23 [48]

Die moralische Selbstbeobachtung genügt jetzt keineswegs, Historie und die Kenntniß der zurückgebliebenen Völkerschaften gehört dazu, um die verwickelten Motive unseres Handelns kennen zu lernen. In ihnen spielt <sich> die ganze Geschichte der Menschheit ab, alle ihre großen Irrthümer und falschen Vorstellungen sind mit eingeflochten; weil wir diese nicht mehr theilen, suchen wir sie auch nicht mehr in den Motiven unserer Handl<ungen>, aber als Stimmung Farbe Oberton erklingen sie mit darin. Man meint, wenn man die Motive des Menschen classificirt nach der nothwendigen Befriedigung seiner Ansprüche, dann habe man wirklich alle Motive aufgezählt. Aber es gab zahllose fast unglaubliche, ja verrückte Bedürfnisse, welche nicht so leicht jetzt zu errathen wären: diese alle wirken jetzt noch mit.

23 [49]

Manchmal überkommt uns, etwa bei der tiefsten Erschütterung durch einen Trauerfall Treubruch Liebeswerbung, eine Empörung wenn wir die naturalistisch historische Erklärung hören. Aber solche Empfindungen beweisen nichts, sie sind wiederum nur zu erklären. Die Empfindungen sind tief geworden, aber nicht immer gewesen; und jenen höchsten Steigerungen entspricht kein realer Grund, sie sind Imaginationen.

23 [50]

Wenn Genie's unangenehme, ja schlechte Eigenschaften haben, so muss man ihren guten Eigenschaften um so dankbarer sein, dass sie in solchem Boden, mit dieser Nachbarschaft, bei solchem Clima, solchem Wurmfrass doch diese Früchte zeitigten.

23 [51]

Manches an dem wiederhergestellten Katholicismus wird von uns falsch beurtheilt, weil hier südländische Äusserungen der Religiosität vorliegen. Es sieht uns äusserlich, schwärmerisch unwahr-übertrieben an: aber der Protestantismus ist eben auch nur nordischen Naturen begreiflich.

23 [52]

Die Musik ist erst allmählich so symbolisch geworden, die Menschen haben immer mehr gelernt, bei gewissen Wendungen und Figuren seelische Vorgänge mitzuverstehen. Von vorn herein liegen sie nicht darin. Musik ist nicht unmittelbarer Ausdruck des Willens, sondern erst in der Fülle der Kunst kann sie so erscheinen.

23 [53]

Musik hat als gesammte Kunst gar keinen Charakter, sie kann heilig und gemein sein, und beides ist sie erst, wenn sie durch und durch symbolisch geworden ist. Jene sublimirten Verherrlichungen der Musik überhaupt, wie sie z. B. bei Bettina zu finden sind, sind Beschreibungen von Wirkungen gewisser Musik auf ganz bestimmte Individuen, welche alle jene sublimirten Zustände in sich haben und durch sie nun auch der Musik sich nähern.

23 [54]

Man lobt das Unegoistische ursprünglich, weil es nützlich, das Egoistische <tadelt man>, weil es schädlich ist. Wie aber, wenn dies ein Irrthum wäre! Wenn das Egoistische in viel höherem Grade nützlich wäre, auch den anderen Menschen, als das Unegoistische! Wie wenn man beim Tadel des Egoistischen immer nur an den dummen Egoismus gedacht hätte! Im Grunde übte man die Klugheit? – Freilich Güte, und Dummheit gehen auch zusammen, un bon homme usw.

23 [55]

Nach der Novelle „am Malanger Fjord" zu urtheilen, ist Th. Mügge das einzige deutsche Erzählertalent im Scottischen Stile; er ist durchaus meisterhaft sicher.

23 [56]

Lob Epicur's. – Die Weisheit ist um keinen Schritt über Epikur hinausgekommen – und oftmals viele tausend Schritt hinter ihn zurück.

23 [57]

Wenn ich die Dinge nach dem Grade der Lust ordne, welche sie erregen, so steht obenan: die musikalische Improvisation in guter Stunde, dann das Anhören einzelner Sachen Wagner's und Beethovens, dann vor Mittag gute Einfälle im Spazierengehen haben, dann die Wollust usw.

23 [58]

Der Genuss an der Kunst hängt von Kenntnissen (Übung) ab; auch bei der volksthümlichsten Kunst. Es giebt keine unmittelbare Wirkung auf den Hörer, ein Hinausgreifen über die Schranken des Intellects. Viele geniessen Wagnerische Musik nicht, weil sie nicht genussfähig durch höchste musikalische Bildung geworden sind.

23 [59]

Menschen, welche sich in hervorragender Weise vom Ererbt-Sittlichen loslösen, "gewissen"-los sind, können dies nur in der gleichen Weise werden, wie Missgeburten entstehen; das Wachsen und Sich-bilden geht ja nach der Geburt fort, in Folge der angeerbten Gewohnheiten und Kräfte. So könnte man in jenem Falle den Begriff der Missgeburt erweitern und etwa von Missgebilden reden. Gegen solche hat die übrige Menschheit dieselben Rechte wie gegen die Missgeburten und Monstra: sie darf sie vernichten, um nicht die Propagation des Zurückgebliebenen Missrathenen zu fördern. Z. B. der Mörder ist ein Missgebilde. –

23 [60]

Eine gewöhnliche Erfahrung: es ging schlecht, aber viel besser als ich glaubte.

23 [61]

Glück und Unglück. – Bei manchen Menschen zeigt sich das Glück ergreifender als ihr Unglück. – Wer kann heitere Musik aus einem Irrenhause heraus tönend ohne Thränen hören?

23 [62]

Beim Gehen an einem Waldbach scheint die Melodie, die uns im Sinne liegt, hörbar zu werden, in starken zitternden Tönen; ja sie scheint mitunter dem inneren Bild der Melodie, welche wir verfolgen, vorauszulaufen um einen Ton und erlangt eine eigne Selbstständigkeit, welche aber nur Täuschung ist.

23 [63]

Das Hauptelement des Ehrgeizes ist, zum Gefühl seiner Macht zu kommen. Die Freude an der Macht ist nicht darauf zurückzuführen, dass wir uns freuen, in der Meinung anderer bewundert dazustehen. Lob und Tadel, Liebe und Hass sind gleich für den Ehrsüchtigen, welcher Macht will.

Furcht (negativ) und Wille zur Macht (positiv) erklären unsere starke Rücksicht auf die Meinungen der Menschen.

Lust an der Macht. – Die Lust an der Macht erklärt sich aus der hundertfältig erfahrenen Unlust der Abhängigkeit, der Ohnmacht. Ist diese Erfahrung nicht da, so fehlt auch die Lust.

23 [64]

Zeichen höherer Naturen. – Die metaphysischen Vorstellungen eines Menschen sind Zeugnisse für seine höhere Natur, edlere Bedürfnisse: insofern soll man immer im würdigsten Tone von ihnen reden.

23 [65]

Nutzen und Nachtheil alles Märtyrerthums. – Die vielen Märtyrertode sind Kraftquellen für die Menschen geworden, nach der Seite der Überzeugungs-Hartnäckigkeit, nicht nach der Seite der strengen Wahrheitsprüfung. Die Grausamkeiten schaden der Wahrheit, aber nützen dem Willen (der sich im Glauben manifestirt).

23 [66]

In wiefern tröstet es einen Unglücklichen, eine Strafe nicht verdient zu haben? Er wird zum Besten der Menschheit als Mittel benutzt, um sie abzuschrecken: aber er hatte es nicht verdient, als Mittel betrachtet zu werden? Sobald man aber einsieht, dass niemand etwas verdient, tröstet jener Gesichtspunkt auch gar nicht mehr. Übrigens sollte man sich unter allen Umständen darüber freuen, als Mittel zur Verbesserung der Menschen zu dienen.

23 [67]

Übliche Form des Argwohns. – Man ist unbillig argwöhnisch gegen Bücher, deren Resultate uns missfallen – und umgekehrt. In einer Partei werden die Grundsätze des Parteikampfes niemals ernsthaft geprüft; nur die entgegenstrebenden Parteien und deren Interessen bringen eine starke Kritik hervor.

23 [68]

Mancher trifft den Nagel, aber nicht auf den Kopf, er macht das Problem heillos schief. Es wäre besser, er hätte die Sache ganz verfehlt.

23 [69]

Ablösung des Zufälligen durch das Nothwendige. – Im Stadium höherer geistiger Befreiung soll man alles Zufällig-Natürliche, mit dem man das Leben verknüpft hat, durch Gewähltes-Nöthiges ersetzen. Wer unzureichende Freunde von früher her hat, soll sich lösen; einen neuen Vater, neue Kinder soll man sich unter Umständen wählen.

23 [70]

Grosse Wirkungen falsch abgeleitet. – Grosse Wirkungen auf grosse Ursachen zurückzuführen ist ein sehr gewöhnlicher Fehlschluss. Erstens können es kleine Ursachen sein, welche aber eine lange Zeit wirken. Dann kann das Object, auf welches gewirkt wird, wie ein vergrössernder Spiegel sein: ein schlechter Dichter kann grosse Wirkung thun, weil das Publikum gerade ihm homogen ist, z. B. Uhland unter seinen schwäbischen Landsleuten.

23 [71]

Suche die Einsamkeit, um Vielen oder Allen (der Vielsamkeit) am besten nützen zu können: wenn du sie anders suchst, so wird sie dich schwach krank und zu einem absterbenden Gliede machen.

23 [72]

Nicht die Abwesenheit der Liebe, sondern die Abwesenheit der Freundschaft macht die unglücklichen Ehen.

23 [73]

Der Ausdruck „Lohn" ist aus der Zeit her in unsere verschleppt, in welcher der Niedriggeborne Unfreie wenn man ihm überhaupt etwas gab oder gönnte sich immer beglückt begnadet fühlte, wo er wie ein Thier bald durch die Peitsche bald durch Lockungen aufgemuntert wurde, aber niemals etwas "verdiente". Wenn jener thut, was er thun muss, so ist kein Verdienst dabei: wird er trotzdem belohnt, so ist dies eine überschüssige Gnade, Güte.

23 [74]

Die jetzigen Dramatiker gehen häufig von einem falschen Begriff des Dramas aus und sind Drastiker: es muß bei ihnen um jeden Preis geschrieen gelärmt geschlagen geschossen getödtet werden. Aber "Drama" bedeutet "Ereigniß" factum, im Gegensatz zum fictum. Nicht einmal die historische Ableitung des griechischen Wort-Begriffs giebt ihnen Recht. Die Geschichte des Dramas aber erst recht nicht; denn der Darstellung des Drastischen gehen die Griechen gerade aus dem Wege.

23 [75]

Der ehemalige Wunderbeweis. – Wenn jemand seine Hand in glühend flüssiges Metall taucht und unversehrt herauszieht, so setzt es immer noch in Erstaunen aber ehemals meinte man gewiß ein Wunder zu sehen: der es that, glaubte selber an eine geheimnißvolle Kraft und übernatürlichen Beistand. Auch der, welcher die Erklärung der Thatsache jetzt nicht weiß, meint doch, es gehe natürlich zu und es werde ihm so gut glücken wie jenem. Ehemals hätte man jede Behauptung damit beweisen können und jeder hätte einem solchen Beweise geglaubt.

23 [76]

Die wissenschaftlichen Methoden entlasten die Welt von dem großen Pathos, sie zeigen, wie grundlos man sich in diese Höhe der Empfindung hineingearbeitet hat. Man lacht und wundert sich jetzt über einen Zank, der zwei Feinde und allmählich ganze Geschlechter rasend macht und zuletzt das Schicksal der Völker bestimmt, während vielleicht der Anlaß längst vergessen ist: aber ein solcher Vorgang ist das Symbol aller großen Affekte und Leidenschaften in der Welt, welche in ihrem Ursprunge immer lächerlich klein sind. Nun bleibt zunächst der Mensch verwundert vor der Höhe seines Gefühls und der Niedrigkeit des Ursprungs stehen; auf die Dauer mildert sich dieser Gegensatz, denn das beschämende Gefühl des Lächerlichen arbeitet still an dem Menschen, der hier einmal zu erkennen angefangen hat. – Es giebt anspruchsvolle Tugenden, welche ihre Höhe nur unter metaphysischen Voraussetzungen behaupten können z. B. Virginität; während sie an sich nicht viel bedeutet, als eine blasse unproduktive Halbtugend, welche überdies geneigt macht, über die Mitmenschen recht ketzerrichterisch abzuurtheilen.

23 [77]

Unterscheidet man Stufen der Moralität, so würde ich als erste nennen: Unterordnung unter das Herkommen, Ehrfurcht und Pietät gegen das Herkommen und seine Träger (die Alten) als zweite Stufe. Gebundensein des Intellekts, Beschränkung seines Herumgreifens und Versuchens, Steigerung des Gefühls innerhalb des abgegrenzten Bereichs erlaubter Vorstellungen. – Dagegen die Forderung des unegoistischen unpersönlichen Handelns, worin man gewöhnlich den Ursprung der Moralität sieht, gehört den pessimistischen Religionen an, insofern diese von der Verwerflichkeit des ego, der Person ausgehen, also die metaphysische Bedeutung des „Radikal-Bösen" vorher in den Menschen gelegt haben müssen. Von der pessimistischen Religion her hat Kant sowohl das Radikal-Böse als den Glauben daß das Unegoistische das Kennzeichen des Moralischen sei. Nun existirt dies aber nur, wie Schopenhauer richtig sah, im Nachgeben gegen bestimmte Empfindungen, z. B. des Mitleidens Wohlwollens. Empfindungen kann man aber nicht fordern, anbefehlen. Die Moral hat aber immer gefordert, sie wird somit „mitleidig und wohlwollend sein" (unegoistisch sein) nicht als entscheidende Kennzeichen des „moralischen Menschen" gelten lassen: wie man ja thatsächlich oft von „unmoralischen Menschen" spricht, welche aber sehr gutmüthig und mitleidig sind.

23 [78]

Die falsche Voraussetzung aller Moral ist der Irrthum, daß der Mensch frei handele und verantwortlich sei. Jedes Gesetz, jede Vorschrift (in Staat, Gesellschaft, Schule) setzt diesen Glauben voraus, wir sind so daran gewöhnt, daß wir loben und tadeln, auch nach der erworbenen Einsicht in die Unverantwortlichkeit: während wir doch die Natur nicht tadeln und loben. Unegoistische Handlungen fordern, wie es die pessimistischen Religionen thun, Liebe fordern: das setzt denselben Grundirrthum voraus.

23 [79]

Um die Monogamie und ihre große Wucht zu erklären, soll man sich ja vor feierlichen Hypothesen hüten, wozu die erwähnte Scham vor einem Mysterium verführt. Zunächst ist an einen moralischen Ursprung gar nicht zu denken; auch die Thiere haben sie vielfach. Überall wo das Weibchen seltener ist als das Männchen oder seine Auffindung dem Männchen Mühe gemacht hat, entsteht die Begierde, den Besitz desselben gegen neue Ansprüche anderer Männchen zu vertheidigen. Das Männchen läßt das einmal erworbene Weibchen nicht wieder los, weil es weiß, wie schwer ein neues zu finden ist, wenn es dies verloren hat. Die Monogamie ist nicht freiwillige Beschränkung auf ein Weib, während man unter vielen die Auswahl hat, sondern die Behauptung eines Besitzthums in weiberarmen Verhältnissen. Deshalb ist die Eifersucht bis zu der gegenwärtigen Stärke angeschwollen und aus dem Thierreich her in überaus langen Zeiträumen auf uns vererbt. In den Menschenstaaten ist das Herkommen der Monogamie vielfach aus verschiedenen Rücksichten der Nützlichkeit sanktionirt worden, vor allem zum Wohle der möglichst fest zu organisirenden Familie. Auch wuchs die Schätzung des Weibes in derselben, so daß es von sich aus später das Verhältniß der Monogamie allen übrigen vorzog. – Wenn thatsächlich das Weib ein Besitzstück nach Art eines Haussklaven war, so stellte sich doch bei dem Zusammenleben zweier Menschen, bei gemeinsamen Freuden und Leiden, und weil das Weib auch manches verweigern konnte, in manchem dem Mann als Stellvertreter dienen konnte, eine höhere Stellung des Eheweibes ein. – Jetzt, wo die Weiber in den civilisirten Staaten thatsächlich in der Mehrheit sind, ist die Monogamie nur noch durch die allmählich übermächtig gewordene Sanktion des Herkommens geschützt; die natürliche Basis ist gar nicht mehr vorhanden. Ebendeshalb besteht hinter dem Rücken der feierlich behandelten und geheiligten Monogamie thatsächlich eine Art Polygamie.

23 [80]

Wenn Schopenhauer dem Willen das Primat zuertheilt und den Intellekt hinzukommen läßt, so ist doch das ganze Gemüth, so wie es uns jetzt bekannt ist, nicht mehr zur Demonstration zu benutzen. Denn es ist durch und durch intellektual geworden (so wie unsere Tonempfindung in der Musik intellektual wurde). Ich meine: Lust und Schmerz und Begehren können wir gar nicht vom Intellekt mehr losgetrennt denken. Die Höhe Mannichfaltigkeit Zartheit des Gemüths ist durch zahllose Gedankenvorgänge großgezüchtet worden; wie die Poesie sich zur jetzigen Musik verhält, als die Lehrerin aller Symbolik, so der Gedanke zum jetzigen Gemüth. Diese Gedanken sind vielfache Irrthümer gewesen; z. B. die Stimmung der Frömmigkeit ruht ganz auf dem Irrthume. Lust und Schmerz ist wie eine Kunst ausgebildet worden, genau durch dieselben Mittel wie eine Kunst. Die eigentlichen Motive der Handlungen verhalten sich jetzt so wie die Melodien der jetzigen Musik; es ist gar nicht mehr zu sagen, wo Melodie, wo Begleitung Harmonie ist; so ist bei den Motiven der Handlungen alles künstlich gewebt, mehrere Motive bewegen sich neben einander und geben sich gegenseitig Harmonie Farbe Ausdruck Stimmung. Bei gewissen Stimmungen meinen wir wohl den Willen abgesondert vom Intellekt zu haben, es ist eine Täuschung; sie sind ein Resultat. Jede Regung ist intellektual geworden; was einer z. B. bei der Liebe empfindet, ist das Ergebniß alles Nachdenkens darüber, aller je damit verbundenen Metaphysik, aller verwandten miterklingenden Nachbarstimmungen.

23 [81]

Bei dem Ursprunge der Kunst hat man nicht von aesthetischen Zuständen und dergleichen auszugehen; das sind späte Resultate, ebensowie der Künstler. Sondern der Mensch wie das Thier sucht die Lust und ist darin erfindsam. Die Moralität entsteht, wenn er das Nützliche sucht d. h. das was nicht sogleich oder gar nicht Lust gewährt, aber Schmerzlosigkeit verbürgt, namentlich im Interesse Mehrerer. Das Schöne und die Kunst geht auf das direkte Erzeugen möglichst vieler und mannichfaltiger Lust zurück. Der Mensch hat die thierische Schranke einer Brunstzeit übersprungen; das zeigt ihn auf der Bahn der Lust-Erfindung. Viele Sinnenfreuden hat er von den Thieren her geerbt (der Farbenreiz bei den Pfauen, die Gesangfreude bei den Singvögeln). Der Mensch erfand die Arbeit ohne Mühe, das Spiel, die Bethätigung ohne vernünftigen Zweck. Das Schweifen der Phantasie, das Ersinnen des Unmöglichen, ja des Unsinnigen macht Freude, weil es Thätigkeit ohne Sinn und Zweck ist. Mit den Armen und Beinen sich bewegen ist ein Embryo des Kunsttriebs. Der Tanz ist Bewegung ohne Zweck; Flucht vor der Langeweile ist die Mutter der Künste. Alles Plötzliche gefällt, wenn es nicht schadet, so der Witz, das Glänzende, Starktönende (Licht Trommellärm). Denn eine Spannung löst sich, dadurch daß es aufregt und doch nicht schadet. Die Emotion an sich wird erstrebt, das Weinen, der Schrecken (in der Schauergeschichte) die Spannung. alles was aufregt, ist angenehm, also die Unlust im Gegensatz zur Langeweile als Lust empfunden.

23 [82]

Wenn jemand die Wissenschaft zum Schaden der Menschheit fördert (- nämlich es giebt keine prästabilirte Harmonie zwischen der Förderung der Wissenschaft und der Menschheit) so kann man ihm sagen: willst du zu deinem Vergnügen die Menschheit deiner Erkenntniß opfern, so wollen wir dich dem allgemeinen Wohlbefinden opfern, hier heiligt der gute Zweck das Mittel. Wer die Menschheit eines Experimentes wegen vergiften wollte, würde von uns wie ein ganz gefährliches Subjekt in Banden gelegt werden; wir fordern: das Wohl der Menschheit muß der Grenzgesichtspunkt im Bereich der Forschung nach Wahrheit sein (nicht der leitende Gedanke, aber der, welcher gewisse Grenzen zieht). Freilich ist da die Inquisition in der Nähe; denn das Wohl aller war der Gesichtspunkt, nach dem man die Ketzer verfolgte. In gewissem Sinne ist also eine Inquisitions-Censur nothwendig, die Mittel freilich werden immer humaner werden.

23 [83]

Eine alte Stadt, Mondschein auf den Gassen, eine einsame männliche Stimme – das wirkt als ob die Vergangenheit leibhaftig erschienen sei und zu uns reden wollte – das Heillose des Lebens, das Ziellose aller Bestrebungen, der Glanz von Strahlen darum, das tiefe Glück in allem Begehren und Vermissen: das ist ihr Thema.

23 [84]

Man überschätzt an Künstlern die fortlaufende Improvisation, welche gerade bei den originellsten Künstlern nicht existirt, wohl aber bei den halb reproduktiven Nachahmern. Beethoven sucht seine Melodien in vielen Stücken, mit vielem Suchen zusammen. Aber die Künstler selbst wünschen, daß das Instinktive „Göttliche" Unbewußte in ihnen am höchsten taxirt werde und stellen den Sachverhalt nicht treu dar, wenn sie darüber sprechen. Die Phantasie (wie z. B. bei dem Schauspieler) schiebt viele Formen ohne Wahl heran, die höhere Cultur des Künstler-Geschmacks trifft die Auswahl unter diesen Geburten und tödtet die anderen ab, mit der Härte einer lykurgischen Amme.

23 [85]

Der Vorzug unserer Cultur ist die Vergleichung. Wir bringen die verschiedensten Erzeugnisse älterer Culturen zusammen und schätzen ab; dies gut zu machen ist unsere Aufgabe. Unsre Kraft soll sich zeigen, wie wir wählen; wir sollen Richter sein.

23 [86]

Zum Schluß: Vernunft und Wissenschaft, "des Menschen allerhöchste Kraft!"

23 [87]

Wir nennen den moralisch, welcher in Hinsicht auf ein von ihm anerkanntes Gesetz sich unterordnet und demgemäß handelt, sei dies ein Staatsgesetz, sei es die Stimme Gottes in der Form religiöser Gebote, sei es selbst nur das Gewissen, oder die philosophische "Pflicht". Ob jemand mit Recht oder Unrecht solche Gesetze glaubt, ist gleichgültig; für die Moral ist nur wichtig, daß er nach ihnen sich richtet. – Innerhalb der verschiedenen Sphären des Egoismus ist ein Unterschied von Höher und Nieder: hier sich auf Seiten des höheren geläuterten Egoismus stellen nennen wir ebenfalls moralisch. – Gut nennen wir jetzt eine moralische Handlungsweise ohne weiteres noch nicht. Seelengüte wird dem Menschen zugesprochen, welcher nicht in Hinsicht auf ein Gesetz, sondern nach inneren Trieben gern Mitleiden Mitfreude Aufopferung usw. zeigt. Also Moralität zum Instinkt geworden, in ihrer Ausübung mit Lust verbunden, wie dies nach langer Vererbung und Gewohnheit zu geschehen pflegt: das heißt bei uns Gutsein.

23 [88]

Man spricht von Milderungsgründen: sie sollen die Schuld mindern und darnach soll die Strafe geringer ausfallen. Aber geht man auf die Genesis der Schuld ein, so mildert man allmählich die Schuld weg, und dann dürfte es gar keine Strafe geben. Denn im Grunde giebt es eben, bei der Unfreiheit des Willens, keine Schuld. Läßt man die Strafe als Abschreckung gelten, so darf es keine Milderungsgründe geben, die sich auf die Entstehung der Schuld beziehen. Ist die That constatirt, so folgt die Strafe unerbittlich; der Mensch ist Mittel zum Wohle aller. Auch das Christenthum sagt: Richtet nicht! freilich mit der Rücksicht auf den persönlichen Nachtheil. Christus: "Gott soll richten". Dies ist aber ein Irrthum.

23 [89]

Die Philosophen finden den Willen zum Leben namentlich dadurch bewiesen, daß sie das Schreckliche oder Nutzlose des Lebens einsehen und doch nicht zum Selbstmord greifen – aber ihre Schilderung des Lebens könnte falsch sein! –

23 [90]

Wie jetzt auch die Frage der Kritik des Erkenntnißvermögens beantwortet werde, die Untersuchung ist so schwierig, die Gedankenselbstprüfung so subtil, daß ihr Resultat mit den Resultaten der bisherigen Religion Kunst und Moral gar nichts zu thun hat. Diese verdanken sie nicht solchen wissenschaftlichen Prozeduren, sondern höchst unwissenschaftlichen. Das Bedürfniß nach ihnen ist ohne alle Consequenz für die "Wahrheit", Realität ihrer Annahmen.

23 [91]

Das gute Kunstwerk der Erzählung wird das Hauptmotiv so entfalten wie die Pflanze wächst, immer deutlicher sich vorbildend, bis endlich als neu und doch geahnt die Blüthe sich erschließt. Die Kunst des Novellisten ist namentlich die, das Thema präludiren zu lassen, es symbolisch mehrermal vorwegzunehmen, die Stimmung vorzubereiten, in welcher man den Ausbruch des Gewitters anticipirt, benachbarte Töne der Hauptmelodie erklingen zu machen und so auf jede Weise die erfindende Fähigkeit des Lesers zu erregen, als ob er ein Räthsel rathen sollte; dieses aber dann so zu lösen, daß es den Leser doch noch überrascht. – Wie der Knabe spielt, so wird der Mann arbeiten, ein Schulereigniß kann alle handelnden Personen eines politisch großen Vorgangs schon deutlich erkennen lassen. – Vielleicht ist auch eine Philosophie so darzustellen, daß man die eigentliche Behauptung erst zuletzt stellt und zwar mit ungeheurem Nachdruck.

23 [92]

Es ist ein Zeichen von Größe, mit geringen Gaben hoch beglücken zu können.

23 [93]

Die Philosophie großer Menschen entspricht gewöhnlich dem Lebensalter, in welchem die Conception dazu gemacht wurde. So ist für den, welcher die zwanziger Jahre Schopenhauers intim kennt, die ganze Philosophie Schopenhauers förmlich auszurechnen, zu prophezeien.

23 [94]

Erzogen wird jeder Mensch, durch die Umstände, Gesellen, Eltern, Geschwister, Ereignisse der Zeit, des Ortes: aber dies ist alles Erziehung des Zufalls und vielfältig geeignet, ihn recht unglücklich zu entwickeln. Über diese Erziehung durch den Zufall ist aber die Menschheit im Ganzen noch nicht hinausgekommen: gehindert durch die metaphysische Vorstellung (an welcher selbst Lessing's scharfer Geist stumpf wurde), daß ein Gott die Erziehung der Menschheit in die Hand genommen habe und daß wir seine Wege nicht völlig begreifen können. Von nun an hat die Erziehung sich ökumenische Ziele zu stecken und den Zufall selbst im Schicksal von Völkern auszuschließen: – die Aufgabe ist so groß, daß eine ganz neue Gattung von Erziehern, ein neues Gebilde aus Ärzten Lehrern Priestern Naturforschern Künstlern der alten Kultur – – –

23 [95]

Die Besonnenheit der antiken Dichter zeigt sich darin, daß sie das Gefühl von einer Stufe zur andern heben und es so sehr hoch steigern. Die Neuern versuchen es gerne mit einem Überfalle; oder: sie ziehen gleich mit aller Gewalt am Glockenstrange der Leidenschaft. Mißlingt es ihnen aber am Anfang, so sind sie auch verloren. Ein gutes Buch sollte, als Ganzes, einer Leiter der Empfindung gleichen, es müßte nur von Einer Seite her einen Zugang haben, der Leser müßte sich verwirrt fühlen, wenn er es auf eigne Faust versuchte, darin sich seinen Weg zu machen. Jedes gute Buch würde sich so selber schützen; wer schleppt gerne einen Strick mit aufgereihten Worten hinter sich drein, welche er zunächst nicht versteht? Im Gleichniß gesprochen: als man mir den standhaften Prinzen Calderon's in der Schlegelschen Übersetzung vorlas, gieng mir's so: ich zog meinen Strick eine Zeitlang und ließ ihn endlich mißmuthig fahren, machte einen neuen Versuch und zog wieder einen Faden voller Worte hinter mir, aber selten kam das erklärende erlösende Wort: Qual Verdruß, wie bei einem Bilde, auf dem alle Zeichnung verblaßt ist und Eines Vieles bedeuten kann.

23 [96]

Der Fehler der Moralisten besteht darin, daß sie um das Moralische zu erklären egoistisch und unegoistisch wie unmoralisch und moralisch einander gegenüber stellen, d.h. daß sie das letzte Ziel der moralischen Entwicklung, unsere jetzige Empfindung als Ausgangspunkt nehmen. Aber diese letzte Phase der Entwicklung ist durch zahlreiche Stufen, durch Einflüsse von Philosophie und Metaphysik, von Christenthum bedingt und durchaus nicht zu benutzen, um den Ursprung des Moralischen zu erklären. Überdies ist möglich, daß unegoistisches Handeln zwar ein uns geläufiger Begriff, aber keine wirkliche Thatsache, sondern nur eine scheinbare ist; die Ableitung des Mitleidens z. B. führt vielleicht auf den Egoismus zurück, ebenso wie es wahrscheinlich keine Thaten der Bosheit an sich, des Schädigens ohne persönlichen Grund usw. giebt. Das Reich des Moralischen ist vor allem das Reich des Sittlichen gewesen, man nannte aber den "guten Menschen" durchaus nicht zu allen Zeiten den, welcher die Sitte unegoistischer Handlungen, das Mitleiden und dergleichen hatte, sondern vielmehr den, welcher überhaupt den Sitten folgte. Ihm stand der böse Mensch, der ohne Sitte (der unsittliche) gegenüber.

23 [97]

Das Mitgefühl mit dem Nächsten ist ein spätes Resultat der Cultur: wie weit muß die Phantasie entwickelt sein, um anderen wie uns selber nachzufühlen (erst wenn wir gelernt unsere eigenen nicht gegenwärtigen Schmerzen und Freuden durch die Erinnerung nachzufühlen und wie gegenwärtige zu empfinden). Vielen Antheil hat gewiß die Kunst, wenn sie uns lehrt, Mitleiden selbst mit vorgestellten Empfindungen unwirklicher Personen zu haben.

23 [98]

Die gute Recension eines wissenschaftlichen Buches besteht darin, daß das aufgestellte Problem desselben besser gelöst wird; dem entsprechend wäre es, wenn die Kritik eines Kunstwerks darin bestünde, daß jemand das darzustellende Motiv des Kunstwerks besser darstellte, z. B. ein Musiker durch die That zeigte, daß ein Anderer mit seinem Thema nicht genug zu machen gewußt habe; insgleichen ein Bildhauer, ein Romanschreiber. Alle gute Kritik heißt Bessermachen; deshalb ist Bessermachen-können unerläßliche Bedingung für den Kritiker. – Nun sehe man aber die gewöhnlichen Kritiker der Kunst und Philosophie an! Sie sagen: "es gefällt uns nicht"; aber wodurch wollen sie beweisen, daß ihr Geschmack entwickelter höher steht, wenn nicht durch die That?

23 [99]

Man redet von Ahnungen, als ob z. B. die Religion gewisse Erkenntnisse, wenngleich dunkel, vorausgefühlt habe. Ein solches Verhältniß zwischen Religion und Wissenschaft giebt es nicht. Das was man Ahnung nennt, ist aus ganz anderen Motiven aufgestellt als wissenschaftlichen, auf ganz anderen Methoden begründet, nicht einmal auf halbwissenschaftlicher Methode. Es ist zufällig, wenn das Eine dem Andern ähnlich sieht. Alle Religionen zusammen sollen gewisse gemeinsame Wahrheiten" dunkel enthalten, man glaubt damit einer Philosophie etwas Günstiges zu sagen, wenn man die religiöse Phantastik auf ihre Seite bringt: aber es ist umgekehrt. Wissenschaft und Religion werden sich in ihren Resultaten gar nicht ähnlich sehen können.

23 [100]

Es leben zu gleicher Zeit Menschen der verschiedensten Culturstufen selbst in den hochentwickelten Nationen neben einander fort. In Deutschland und der Schweiz ist alles, was von der Reformation an die Seelen beherrschte, noch irgendwo zurückgeblieben, es ist möglich, durch mehrere Jahrhunderte rückwärts zu wandern und Menschen dieser Zeiten zu sprechen. Ja, der sehr reich entwickelte Mensch (wie Goethe) lebt große Zeiträume, ganze Jahrhunderte voraus in den verschiedenen Phasen seiner Natur.

23 [101]

Die Künstler sind die Advokaten der Leidenschaft, denn sie ist voller Effekt und giebt dem Künstler zehnmal mehr Gelegenheit, seine Kunst zu zeigen. So entsteht der Schein als ob die Leidenschaften etwas Herrliches, Begehrenswerthes seien, denn die Dichter nehmen die schönsten Worte in den Mund; eigentlich aber verherrlichen sie die Leidenschaft, weil sie sich am meisten verherrlichen wollen.

Theilweise sind sie auch selber von leidenschaftlichem Hange und insofern ihre eignen Advokaten. Nun stellen sie aber in der Welt das Verherrlichenswerthe überhaupt fest, sie sind die geborenen Lobredner der Dinge – sie haben die Stellung des Menschen zur Leidenschaft wirklich verändert d.h. diese selbst subtilisirt, veredelt: z.B. die Liebe. Es ist ihr Verdienst.

23 [102]

Frau von Staël: das Zeitalter der Einsicht hat seine Unschuld ebensowohl wie das goldene Zeitalter.

23 [103]

Werth der Gewissensbisse für die geistige Befreiung. – Es ist kein Zweifel, dass zur Vermehrung der geistigen Freiheit in der Welt die Gewissenbisse wesentlich beigetragen haben. Sie reizten häufig zu einer Kritik der Vorstellungen, welche, auf Grund früherer Handlungen, so schmerzhaft wirkten; und man entdeckte, dass nicht viel daran war, ausser der Gewöhnung und der allgemeinen Meinung innerhalb der Gesellschaft, in welcher man lebte. Konnte man sich von diesen beiden losmachen, so wichen auch die Gewissensbisse.

23 [104]

Künstler könnten die glücklichsten Menschen sein, denn ihnen ist es erlaubt, das Vollkommene zu erzeugen als Ganzes und sogar oft; während die Andern immer nur an kleinen Theilen eines Ganzen arbeiten. Aber die Künstler verwöhnen sich durch den Anblick des Vollkommnen Ganzen und fordern es auch sonst, sie machen höhere Ansprüche, sind neidisch, haben sich nicht gewöhnt sich zu beherrschen, sind dünkelhaft im Urtheil; und mitunter fehlen ihrem Schaffen die geniessenden und lobenden Empfänger.

23 [105]

Das Pathos gehört in die Kunst. – Wer wird nicht giftig und innerlich aufgebracht, wenn er einen hört, der sein Leben gar zu pathetisch nimmt und von „Golgatha" und "Gethsemane" redet! – Wir vertragen das Pathetische nur in der Kunst; der lebende Mensch soll schlicht und nicht zu laut sein.

23 [106]

Das wollen was der Andre will und zwar seiner selbst wegen, nicht unsertwegen, das macht den Freund, sagt Aristoteles. Hier wird die unegoistische Handlung beschrieben; befinden wir uns gegen gewisse Personen dauernd in solcher Verfassung, so ist dies Freundschaft. Nach der jetzt üblichen Auffassung der Moralität ist das Freundesverhältniss das moralischeste, welches existirt.

23 [107]

Man muss eine Zeitlang im metaphysischen Dunstkreis gelebt haben, nur um zu erfahren, wie wohl es thut in nüchterner Morgenfrische alle Dinge zu sehen und tiefen Athem in reiner Luft zu schöpfen.

23 [108]

Richtig lesen. – Die Kunst richtig zu lesen ist so selten, dass fast jedermann eine Urkunde ein Gesetz einen Vertrag sich erst interpretiren lassen muss; namentlich wird durch die christlichen Prediger viel verdorben, welche fortwährend von der Kanzel herab die Bibel mit der verzweifeltsten Erklärungskunst heimsuchen und weit und breit Respect vor einer solchen künstlich spitzfindigen Manier, ja sogar Nachahmung derselben erwecken.

23 [109]

Wenn die Moral auf den Gesichtspunkt des gemeinsamen Nutzens und Schadens zurückgeht, so ist es consequent das Moralische einer Handlung nicht nach den Absichten des Individuums, sondern nach der That und deren Erfolg zu bemessen. Das Seelenspalten und Nierenprüfen gehört einer Auffassung der Ethik an, bei der auf Nutzen und Schaden gar nichts ankommt. Man verlange die Handlung und kümmere sich nicht so ängstlich um die Motive (deren Verflechtung übrigens viel zu gross ist als dass man nicht bei jeder psychologischen Analysis einer Handlung immer etwas irrte).

23 [110]

Geistige Übergangsclimata. – Wir haben uns freigemacht von vielen Vorstellungen – Gott ewiges Leben vergeltende jenseitige und diesseitige Gerechtigkeit, Sünde Erlöser Erlösungsbedürftigkeit -; eine Art vorübergehende Krankheit verlangt einen Ersatz an die leeren Stellen hin, die Haut schaudert etwas vor Frost, weil sie früher hier bekleidet war. Da giebt es Philosophien, welche gleichsam Übergangsclimata darstellen, für die, welche die frische Höhenluft noch nicht direct vertragen. – Vergleiche, wie die griechischen Philosophensekten als Übergangsklimata dienen: die alte Polis und deren Bildung wirkt noch in ihnen nach: wozu soll aber übergegangen werden? – es ist wohl nicht gefunden. Oder war es der Sophist, der volle Freigeist?

23 [111]

Man soll gar nicht mehr hinhören, wenn Menschen über die verlorne Volksthümlichkeit klagen (in Tracht Sitten Rechtsbegriffen Dialecten Dichtungsformen usw.). Gerade um diesen Preis erhebt man sich ja zum Über-Nationalen, zu allgemeinen Zielen der Menschheit, zum gründlichen Wissen, zum Verstehen und Geniessen des Vergangnen, nicht Einheimischen. – Kurz, damit eben hört man auf, Barbar zu sein.

23 [112]

Das Erhabne wirkt als Reizmittel und Pfeffer auf Ermüdete, das Schöne bringt Beruhigung für die Erregten – das ist ein Hauptunterschied. Der Erregte scheut sich vor dem Erhabnen, der Ermüdete langweilt sich bei dem Schönen. Übrigens ist das Erhabne, wenn es vom Schönen disjungirt wird, identisch mit dem Hässlichen (d. h. allem Nicht-Schönen); und wie es eine Kunst der schönen Seele giebt, so auch eine Kunst der hässlichen Seele.

23 [113]

Selbstverachtung. – Jene heftige Neigung zur Selbstprüfung und -Verachtung, die man bei Sündern Büssern und Heiligen wahrnimmt, ist häufig auf eine allgemeine Ermüdung ihres Lebenswillens (oder der Nerven) zurückzuführen, Regen welche sie auch die schmerzhaftesten Reizmittel anwenden.

23 [114]

Erwägt man, wie die Irrthümer großer Philosophien gewöhnlich ihren Ausgangspunkt in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis z. B. der sogenannten unegoistischen Handlungen eine falsche Ethik erbaut wird, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches Unwesen zu Hülfe genommen werden und endlich die Schatten dieser trüben Geister auch in die Physik und gesamte Weltbetrachtung hineinfallen: erwägt man dies Alles, so sieht man ein, wie unbillig die gewöhnliche Unterschätzung der psychologischen Beobachtung ist: während eben die Oberflächlichkeit der psychologischen Beobachtung, also das Resultat jener Unterschätzung, dem menschlichen Denker und Urtheilen die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwährend von Neuem legt. Woher nun diese Nichtachtung? Etwa weil auch dem leeren und eiteln Gesindel der Gesellschaft, männlichen oder weiblichen Geschlechts, gelegentlich solche Bemerkungen gelingen, weil man da in bestimmten Zeiten sich moralische Sentenzen im Carneval der geistreichen Gefallsucht als eine Art Confetti zuzuwerfen pflegte? – Aber der Unterschied ist eben außerordentlich, wenn ein streng wägender Denker den gleichen psychologischen Satz, der einmal auch in jenen Kreisen entdeckt worden ist, ausspricht und ihn mit dem Gepräge und Kopfbilde seiner Autorität versieht. Vielleicht thut jetzt, als Vorarbeit für alles zukünftige Philosophiren, nichts so noth, als Stein auf Stein, Steinchen auf Steinchen psychologische Arbeit zu häufen und tapfer jeder Mißachtung dieser Art Arbeit zu widerstreben. Zu welchen Entdeckungen wird eine spätere Generation, vermöge eines solchen Materials, kommen! – Freilich muß jener unehrliche Geist von diesem Gebiete fern gehalten werden, in dem z. B. Schleiermacher seine Schüler aufforderte, die psychologischen Thatsachen des religiösen Bewußtseins zu untersuchen: denn hier war es von vornherein auf die Erhaltung der Religion und auf das Fortbestehen der Theologie (welcher er eine neue Arbeit zuweisen wollte) abgesehen. – Wie es in der Natur keine Zwecke giebt und sie trotzdem Dinge von der höchsten Zweckmäßigkeit schafft, so wird auch die ächte Wissenschaft ohne Zwecke (Nutzen Wohlfahrt der Menschen) arbeiten, sondern ein Stück Natur werden, d. h. das Zweckmäßige (Nützliche) hier und da erreichen, ohne es gewollt zu haben.

23 [115]

In den Eigenthümlichkeiten der indogermanischen Sprachen, welche sie gegen die Urmuttersprache abheben, hat man die zurückgelassenen Spuren der verlorenen Sprachen zu erkennen, welche ursprünglich die Völker hatten, die durch indogermanische Wanderstämme überfallen und besiegt wurden: und so daß die Sprache der Eroberer ebenfalls siegreich wurde und auf die Unterworfenen übergieng. Vielleicht im Accent und dergleichen blieb die alte Gewöhnung noch hängen und gieng auf die neu erlernte Sprache über.

23 [116]

Dankbar gegen die Folgen. – Manche metaphysische und historische Hypothesen werden nur deshalb so stark vertheidigt, weil man so dankbar gegen ihre Folgen ist.

23 [117]

Naturgenuss. – Bei einer Critik des Naturgenusses wird viel abzuziehn sein, was gar nicht auf aesthetische Erregung zurückgeht, z. B. bei Besteigung eines hohen Berges die Wirkung der dünnen leichten Luft, das Bewusstsein der besiegten Schwierigkeit, das Ausruhen, das geographische Interesse, die Absicht dasselbe schön zu finden was andere Leute schön fanden, der vorweggenommene Genuss, davon einmal zu erzählen.

23 [118]

Es giebt Stellen im Nebensatz des Allegretto der Adur Symphonie, bei denen das Leben so angenehm hinschleicht wie die Minuten an einer Rosenhecke an Sommerabenden.

23 [119]

Die Hoffnung ist der Regenbogen über den herabstürzenden jähen Bach des Lebens, hundertmal vom Gischt verschlungen und sich immer von neuem zusammensetzend, und mit zarter schöner Kühnheit ihn überspringend, dort wo er am wildesten und gefährlichsten braust.

23 [120]

Unterschätzen wir auch die flacheren lustigen lachsüchtigen Weiber nicht, sie sind da zu erheitern, es ist viel zu viel Ernst in der Welt. Auch die Täuschungen auf diesem Gebiete haben ihren Honigseim. – Wenn die Frauen tüchtiger inhaltsreicher werden, so giebt es gar keine sichere Stätte für harmlose Thorheit auf der Welt mehr. Liebeshändel gehören unter die Harmlosigkeiten des Daseins.

23 [121]

Ein socratisches Mittel. – Socrates hat Recht: man soll, um vom Eros nicht ganz unterjocht zu werden, sich mit den weniger schönen Weibern einlassen.

23 [122]

Wenn sich einer an das Buchmachen gewöhnt hat, so zieht er seine vielleicht ganz hellen Gedanken so auseinander, daß sie schwerfällig und dunkel werden. So hat sich selbst Kant durch die Gelehrten-Manier des Büchermachens (welches ja sogar im herkömmlichen Urtheil als akademische Verpflichtung gilt) zu jener weitschweifigen Art der Mittheilung bestimmen lassen, welche bei ihm doppelt bedauerlich ist, weil es ihm (seiner akademischen Pflichten wegen) immer an Zeit gefehlt hat: er mußte während des Schreibens sich häufig erst wieder in seine Gedankenkreise eindenken. Hätte er sich begnügt, das in kürzester Form, in der Weise Hume's, mitzutheilen, was er vor dem Schreiben (vielleicht auf einem Spaziergange) in sich festgestellt hatte, so wäre der ganze Streit über das richtige Verständniß Kant's, der jetzt noch fortlebt, überflüssig gewesen.

23 [123]

Frühzeitige Redefertigkeit schleift sich alle Gedanken zum sofortigen wirkungsvollen Gebrauche zurecht und ist deshalb leicht ein Hinderniß tiefen Erfassens und überhaupt einer gründlichen Einkehr in sich selbst. – Deshalb pflegen demokratische Staaten die Redefertigkeit auf den Schulen. –

23 [124]

Erfahrene Menschen kehren ungern zu Gegenden, zu Personen zurück, die sie einst sehr geliebt haben. Glück und Trennung sollen an ihren Enden zusammengeknüpft werden: da trägt man den Schatz mit fort.

23 [125]

Während Schopenhauer von der Welt der Erscheinung aussagt, dass sie in ihren Schriftzügen das Wesen des Dinges an sich zu erkennen gebe, haben strengere Logiker jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten, der metaphysischen Welt und der uns bekannten Welt geleugnet: so dass in der Erscheinung eben durchaus nicht das Ding an sich erschiene. Von beiden Seiten scheint mir übersehen, dass es verschiedne irrthümliche Grundauffassungen des Intellectes sind, welche den Grund abgeben, weshalb Ding an sich und Erscheinung in einem unausfüllbaren Gegensatz zu stehen scheinen: wir haben die Erscheinung eben mit Irrthümern so umsponnen, ja sie so mit ihnen durchwebt, dass niemand mehr die Erscheinungswelt von ihnen getrennt denken kann. Also: die üblen, von Anfang an vererbten unlogischen Gewohnheiten des Intellectes haben erst die ganze Kluft zwischen Ding an sich und Erscheinung aufgerissen; diese Kluft besteht nur insofern unser Intellect und seine Irrthümer bestehen. Schopenhauer hinwiederum hat alle characteristischen Züge unserer Welt der Erscheinung – d. h. der aus intellectuellen Irrthümern herausgesponnenen und uns angeerbten Vorstellung von der Welt – zusammengelesen und statt den Intellect als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache dieses thatsächlichen Weltcharacters angeschuldigt. – Mit beiden Auffassungen wird eine Entstehungsgeschichte des Denkens in entscheidender Weise fertig werden: deren Resultat vielleicht auf diesen Satz hinauslaufen dürfte: das was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern welche in der gesammten Entwicklung der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander verwachsen und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden. Von dieser Welt als Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thatsächlich nur in geringem Maasse zu lösen, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten nicht zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der Entstehung dieser Welt als Vorstellung aufhellen.

23 [126]

Es ist wahr, niemals ist in Deutschland so viel philosophirt worden wie jetzt: selbst zur Zeit der höchsten Gewalt Hegel's über die deutschen Köpfe erschienen nicht annähernd so viele philosophische Schriften wie in den letzten 15 Jahren. Aber irre ich mich? Oder habe ich Recht zu vermuthen, daß eine große Gefahr in diesem Anzeichen liegt? Die Gattung des jetzt beliebten Philosophirens ist derart, daß sie als Symptom einer über Hand nehmenden Abneigung gegen exakte strenge methodische Studien erscheint. Es ist ein vergnügliches, unter Umständen geistreiches Herumwerfen der philosophischen Ideen-Fangbälle, welche jetzt fast für jedes Verständniß faßlich geworden sind; ein solches Spiel nimmt sich besser aus als das ermüdende Wälzen schwerer einzelner Probleme der Wissenschaft und giebt in der That eine gewisse Ausbildung zum geselligen und öffentlichen Effektmachen. – Ich wünschte mich zu irren.

23 [127]

Wer vom Reiz der Gefahr spricht, kennt die Lust an der Emotion der Furcht an sich.

23 [128]

Frauen in Colonien. – Die Achtung und Artigkeit, welche die Amerikaner den Frauen erweisen, ist vererbt aus jener Zeit, in der diese bedeutend in der Minderheit waren: sie ist eine Eigenthümlichkeit colonialer Staaten. Manches bei den Griechen erklärt sich hieraus. Ein Ausnahmefall: wo die Colonisten viele Weiber antreffen, entsteht gewöhnlich ein Sinken der Schätzung der Weiber.

23 [129]

Der hochentwickelte Mensch thut die Natürlichkeiten des Daseins wie Essen Trinken usw. einfach ab, ohne viel Reden und falsche Verschönerung, welche frühere Culturstufen lieben. Ebendahin gehört auch die Geselligkeit, die Ehe; auf alle solche Dinge fällt nicht mehr jener starke Accent, welchen andere Zeiten dafür haben. Gut, es mag „formloser" sein, unschöner zum Ansehen, der religiöse Anschein ist von diesen Dingen gewichen und damit viel „Poesie". Indessen diese Einbussen werden reichlich compensirt, vor allem viel Energie gespart, Zeit gespart (wie bei unserer Kleidung) und der ganze Sinn nicht auf diese Äusserlichkeiten gerichtet. Jemand der es in etwas zur Meisterschaft bringen will, erhebt sich zu einer vornehmen Art zu sein durch sein Ziel. – Wie wir in den Künsten durch Vergeistigung eine Menge des Hässlichen mit in's Reich der Kunst hinübergetragen haben, so auch im Leben; man muss fühlen, was in diesen auf den ersten Blick unschönen Lebensformen pulsirt, welche neuen und höheren Gewalten, da erschliesst sich dem Blick eine höhere Schönheit.

23 [130]

Es gehört zu den Eigenheiten des metaphysischen Philosophirens, ein Problem zu verschärfen und als unlösbar hinzustellen, es sei denn dass man ein Wunder als eine Lösung ansieht, z. B. das Wesen des Schauspielers in der Selbstentäusserung und förmlichen Verwandlung zu sehen: während das eigentliche Problem doch ist, durch welche Mittel der Täuschung es der Schauspieler dahin bringt, dass es so scheint als wäre er verwandelt.

23 [131]

Der denkende Geist bei Musikern ist gewöhnlich frisch, sie sind öfter geistreich als die Gelehrten; denn sie haben in der Ausübung ihrer Kunst das Mittel, dem reflektirenden Denken beinahe völlige Ruhe, eine Art Schlafleben zu verschaffen; deshalb erhebt sich dies so lustig und morgenfrisch, wenn der Musiker aufhört Musik zu machen. – Man täuscht sich mitunter darüber, weil vielfach die Bildung des Musikers zu gering ist und er nicht genug Stoff hat, an dem er Geist zeigen könnte. Eben so steht es mit <dem> denkenden Geist der Frauen.

23 [132]

Wer in der deutschen Sprache Sentenzen bildet, hat die Schwierigkeit, daß sie gerade am Ende nicht scharf und streng abgeschliffen werden können, sondern daß Hülfszeitwörter hinterdrein stürzen wie Schutt und Gerümpel einem rollenden Steine. – Selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn er nicht auf diesem Gebiete selber gewetteifert hat. Man nimmt es ohne diese praktische Belehrung für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene nicht scharf genug heraus; deshalb haben die Leser von Sentenzen ein verhältnißmäßig geringes Vergnügen an ihnen, ebenso wie die gewöhnlichen Betrachter von Kameen. Nur im Wetteifer lernt man das Gute kennen: so sollte man, um der Lust der Erkenntniß willen, wenigstens eine Wissenschaft eine Kunst wirklich ausüben, und vielleicht einen Roman, eine philosophische Betrachtung, eine Rede von Zeit zu Zeit ausarbeiten; – durch Nachdenken über seine eignen Erfahrungen begreift man dann auch die verwandten diesen Erfahrungen angrenzenden Gebiete – und erwirkt sich den Zugang zu vielen der besten Lustempfindungen.

23 [133]

Man ist auch ungerecht, wenn man die großen Männer zu groß findet und die Dinge in der Welt zu tief. Wer dem Leben die tiefste Bedeutung geben will, umspinnt die Welt mit Fabeln; wir sind alle noch tief hinein verstrickt, so freisinnig wir uns auch vorkommen mögen. Es giebt eine starke Neigung, uralt angeboren, die Abstände zu übertreiben, die Farben zu stark aufzutragen, das Glänzende als das Wahrscheinlichere zu nehmen. Die Kraft zeigt sich vornehmlich in diesem allzuscharfen Accentuiren; aber die Kraft in der Mäßigung ist die höhere, Gerechtigkeit ist schwerer als Hingebung und Liebe. – Wenn ein Mörder nicht das Böse seiner Handlung anerkennen will und sich das Recht nimmt, etwas gut zu nennen, was alle Welt böse nennt, so löst er sich aus der Entwicklung der Menschen: müssen wir ihm dies Recht zugestehn? Wenn einer sogenannte schlechte Handlungen durch Loslösung von den hergebrachten Urtheilen und Aufstellung der Unverantwortlichkeit rechtfertigte, dürfen wir sagen: „nur rein theoretisch darf er so etwas aufstellen, nicht aber praktisch darnach handeln"? Oder: "als Denker hat er Recht, aber er darf nicht Böses thun". In wie weit darf sich das Individuum lösen von seiner Vergangenheit? So weit es kann? Und wenn es einsieht, daß in dieser Vergangenheit falsche Urtheile, Rücksichten auf grobe Nützlichkeit wirkten? Daß der Heiligenschein um das Gute, der Schwefelglanz um das Böse dabei verschwindet? Wenn die stärksten Motive, aus der Ehre und Schande des Mitmenschen entnommen, nicht mehr wirken, weil er die Wahrheit diesem Urtheile entgegenstellen kann?

23 [134]

Warum erdichtet man nicht ganze Geschichten von Völkern, von Revolutionen, von politischen Parteien? Weshalb rivalisirt der Dichter des Roman's nicht mit dem Historiker? Hier sehe ich eine Zukunft der Dichtkunst.

23 [135]

Ehemals definirte man, weil man glaubte, daß jedem Worte Begriffe eine Summe von Prädikaten innewohne, welche man nur herauszuziehn brauche. Aber im Worte steckt nur eine sehr unsichere Andeutung von Dingen: man definirt vernünftiger Weise nur, um zu sagen, was man unter einem Worte verstanden wissen will und überläßt es jedem, sich den Sinn eines Wortes neu abzugränzen: es ist unverbindlich.

23 [136]

Die Schule der Erzieher entsteht auf Grund der Einsicht: daß unsere Erzieher selber nicht erzogen sind, daß das Bedürfniß nach ihnen immer größer, die Qualität immer geringer wird, daß die Wissenschaften durch die natürliche Zertheilung der Arbeitsgebiete bei dem Einzelnen die Barbarei kaum verhindern können, daß es kein Tribunal der Cultur giebt, welches von nationalen Interessen abgesehn die geistige Wohlfahrt des ganzen Menschengeschlechts erwägt: ein internationales Ministerium der Erziehung.

23 [137]

Eine Sentenz ist im Nachtheil, wenn sie für sich steht; im Buche dagegen hat sie in der Umgebung ein Sprungbrett, von welchem man sich zu ihr erhebt. Man muß verstehen, unbedeutendere Gedanken um bedeutende herumzustellen, sie damit einzufassen, also den Edelstein mit einem Stoff von geringerem Werthe. Folgen Sentenzen hinter einander, so nimmt man unwillkürlich die eine als Folie der andern, schiebt diese zurück, um eine andere hervorzuheben, d. h. man macht sich ein Surrogat eines Buches.

23 [138]

Da die Kunst immer seelenvoller wird, so bemerken die späteren Meister, daß die Kunstwerke der früheren Zeit ihnen nicht entsprechen und dies veranlaßt sie, da etwas nachzuhelfen und zu glauben daß es nur die technischen Bedingungen sind, welche damals den alten Meistern fehlten. So denkt Wagner, daß Beethoven besser d. h. seelenvoller instrumentirt haben würde, wenn die Instrumente besser gewesen wären; namentlich aber in der Modifikation des Tempo's, denkt er, daß jener, wie alle früheren, nur ungenügend in der Bezeichnung gewesen wäre. In Wahrheit ist die Seele aber noch nicht so zart bewegt, so lebendig in jedem Augenblick gewesen. Alle ältere Kunst war starr, steif; in Griechenland wie bei uns. Die Mathematik, die Symmetrie, der strenge Takt herrschten. – Soll man den modernen Musikern das Recht geben, ältere Werke mehr zu beseelen? – Ja; denn nur dadurch daß wir ihnen unsere Seele geben, leben sie noch fort. Wer die dramatische seelenvolle Musik kennt, wird Bach ganz anders vortragen, unwillkürlich. Hört er ihn anders vortragen, so versteht er ihn nicht mehr. Ist ein historischer Vortrag überhaupt möglich?

23 [139]

Die Erfinder der indogermanischen Sprache waren wahrscheinlich der obersten Kaste zugehörig und benutzten die vorhandenen geringeren Sprachen. Eine hohe philosophische und dichterische Bildung sprach aus ihnen und bildete eine entsprechende Sprache; diese ist ein bewußtes Kunstprodukt; musikalisches dichterisches Genie gehörte dazu. Dann wurde es eine Dichter- und Weisensprache, verbreitete sich später über die nächsten Kasten und wanderte mit den Kriegerstämmen aus. Es war das kostbarste Vermächtniß der Heimat, das man zäh festhielt.

23 [140]

Die Dichter, gemäß ihrer Natur, welche eben die von Künstlern d. h. seltsamen Ausnahmemenschen ist, verherrlichen nicht immer das, was von allen Menschen verherrlicht zu werden verdient, sondern ziehen das vor, was gerade ihnen als Künstlern gut erscheint. Ebenso greifen sie selten mit Glück an, wenn sie Satiriker sind. Cervantes hätte die Inquisition bekämpfen können, aber er zog es vor, ihre Opfer d. h. die Ketzer und Idealisten aller Art auch noch lächerlich zu machen. Nach einem Leben voller Unfälle und Mißwenden hatte er doch noch Lust zu einem litterarischen Hauptangriff auf eine falsche Geschmacksrichtung der spanischen Leser; er kämpfte gegen die Ritterromane. Unvermerkt wurde dieser Angriff unter seinen Händen zur allgemeinsten Ironisirung aller höheren Bestrebungen: er machte ganz Spanien, alle Tröpfe eingeschossen, lachen und sich selber weise dünken: es ist eine Thatsache daß über kein Buch so gelacht wurde wie über den Don Quixote. Mit einem solchen Erfolge gehört er in die Decadence der spanischen Cultur, er ist ein nationales Unglück. Ich meine daß er die Menschen verachtete und sich nicht ausnahm; oder macht er sich nicht nur lustig wenn er erzählt wie man am Hofe des Herzogs mit dem Kranken Possen trieb? Sollte er wirklich nicht über den Ketzer auf dem Scheiterhaufen noch gelacht haben? Ja, er erspart seinem Helden nicht einmal jenes fürchterliche Hellwerden über seinen Zustand, am Schlusse des Lebens: wenn es nicht Grausamkeit ist, so ist es Kälte, Hartherzigkeit, welche ihn eine solche letzte Scene schaffen hieß, Verachtung gegen die Leser, welche wie er wußte auch durch diesen Schluß nicht in ihrem Gelächter gestört wurden.

23 [141]

Alle urspr<ünglich> starre, peinliche Empfindung wird allmählich angenehm. Aus Zwang wird Gewohnheit, daraus Sitte, endlich Tugend mit Lust verbunden. Aber die Menschen, welche diese letzte Stufe erreicht haben, wollen nichts davon wissen, daß ihre fernen Vorfahren den Weg begonnen haben.

23 [142]

Der Mensch erstrebt mitunter eine Emotion an sich, und benutzt Menschen nur als Mittel. Am stärksten in der Grausamkeit. Aber auch in der Lust am Tragischen ist etwas davon (Goethe fand diesen Sinn für das Grausame bei Schiller). In der dramatischen Kunst überhaupt will der Mensch Emotionen, z. B. des Mitleides, ohne helfen zu müssen. Man denke an Seiltänzer, Gaukler. – Die Leidenschaften gewöhnen den Menschen an sich: deshalb haben sehr leidenschaftliche Völker z. B. Griechen und Italiäner solches Vergnügen an der Kunst der Leidenschaft, der Emotion an sich; ohne diese haben sie Langeweile.

23 [143]

Die Empfindung kann nicht gleich und auf einer Höhe bleiben, sie muß wachsen oder abnehmen. Die Verehrung der griechischen Polis summirte sich zu einer unendlichen Summe auf, endlich vermochte das Individuum diese Last nicht mehr zu tragen.

23 [144]

Es ist nach Art der unwissenschaftlichen Menschen, irgend eine Erklärung einer Sache keiner vorzuziehn, sie wollen von der Enthaltung nichts wissen.

23 [145]

Der gut befähigte Mensch erlebt mehrenmal den Zustand der Reife, insofern er verschiedene Culturen durchlebt und im Verstehen und Erfassen jeder einzelnen einmal einen Höhepunkt erreicht. und so kann ein Mensch in sich den Inhalt von ganzen Jahrhunderten vorausfühlen: weil der Gang, den er durch die verschiedenen Culturen macht, derselbe ist, welchen mehrere Generationen hinter einander machen. – So hat er auch mehrenmal den Zustand der Unreife, der perfecten Blüthe, der Überreife: diese ganze Stufenleiter macht er vielleicht erst einmal als religiöser, dann wieder als künstlerischer und endlich wissenschaftlicher Mensch durch.

23 [146]

Man verwundert sich immer von Neuem, wie Shakespeare im Stande gewesen sei, seine Helden jedesmal so passend, so gedankenreich reden zu lassen, so daß sie Sentenzen äußern, welche an sich bedeutend aber doch auch wiederum ihrem Charakter entsprechend lauten? Da vermuthet man wohl, um es zu erklären, daß solche Gespräche ein Mosaik von gelegentlich gefundenen Einzelsätzen seien. Dieser Vermuthung möchte ich entgegnen, daß es bei dem Dramatiker eine fortwährende Gewöhnung giebt, jede Bemerkung nur dem Charakter einer bestimmten Person gemäß, im Verhältniß zu einer Situation zu erfinden: eine Gewohnheit welche eben eine ganz andere als die unsere ist: die Bemerkung ihrer Wahrheit halber zu machen, ganz abgesehn von Person und Situation. Aber auch wir fragen uns mitunter: „was würdest du sagen, wenn du dies erlebtest?" An dieses hypothetische Reden ist der Dramatiker gewöhnt, es ist seine Natur geworden, immer unter solchen Voraussetzungen seine Gedanken zu erfinden.

23 [147]

Wie alte sinnreiche religiöse Zeremonien zuletzt als abergläubische unverstandene Prozeduren übrigbleiben, so wird die Geschichte überhaupt, wenn sie nur noch gewohnheitsmäßig fortlebt, dem magischen Unsinn oder <der> carnevalistischen Verkleidung ähnlich. Die Sonne, welche bei der Verkündigung der Infallibilität auf den Papst leuchten sollte, die Taube, welche dabei fliegen sollte, erscheinen jetzt als bedenkliche Kunststückchen, welche nur auf Täuschung absehen; aber die alte Cultur ist voll davon, und die ganze Unterscheidung, wo die Täuschung beginnt, gar nicht gemacht. Jetzt bewegte sich in Neapel ein katholischer prunkhafter Leichenwagen mit Gefolge in einer der Nebengassen, während in unmittelbarer Entfernung der Carneval tobte: alle die bunten Wagen, welche die Kostüme und den Prunk früheren Culturen nachmachten. Aber auch jener Leichenzug wird irgendwann einmal ein solcher historischer Carnevalszug sein; die bunte Schale bleibt zurück und ergötzt, der Kern ist entflohn oder es hat sich wie in den Kunstgriffen der Priester zur Erweckung des Glaubens die betrügerische Absicht hinein versteckt.

23 [148]

Das Alterthum ist im Ganzen das Zeitalter des Talents zur Festfreude. Die tausend Anlässe sich zu freuen waren nicht ohne Scharfsinn und großes Nachdenken ausfindig gemacht; ein guter Theil der Gehirnthätigkeit, welche jetzt auf Erfindung von Maschinen, auf Lösung der wissenschaftlichen Probleme gerichtet ist, war damals auf die Vermehrung der Freudenquellen gerichtet: die Empfindung, die Wirkung sollte in's Angenehme umgebogen werden, wir verändern die Ursachen des Leidens, wir sind prophylaktisch, jene palliativisch. – Unsere Feste werden billigerweise Cultur-Feste und im Ganzen selten.

23 [149]

Wir haben ein Vergnügen an der kleinen Bosheit, weil sie uns so wenig schadet z. B. am Sarkasmus; ja wenn wir uns völlig geschützt fühlen, so dient uns selbst die große Bosheit (etwa in dem giftigen Geifer eines Pamphletes) zum Behagen; denn sie schadet uns nicht und nähert sich dadurch der Wirkung des Komischen, – das überrascht, ein wenig erschreckt und doch nicht Schaden anstiftet.

23 [150]

Die Kunst gehört nicht zur Natur, sondern allein zum Menschen. – In der Natur giebt es keinen Ton, diese ist stumm; keine Farbe. Auch keine Gestalt, denn diese ist das Resultat einer Spiegelung der Oberfläche im Auge, aber an sich giebt es kein Oben und Unten, Innen und Außen. Könnte man anders sehen, als vermöge der Spiegelung, so würde man nicht von Gestalten reden, sondern vielleicht in's Innre sehen, so daß der Blick ein Ding allmählich durchschnitte. Die Natur, von welcher man unser Subjekt abzieht, ist etwas sehr Gleichgültiges, Uninteressantes, kein geheimnißvoller Urgrund, kein enthülltes Welträthsel; wir vermögen ja durch die Wissenschaft vielfach über die Sinnesauffassung hinaus zu kommen, z. B. den Ton als eine zitternde Bewegung zu begreifen; je mehr wir die Natur entmenschlichen, um so leerer bedeutungsloser wird sie für uns. – Die Kunst beruht ganz und gar auf der vermenschlichten Natur, auf der mit Irrthümern und Täuschungen umsponnenen und durchwebten Natur, von der keine Kunst absehen kann; <sie> erfaßt nicht das Wesen der Dinge, weil sie ganz an das Auge und das Ohr angeknüpft ist. Zum Wesen führt nur der schließende Verstand. Er belehrt uns z. B. <daß> die Materie selbst ein uraltes eingefleischtes Vorurtheil ist, daher stammend daß das Auge Spiegelflächen sieht und das menschliche Tastorgan sehr stumpf ist: wo man nämlich widerstrebende Punkte fühlt, so construirt man sich unwillkürlich widerstrebende continuirliche Ebenen (welche aber nur in unserer Vorstellung existiren), unter der angewöhnten Illusion des spiegelnden Auges, welches im Grunde eben auch nur ein grobes Tastorgan ist. Ein Ball von elektrischen Strömungen, welche an bestimmten Punkten umkehren, würde sich als etwas Materielles, als ein festes Ding anfühlen: und das chemische Atom ist ja eine solche Figur, welche von den Endpunkten verschiedener Bewegungen umschrieben wird. Wir sind jetzt gewöhnt, Bewegtes und Bewegung zu scheiden; aber wir stehen damit unter dem Eindrucke uralter Fehlschlüsse: das bewegte Ding ist erdichtet, hineinphantasirt, da unsere Organe nicht fein genug sind, überall die Bewegung wahrzunehmen und uns etwas Beharrendes vorspiegeln: während es im Grunde kein "Ding", kein Verharrendes giebt.

23 [151]

Da die neue Erziehung den Menschen eine viel größere Gehirnthätigkeit zumuthet, so muß die Menschheit viel energischer nach Gesundheit ringen, um nicht eine nervös überreizte, ja verrückte Nachkommenschaft zu haben (denn sonst wäre eine Nachwelt von Verrückten und Überspannten sehr wohl möglich – wie die überreifen Individuen des späteren Athen's mitunter in das Irrsinnige hineinspielen): also durch Paarung gesunder Eltern, richtige Kräftigung der Weiber, gymnastische Übungen, die so sehr gewöhnlich und begehrt sein müssen wie das tägliche Brod, Prophylaxis der Krankheiten, rationelle Ernährung, Wohnung, überhaupt durch Kenntnisse der Anatomie usw.

23 [152]

Das Christenthum sagt "es giebt keine Tugenden, sondern Sünden". Damit wird alles menschliche Handeln verleumdet und vergiftet, auch das Zutrauen auf Menschen erschüttert. Nun sekundirt ihm noch die Philosophie in der Weise La Rochefoucauld's, sie führt die gerühmten menschlichen Tugenden auf geringe und unedle Beweggründe zurück. Da ist es eine wahre Erlösung zu lernen, daß es an sich weder gute noch böse Handlungen giebt, daß in gleichem Sinne wie der Satz des Christenthums auch der entgegengesetzte des Alterthums aufgestellt werden kann "es giebt keine Sünden, sondern nur Tugenden" d. h. Handlungen nach dem Gesichtspunkte des Guten (nur daß das Urtheil über gut verschieden ist). Jeder handelt nach dem ihm Vortheilhaften, keiner ist freiwillig böse d. h. sich schädigend. Es ist ein großer Fortschritt zu lernen, daß alles Moralische nichts mit dem Ding an sich zu thun hat, sondern "Meinung" ist, in das Bereich des sehr veränderlichen Intellekts gehört. Freilich: wie sich unser Ohr den Sinn für Musik geschaffen hat (der ja auch nicht an sich existirt), so haben wir als hohes Resultat der bisherigen Menschheit den moralischen Sinn. Er ist aber nicht auf logische Denkgesetze und auf strenge Naturbeobachtung gegründet, sondern wie der Sinn für die Künste auf mancherlei falsche Urtheile und Fehlschlüsse. Die Wissenschaft kann nicht umhin, dies unlogische Fundament der Moral aufzudecken, wie sie dies bei der Kunst thut. Vielleicht schwächt sie auf die Dauer diesen Sinn damit etwas ab: aber der Sinn für Wahrheit ist selber eine der höchsten und mächtigsten Effloreszenzen dieses moralischen Sinnes. Hier liegt die Compensation.

23 [153]

Barbarisirende Wirkung der Abstraktion und Sublimation bei Gelegenheit des Aristotelis<mus> in der Wissenschaft.

23 [154]

Wenn man an die höhere Nützlichkeit, an ökumenische Zwecke bei dem Wort Moral denkt, so ist im Handel mehr Moralität enthalten, als im Leben nach jener Kantischen Aufforderung "thue das was du willst daß dir gethan werde" oder im christlichen Wandel nach der Richtschnur des Wortes: liebe den Nächsten um Gottes willen". Der Satz Kant's ergiebt eine kleinbürgerliche Privat-Achtbarkeit der Sitte und steht im Gegensatz zu ökumenischen Zwecken: von deren Existenz er nicht einmal einen Begriff hat. Wie wenig geforderte Liebe überhaupt zu bedeuten hat, namentlich aber eine Liebe dieser indirekten Art, wie die christliche Nächstenliebe, das hat die Geschichte des Christenthums bewiesen: welche im Gegensatz zu den Folgen der buddhaistischen, reisessenden Moral durchweg gewaltsam und blutig ist. Und was heißt es überhaupt: "ich liebe den Mitmenschen um Gottes Willen!" Ist es mehr als wenn jemand sagt „ich liebe alle Polizeidiener, um der Gerechtigkeit willen" oder was ein kleines Mädchen sagte: „ich liebe Schopenhauer, weil Großvater ihn gern hat: der hat ihn gekannt"?

23 [155]

Durch gewisse Ansichten über die Dinge ist das Pathos der Empfindung in die Welt gekommen, nicht durch die Dinge selbst: z. B. alles, was Faust in der ersten Scene als Ursache seiner Leiden angiebt, ist irrthümlich, nämlich auf Grund metaphysischer Erdichtungen erst so bedeutungsschwer geworden: könnte er dies einsehen, so würde das Pathos seiner Stimmung fehlen.

23 [156]

(Aus der Vorrede)

Nachdem ich von Jahr zu Jahr mehr gelernt habe, wie schwierig das Finden der Wahrheit ist, bin ich gegen den Glauben, die Wahrheit gefunden zu haben mißtrauisch geworden: er ist ein Haupthinderniß der Wahrheit. Wenn doch alle die, welche so groß von ihrer Überzeugung dachten, Opfer aller Art ihr brachten, ja Ehre Leib und Leben in ihrem Dienste nicht schonten, nur die Hälfte ihrer Kraft der Untersuchung gewidmet hätten, mit welchem Rechte sie an der oder jener Überzeugung hiengen, auf welchem Wege sie zu ihr gekommen seien: wie friedfertig sähe die Geschichte der Menschheit aus! Wie viel mehr des Erkannten würde es geben! Alle die grausamen Scenen, die Verfolgung der Ketzer wären uns aus zwei Gründen erspart geblieben: einmal weil die Inquisitoren vor allem in sich selbst inquirirt hätten und über die Anmaaßung, die absolute Wahrheit zu vertheidigen, hinausgekommen wären; sodann weil die Ketzer selber so schlecht begründeten Sätzen, wie die Sätze aller religiösen Rechtgläubigen und Ketzer sind, keine weitere Theilnahme geschenkt hätten, nachdem sie gründlich dieselben untersucht hätten.

Nun habe ich diesmal ein Thema vor mir, welches vielleicht das Wichtigste der Menschheit ist – denn was ist nicht durch Erziehung entstanden, stark geworden, gut und schlecht? – zudem läßt es sich in großem Maaßstabe erst behandeln, nachdem die Ungläubigkeit zur herrschenden Gesinnung geworden ist. Da möchte ich nun namentlich die feurigen überzeugungsdürstigen Jünglinge warnen, nicht sofort meine Lehren wie eine Richtschnur für das Leben zu betrachten, sondern als wohl zu erwägende Thesen, mit deren praktischer Einführung die Menschheit so lange warten mag, als sie sich gegen Zweifel und Gründe nicht hinreichend geschützt haben. Überdies ist mir die Weisheit nicht vom Himmel gefallen, denn ich bin kein "Genie", habe keine intuitiven Einblicke durch ein Loch im Mantel der Erscheinung. Schopenhauer mag das warnende Beispiel sein: er hat in allen Punkten, derentwegen er sich für ein "Genie" hielt, Unrecht.

23 [157]

Das Leben wird leicht und angenehm durch eine rücksichtslose Befreiung des Geistes, welche versuchsweise einmal an allen den Vorstellungen rüttelt, welche das Leben so belastet, so unerträglich machen: so daß man, um die Freude dieser Entlastung zu haben, das einfachste Leben vorzieht, welches uns diese Freude ermöglicht.

23 [157]

Paul Winkler 1685 „der Mensch ist so lange weise als er die Wahrheit sucht; wenn er sie aber gefunden haben will, wird er ein Narr".

23 [159]

Lesern meiner früheren Schriften will ich ausdrücklich erklären, daß ich die metaphysisch-künstlerischen Ansichten, welche jene im Wesentlichen beherrschen, aufgegeben habe: sie sind angenehm, aber unhaltbar. Wer sich frühzeitig erlaubt öffentlich zu sprechen, ist gewöhnlich gezwungen, sich bald darauf öffentlich zu widersprechen.

23 [160]

Zum Schluß.

Ich will weise werden bis zum 60. Jahre und erkenne dies als ein Ziel für Viele. Eine Menge von Wissenschaft ist der Reihe nach anzueignen und in sich zu verschmelzen. Es ist das Glück unseres Zeitalters, daß man noch eine Zeitlang in einer Religion aufwachsen kann und, in der Musik, einen ganz echten Zugang zur Kunst hat; das wird späteren Zeiten nicht mehr so gut zu Theil werden. Mit Hülfe dieser persönlichen Erfahrungen kann man ungeheure Strecken der Menschheit erst verstehen: was wichtig ist, weil alle unsere Cultur auf diesen Strecken ruht. Man muß Religion und Kunst verstehen – sonst kann man nicht weise werden. Aber man muß über sie hinaus sehen können; bleibt man darin, so versteht man sie nicht. Ebenso ist die Metaphysik eine Stufe, auf der man gestanden haben muß. Ebenso die Historie und das Relativische. Man muß in großen Schritten dem Gang der Menschheit als Individuum nachgehen und über das bisherige Ziel hinauskommen.

Wer weise werden will, hat ein individuelles Ziel, in welchem alles Erlebte, Glück Unglück Unrecht usw., als Mittel und Hülfe aufgeht. Überdies kommt das menschliche Leben da in die richtige Gestalt, denn der alte Mensch erreicht das Ziel seiner ganzen Natur nach am leichtesten. Das Leben verläuft auch interessant, das Thema ist sehr groß und nicht zu zeitig zu erschöpfen. – Die Erkenntniß selbst hat kein Ziel weiter.

23 [161]

Die sittliche Reinheit der Menschen ist durch einige falsche Vorstellungen mehr gefördert worden als es die Wahrheit zu thun vermöchte. Daß ein Gott das Gute wolle, daß der Leib zu besiegen sei, um die Seele frei zu machen, daß Verantwortlichkeit für alle Handlungen und Gedanken existire, das hat die Menschheit hochgehoben und verfeinert. Allein schon die Aufstellung des "Guten"!

23 [162]

In dem vorlitterarischen Zeitalter muß die höhere Intelligenz sich ganz anders dargestellt haben als im litterarischen: der Einzelne, durch keine schriftliche Tradition mit den früheren Weisen verbunden und an die Bedingtheit des Erkennens gemahnt, durfte sich fast für übermenschlich nehmen. Der Weise verliert immer mehr an Würde.

23 [163]

Wenn Worte einmal da sind, so glauben die Menschen, es müsse ihnen etwas entsprechen z.B. Seele Gott Wille Schicksal usw.

23 [164]

Das sogenannte metaphysische Bedürfniß ist eine Gegeninstanz gegen die Wahrheit irgend einer Metaphysik. Der Wille commandirt.

23 [165]

Der Vortheil, den der reine Mensch seinen Mitmenschen bringt, liegt in dem Vorbild, das er giebt: dadurch entreißt er sie ihrem wilden Dämon, wenn auch nur auf Augenblicke. – Es kommt sehr viel auf die Augenblicke an.

23 [166]

Die edleren Motive sind die complicirten; alle einfachen Motive stehen ziemlich niedrig. Es ist wie bei den einfachen und complicirten Organismen. Die Länge und Schwierigkeit des ganzen Wegs wirft den Schein des Großen und Hohen auf den, welcher ihn geht.

23 [167]

Wenn die Menschen nicht für Götter Häuser gebaut hätten, so läge die Architektur noch in der Wiege. Die Aufgaben, welche der Mensch sich auf Grund falscher Annahmen stellte (z. B. Seele loslösbar vom Leibe), haben zu den höchsten Culturformen Anlaß gegeben. Die "Wahrheiten" vermögen solche Motive nicht zu geben.

23 [168]

Will man über Kunst Erfahrungen machen, so mache man einige Kunstwerke, es giebt keinen anderen Weg zum aesthetischen Urtheil. Die meisten Künstler selbst sind dadurch allein nützlich, daß sie das Bewußtsein der großen Meister gewinnen, festhalten und übertreiben: also gleichsam als wärmeleitende Medien. Einige Novellen, einen Roman, eine Tragödie – das kann man machen, ohne mit seinen Hauptbeschäftigungen Schiffbruch zu leiden; auch soll man solcherlei keineswegs drucken. Überhaupt soll man lernen, mannichfach productiv zu sein: es ist das Hauptkunststück, um in vielen Dingen weise zu werden.

23 [169]

Es ist eine Stufe der Cultur, das Große und Extreme zu schätzen, den großen Menschen, die stärkste Produktivität, das wärmste Herz. Aber um die Welt zu begreifen, muß man zur höheren Stufe kommen, daß das Kleine und Unscheinbare wichtiger in seinen Wirkungen ist z. B. die gebundenen Geister usw.

23 [170]

Der günstigste Zeitpunkt dafür, daß ein Volk die Führerschaft in wissenschaftlichen Dingen übernimmt, ist der, in welchem genug Kraft Zähigkeit Starrheit dem Individuum vererbt werden, um ihm eine siegreiche frohe Isolation von den öffentlichen Meinungen zu ermöglichen: dieser Zeitpunkt ist jetzt wieder in England eingetreten, welches unverkennbar in Philosophie Naturwissenschaft Geschichte, auf dem Gebiete der Entdeckungen und der Culturverbreitung gegenwärtig allen Völkern vorangeht. Die wissenschaftlichen Größen verhandeln da mit einander wie Könige, welche sich zwar alle als Verwandte betrachten, aber Anerkennung ihrer Unabhängigkeit voraussetzen. In Deutschland glaubt man dagegen alles durch Erziehung Methoden Schulen zu erreichen: zum Zeichen dafür, daß es an Charakteren und bahnbrechenden Naturen mangelt, welche zu allen Zeiten für sich ihre Straße gezogen sind. Man züchtet jene nützlichen Arbeiter, welche mit einander, wie im Takte, arbeiten und denen das Pensum in jenen Zeiten schon vorgeschrieben worden ist, als Deutschland, vermöge seiner originalen Geister, die geistige Führerschaft Europa's innehatte: also um die Wende des vorigen Jahrhunderts.

23 [171]

Die Mängel des Stils geben ihm bisweilen seinen Reiz. – Alexander von Humboldt's Stil. Die Gedanken haben etwas Unsicheres, soweit es sich nicht um Mittheilung von Facta handelt. Dazu ist alles in die Höhe gehoben und durch ausgewählte schöne Worte mit Glanz überzogen: die langen Perioden spannen es aus. So erzeugt dieser Stil als Ganzes eine Stimmung, einen Durst, man macht die Augen klein, weil man gar zu gern etwas Deutliches sehen möchte, alles schwimmt in anreizender Verklärung in der Ferne: wie eine jener welligen Luftspiegelungen, welche dem Müden Durstenden ein Meer eine Oase ein Wald zu sein scheinen (vor die Sinne führen).

23 [172]

Eine neue Darstellung der Kunstlehre hat davon auszugehen, dass der Mensch sich an allen Gemüthserregungen an sich, eben als Emotionen, erfreut, auch den schmerzlichsten: er will den Rausch. Die Kunst erregt ihn spielend zu Schmerz Thränen Zorn Begierde, aber ohne die praktischen schlimmen Folgen: doch giebt es auch Menschen, welche selbst jene Folgen mit hinnehmen, nur um die Emotion zu haben (der Grausame).

23 [173]

Schopenhauer hat leider in dem Begriff „intuitive Erkenntniss" die schlimmste Mystik eingeschmuggelt, als ob man vermöge derselben einen unmittelbaren Blick auf das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung hätte und als ob es bevorzugte Menschen gäbe, Welche, ohne die Mühsal und Strenge der Wissenschaft, vermöge eines wunderbaren Seherauges etwas Endgültiges und Entscheidendes über die Welt mitzutheilen vermöchten. Solche Menschen giebt es nicht: und das Wunder wird auch für den Bereich der Erkenntniss fürderhin keinen Gläubigen mehr finden.

23 [174]

Die ausgeschlüpfte Seidenraupe schleppt eine Zeitlang die leere Puppe noch nach sich; Gleichniss.

23 [175]

Neigung und Abneigung unvernünftig. – Wenn Neigung oder Abneigung die Zähne erst eingebissen haben, so ist es schwer loszukommen, wie wenn eine Schildkröte sich in einen Stock verbissen hat. Die Liebe, der Hass und die Schildkröte sind dumm.

23 [176]

Beim unegoistischen Triebe ist die Neigung zu einer Person das Entscheidende (wenn es die Lust am Mitleid nicht ist und ebensowenig die Abwehr der Unlust, welche wir beim Anblick des Leidens fühlen). Aber die Neigung macht einen solchen Vorgang doch nicht moralisch? Ist denn alles Interessirtsein für etwas ausser uns Gelegenes moralisch? – Auch alles sachliche Interesse (bei Kunst und Wissenschaft) gehört in's Bereich des Unegoistischen – aber auch des Moralischen?

23 [177]

Philosophie nicht religiös aufzufassen. – Eine Philosophie mit religiösen Bedürfnissen erfassen heisst sie völlig missverstehen. Man sucht einen neuen Glauben, eine neue Autorität – wer aber Glaube und Autorität will, der hat es an den hergebrachten Religionen bequemer und sicherer.

23 [178]

Es war Abend, Tannengeruch strömte heraus, man sah hindurch auf graues Gebirge, oben schimmerte der Schnee. Blauer beruhigter Himmel darüber aufgezogen. – So etwas sehen wir nie, wie es an sich ist, sondern legen immer eine zarte Seelenmembrane darüber – diese sehen wir dann. Vererbte Empfindungen, eigne Stimmungen werden bei diesen Naturdingen wach. Wir sehen etwas von uns selber – insofern ist auch diese Welt unsere Vorstellung. Wald Gebirge, ja das ist nicht nur Begriff, es ist unsere Erfahrung und Geschichte, ein Stück von uns.

23 [179]

Aberglaube. – Menschen in grosser Erregung sind am abergläubischsten. Die Wiederherstellung der Religionen liegt in Perioden grosser Erschütterung und Unsicherheit. Wo alles weicht, greift man nach dem Strickwerk der Illusionen des jenseits.

23 [180]

Das sterbende Kind. – Man giebt einem Kinde, das sterben muss, alles, was es will, Zuckerbrod – was thut es wenn es sich den Magen verdirbt? – Und sind wir nicht alle in der Lage eines solchen Kindes? –

23 [181]

Eine Prozession am Frohnleichnamsfest, Kinder und alte Männer brachten mich zum Weinen. Warum? – Abends Klavierspiel heraus aus dem Irrenhause.

23 [182]

Sollten nicht Viele welche ehrgeizig sind, im Grunde nur die Emotion suchen, die mit ehrgeizigen Bestrebungen verbunden ist? Man kann solche Empfindung hemmen ersticken oder gross wachsen machen; letzteres thun die Emotionsbedürftigen. Viele suchen ja sich zu ärgern – so weit geht jenes Bedürfniss der Emotion.

23 [183]

Aus der Furcht erklärt sich zumeist die Rücksicht auf fremde Meinungen; ein guter Theil der Liebenswürdigkeit (des Wunsches nicht zu missfallen) gehört hierher. So wird die Güte der Menschen, mit Hülfe der Vererbung, durch die Furcht grossgezogen.

23 [184]

Nutzen der z<urückgebliebenen> St<andpuncte>. – Die zurückgebliebenen Standpuncte (politische sociale, oder ganze Typen bei Künstlern, Metaphysikern) sind ebenso nöthig als die fortschreitenden Bewegungen: sie erzeugen die nöthige Reibung und sind für die neuen Bestrebungen Kraftquellen.

23 [185]

Glaube versetzt Berge. – Ein interessanter Aberglaube ist es, dass der Glaube Berge versetzen könne, dass ein gewisser hoher Grad von Fürwahrhalten die Dinge gemäss diesem Glauben umgestaltet, dass der Irrthum zur Wahrheit wird, wenn nur kein Gran Zweifel dabei ist: d. h. die Stärke des Glaubens ergänzt die Mängel des Erkennens; die Welt wird so, wie wir sie uns vorstellen.

23 [186]

Liebe und Hass nicht ursprüngliche Kräfte. – Hinter dem Hassen liegt das Fürchten, hinter dem Lieben das Bedürfen. Hinter Fürchten und Bedürfniss liegt Erfahrung (Urtheilen und Gedächtniss). Der Intellekt scheint älter zu sein als die Empfindung.

23 [187]

Erweiterung der Erfahrung. – Es giebt Fälle, wo Träume den Kreis unserer Erfahrung wirklich bereichern: wer wüsste, ohne Träume, wie es einem Schwebenden zu Muthe ist?

23 [188]

Sehnsucht nach dem Tode. – Wie der Seekranke vom Schiff in erstem Morgengrauen nach der Küste zu späht, so sehnt man sich oft nach dem Tode – man weiss, dass man den Gang und die Richtung seines Schiffes nicht verändern kann.

23 [189]

Traurigkeit und Sinnenlust. – Warum ist der Mensch im Zustand der Trauer geneigter sich sinnlichen Vergnügungen blindlings zu überlassen? Ist es das Betäubende in ihnen, was er begehrt? Oder Bedürfniss von Emotion um jeden Preis? – Sancho Pansa sagt „wenn der Mensch sich zu sehr der Traurigkeit überlässt, wird er zum Thier".

23 [190]

Wenn Richard Wagner Beethoven zum Vortrag bringt, so versteht es sich von selber, daß Wagner's Seele durch Beethoven hindurch klingen wird und daß Tempo Dynamik Ausdeutung einzelner Phrasen Dramatisirung des Ganzen Wagnerisch und nicht Beethovenisch ist. Wer daran Ärgerniß nehmen will, dem ist es zu gönnen; Beethoven selbst aber würde gesagt haben "es ist ich und du, aber es klingt gut zusammen; so sollte es immer sein". Dagegen wenn die Kleinmeister Beethoven vortragen, so wird Beethoven etwas von der Seele der Kleinmeister annehmen – denn der Duft der Seele hängt sich sofort an die Musik und läßt sich nicht von ihr fortblasen. – Ich fürchte, Beethoven hätte keine Freude daran und sagte „das ist ich und nicht-ich, hol's der Teufel!"

23 [191]

Der Philolog ist der, welcher lesen und schreiben kann, der Dichter der, welcher nach der deutlichen Wortableitung und gemäß der Historie "diktiren" mußte, da er nicht lesen und schreiben kann. Man kann aus diesem Gegensatz des Lese-Schriftgelehrten und des Dichters viel wichtige Dinge ableiten.

23 [192]

Nicht nur in dem Verhalten des Staates, welcher straft um abzuschrecken, sondern im Verhalten jedes Einzelnen, der lobt oder tadelt, wird der Grundsatz "der Zweck heiligt das Mittel" befolgt: denn tadeln hat ebenfalls nur Sinn, als Mittel abzuschrecken und fürderhin als Motiv zu wirken; loben will antreiben, zum Nachmachen auffordern: insofern aber beides gethan wird als ob es einer geschehenen Handlung gelte, so ist die Lüge, der Schein bei allem Loben und Tadeln nicht zu vermeiden; sie sind eben das Mittel, welches vom höheren Zwecke geheiligt wird. Vorausgesetzt freilich, daß alle, sowohl die Tadelnden als die Getadelten, von der Lehre der völligen Unverantwortlichkeit und Schuldlosigkeit überzeugt sind, so wirkt der Tadel nicht mehr, es sei denn daß die Gewohnheit, namentlich die der Eitelkeit und Ehrsucht stärker bliebe als alle durch Lehren beigebrachte Überzeugungen.

23 [193]

Ach, wenn die Mittelmäßigen eine Ahnung hätten, wie sicher ihre Leistungen von den Oligarchen des Geistes – welche zu jeder Zeit leben – als mittelmäßig empfunden werden! Nicht der größte Erfolg bei der Masse würde sie trösten.

23 [194]

Motto:

Tanz der Gedanken, es führt

eine der Grazien dich:

o wie weidest den Sinn du mir! –

Weh! Was seh' ich! Es fällt

Larve und Schleier der Führerin

und voran dem Reigen

schreitet die grause Nothwendigkeit.

Rosenlauibad

Juni 1877

August 1877

23 [195]

Und wenn der Urheber dieses Buches sich fragt, zu wessen Vortheil er seine Aufzeichnungen gemacht zu haben wünscht, so ist er unbescheiden genug, geradezu denjenigen Denker zu nennen, welcher als Verfasser jener Schrift über den Ursprung der moralischen Empfindungen ein Besitzrecht auf die angrenzenden Gebiete seines wissenschaftlichen Bezirks sich erworben hat und der seinen Untersuchungen jenen entscheidenden auch dieses Buch beherrschen<den> Gedanken vorangestellt hat. Dieser Satz, hart und schneidig gemacht unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniß, kann vielleicht einmal als die Axt dienen, welche dem "metaphysischen Bedürfnisse der Menschen" an die Wurzel gelegt werden soll: und in sofern würde er zu den folgenreichsten Sätzen der menschlichen Erkenntniß gehören.

23 [196]

Reisebuch

unterwegs zu lesen.

Vorrede, – – –

Menschen, welche sehr viel innerhalb eines bestimmten Berufes arbeiten, behalten ihre allgemeinen Ansichten über die Dinge der Welt fast unverändert bei: diese werden in ihren Köpfen immer härter, immer tyrannischer. Deshalb sind jene Zeiten, in welchen der Mensch genöthigt ist seine Arbeit zu verlassen, so wichtig, weil da erst neue Begriffe und Empfindungen sich wieder einmal herandrängen dürfen, und seine Kraft nicht schon durch die täglichen Ansprüche von Pflicht und Gewohnheit verbraucht ist. Wir modernen Menschen müssen alle viel unserer geistigen Gesundheit wegen reisen: und man wird immer mehr reisen, je mehr gearbeitet wird. An den Reisenden haben sich also die zu wenden, welche an der Veränderung der allgemeinen Ansichten arbeiten.

Aus dieser bestimmten Rücksicht ergiebt sich aber eine bestimmte Form der Mittheilung: denn dem beflügelten und unruhigen Wesen der Reise widerstreben jene lang gesponnenen Gedankensysteme, welche nur der geduldigsten Aufmerksamkeit sich zugänglich zeigen und wochenlange Stille, abgezogenste Einsamkeit fordern. Es müssen Bücher sein, welche man nicht durchliest, aber häufig aufschlägt: an irgend einem Satze bleibt man heute, an einem anderen morgen hängen und denkt einmal wieder aus Herzensgrunde nach: für und wider, hinein und drüber hinaus, wie einen der Geist treibt, so dass es einem dabei jedesmal heiter und wohl im Kopfe wird. Allmählich entsteht aus dem solchermaassen angeregten – ächten, weil nicht erzwungenen – Nachdenken eine gewisse allgemeine Umstimmung der Ansichten: und mit ihr jenes allgemeine Gefühl der geistigen Erholung, als ob der Bogen wieder mit neuer Sehne bespannt und stärker als je angezogen sei. Man hat mit Nutzen gereist.

Wenn nun, nach solchen Vorbemerkungen und Angesichts dieses Buches, noch eine wesentliche Frage übrig bleibt, so bin ich es nicht, der sie beantworten kann. Die Vorrede ist des Autors Recht; des Lesers aber – die Nachrede.

Friedrich Nietzsche

Rosenlaui-Bad, am 26. Juli

Sommersonnenwende 1877

(Mittsommerwende?)

23 [197]

1 Sylvesternacht: das Klanggespenst meines Ohrs selbst entweicht

Kalt – die Sterne funkeln

O du

Hohnvolle Larve des Weltalls

– alte und neue Zeit – vor Neujahr.

2 der Springbrunnen im Mondschein

schön gelangweilt boshaft

will kalt übergießen

3 Morgens auf dem Schiff. Wohin? wir wagen nicht den Tod

  1. Der Blinde am Wege. Die Seele giebt keinen Schein
  2. Ecce homunculus – Glockenspiel
  3. Alpa Alpa

7 Campo Santo

8 Bergkrystall

 

[Dokument: Mappe loser Blätter]

[Herbst 1877]

24 [1]

Zur Kunstlehre.

1 Die wirklichen und angeblichen Leiden des Genius

2 Die Güte eines Kunstwerks bewiesen, wenn es ergreift?

3 Ehemals der Ernst im Ausspinnen von Formen und Symbolen; jetzt in anderem

4 Ablehnung der Inspiration; die wählende Urtheilskraft

5 Drastiker, nicht Dramatiker

6 Anstauung der produktiven Kraft: Erklärung der Improvisation

7 das Unvollständige verwendet

8 der denkende Geist der Musiker frisch, aber unausgebildet.

9 schwächere Moralität der Künstler in Hinsicht des Erkennens der Wahrheit

10 die Kunst conservirt, verknüpft frühere und jetzige Anschauungen

11 Künstler dürfen den Fortschritt leugnen.

12 die seelenvolle Musik im wiederhergestellten Katholicismus

13 wie konnte Shakespeare zu so charakteristischen Reden aller Figuren ohne Wunder?

14 unsere Eitelkeit fördert den Cultus des Genius und der Inspiration

15 der Ehrgeiz beschwingt die griechischen Künstler

16 schlechte Schriftsteller immer nöthig – Bedürfniß des unreifen Alters

17 die Kunst geht von der natürlichen Unwissenheit über den Menschen aus, sie ist nicht für Physiker und Philosophen. Die "Charaktere" nicht geschaffen

18 die Kunst übernimmt die durch die Religion erhöhten Gefühle.

19 die Kunst immer seelenvoller, falscher Schluß auf ältere Kunst

20 die Dichter verherrlichen das dem Künstler Interessante z. B. Cervantes.

21 Werth der nicht fertig gewordenen Gedanken.

22 die Kunst, an Auge und Ohr angeknüpft, hat nichts mit dem Wesen der Dinge zu thun

23 das Verschwinden guter Manieren und die Aussicht

24 die Kunst zieht den Künstler zu älteren Anschauungen zurück.

25 die Musik ist als Erbin der Poesie so bedeutungsvoll, symbolisch

26 Überschätzung der Improvisation

27 die Kirche bereitet alle Stimmungen der Kunst vor.

28 die Künstler als Advokaten der Leidenschaften

29 leidenschaftliche Völker haben Lust an der Kunst der Leidenschaft.

30 das Hervorstechende Große überschätzt

31 Häuser für Götter – sonst Architektur in der Wiege: also der Irrthum

32 Um in der Kunst erfahren zu werden, soll man produziren

33 Plato hat Recht mit der unmoralischen Wirkung der Tragödie

34 Schopenhauer als Denker über die Leidenschaften

35 der Genieschauder vor sich. Das Stück Wahnsinn im Genie

36 die edelste Art der Schönheit

37 Musik als Austönen einer Cultur. Wagner

38 die Alten heben langsam das Gefühl, die Neueren versuchen einen überfall

39 die originellen Künstler können ganz leeres Zeug machen

40 vielleicht steht man bald zur Kunst im Verhältniß der Erinnerung

41 Ursprung der Kunst

42 unter metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst höheren Werth

43 Freude am Unsinn

24 [2]

Einleitung: Rückschluß von Wirkung auf Ursache.

I oder IV der Ursprung der Kunst 7 15 19 21 25 41 43 der ästhetische Zustand – Schweigen des Willens falsch. Da sind wir kalt.

III der Künstler als Genius 1 4 6 13 14 26 30 35 39

IV oder I Schätzung der Kunst 2 17 16 22 29 36 37 42

V Nachtheilige Folgen der Kunst 5 9 10 20 24 28 33

VI die Zukunft der Kunst 3 8 11 23 32 38 40 34

II Anlehnung an die Religion 12 18 27 31 dazu „über die Musik"

zu III: der Glaube an den Genius fälscht die Vorstellung von der Entstehung des Kunstwerks 4 6 13 26, vom Leben des Künstlers, auch beim Künstler selbst 1 35

Erklärung des Glaubens. Alles Große überschätzt. 30

unsere Eitelkeit 14

begotteter Menschen survival.

Unterschied der „Originellen" doch nur relativ 39

Unterschied zwischen sachlich und unsachlich, das künstlerische Genie ist unsachlich, es will eine wirkungsvolle Gestalt der Welt – "intuitive Erkenntniß" die Welt in seinem Kopfe objektiver, reiner, deutlicher.

24 [3]

Freundschaft. Weib und Kind. Erziehung. Erleichterung des Lebens. Der Fortschritt. Der Schriftsteller. Tod. Gesellschaft. Gedanken des Unmuths.

Manieren. Gesundheit.

Kunstgriffe. Erfahrung. Denker. Nothwendigkeit. Über seine Zeit. Jugend. Krieg. Strafe. Interessant. Reinlichkeit. Rache. Duell. Feste. Freigeist, unangenehmer Charakter. Einzelne Affekte und Zustände. Moral. Religion. Wissenschaft. Philosophie. Schriftsteller. Kunst. Staat und Societät. Entstehung der Cultur. Erleichterung des Lebens. Gedanken des einsamen Unmuths. Beruf. Gesellschaft. Freundschaft. Weib und Kind. Fragen der Erziehung.

Lob. Mehr Fordern. Treue. Gerechtigkeit. Bescheidenheit. Haß. Furcht. Ehrgeiz. Liebe. Leidenschaft. Roheit. Glück Unglück. Unhöflich. Eitelkeit. Argwohn. Scham. Rechtlichkeit. Verbrecher. Verachtung. Geist. Halbwisser. Muth. Reden. Langeweile. Bosheit. Gefahr. Größe. Tod. Trost. Faulheit. Verstellung. Humanität. Allgemeiner Fortschritt.

Unredlichkeit. Entartung. Hoffnung. Neid. Corruption. Polemik. Arbeit. Dankbarkeit. Tiefe Menschen. Meister. Anmaaßung. Fleiß. Tugend. Böser Wille. Schüler. Diplomaten. Tadel. Resignation. Schmeichelei. Talent. Ruf. Verdienst. Lachen. Vornehmheit. Sich Versagen. Partei. Gedächtniß. Gewöhnung. Vertrauen. Jugend. Augenblick. Adel. Macht.

24 [4]

1 Überzeugung und Wahrheit (Glaube Berge versetzen) (Treue)

2 Verantwortlichkeit.

3 Gerechtigkeit. (Lob und Tadel privat.)

4 Mysterien (Ehe – Königthum, Zukunft) Scham

5 Cultur-Biegsamkeit. Melancholie

6 Ursprung der Moralität. Herkommen. Gewohnheit. Wohlwollen. Verkehr mit Menschen.

7 Ascese und Heiligkeit.

8 Sündenbewusstsein.

24 [5]

Metaphys<ik>

Politik Presse Partei Gesellschaft

Erziehung Schule Unterricht

Cultur

Moral

Musik

Jünglinge

Umgebung Verkehr

Autor

Kunst. Genie.

24 [6] Die politische Krankheit einer Nation ist gewöhnlich die Ursache ihrer geistigen Verjüngung und Macht.

24 [7]

Die Eltern sind nicht, wie der metaphysische Philosoph will, die Gelegen<heits->Urs<achen> der Kinder – vielmehr sind die Kinder die Gelegenheitswirkungen der Eltern; diese wollen im Grunde Lust und gelegentlich kommen sie dabei zu Kindern.

24 [8]

Damit Held – Drache.

24 [9] Alle kleinen Dichter glauben, der gesunde Menschenverstand sei wohlfeil, und sie hätten ihn, sobald sie ihn nur haben wollten. – Und sie ahnen nicht, daß sie ebendeshalb kleine Dichter bleiben müssen, weil sie ihn nie haben werden.

24 [10]

Epilog. – Ich grüße euch Alle, meine Leser, die ihr nicht absichtlich mit falschen und schiefen Augen in dies Buch seht, ihr, die ihr mehr an ihm zu erkennen vermögt als eine Narrenhütte, in welcher ein Zerr- und Fratzenbild geistiger Freiheit zur Anbetung aufgehängt ist. Ihr wißt, was ich gab und wie ich gab; was ich konnte und wie viel mehr ich wollte – nämlich ein elektrisches Band über ein Jahrhundert hin zu spannen, aus einem Sterbezimmer heraus bis in die Geburtskammer neuer Freiheiten des Geistes. Mögt ihr nun für alles Gute und Schlimme, was ich sagte und that, eine schöne Wiedervergeltung üben! Es sind solche unter euch, welche Kleines mit Grossem und Gewolltes mit Gekonntem vergelten sollten: – mit welcher Empfindung ich an Jeden von diesen denke, soll hier am Ende des Buches als rhythmischer Gruß ausgesprochen werden:

Seit dies Buch mir erwuchs, quält Sehnsucht mich und Beschämung,

Bis solch Gewächs dir einst reicher und schöner erblüht.

Jetzt schon kost' ich des Glücks, dass ich dem Größeren nachgeh',

Wenn er des goldnen Ertrags eigener Ernten sich freut.

 

 

[Dokument: Mappe loser Blätter]

[Herbst 1877]

25 [1]

Socialismus.

Erstens: Man täuscht sich als Zuschauer über die Leiden und Entbehrungen der niederen Schichten des Volkes, weil man unwillkürlich nach dem Maasse der eigenen Empfindung misst, wie als ob man selber mit seinem höchst reizbaren und leidensfähigen Gehirn in die Lage jener versetzt werde. In Wahrheit nehmen die Leiden und Entbehrungen mit dem Wachsthume der Cultur des Individuums zu; die niederen Schichten sind die stumpfesten; ihre Lage verbessern heisst: sie leidensfähiger machen.

Zweitens: Fasst man nicht das Wohlbefinden des Einzelnen in's Auge, sondern die Ziele der Menschheit, so fragt es sich sehr, ob in jenen geordneten Zuständen, welche der Socialismus fordert, ähnliche grosse Resultate der Menschheit sich ergeben können, wie die ungeordneten Zustände der Vergangenheit sie ergeben haben. Wahrscheinlich wächst der grosse Mensch und das grosse Werk nur in der Freiheit der Wildniss auf. Andere Ziele als grosse Menschen und grosse Werke hat die Menschheit nicht.

Drittens: Weil sehr viele harte und grobe Arbeit gethan werden muss, so müssen auch Menschen erhalten werden, welche sich derselben unterziehen, so weit nämlich Maschinen diese Arbeit nicht ersparen können. Dringt in die Arbeiterclasse das Bedürfniss und die Verfeinerung höherer Bildung, so kann sie jene Arbeit nicht mehr thun, ohne unverhältnissmässig sehr zu leiden. Ein soweit entwickelter Arbeiter strebt nach Musse und verlangt nicht Erleichterung der Arbeit, sondern Befreiung von derselben, das heisst: er will sie jemand Anderem aufbürden. Man könnte vielleicht an eine Befriedigung seiner Wünsche und an eine massenhafte Einführung barbarischer Völkerschaften aus Asien und Africa denken, so dass die civilisirte Welt fortwährend die uncivilisirte Welt sich dienstbar machte, und auf diese Weise Nicht-Cultur geradezu als Verpflichtung zum Frohndienste betrachtet würde. In der That ist in den Staaten Europa's die Cultur des Arbeiters und des Arbeitgebers oft so nahegerückt, dass die noch längere Zumuthung aufreibender mechanischer Arbeit das Gefühl der Empörung hervorruft.

Viertens: Hat man begriffen, wie der Sinn der Billigkeit und Gerechtigkeit entstanden ist, so muss man den Socialisten widersprechen, wenn sie die Gerechtigkeit zu ihrem Princip machen. Im Naturzustande gilt der Satz nicht: „was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig", sondern da entscheidet die Macht. Insofern die Socialisten den völligen Umsturz der Gesellschaft wollen, appelliren sie an die Macht. Erst wenn die Vertreter der Zukunftsordnung denen der alten Ordnungen im Kampfe gegenüberstehen und beide Mächte sich gleich oder ähnlich stark finden, dann sind Verträge möglich, und auf Grund der Verträge entsteht nachher eine Gerechtigkeit. – Menschenrechte giebt es nicht.

Fünftens: Wenn ein niedriger Arbeiter zu dem reichen Fabrikanten sagt: „Sie verdienen Ihr Glück nicht", so hat er recht, aber seine Folgerungen daraus sind falsch: Niemand verdient sein Glück, Niemand sein Unglück.

Sechstens: Nicht durch Veränderung der Institutionen wird das Glück auf der Erde vermehrt, sondern dadurch, dass man das finstere, schwächliche, grüblerische, gallichte Temperament aussterben macht. Die äussere Lage thut wenig hinzu oder hinweg. Insofern die Socialisten meistens jene übele Art von Temperament haben, verringern sie unter allen Umständen das Glück auf der Erde, selbst wenn es ihnen gelingen sollte, neue Ordnungen zu stiften.

Siebentens: Nur innerhalb des Herkommens, der festen Sitte, der Beschränkung giebt es Wohlbehagen auf der Welt; die Socialisten sind mit allen Mächten verbündet, welche das Herkommen, die Sitte, die Beschränkung zerstören; neue constitutive Fähigkeiten sind bei ihnen noch nicht sichtbar geworden.

Achtens: Das Beste, was der Socialismus mit sich bringt, ist die Erregung, die er den weitesten Kreisen mittheilt: er unterhält die Menschen und bringt in die niedersten Schichten eine Art von praktisch-philosophischem Gespräch. Insofern ist er eine Kraftquelle des Geistes.

25 [2]

Vorrede.

Wenn es schon dem Autor begegnet, dass er, vor sein eigenes Buch hingestellt, demselben mit Befremdung in's Gesicht sieht und ihm die Frage über die Lippen läuft: bin ich's? bin ich's nicht? – um wie viel mehr müssen die Leser seiner früheren Schriften eine solche Empfindung haben, zumal wenn sie den Autor derselben nicht persönlich kennen und er ihnen nur als Geist und Charakter jener Schriften vor der Seele steht. Diesen Lesern, den mir allezeit gegenwärtigen, treuen, unerschrockenen Anspornern und Vertheidigern meines höhern Selbst – bin ich demnach eine Erklärung schuldig, nicht darüber was das Buch ist, sondern was es für sie, für mich bedeutet: die selbe Erklärung, welche ich mir gebe, wenn ich, wie gesagt, mitunter dem eigenen Kinde mit Verwunderung in die Augen sehe und es bald ein wenig unheimlich, bald allzu harmlos finde.

Jeder von uns, den ausgeprägteren Menschen dieses Zeitalters, trägt jene innere freigeisterische Erregtheit mit sich herum, welche in einem, allen früheren Zeiten unzugänglichen Grade uns gegen den leisesten Druck irgend einer Autorität empfindlich und widerspänstig macht. Es ist ein Zufall, dass Keiner von uns bis jetzt ganz und gar zum Typus des Freigeistes der Gegenwart geworden ist, während wir den Ansatz zu ihm und den gleichsam vorgezeichneten Abriss seines Wesens wie mit Augen an uns Allen wahrnehmen. Während nun der Verfasser dieses Buches seit geraumer Zeit jenen grossen typischen Menschen nachspürte, welche aus diesem Zeitalter heraus und über dasselbe hinauswachsen, um einmal die Stützen einer zukünftigen Cultur zu sein, entgieng ihm jener Mangel eines wesentlichen Typus nicht; er suchte sich dadurch zu helfen, dass er das Bild des Freigeistes der Gegenwart nach jenen inneren Fingerzeigen zu sehen und allmählich zu malen versuchte. Indem er auf die Stunden sorgsam Acht gab, in welchen jener Geist aus ihm redete, indem er das Gesetz der Stunden, den inneren Zusammenhang jener Geisterreden fand, wurde ihm aus einem Geiste eine Person, aus einer Person beinahe eine Gestalt. Zuletzt gewann er es nicht mehr über sich, dieselbe, als den Typus des Freigeistes der Gegenwart, öffentlich nur zu malen; das Verwegenere gefiel ihm, den Geist reden zu lassen, ja ihm ein Buch unterzuschieben. Möge der Hörer dieser Reden mit Vertrauen seine Nähe fühlen, möge er empfinden, wie jene fast nervöse freigeisterische Erregbarkeit, jener Widerwille gegen die letzten Reste von Zwang und anbefohlener Mässigung an eine gefestete, milde und fast frohsinnige Seele angeknüpft ist, bei der Niemand nöthig hat, gegen Tücken und plötzliche Ausbrüche auf der Hut zu sein! Namentlich fehlt diesem freien Gesellen der knurrende Ton und die Verbissenheit, die Eigenschaften alter Hunde und Menschen, welche lange an der Kette gelegen haben; der moderne Freigeist ist nicht wie seine Vorfahren aus dem Kampfe geboren, vielmehr aus dem Frieden der Auflösung, in welche er alle geistigen Mächte der alten gebundenen Welt eingegangen sieht. Nachdem dieser grösste Umschwung in der Geschichte eingetreten ist, kann seine Seele ohne Neid und fast bedürfnisslos sein, er erstrebt für sich nicht Vieles, nicht viel mehr; ihm genügt als der wünschenswertheste Zustand jenes freie furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge. Die Freude an diesem Zustande theilt er gerne mit; wer mehr von ihm will, den weist er, ein wenig Spott auf der Lippe, mit wohlwollendem Kopfschütteln, hin zu seinem Bruder, dem freien Menschen der That: mit dessen "Freiheit" es freilich eine eigene Bewandtniss hat, über welche manche Geschichte zu erzählen wäre. –

Nachdem solchermaassen der Autor – fast hätte ich gesagt: der Dichter – den Prolog zu Gunsten seines Stückes und Helden gesprochen, mag Dieser selbst auftreten und sein monologisches Spiel beginnen. Ob Trauerspiel? Ob Komödie, ob Tragikomödie? Vielleicht fehlt das Wort, welches hier zur Bezeichnung völlig ausreichte: so möge ein Vers uns zu Hülfe kommen und den Zuhörer vorbereiten:

Spiel der Gedanken, es führt

eine der Grazien dich:

O wie weidest den Sinn du mir! –

Weh! Was seh' ich? Es fällt

Larve und Schleier der Führerin,

und voran dem Reigen

schreitet die grause Nothwendigkeit.

25 [3]

I Philosophie der Cultur.

II Zur Geschichte der moralischen Empfindungen.

III Das religiöse Leben.

IV Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller.

V Von den ersten und letzten Dingen.

VI Der Mensch im Verkehr.

VII Weib und Kind.

VIII Ein Blick auf den Staat.

IX Der Mensch mit sich allein.

 

[Dokument: Druckmanuskripte]

[Winter 1877-78]

26 [1]

Verkleinerungssucht als nützlich. Nicht wenige Menschen haben, um ihre Selbstachtung und eine gewisse Tüchtigkeit im Handeln aufrecht zu erhalten, durchaus nöthig, alle ihnen bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu verkleinern. Indem wir alle den Vortheil jener Tüchtigkeit haben, müssen wir das nothwendige Werkzeug dazu, den Neid und die Verkleinerungssucht, wohl oder übel gutheissen.

 

[Dokument: Notizbücher]

[Frühling – Sommer 1878]

27 [1]

Hesiod's Kunst mittel der Fabula.

Museninspiration, der Prozeß.

27 [2]

Über ganz leere Ereignisse wie das Attentat, wird Lärm gemacht. Die Presse ist der permanente falsche Lärm.

27 [3]

Ich sagte als Student „Wagner ist Romantik, nicht Kunst der Mitte und Fülle, sondern des letzten Viertels: bald wird es Nacht sein." Mit dieser Einsicht war ich W<agnerianer>, ich konnte nicht anders, aber ich kannte es besser.

27 [4]

Der starke freie Mensch ist Nicht-Künstler. (Gegen Wagner.)

27 [5]

Ob Wagner im Stande ist, über sich selbst Zeugniß abzulegen??

27 [6]

Die Energie der griechischen Musik im Unisono-Gesang. Ihre feinere Entwicklung in Ton und Rhythmus – wodurch Harmonie uns schadet.

27 [7]

8 Puncte, über die ich mich zu entscheiden habe.

27 [8]

Zur überhandnehmen<den> Frömmigkeit: Treitschke und die Franzosen auch: "Gott müssen alle Dinge zum besten dienen".

27 [9]

Leidenschaften – Schluss: Überzeugung.

Letztes Stück: Allein mit sich selbst. Anfang: Und so vorwärts, auf der Weisheit. Schluss davon: Genua.

27 [10]

Von den Leidenschaften.

Religion.

Im Verkehre.

Weib und Kind.

Künstler und Schriftsteller.

Zukunft der Bildung. (Phase isoliren)

Der Mensch mit sich allein.

27 [11]

Wir stehen der Musik zu nahe, wir deuten nur hin, spätere Zeiten werden unsere Schriften über Musik gar nicht verstehen.

27 [12]

Ich weiss es, dass die Unabhängigkeit des Denkens auf der Erde vermehrt ist und dass wer gegen mich sich erklärt – v. Emerson Goethe p. 9.

27 [13]

Was ist Frivolität? Ich verstehe sie nicht. Und doch ist Wagner im Widerspruch zu ihr erwachsen.

27 [14]

Der Tadel eines Werks mit grossem Genuss verbunden.

Überdiess mit Nutzen (selten für den Urheber), weil er die Bewunderer nöthigt, sich Gründe zugeben.

27 [15]

Lebendige Steinform die Holzform nachahmend – als Gleichniss für Rede- und Schreibstil (Lesestil).

Die assyrischen Säulen mit den Voluten des ionischen Capitells – nach den Abbildungen.

Die aegyptische Säule proto dorisch.

Thron von Amyklä und des Zeus in Olympia in Thiere aufgelöst – assyrisch.

Behandlung des Haares in der älteren griechischen Kunst ist assyrisch.

Trefflich wo die Ceremonie aufhört, wie man sich gehen lassen darf.

Thierbildung bei den Assyrern.

Gegensatz der Handhabung der riesigen Massen und Roheit des Materials bei den Cyclopenbauten.

"Aesthetisch zu uns sprechen" können.

Widerwillen gegen Runde und Wölbung.

Alt-Gr<iechenland> voll Wälder – die Halle uralt um die Oblonge, ist das prius.

27 [16]

– – – wie in der grössten Stadt am allerungestörtesten, so vor der ganzen Publicität unsere Freundesunterhaltung: es hört uns niemand zu, der nur anfängt zu lauschen. – Aber wir sind recht wenige.

27 [17]

Menschen die vergebens versuchen, aus sich ein Princip zu machen (wie Wagner).

27 [18]

Die Dramatiker entlehnen – ihr Hauptvermögen – künstlerische Gedanken aus dem Epos (Wagner auch noch aus der klassischen Musik).

27 [19]

Dramatiker sind constructive Genies, nicht auffindende und originale wie die Epiker.

Drama steht tiefer als Epos – roheres Publikum – democratisch.

27 [20]

Ich freue mich, dass die Natur nicht romantisch ist: die Unwahrheit ist allein menschlich: sich so weit als möglich von ihr lösen heisst erkennen, den Menschen in die Natur und ihre Wahrheit zurückübersetzen. Was liegt mir da an der Kunst! – Aber kräftige Luft, Schutz vor der Sonne und der Nässe, Abwesenheit der Menschen – das ist meine Natur.

27 [21]

Ich sehe die Leidenden, die in die Höhenluft des Engadin sich begeben. Auch ich sende die Patienten in meine Höhenluft – welcher Art ist ihre Krankheit?

27 [22]

Der Wanderer an die Freunde

von F. N.

27 [23]

Die Liebe für Wagner's Kunst in Bausch und Bogen ist genau so ungerecht als die Abneigung in Bausch und Bogen.

27 [24]

Seiner Musik fehlt, was seinen Schriften fehlt – Dialectik. Dagegen Kunst der Amplification sehr gross.

Seine Werke erscheinen wie gehäufte Massen grosser Einfälle; man wünscht einen grösseren Künstler herbei, sie zu behandeln.

Immer auf den extremsten Ausdruck bedacht – bei jedem Wort; aber das Superlativische schwächt ab.

Eifersucht gegen alle Perioden des Maasses: er verdächtigt die Schönheit, die Grazie, er spricht dem "Deutschen" nur seine Tugenden zu und versteht auch alle seine Mängel darunter.

27 [25]

Es ist wirklich die Kunst der Gegenwart: ein ästhetischeres Zeitalter würde sie ablehnen. Feinere Menschen lehnen sie auch jetzt ab. Vergröberung alles Ästhetischen. – Gegen Goethe's Ideal gehalten, tief zurückstehend. Der moralische Contrast dieser hingebenden glühend-treuen Naturen Wagner's wirkt als Stachel, als Reizmittel: selbst diese Empfindung ist zur Wirkung benutzt.

27 [26]

Ich nannte "sittlichste Musik" die Stelle, wo es am ekstatischsten zugeht. Charakteristisch!

27 [27]

Wagner gegen die Klugen, die Kalten, die Zufriednen – hier seine Grösse – unzeitgemäss – gegen die Frivolen und Eleganten, – aber auch gegen die Gerechten, Mässigen, an der Welt Sich-freuenden (wie Goethe), gegen die Milden, Anmuthigen, wissenschaftlichen Menschen – hier seine Kehrseite.

27 [28]

Epische Motive für die innere Phantasie: viele Scenen wirken viel schwächer in der Versinnlichung (der Riesenwurm und Wotan).

27 [29]

Wagner kann mit seiner Musik nicht erzählen, nicht beweisen, sondern überfallen, umwerfen, quälen, spannen, entsetzen – was seiner Ausbildung fehlt, hat er in sein Princip genommen. Die Stimmung ersetzt die Composition: er geht zu direkt zu Wege.

27 [30]

An unkünstlerische Menschen sich wendend, mit allen Hülfsmitteln soll gewirkt werden, nicht auf Kunstwirkung, sondern auf Nervenwirkung ganz allgemein ist es abgesehen.

27 [31]

Nach einem Thema ist Wagner immer in Verlegenheit, wie weiter. Deshalb lange Vorbereitung – Spannung. Eigene Verschlagenheit, seine Schwächen als Tugenden umzudeuten. So das Improvisatorische.

27 [32]

Was aus unserer Zeit drückt Wagner aus? Das Nebeneinander von Roheit und zartester Schwäche, Naturtrieb-Verwilderung und nervöser Über-Empfindsamkeit, Sucht nach Emotion aus Ermüdung und Lust an der Ermüdung. – Dies verstehen die Wagnerianer.

27 [33]

Ich vergleiche mit Wagner's Musik, die als Rede wirken will, die Relief-Sculptur, die als Malerei wirken will. Die höchsten Stilgesetze sind verletzt, das Edelste kann nicht mehr erreicht werden.

27 [34]

Das grösste Pathos erreichte ich, als ich den Schopenhauerschen Menschen entwarf: den zerstörenden Genius, gegen alles Werdende.

Als Gegenbedürfniss brauchte ich den aufbauenden metaphysischen Künstler, der einen schön träumen macht in solchem unheimlichen Tagewerk.

Unzufriedenheit am tragischen Denken gesteigert.

Gegenmittel: pessimistische Kritik des Denkens und der Lust am Denken. Kritik des Genius.

1. Phase: Strauss. Unbefriedigung. Dagegen Lust am Kampf.

2. Phase: Versuch die Augen zu schliessen gegen die Erkenntniss der Historie.

3. Phase: Lust der Zerstörung.

4. Phase: Lust der Betäubung.

27 [35]

Rhythmus nicht von Tanz aus in die Poesie der Griechen gekommen. Der Tanz und die Poesie unabhängig. Also: muss Musik und Tanz lange Zeit unabhängig gewesen sein.

27 [36]

Mächtige schwarze Tannen gegen Berge und Frühlingsgrün sich abhebend – Sonne auf langen baumlosen Streifen im Walde am Abend – man erwartet den heitersten Tanz.

27 [37]

Mein Irrthum über Wagner ist nicht einmal individuell, sehr Viele sagten, mein Bild sei das richtige. Es gehört zu den mächtigen Wirkungen solcher Naturen, den Maler zu täuschen. Aber gegen die Gerechtigkeit vergeht man sich ebenso durch Gunst als durch Abgunst.

27 [38]

Bei Wagner ehrgeizigste Combination aller Mittel zur stärksten Wirkung: während die älteren Musiker still die einzelnen Arten fortbildeten.

27 [39]

Formbild<ende> Macht des Militärs übersehen.

27 [40]

Wenn die Natur nicht von euch zur Komödie gemacht worden wäre, so würdet ihr nicht an Gott glauben – das theatralische Maschinenwesen, die Coulissen und Überraschungen – – –

27 [41]

Das psychologische Gesetz in der Entwicklung der Leidenschaft (Handlung Rede Gebärde) und der musikalischen Symphonie decken sich nicht: die Wagnerische Behauptung kann als widerlegt gelten, durch seine Kunst. – Alles Grosse ist da, wo die Musik dominirt, oder dort, wo die Dramatik dominirt – also nicht im Parallelismus.

27 [42]

Mir schien es nach dem Kriege dass Macht Pflicht sei und eine Verschuldung in sich enthalte.

Ich sah in Wagner den Gegner der Zeit, auch in dem, wo diese Zeit Größe hat und wo ich selber in mir Kraft fühlte.

Eine Kaltwasserkur schien mir nöthig. Ich knüpfte an die Verdächtigung des Menschen an, an seine Verächtlichkeit, die ich früher benützte, um mich in jenen übermüthigen metaphysischen Traum zu heben. Ich kannte den Menschen gut genug, aber ich hatte ihn falsch gemessen und beurtheilt: der Grund zum Verwerfen fehlte.

27 [43]

Der lebendige Schopenhauer hat mit den Metaphysikern nichts zu thun. Er ist Voltairianer im Wesentlichen, das 4. <Buch> ihm fremd.

27 [44]

Mein Gemälde Wagner's ging über ihn hinaus, ich hatte ein ideales Monstrum geschildert, welches aber vielleicht im Stande ist, Künstler zu entzünden. Der wirkliche Wagner, das wirkliche Bayreuth war mir wie der schlechte allerletzte Abzug eines Kupferstichs auf geringem Papier. Mein Bedürfniß, wirkliche Menschen und deren Motive zu sehen, war durch diese beschämende Erfahrung ungemein angereizt.

27 [45]

Wagner erinnert an die Lava, die ihren eigenen Lauf durch Erstarrung hindert und plötzlich sich durch Blöcke gehemmt fühlt, die sie selbst bildet. Kein Allegro con fuoco bei ihm.

27 [46]

Anmuth und Innigkeit gesellt sind auch deutsch.

27 [47]

Seine Seele singt nicht, sie spricht, aber so wie die höchste Leidenschaft spricht. Natürlich ist bei ihm der Ton Rhythmus Gebärdenfall der Rede; die Musik ist dagegen nie ganz natürlich, eine Art erlernter Sprache mit mässigem Vorrath von Worten und einer anderen Syntax.

27 [48]

Aber hinterdrein wurde mir der Blick für die tausend Quellen in der Wüste geöffnet.

Jene Periode sehr nützlich gegen eine vorzeitige Altklugheit.

27 [49]

Jetzt tagte mir das Alterthum und Goethes Einsicht der grossen Kunst: und jetzt erst konnte ich den schlichten Blick für das wirkliche Menschenleben gewinnen: ich hatte die Gegenmittel dazu, dass kein vergiftender Pessimismus draus wurde. Schopenhauer wurde "historisch", nicht als Menschenkenner.

27 [50]

Armut an Melodie und in der Melodie bei Wagner. Die Melodie ist ein Ganzes mit vielen schönen Proportionen. Spiegelbild der geordneten Seele. Er strebt darnach: hat er eine Melodie, so erdrückt er sie fast in seiner Umarmung.

27 [51]

Unsere Jugend empörte sich gegen die Nüchternheit der Zeit. Sie warf sich auf den Cultus des Excesses, der Leidenschaft, der Ekstase, der schwärzesten herbsten Auffassung der Welt.

27 [52]

Wagner kämpft gegen die „Frivolität" in sich, zu der ihm, dem Unvornehmen (gegen Goethe), die Freude an der Welt wurde. V<ide> v<orher>

27 [53]

Wagner ahmt sich vielfach selber nach – Manier. Deshalb ist er auch am schnellsten unter Musikern nachgeahmt worden. Es ist leicht.

27 [54]

Wagner hat nicht die Kraft, den Menschen im Umgange frei und gross zu machen: er ist nicht sicher, sondern argwöhnisch und anmaassend. Seine Kunst wirkt so auf Künstler; sie ist neidisch gegen Rivalen.

27 [55]

Widerspruch der Roheit im Handeln und der Überzartheit im Empfinden.

27 [56]

Unklarheit der letzten Ziele, unantike Verschwommenheit.

27 [57]

Die Kunst der Orchester-Farben, mit feinstem Ohre den Franzosen, Berlioz, abgehört (frühzeitig).

27 [58]

Tannhäuser und Lohengrin keine gute Musik. Das Ergreifende Rührende wird aber durchaus nicht von der reinsten und höchsten Kunst am sichersten erreicht. Vergröberung.

27 [59]

Es fehlt die natürliche Vornehmheit, die Bach und Beethoven <haben>, die schöne Seele (selbst Mendelssohn) – eine Stufe tiefer.

27 [60]

Auch in der Musik giebt es eine Logik und eine Rhetorik als Stilgegensätze.

Wagner wird Rhetor, wenn er ein Thema behandelt.

27 [61]

Tiefgehendes Misstrauen gegen seine musikalische Erfindung in der Dialectik. Er maskirt auf alle Weise den Mangel.

27 [62]

Darstellung der Geburt der Tragödie – schwebende Wolkenguirlanden, weiss bei Nachthimmel, durch welche Sterne hindurchschimmern – undeutlich allzudeutlich geisterhaft erhelltes Thal.

27 [63]

Auf der Brücke – nach einer Zusammenkunft mit Freunden – Einsamkeit.

27 [64]

Auf Bergpässen wohnend.

27 [65]

Im Böhmerwald erhob ich mich über die Phase.

27 [66]

„Bildungsphilister" und historische Krankheit fiengen an mich zu beflügeln.

27 [67]

Bei Schopenhauer. Zuerst im Grossen ihn festhaltend gegen das Einzelne, später im Einzelnen gegen das Ganze.

27 [68]

Wagner's „musikalischer Euphuismus" (Liszt)

27 [69]

Rheintöchtermusik – Herbstschönheit

27 [70]

Problem: der Musiker, dem der Sinn für Rhythmus abgeht.

Hebräischer Rhythmus (Parallelismus), überreife des rhythmischen Gefühls, auf primitive Stufen zurückgreifend.

Mitte der Kunst vorüber.

27 [71]

Hätten wir die griechischen subjectiven Kräfte, welche "Originalität".

Aber keine Ausbildung im Engen, Beschränkten.

27 [72]

Entwicklung des Schmucks der Rede.

27 [73]

"Zum Lohn für die feinste innere Mässigung bekommen" Burckhardt.

27 [74]

Es giebt etwas, das im höchsten Grade das Misstrauen gegen Wagner wachruft: das ist Wagner's Misstrauen. Das wühlt so stark dass ich zweimal zweifelte ob Musiker– – –

27 [75]

Plato's Neid. Er will Sokrates für sich in Beschlag nehmen. Er durchdringt ihn mit sich, meint ihn zu verschönern, caloz Swcoathz allen Sokratikern zu entziehn, sich als fort lebenden zu bezeichnen. Aber er stellt ihn ganz unhistorisch dar, auf die gefährlichste Kante (wie Wagner es mit Beethoven und Shakespeare macht).

27 [76]

Die Griechen ohne Sünd<en>gefühl. Orest der Verbrecher ehrwürdig. Wahnsinn, kein Erlösungsbedürfniß.

27 [77]

Wagner hat in seinen Schriften nicht Grösse Ruhe sondern Anmaassung – Warum: –

27 [78]

Stelle Taine's über die Semiten. – Übrigens habe ich den Leser irregeführt: die Stelle gilt gar nicht Wagner – sollte Wagner ein Semite sein? Jetzt verstehen wir seine Abneigung gegen die Juden.

27 [79]

Ich war verliebt in die Kunst mit wahrer Leidenschaft und sah zuletzt in allem Seienden nichts als Kunst – im Alter, wo sonst vernünftigermaassen andere Leidenschaften die Seele ausfüllen.

27 [80]

Der Schopenhauersche Mensch trieb mich zur Skepsis gegen alles Verehrte Hochgehaltene, bisher Vertheidigte (auch gegen Griechen Schopenhauer Wagner) Genie Heilige – Pessimismus der Erkenntniss. Bei diesem Umweg kam ich auf die Höhe, mit den frischesten Winden. – Die Schrift über Bayreuth war nur eine Pause, ein Zurücksinken, Ausruhen. Dort ging mir die Unnöthigkeit von Bayreuth für mich auf.

27 [81]

Wer seine Zeit angreift, kann nur sich angreifen: was kann er denn sehen wenn nicht sich? So kann man in Andern auch nur sich verherrlichen. Selbstvernichtung Selbstvergötterung Selbstverachtung – das ist unser Richten Lieben Hassen.

27 [82]

Ich hatte die Lust an den Illusionen satt. Selbst in der Natur verdross es mich, einen Berg als ein Gemüths-factum zu sehen. – Endlich sah ich ein, dass auch unsre Lust an der Wahrheit auf der Lust der Illusion ruht.

27 [83]

Wagner kämpft gegen das Monumentale, aber glaubt an das allgemein Menschliche!

Stil-Tradition – hier will er monumentalisiren – wo es am wenigsten erlaubt ist – im tempo! –

27 [84]

Ich habe das Talent nicht, treu zu sein und, was schlimmer ist, nicht einmal die Eitelkeit, es zu scheinen.

27 [85]

Aller Genuss besteht darin, wie fein das Urtheils-Vermögen ist. Jede Kritik eines Meisters eröffnet uns den Zugang zu andern Meistern. Tausend Quellen in der Wüste.

27 [86]

Wozu sind Wagner's Thorheiten und Ausschweifungen, und die seiner Partei nutz? Oder sind sie nützlich zu machen? Er trägt eine lärmende Glocke durch sie mit herum. Ich wünsche ihn nicht anders.

27 [87]

Ich bin gegen die Sonderentwicklung des religiösen Gefühls, weil seine Kraft anderen Entwicklungen zu Gute kommen soll. Jetzt wird es so verzettelt – rechte Freude macht es doch nicht.

27 [88]

Freunde – wir wollen uns nicht zu Gespenstern werden. – Qual nach einer Zusammenkunft.

27 [89]

Wagner rennt der einen Verrücktheit nach, die Zeit einer andern; beide im selben Tempo, ebenso blind und unbillig.

27 [90]

Alle „Ideen" Wagner's werden sofort zur harten Manier, er wird durch sie tyrannisirt. Wie sich nur ein solcher Mann so tyrannisiren lassen kann! Z. B. durch seinen Judenhass. Er macht seine Themata wie seine "Ideen" todt durch eine wüthende Lust an der Wiederholung. Das Problem der übergrossen Breite und Länge – er plagt uns durch sein Entzücken.

27 [91]

Ich kann Glocken läuten (Schrift über Richard Wagner).

27 [92]

Alles Ausgezeichnete hat mittlere Natur. Richard Wagner ist Musik für überreife Musikperiode.

27 [93]

Beethoven hat es besser gemacht als Schiller. Bach besser als Klopstock. Mozart besser als Wieland. Wagner besser als Kleist.

27 [94]

Bei Wagner's Verwerfung der Formen fällt einem Eckermann ein: "es ist keine Kunst geistreich zu sein, wenn man vor nichts Respekt hat".

27 [95]

Freunde. – Nichts verbindet uns, aber wir haben Freude an einander, bis zu dem Grade, dass der Eine des Anderen Richtung fördert, selbst wenn sie schnurstracks der seinen entgegenläuft.

27 [96]

Musik freilich nicht monumental. Poesie viel mehr (des Gedankens wegen).

27 [97]

Ein Refrain (Sorrent) wird von uns von einer falschen Folie aus empfunden: so mit aller vergangnen Musik.

 

[Dokument: Notizbücher]

[Frühling – Sommer 1878]

Memorabilia.

28 [1]

Herbst – Schmerz – Stoppel – Pechnelken Astern. Ganz ähnlich beim angeblichen Brand des Louvre – Cultur-Herbstgefühl. Nie ein tieferer Schmerz.

28 [2]

Perennirendes Misstrauen gegen sogenannte moralische Handlungen. Der Mensch handelt wie er sich am wohlsten fühlt.

15. Ausnahmsweise trotziges selbstverachtendes Höhenluftgefühl der Moralität.

28 [3]

14. Splügen. Symbol<isches> Hin und Her der Generationen. Mitte zwischen Nord und Süd, Sommer und Winter. Die Burg im Sonnenschein zu Mittag. Wald Abend Monument<alische> Historie geschrieben.

28 [4]

13. Ich habe keinen Menschen mit Überzeugungen kennen gelernt, der mir nicht, wegen dieser Überzeugungen, bald Ironie erregt hätte.

28 [5]

Im Jahr 1877 wusste ich von der Zukunft gar nichts zu verlangen. Selbst Gesundheit nicht – denn diese ist ein Mittel – was hätte ich mit diesem Mittel erreichen wollen?

28 [6]

Windlücke. Steine als Zeugen der Vorzeit.

Krumme Hufe Mondschein Schlittschuh. "Was ich des Tags verdient auf m<einer> Leyer, das geht des Ab<end>s w<ieder> in den Wind".

Glückliche Tage des Lebens!

28 [7]

Als Kind Gott im Glanze gesehn. – Erste philosophische Schrift über die Entstehung des Teufels (Gott denkt sich selbst, dies kann er nur durch Vorstellung seines Gegensatzes). Schwermüth<iger> Nachmittag – Gottesdienst in der Capelle zu Pforta, ferne Orgeltöne.

Als Verwandter von Pfarrern früher Einblick in geistige und seelische Beschränktheit Tüchtigkeit Hochmuth Decorum.

28 [8]

Sieben Jahre – Verlust der Kindheit empfunden. Aber mit 20 Jahren bei Bonn am Einfluss der Lippe (?) mich als Kind gefühlt.

28 [9]

Dämonion – warnende Stimme des Vaters.

28 [10]

Thurm bei Sorrent auf dem Berge Hausaffe

evviva evviva il cuor di Maria

evviva il Dio que tanto l'ama.

28 [11]

Apologie des Socrates mit innerer Bewegung gelesen und erklärt. Lust an den Memorabilien, die ich besser zu verstehen glaube als die Philologen.

28 [12]

Ich irre mich instinctiv über die Intellectualität der Menschen, über ihr objectives Interesse, das ich immer dem meinen gleich setze. Ich behandle sie darin sehr vornehm.

28 [13]

Die Haushälterin der Pfarrei Einsiedel. – Zeugniss über den frühen Ernst. Christus als Knabe unter den Schriftgelehrten.

28 [14]

Spaziergang nach Gohlis als Ritschl den Philologen in mir festgestellt hatte, frühe warme Sonne im Februar. Pfannkuchen.

28 [15]

Eine Haupteigenschaft: ein verfeinerter Heroismus (den ich übrigens auch bei Epikur anerkenne). In meinem Buche giebt es kein Wort gegen Todesfurcht. Ich habe wenig davon.

28 [16]

Mein Wesen enthüllt sich – ob es sich entwickelt?

Von Kindheit an überladen mit fremdem Character und fremdem Wissen. Ich entdecke mich selbst.

28 [17]

Mitromania. – Warten auf das Erscheinen des ersten Sonnenstrahls – ihn endlich sehen und – ihn verhöhnen und sich auslöschen.

28 [18]

Wissen Erstarrung – Handeln Epilepsie unfreiwillig.

12. Wie vom Curare-Pfeil der Erkenntniss angeschossen bin ich: alles sehend.

28 [19]

Von Reisenden: Die Einen wissen aus Wenigem Viel, die Meisten aus Vielem Wenig zu machen.

II. Gesehen (bereist) werden; sehen; erleben; einleben; herausleben – fünf Stufen; wenige kommen zur obersten.

28 [20]

10. Es ist das Geheimniss aller Erfolgreichen, ihre Fehler wie Tugenden zu behandeln. So Wagner.

28 [21]

Unsere Leiden für die Anderen nützlich machen wie Staat den Tod des Verbrechers.

28 [22]

Mithras – Hoffnung

Mithraswahnsinn!

28 [23]

Verwundet hat mich der mich erweckt.

28 [24]

Grotta di Matrimonio, idyllisches Bild des unbewussten Lebens.

28 [25]

Tiberius: Wahnsinn des Handeln-Könnens. Gegenstück: Wahnsinn des Wissen-Könnens.

28 [26]

8. Man hat mich nicht beleidigt: trotzdem trenne ich mich von den Menschen. Keine Rache.

28 [27]

7. Verfeinerter Heroismus mit Augenschliessen über sich selbst, an mir bemerkt. Vielleicht schliessen Andre bei ihren Thätigkeiten die Augen.

28 [28]

Mutter – Natur – Vergangenheit – morden – Orestes – die Ehrfurcht vor dem grossen Verbrecher. Er ist geheiligt.

Cultus der Erinyen (als fruchtbar).

28 [29]

6. Kleine Kraft nöthig einen Kahn hinauszustossen. Byron Edinburger Kritik. Später die Verleumdung.

28 [30]

5. Seine Krankheit an den Pflug spannen.

28 [31]

4. Durch kein Leiden sich zum Glauben an den deruteooz plouz bringen lassen.

Leiden als Strafe und Prüfung (Zukunft) ablehnen.

28 [32]

Morgens im Winter in einem dampfenden Pferdestall.

28 [33]

3. In Sorrent hob ich die Moosschicht von 9 Jahren.

Von Todten träumen.

28 [34]

Das Leben als Fest auszudenken von Mitromanie aus.

28 [35]

Christus soll die Welt erlöst haben? Es muss ihm wohl missrathen sein.

28 [36]

Auf seine Fehler säen.

28 [37]

Faust-Problem überwunden, mit der Metaphysik.

28 [38]

Dem Einzelnen kühne Willkür des Lebens zu vindiciren. Jetzt erst!

28 [39]

Kunst der Erinnerung, Bezwingung der bösen bitteren Elemente. Kampf gegen Krankheit Verdruss Langeweile.

2. Mithras tödtet den Stier, an dem Schlange und Scorpion hängen.

28 [40]

Die antike Weltbetrachtung wieder gewinnen! Wirklich die Moira über allem, die Götter Repräsentanten wirklicher Mächte! Antik werden!

28 [41]

Ich brauche die Salbbüchsen und Medicinflaschen aller antiken Philosophen.

28 [42]

Kröten-Traum.

28 [43]

Neu-Alterthum.

28 [44]

Das Grosse zu lieben, auch wenn es uns demüthigt. – Warum sollte der Künstler nicht vor der Wahrheit knien, der Führer einer geistigen Bewegung sich beschämt vor der Gerechtigkeit niederwerfen und sagen „ich weiss es, Göttin, meine Sache ist nicht deine Sache, vergieb, aber ich kann nicht anders."

28 [45]

Wirkung meiner Schriften: dagegen sehr skeptisch. Ich sah Parteien. „Ich will warten, bis Wagner eine Schrift anerkennt, die gegen ihn gerichtet ist" sagte ich.

28 [46]

Bei Ungenügen stellt sich leicht Geist-Vergiftung ein: so bei den Zielen der Bayreuther Blätter.

28 [47]

Den höchsten Formensinn, auf der einfachsten Grundform das Complicirteste folgerichtig entwickeln – finde ich bei Chopin.

28 [48]

Bei der deutschen Musik werden moralische Factoren zu hoch angerechnet –

28 [49]

Schamloses sich Hineindrängen – das kann wirklich Mitleid sein: aber ich wünsche Mitleid mit Intellect: dem Schopenh<auerschen>, das schon intelligent sein soll, misstraue ich völlig.

28 [50]

Naturfehler des Musikers.

Biographien

28 [51]

Das Orchester in Bayreuth zu tief, schon von der Mitte aus musste man die musikalische Richtigkeit auf Treu und Glauben hinnehmen.

28 [52]

Wagner hat den Sinn der Laien, die eine Erklärung aus einer Ursache für besser halten. So die Juden: Eine Schuld, So Ein Erlöser. So vereinfacht er das Deutsche, die Cultur. Falsch, aber kräftig.

28 [53]

Liszt, der Repräsentant aller Musiker, kein Musiker: der Fürst, nicht der Staatsmann. Hundert Musiker-Seelen zusammen, aber nicht genug eigene Person, um eignen Schatten zu haben.

Wenn man eine eigene leibhafte Persönlichkeit haben will, so muss man sich nicht sträuben, auch einen Schatten zu haben.

28 [54]

Ich habe öfters das Glück gehabt, die gute Saite eines Menschen zu treffen und ganze Tage lang ihren Ton zu geniessen; andre, auf meine Empfehlung, lernten sie kennen und fanden unerträgliche eingebildete kindische Gesellen – es waren dieselben, die mich einen wahren Schatz von Seelengüte bescheidenen Muthes und Vertrauens blicken liessen.

28 [55]

„Hintersinnen" d. h. man denkt nichts anderes mehr als wie es gegangen ist und nicht hätte gehen sollen.

28 [56]

Gegen das Briefschreiben unter Freunden. Sobald man Briefe schreibt, beginnt man schon zu irren.

28 [57]

Ich habe gesagt, „man könne sehr viel über die Entstehung des Kunstwerks aus Wagner's Schriften lernen". Nämlich die tiefe Ungerechtigkeit, Selbstlust und Überschätzung, die Verachtung der Kritik usw.

28 [58]

Was mich gegen die Frauen gelegentlich ungeduldig macht, ist, dass sie das Gute ja Ausgezeichnete verleugnen und verunglimpfen, wenn es nicht auf den Namen getauft ist, welcher ihnen als der höchste gilt. Die daraus folgende elende Vergeudung von Geist, um das Gute schlecht und das Unbedeutende zu etwas Ungemeinem Vielbedeutendem zu machen.

28 [59]

Unter dem scheinheiligen Name des Mitleidens die niederträchtigsten Verleumdungen hinter dem Rücken aussprengen.

28 [60]

Unter Nußbaum wie unter Verwandten, ganz heimisch.

 

[Dokument: Notizbücher]

[Sommer 1878]

29 [1]

Was Goethe bei H. Kleist empfand, war sein Gefühl des Tragischen, von dem er sich abwandte: es war die unheilbare Seite der Natur. Er selbst war conciliant und heilbar. Das Tragische hat mit unheilbaren, die Kom<ödie> mit heilbaren Leiden zu thun.

29 [2]

Seine Fehler als Tugenden auszudeuten versteht niemand besser als Wagner. Eine tiefe Verschlagenheit seines Künstler-Sinnes zeigt sich hier. Alle Künstler haben etwas davon, die Frauen auch.

29 [3]

Man muss von einer Phase des Lebens zu scheiden verstehen, wie die Sonne mit grösstem Glanze, auch wenn man nicht wieder aufgehen will –

29 [4]

Die Wahrheit soll wie die Sonne nicht zu hell sein: sonst flüchten die Menschen in die Nacht und machen es dunkel.

29 [5]

Getränke und Luxus sind für die Gedanken-Armen, welche Empfindungen haben wollen. Deshalb entarten die Künstler so leicht.

29 [6]

Wer einen falschen Weg einschlägt, merkt es, w<ird> misstrauisch, die Kehle wird fast erdrosselt.

29 [7]

Wenn man nicht das Leben für eine gute Sache hält, die erhalten werden muss, so fehlt all unseren Bestrebungen der Wissenschaft der Sinn (der Nutzen) selbst, wozu Wahrheit?

29 [8]

Dühring, um positiv zu werden, wird unwissenschaftlich (Ethik).

29 [9]

Den grössten Unterschied macht es, ob man für das Minuten-Glück oder das Zeiten-Glück von seinem Temperamente vorgerichtet ist. Leicht verwechselt man und strebt nach falschen Zielen (in Kunst und Philosophie). Es verdirbt das Temperament und die Begabung auch.

29 [10]

Vom Standpunkt des intellectualen Gewissens zerfallen die Menschen in gute, solche welche den guten Willen haben, sich belehren zu lassen – und solche welche diesen Willen nicht haben – die bösen.

29 [11]

Ich glaubte mich Wunder wie fern vom Philosophen und gieng in Nebel und Sehnsucht vorwärts. Plötzlich –

29 [12]

Kontur-Phantom. Zu jeder Krümmung den vollendenden Kreis ziehen.

29 [13]

Wer Huldigungen annimmt ist ein Lügner oder ganz über sich blind.

29 [14]

Metaph<ysik> macht das Denken unnatürlich, unfruchtbar (es wächst nicht zusammen) endlich gedankenleer.

29 [15]

Motive einer tragischen Weltbetrachtung: der Kampf der Nichtsiegenden verherrlicht. Die Misslingenden sind in der Mehrzahl. Das Schreckliche erschüttert stärker. Lust an der Paradoxie, die Nacht dem Tage, den Tod dem Leben vorzuziehen.

Trag<ödie> und Kom<ödie> geben eine Carikatur des Lebens, nicht ein Abbild. "Pathologisch".

Goethe gegen das Tragische – warum es aufsuchen? – Conciliante Natur.

29 [16]

So begabte Wesen, wie ich sie mir als Genies vorstellte, haben nie existirt.

29 [17]

Der ungeheure Eindruck, den die Lehre von der Vergänglichkeit auf die Alten macht! (Horaz und Antonin)

29 [18]

„Die Griechen haben das Bedeutende gross, das Unbedeutende (z. B. Panta Attribut) klein."

29 [19]

Es ist nichts um ein Genie, wenn es uns nicht so hoch hebt und so weit frei macht, daß wir seiner nicht mehr bedürfen.

Befreien und sich vom Befreiten verachten lassen – ist das Loos der Führer der Menschheit, kein trauriges – sie jubeln darüber, daß ihr Weg fortgesetzt wird.

29 [20]

Die schlichte und blasse Rose, die auf den Berghängen wächst, rührt uns mehr als der vollste Farbenglanz der Gartenblumen.

29 [21]

Warum fehlten die Gelehrten in Bayreuth? Sie hatten es nicht nöthig. Das hätte ich ihnen früher zum Vorwurf gemacht. Jetzt –

29 [22]

Wir brauchen unsere Feinde noch gar nicht zu lieben, wir brauchen es nur zu glauben, dass wir sie lieben – das ist die Feinheit des Christenthums, und erklärt seinen populären Erfolg. Selbst glauben ist nicht recht nöthig, es aber recht oft sagen und bekennen.

29 [23]

Wiederschöpfung des Porträts aus Ahnung, Angesichts der Werke. („Richard Wagner": wie das Werk das Bild des Lebenden verzaubert – es giebt Idealbildung.)

29 [24]

Am Abend abwärts, wenn die Gluth der Sonne durch die fetten Blätter der Kastanien blickt.

29 [25]

Das der Natur Folgen irrthümlich bei Montaigne III 354.

29 [26]

Liv. 41, c. 20: Persei „nulli fortunae adhaerebat animus, per omnia genera vitae errans, uti nec sibi nec aliis qui homo esset satis constaret". Montaigne III 362.

29 [27]

In Jung-Stilling die Stelle über das Vergnügen in der christlichen Moral.

29 [28]

Der Mensch will nicht nur, daß seine Art zu leben angenehm oder nützlich sei: sie soll auch ein Verdienst sein und zwar um so mehr ihm klar ist, daß die Annehmlichkeit nicht groß ist. Er will sich durch die Ehre schadlos halten.

29 [29]

Mein Kind, lebe so dass du dich vor dir selber nicht zu schämen brauchst; sage dein Wort so, dass jeder dir nachsagen muss, man könne sich auf dich verlassen; und vergiss nicht, dass Freude machen selber Freude macht. Lerne bei Zeiten, dass in allen Stücken der Hunger die Speisen würzt und fliehe die Bequemlichkeit weil sie das Leben fade macht. Du sollst etwas Grosses einst thun: dazu musst du erst etwas Grosses werden.

29 [30]

Jener Geruch aus Weizenfeldern, der dem Honig nahe kommt.

29 [31]

Titel:

der neue Umblick

von F. N.

29 [32]

Die Barockkunst trägt die Kunst der Höhe mit sich herum und verbreitet sie – ein Verdienst!

29 [33]

Wagner's Kunst für Gelehrte, die nicht Philosophen zu werden wagen – Missbehagen über sich, gewöhnlich dumpfe Betäubung – von Zeit zu Zeit im Gegentheile baden.

29 [34]

Meine moralischen Beobachtungen gehen über die Mitte hinaus – ein Phänomen der noch nicht hergestellten Gesundheit.

29 [35]

Erziehung. 2 Haupt-Epochen. – 1) Schleier zuziehen. 2) Schleier-Aufheben. Fühlt man sich hinterdrein wohl, so war es die rechte Zeit.

29 [36]

Anscheinende Kunst für Alle (bei Wagner) weil gröbere und feinere Mittel zugleich. Doch sehr an bestimmte musikalisch-aesthetische Erziehung gebunden – namentlich moralische Gleichgültigkeit.

29 [37]

Die Zeit wo Bücher und Gespräche von Gedanken überladen sind, ist nicht die des Gedankenreichthums. Wenn letzterer da ist, zwingt er zur Ordnung und Schlichtheit im Haushalt. Junge Leute lieben das überladene, weil es den Schein bei den Armen (die die Mehrzahl sind) erweckt.

29 [38]

Da Meister nicht geboren werden – nicht einmal Stümper.

29 [39]

Wer auf Kunst der Inspiration rechnet, muss aus verwandten Gebieten viel zu Hülfe nehmen, um seine Kunst durchzusetzen, ewig ergreifen, erschüttern, der Besinnung und <des> Urtheils berauben, an die tiefsten Nöthe und Erfahrungen erinnern.

29 [40]

Wer dem Verstand nicht zu trauen wagt, sucht ihn zu verdächtigen. Die Gefühls-Menschen.

29 [41]

Ironie -Lüge über das was man weiss, als ob man es nicht wüsste.

Zum Wohl Anderer (Stellung der Metaphysik in der Erziehung?).

29 [42]

Drei Typen der göttlichen Jugend Apollo Hermes Dionysos – erstaunlich das auszubilden, welcher Muth!

29 [43]

Jung werden der Götter in der anschauenden Phantasie der Künstler.

29 [44]

„Schönheit zweiter Classe" sinnliche Lustigkeit neben dem hoch Idealen.

Schade wenn's nicht dargestellt worden wäre. Neue Gebiete, nicht hochedel, doch noch ideal. Nicht göttlich.

29 [45]

Warum sollte man nicht metaphysisch spielen dürfen? und ganz enorme Kraft des Schaffens darauf verwenden?

29 [46]

Wagnerianer wollen nichts an sich ändern, leben im Verdruss über Fades Conventionelles Brutales – die Kunst soll zeitweilig magisch sie darüber hinausheben. Willensschwäche.

29 [47]

Wagner's Kunst nicht mehr nöthig haben oder noch nöthig haben –

29 [48]

Ungeheure Antriebe sind in ihr – sie treibt über sich hinaus.

29 [49]

Warum lässt man Metaphysik und Religion nicht als Spiel der Erwachsenen gelten?

29 [50]

Dadurch dass man den Ernst weggiebt für Metaphysik und Religion, hat man ihn nicht mehr für's Leben und seine Aufgabe.

29 [51]

Wagner's Kunst für solche welche sich eines wesentlichen Fehlers in ihrer Lebens-Führung bewusst sind: entweder eine grosse Natur durch niedrige Thätigkeit eingeklemmt zu haben oder durch Müssiggang vergeudet oder durch Conventions-Ehen usw.

Weltflüchtig ist hier = Ich-flüchtig.

29 [52]

„Die Götter Griechenlands" eine Etappe auf dem Wege der Enttäuschung: zuletzt Freiheit von Metaphysik.

29 [53]

An Gott glauben ist so wie ehemals an Gespenster glauben. (Lichtenberg?)

29 [54]

Das Kind will sein Mährchen nicht aufgeben.

29 [55]

Wenn das Leben nicht den höchsten Werth hat (Metaphysik), ist es darum gleich zum niedrigsten Preise loszuschlagen? Warum sagen dies die Menschen? Kindlicher Trotz? – Als ob wir nicht immer ein Stück Schätzung von Kindheit an verlernen müssten!

29 [56]

Es ist nicht auszurechnen, wie schwer es ist, über das litterarische Empfinden hinaus zu kommen. Man kann sich täuschen bei Andern, weil deren litterarische Bildung nur zu gering oder eine andere ist.

 

[Dokument: Notizbücher]

[Sommer 1878]

30 [1]

Mein Fehler war der, dass ich nach Bayreuth mit einem Ideal kam: so musste ich denn die bitterste Enttäuschung erleben. Die Überfülle des Hässlichen Verzerrten Überwürzten stiess mich heftig zurück.

30 [2]

Über die Ursachen der Dichtkunst

Vorurtheile über die Dichter.

Aphorismen.

30 [3]

Ich sah den Sinn für social<istische> Gedankenkreise in den höheren Ständen sich verbreitend: und ich mußte sagen, mit Goethe, „man schien nicht zu fühlen, was alles erst zu verlieren sei, um zu irgend einer Art zweideutigen Gewinns zu gelangen".

30 [4]

Goethe: „das Sehnsüchtige, das in mir lag, das ich in früheren Zeiten vielleicht zu sehr gehegt und bei fortschreitendem Leben kräftig zu bekämpfen trachtete, wollte dem Manne nicht mehr ziemen, und er suchte deshalb die volle endliche Befriedigung." Schluß?

30 [5]

Goethe: „das Schöne ist, wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Thätigkeit und Vollkommenheit schauen, wodurch wir zur Reproduktion gereizt uns gleichfalls lebendig und in höchste Thätigkeit versetzt fühlen."

30 [6]

Die Mitte das Beste (in Wahl der Probleme, des Ausdrucks, in der Kunst). Kräftige Äst<hetik>. Kein Barockstil.

30 [7]

Montaigne: "wer einmal ein rechter Thor gewesen, wird niemals wieder recht weise werden". Das ist, um sich hinter den Ohren zu krauen.

30 [8]

Milton bei Taine I, 656. „Die Wahrheit, die zuerst Schande bringt."

30 [9]

Schopenhauer's Wirkung

  1. in den Händen der Ultramontanen – protestantischen und katholischen;
  2. reinlichste Wissenschaft mit Spiritismus beschmutzt;
  3. Geistergeschichten;
  4. Wundergläubige wie Fr<au> W<agner>;
  5. Philosophie des Unbewussten;
  6. Genius und Inspiration bei Wagner, sodaß alles Erkannte abgelehnt wird; die" Intuition" und der „Instinkt";
  7. Ausbeutung des „Willens" praktisch als unbezwinglich, durch Dichter als Effektmittel;
  8. der grobe Irrthum, daß das Mitleid den Intellekt vertrete, auf die Bühne mit einer wahrhaft spanischen Gläubigkeit gebracht;
  9. Königthum als überweltlich;
  10. die Wissenschaft über die Achsel angesehen: in ihr selbst greift die Metaphysik um sich;
  11. Gwinner's Biographie, Schopenhauer als Vorhalle zum Christenthum.

Allgemeines Frommwerden, der leibhafte Voltärianisch gesinnte Schopenhauer, dem sein viertes Buch unverständlich würde, wird bei Seite geschoben.

Mein Mißtrauen gegen das System von Anfang an. Die Person trat hervor, er typisch als Philosoph und Förderer der Kultur. Am Vergänglichen seiner Lehre, an dem, was sein Leben nicht ausprägte, knüpfte aber die allgemeine Verehrung an – im Gegensatz zu mir. Die Erzeugung des Philosophen galt mir als einzige Nachwirkung – aber mich selbst hemmte der Aberglaube vom Genius. Augenschließen.

30 [10]

Nach Demosthenes muß die Rede sculpta „ausgemeißelt" sein.

Demosthenes studirte den Thukydides hinsichtlich Stils.

30 [11]

"Enthaltsamkeit der alten Schriftsteller in der Anwendung der staunenerregenden Mittel des Ausdrucks, die ihnen zu Gebote standen."

30 [12]

Die Anhäufung von mehr als 2 kurzen Sylben möglichst vermieden – das rhythmische Gesetz des Demosthenes.

30 [13]

Schluß einer Rede wie einer Tragödie möglichst ruhig und würdevoll – ist athenisch.

Wir lieben die finales anders.

30 [14]

Nutz-Bildung

Zier-Bildung.

30 [15]

Da ich Wagner mit Demosthenes verglichen habe, muß ich auch den Gegensatz hervorheben. Brougham bei Blass, 188, 196 – p.173.

30 [16]

Den größten rednerischen Improvisator Demades schätzte man über Demosthenes. Nach Theophrast ist jener „Athens würdig", dieser „über Athen hinaus".

30 [17]

„Ein Mensch, der aus Worten und zwar aus bitteren und künstlichen besteht", sagte Aeschines von Demosthenes.

30 [18]

Pallas Athene

Über Nutz- und Zierwirkungen der Urtheilskraft.

30 [19]

Wagner, dessen schriftstellerische Vorbilder und Versuche (Anfänge) in jene Zeit gehören, deren allgemeinen Fehler ein Franzose so bezeichnet – au delà <de> sa force.

30 [20]

Zier-Künste

Zier- und Lust-Bildung

der gesteigerte Prachtsinn.

30 [21]

Ewige Baukunst der Römer.

Brücke im spanischen Alcantara.

30 [22]

„Gedankenbild" für Phantasieb<ild>.

30 [23]

Ein, Dramatiker spielt, wenn er von sich redet, eine Rolle; es ist unvermeidlich. Wagner, der von Bach und Beethoven redet, redet als der, als welcher er gelten möchte. Aber er überredet nur die überzeugten, seine Mimik und sein eigentliches Wesen streiten gar zu ingrimmig gegen einander.

30 [24]

Nachtheil der Metaphysik: sie macht gegen die richtige Ordnung dieses Lebens gleichgültig – insofern gegen Moralität. Ist pessimistisch immer, weil sie kein hiesiges Glück erstrebt.

30 [25]

In Betreff der griechischen Dichter wurden wir angeleitet, uns selber zu betrügen. Wollte doch jeder sagen: dies mag ich nicht, jenes gilt mir nichts, dort empfinde ich wider die herkömmliche Abschätzung – so hätte man mehr Achtung vor Philologen als ehrlichen Leuten, selbst wenn sie in Gefahr kämen dass ihr klassischer Geschmack angezweifelt würde.

30 [26]

Griechischer Dithyrambus ist Barockstil der Dichtkunst.

30 [27]

Gegen unsere Freude am Übermaß der Metaphern, seltenen Worten usw. – Euripides-Lob.

30 [28]

Was wird aus einer Kunst, die an ihr Ende gekommen ist? Sie selbst stirbt ab – die von ihr gegebene Wirkung kommt anderen Gebieten zu Gute, ebenso die nunmehr, bei ihrem Ende, freiwerdende nicht verwendete Energie. Wo also z. B.?

30 [29]

Weg zur Weisheit

Kräftigung

Mässigung (Schön als Proportion)

Befreiung.

30 [30]

Auf dieselbe Weise, auf die jetzt bewusst wir uns stärken mit Hülfe des Geistes, so durch Analogie der Schluss nach rückwärts.

30 [31]

Wellen – an ruhigem Sommertage am Ufer schlürfen – Epicur's Garten-Glück.

30 [32]

Dramata die religiöse Thatsache, Ursprung im Tempelkult. Falscher Begriff vom Mythus – die Griechen halten ihn für Historie. Dagegen erfinden die Dichter sehr ungenirt.

30 [33]

Goethe: „man darf oft dem Irrthum nicht schaden, um der Wahrheit nicht zu schaden."

30 [34]

Goethe definirt die Pflicht „wo man liebt, was man sich selbst befiehlt."

Gewöhnlich „wo man sich befiehlt, was man liebt."

30 [35]

Der rhythmische Sinn zeigt sich zuerst im Grossen:

Gegenüberstellung von Kola (Hexameter und Hexameter). Hebräische Rhythmik darauf stehen geblieben. Ebenso die Periodik der Prosa. Allmählich wird das Zeitgefühl feiner, am Schlusse zuerst.

30 [36]

"Ipsum viventem quidem relictum, sed sola posteritatis cura et abruptis vitae blandimentis." Tac. hist. II 54.

30 [37]

Der weiss noch nichts von der Bosheit, der nicht erlebt hat, wie die niederträchtigste Verleumdung und der giftigste Neid sich als Mitleid geberden.

30 [38]

Da alle Glück wollen, die Eigenschaften Affecte sehr verschieden und kaum veränderlich <sind>: so muss man alle Anfänge geistreich benutzen. Ethik für Geistreiche.

30 [39]

Wahrscheinlich: die Herrschaft der Sachverständigen und die Einbildung der Masse, durch jene selber zu herrschen.

30 [40]

Wer etwas vollbringt, das über den Gesichts- und Gefühlskreis der Bekannten hinausliegt: – Neid und Hass als Mitleid -Partei betrachtet das Werk als Entartung Erkrankung Verführung. Lange Gesichter.

30 [41]

Statt ins Leben überzuströmen, fördert die Wagnerische Kunst bei den Wagnerianern nur die Tendenzen (z. B. religiöse nationale).

30 [42]

Wir gleichen den lebenden Tieren auf dem Schild des Hephäst – aesthet<ische> Phänom<ene> aber grausam!

30 [43]

Man muss den Muth haben, in der Kunst zu lieben, was uns wirklich zusagt und es sich eingestehen, selbst wenn es ein schlechter Geschmack ist. So kann man vorwärts kommen.

30 [44]

Umgekehrte Moral, z.B. im Tristan, wo der Ehebrecher den Vorwurf macht: ganz anders bei den Griechen.

30 [45]

Viel zu viel Musik zum Wagnerischen Drama.

30 [46]

Novelle: des Todes wegen moriendi perdere causas. Ein Selbstmörder, der beim Suchen nach dem Tode – – –

30 [47]

Man bildet sich ein bei einem Buche, der Grundton sei das Erste, was man aus ihm heraushöre – aber es hört einer gewöhnlich etwas hinein, was er so nennt.

30 [48]

Cap. VII. Erziehung.

Deutschland in seiner Action-Reaction zeigt sich barbarisch.

30 [49]

Auf moralisches „Verdienst" dringt am meisten der seinen Erfolg nicht sichtbar machen kann – der Unfreie Gedrückte.

30 [50]

Wagner's Kunst auf Kurzsichtige berechnet – allzugrosse Nähe nöthig (Miniatur), zugleich aber fernsichtig. Aber kein normales Auge.

30 [51]

Damals glaubte ich daß die Welt vom aesthetischen Standpunkt aus ein Schauspiel und als solches von ihrem Dichter gemeint sei, daß sie aber als moralisches Phänomen ein Betrug sei: weshalb ich zu dem Schlusse kam, daß nur als aesthetisches Phänomen die Welt sich rechtfertigen lasse.

30 [52]

Wenn ich auf den Gesammtklang der älteren griechischen Philosophen hinhorchte, so meinte ich Töne zu vernehmen, welche ich von der griechischen Kunst, und namentlich von der Tragödie gewohnt war zu hören. In wie weit dies an den Griechen, in wie weit aber auch nur an meinen Ohren, den Ohren eines sehr kunstbedürftigen Menschen, lag – das kann ich auch jetzt noch nicht mit Bestimmheit aussprechen.

30 [53]

1 Der Einzelne und die Vielen

2 Fortleben der Kunst

3 Neu-Alterthum

4 Quellen der Kraft

5 Bild einer nahen Zukunft

6 Besitz

7 Erziehung.

30 [54]

Polen das einzige Land abendländisch-römischer Cultur, das nie eine Renaissance erlebt hat. Reformation der Kirche ohne Reform des gesammten Geisteslebens, deshalb ohne dauernde Wurzeln zu schlagen. Jesuitismus – adelige Freiheit richten es zu Grunde. Genau so wäre es den Deutschen ohne Erasmus und der Humanisten Wirkung gegangen.

30 [55]

Die Griechen waren fertig, als ein Homer ihnen Kunstwerke zeigte – er konnte auf das Verstehen langer überschaulicher Compositionen rechnen – da muß ein Volk weit sein! Man denke an die Germanen mit ihren Augenblicks-Effekten der Edda!

Was Homer konnte, componiren, sieht man an dem Wetteifer Hesiods, der auch componirt.

30 [56]

Ich wünsche dass billig denkende Menschen dieses Buch als eine Art Sühne dafür gelten lassen, dass ich früher einer gefährlichen Aesthetik Vorschub leistete: deren Bemühen war, alle aesthetischen Phänomene zu „Wundern" zu machen – – ich habe dadurch Schaden angestiftet, unter den Anhängern Wagner's und vielleicht bei Wagner selbst, der alles gelten lässt, was seiner Kunst höhern Rang verleiht, wie begründet und wie unbegründet es auch sein mag. Vielleicht habe ich ihn durch meine Zustimmung seit seiner Schrift über „die Bestimmung der Oper" zu grösserer Bestimmtheit verleitet und in seine Schriften und Wirken Unhaltbares hineingebracht. Dies bedaure ich sehr.

30 [57]

Die Dichter-Erfindung kann zum Mythus werden, wenn sie verbreitet Glauben findet: – wie usus und abusus eines Wortes schwankend ist.

30 [58]

Mit der Harmonie der Lust, in der das menschliche Wesen schwimmt, steht es wirklich wie mit der Harmonie der Sphären: wir hören sie nicht mehr, wenn wir darin leben.

30 [59]

Analysis des Erhabnen.

30 [60]

Meine Art, Historisches zu berichten, ist eigentlich, eigene Erlebnisse bei Gelegenheit vergangener Zeiten und Menschen zu erzählen. Nichts Zusammenhängendes – einzelnes ist mir aufgegangen, anderes nicht. Unsere Litterarhistoriker sind langweilig, weil sie sich zwingen, über alles zu reden und zu urtheilen, auch wo sie nichts erlebt haben.

30 [61]

Was wirkt noch? Princip der Maler und Musiker und Dichter: sie fragen sich selber zuerst, aus der Zeit wo sie nicht productiv waren.

30 [62]

Die Angst dass man den Wagnerischen Figuren nicht glaubt, dass sie leben: sie gebärden sich deshalb so toll.

30 [63]

Man macht Fehler gegen eine vorgenommene Lebensweise, weil unsere Stimmung im Augenblick des Vorsatzes und dem der Ausführung eine ganz verschiedene ist.

30 [64]

Mit dem Zerrbild hebt die Kunst an. Daß etwas bedeutet, erfreut. Daß das Bedeutende verspottet belacht wird, erfreut mehr. Das Belachen als erstes Zeichen des höheren seelischen Lebens (wie in der bildenden Kunst).

30 [65]

„Wo die Kunst aber sich in ihren Mitteln einschränkt, muss sie in ihrem Wesen mächtig sein." Jacob Burckhardt.

30 [66]

Die griechische Prosa – absichtliche Beschränkung der Mittel. Warum? Das Einfache am Ende des Höhenwegs. Complicirtes zuerst und zuletzt.

30 [67]

Ich habe dabei das Loos der Idealisten gezogen, welchen der Gegenstand, aus dem sie so viel gemacht haben, dadurch verleidet wird – ideales Monstrum: der wirkliche Wagner schrumpft zusammen.

30 [68]

Wie wurmstichig und durchlöchert das Menschenleben sei, wie ganz und gar auf Betrug und Verstellung aufgebaut, wie alles Erhebende, wie die Illusionen, alle Lust am Leben dem Irrthum verdankt werden – und wie in so fern der Ursprung einer solchen Welt nicht in einem moralischen Wesen, vielleicht aber in einem Künstler-Schöpfer zu suchen sei, wobei ich meinte daß einem solchen Wesen durchaus keine Verehrung im Sinne der christlichen (welche den Gott der Güte und Liebe aufstellt) gebühre, und sogar die Andeutung nicht scheute, ob dem deutschen Wesen diese Vorstellung, wie sie gewaltsam inokulirt, auch gewaltsam wieder entrissen werden konnte. Dabei meinte ich in Wagner's Kunst den Weg zu einem deutschen Heidenthum entdeckt zu haben, mindestens eine Brücke zu einer spezifisch unchristlichen Welt- und Menschenbetrachtung. „Die Götter sind schlecht und wissend: sie verdienen den Untergang, der Mensch ist gut und dumm – er hat eine schönere Zukunft und erreicht sie, wenn jene erst in ihre endliche Dämmerung eingegangen sind", – so werde ich damals mein Glaubensbekenntniß formulirt haben, während ich jetzt – – –

30 [69]

Das was erst herkömmlich ist, wird nicht nur mit Pietät, sondern auch mit Vernunft und Gründen nachträglich überhäuft und gleichsam durchsickert. So sieht zuletzt eine Sache sehr vernünftig aus (vieles an ihr ist zurechtgeschoben und verschönt). Dies täuscht über ihre Herkunft.

30 [70]

National ist das Nachwirken einer vergangenen Cultur in einer ganz veränderten, auf anderen Grundlagen gestützten Cultur. Also das logisch Widerspruchsvolle im Leben eines Volkes.

30 [71]

Wir müssen der falschen Nachahmung Wagner's widerstreben. Wenn er, um den Parcival schaffen zu können, genöthigt ist, aus der religiösen Quelle her neue Kräfte zu pumpen, so ist dies kein Vorbild sondern eine Gefahr.

30 [72]

Es giebt Leser, welche den etwas hochtrabenden und unsicheren Gang und Klang meiner früheren Schriften dem vorziehen, was ich gegenwärtig anstrebe – möglichste Bestimmtheit der Bezeichnung und Geschmeidigkeit aller Bewegung, vorsichtigste Mäßigung im Gebrauch aller pathetischen und ironischen Kunstmittel. Mögen jene Leser, welche sich ihren Geschmack nicht verkümmern lassen wollen, an diesen hier mitgetheilten Arbeiten etwas Willkommenes zum Ersatz dafür erhalten, daß ich ihnen den Verdruß machte, meinen Geschmack in diesen Dingen zu verändern. Sind wir uns doch allmählich in so vielen und großen Bestrebungen so unähnlich, so fremd geworden, daß ich bei dieser Gelegenheit, wo ich noch einmal zu ihnen reden muß, nur von der harmlosesten aller Differenzen, der Stil-Differenz, reden möchte.

30 [73]

Wagner hat kein rechtes Vertrauen zur Musik: er zieht verwandte Empfindungen heran, um ihr den Character des Grossen zu geben. Er stimmt sich selber an Anderen, er lässt seinen Zuhörern erst berauschende Getränke geben, um sie glauben zu machen, die Musik habe sie berauscht.

30 [74]

„Die kindliche Kunst frevelt am Schwersten." Gruppe vor der Statue, Statue vor der Herme usw. „Man kennt eben die Schwierigkeiten noch nicht." Jacob Burckhardt.

30 [75]

Teppich – Heimat des unendlich viel sich Wiederholenden. Auf Vasen und ehernen Geräten finden wir ihn wieder. Da alles klein ist und zahllos, konnte nicht auf Seelenausdruck, sondern nur auf Gebärde gesehen werden.

30 [76]

Heilsamste Erscheinung ist Brahms, in dessen Musik mehr deutsches Blut fliesst als in der Wagners – womit ich viel Gutes, jedoch keineswegs allein Gutes gesagt haben möchte.

30 [77]

Ich will es nur gestehen: ich hatte gehofft, durch die Kunst könne den Deutschen das abgestandene Christenthum völlig verleidet werden – deutsche Mythologie als abschwächend, gewöhnend an Polytheismus usw.

Welcher Schrecken über restaurative Strömungen!!

30 [78]

Wie einer, der auf immer Abschied nimmt, auch den weniger beachteten Bekannten mit wärmerem Gefühle entgegentritt und die Hand reicht, so fühle ich mich gewissen Arbeiten früherer Jahre gerade jetzt gewogener, wo ich mich von den Ufern, an die ich damals mein Schiff lenkte, unaufhaltsam entferne.

30 [79]

Uralt Porträt-Ähnlichkeit in Mycenä – später diese Spur verlassen.

Thierwelt besser als Mensch – nicht symbolisch gebunden.

30 [80]

Es ist schwer, im Einzelnen Wagner angreifen und nicht Recht zu behalten; seine Kunstart Leben Character, seine Meinungen, seine Neigungen und Abneigungen, alles hat wunde Stellen. Aber als Ganzes ist die Erscheinung jedem Angriff gewachsen.

30 [81]

Plato's Abwendung von der Kunst symbolisch-typisch am Schluss.

30 [82]

Wenn Wagner hierüber anders denken sollte: nun, so wollen wir bessere Wagnerianer sein als Wagner.

30 [83]

Entwicklung des Sophocles verstehe ich durch und durch – der Widerwille gegen den Pomp und Prunkeffect.

30 [84]

Das Lächeln der Ausdruck des Lebens, des Momentanen (selbst wenn sie sterben, Aegineten).

30 [85]

Die höchste Aufgabe am Schluss, Wagner und Schopenhauer öffentlich zu danken und sie gleichsam gegen sich Partei nehmen zu machen.

30 [86]

Der thrazische Pessimismus v<ide> Herodot, der Geborene wird bewehklagt.

30 [87]

Diejenigen Schriftsteller, welche mit Vernunft wider die Vernunft schreiben, mögen zusehen, dass sie sich nicht selbst zum Ekel werden.

30 [88]

Der reiche Stil folgt auf den grossen.

Städte Künstler und Schulen wetteifern.

Körper lange vor Seelenausdruck ausgebildet.

Schenkel viel früher als Brust.

30 [89]

Das Nützliche steht höher als das Angenehme (Schöne), weil es indirekt und auf die Dauer Angenehmes erstrebt, und nicht Augenblickliches, oder auch die Basis für das Angenehme (z. B. als Gesundheit) zu schaffen sucht. Die Kunst des Schönen ist entweder nur auf den Augenblick berechnet oder fällt mit dem Nützlichem zusammen; das Nützliche ist nie sich selber Zweck, sondern das Wohlgefühl des Angenehmen ist es.

30 [90]

Man wird es Wagner nie vergessen dürfen dass er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in seiner Weise – die freilich nicht gerade die Weise guter und einsichtiger Menschen ist – die Kunst als eine wichtige und grossartige Sache ins Gedächtniss brachte.

30 [91]

Schreck, bis zu welchem Grade ich selbst an Wagner's Stil Vergnügen haben konnte, der so nachlässig ist, dass er eines solchen Künstlers nicht würdig ist.

Wagner's Stil. Die allzuzeitige Gewöhnung über die wichtigsten Gegenstände ohne genügende Kenntnisse mitzureden hat ihn so unbestimmt und unfassbar gemacht: dazu der Ehrgeiz, es den witzigen Feuilletonisten gleich zu thun – und zuletzt die Anmaassung, die sich gern mit Nachlässigkeit paart: „siehe, alles war sehr gut".

30 [92]

Das Schönste am Hunger ist, dass er einem Appetit macht.

30 [93]

Vorrede. Stellung des Weisen zur Kunst. Die Griechen feiner als wir: der Weise, der Mann des Geschmacks.

Nicht nur Hunger thut noth (vielmehr darf dieser nicht zu arg sein) – „Liebe" sagen die Schwärmer: – sondern Geschmack. Ja Geschmack setzt schon Appetit voraus – sonst schmeckt uns nichts. Kritik ist die Lust am Guten, mit Vermehrung der Lust durch Erkenntniss des Missrathenen. Woher die zahllosen Kritiker, wenn nicht Vergnügen dabei? Insofern nützt selbst das Schlechte, indem es zur Vernichtung auffordert und Lust dabei erweckt. Auch Lust zum Bessermachen.

30 [94]

Emerson, p. 328 (Essays) „das Auge des abrundenden Geistes".

30 [95]

Vorrede. Dieses Buch hätte ich überschreiben können: aus der Seele der Künstler und Schriftsteller; in der That ist es eine Forsetzung des fünften Hauptstücks, welches jenen Titel trägt.

30 [96]

Vorrede. Ich kenne kein Mittel, um etwas Gutes zu erkennen, als selber etwas Gutes zu machen. Dies giebt uns Flügel, mit denen sich zu manchem entlegenen Neste, in dem Gutes sitzt, fliegen lässt.

30 [97]

Schopenhauer Optimist, wenn er sagt (Parerga, II p. 598) „Es giebt 2 Geschichten: die politische und die der Litteratur und Kunst. Jene ist die des Willens, diese die des Intellekts. Daher ist jene durchweg beängstigend, ja schrecklich – – die andre dagegen ist überall erfreulich und heiter. " Oho! Ho!

30 [98]

Wie sehr wir auch die Moralität zersetzen – unsre eigene, im ganzen Wesen eingenistet, kann dabei nicht zersetzt werden. Unsre Art, wahr und unwahr zu sein, bleibt undiskutirbar. „Der Ton des Suchens ist einer und der Ton des Habens ist ein anderer."

30 [99]

Ich habe die Besorgniss dass Wagner's Wirkungen zuletzt in den Strom einmünden, der jenseits der Berge entspringt und der auch über Berge zu fliessen versteht.

30 [100]

Schopenhauer, Parerga II 630: „<daß> mancher Mensch einen wenigstens 10fach höhern Grad von Dasein hat, als der andere – zehn Mal so sehr da ist" – der Weise ist dann das allerrealste Wesen.

30 [101]

Vergleich mit der Symphonie III Act Tristan, „Geburt der Tragödie" – undeutlich und hochtrabend, wie ich damals nach Wagner's Vorbilde mich auszudrücken liebte –

30 [102]

Im vierten Jahrhundert wird die Welt der inneren Erregung entdeckt – Scopas, Praxiteles, Ausdruck. (Noch nicht Phidias. Gesetze der Strenge.)

30 [103]

Emerson p. 331 Essays „das Leben der Wahrheit ist kalt und insofern traurig, aber es ist nicht der Sklave usw."

30 [104]

„Gross sein ist missverstanden werden."

30 [105]

Schiller's Idealität zu characterisiren (aus Körner's Briefen am besten).

30 [106]

Fries in Phigalia von höchster Leidenschaftlichkeit.

30 [107]

Die selbe Summe von Talent und Fleiss, die den Classiker macht, macht, eine Spanne Zeit zu spät, den Barockkünstler.

30 [108]

Man verlangt von ihm dass er zum guten Spiele eine böse Miene mache.

30 [109]

Wagner hat den Gang unterbrochen, unheilvoll, nicht wieder die Bahn zu gewinnen.

Mir schwebte eine sich mit dem Drama deckende Symphonie vor. Vom Liede aus sich erweiternd.

Aber die Oper, der Effekt, das Undeutsche zog Wagner anderswohin. Alle nur denkbaren Kunstmittel in der höchsten Steigerung.

30 [110]

Völlige Abwesenheit der Moral bei Wagner's Helden. Er hat jenen wundervollen Einfall, der einzig in der Kunst ist: der Vorwurf des Sünders an den Schuldlosen gerichtet: „o König" – Tristan an Marke.

30 [111]

Man höre den zweiten Akt der Götterdämmerung ohne Drama: es ist verworrene Musik, wild wie ein schlechter Traum und so entsetzlich deutlich, als ob sie vor Tauben noch deutlich werden wollte. Dies Reden, ohne etwas zu sagen: ist beängstigend. Das Drama ist die reine Erlösung. – Ist das ein Lob, daß diese Musik allein unerträglich ist (von einzelnen, absichtlich isolirten Stellen abgesehen) als Ganzes? – Genug, diese Musik ist ohne Drama eine fortwährende Verleugnung aller höchsten Stilgesetze der älteren Musik: wer sich völlig an sie gewöhnt, verliert das Gefühl für diese Gesetze. Hat aber das Drama durch diesen Zusatz gewonnen? Es ist eine symbolische Interpretation hinzugetreten, eine Art philologischen Commentars, welcher die immer freie Phantasie des Verstehens mit Bann belegt – tyrannisch! Musik ist die Sprache des Erklärers, der aber fortwährend redet und uns keine Zeit läßt; überdies in einer schweren Sprache, die wieder eine Erklärung fordert. Wer einzeln sich erst die Dichtung (Sprache!) eingelernt hat, dann sie mit dem Auge in Aktion verwandelt hat, dann die Musik-Symbolik herausgesucht und verstanden hat und ganz sich hineinlebt, ja in alles Dreies sich verliebt hat – der hat dann einen ungemeinen Genuß. Aber wie anspruchsvoll! Aber es ist unmöglich, außer für kurze Augenblicke – weil zu angreifend, diese zehnfache Gesammtaufmerksamkeit von Auge Ohr Verstand Gefühl, höchste Thätigkeit des Aufnehmens, ohne jede produktive Gegenwirkung! – Dies thun die Wenigsten: woher doch die Wirkung auf so viele? Weil man intermittirt mit der Aufmerksamkeit, ganze Strecken stumpf ist, weil man bald auf die Musik, bald auf das Drama, bald auf die Scene allein Acht giebt – also das Werk zerlegt. – Damit ist über die Gattung der Stab gebrochen: nicht das Drama, sondern ein Augenblick ist das Resultat oder eine willkürliche Auswahl. Der Schöpfer einer neuen Gattung hat Acht hier zu geben! Nicht die Künste immer nebeneinander – sondern die Mäßigung der Alten, welche der menschlichen Natur gemäß ist.

30 [112]

Mehrere Wege der Musik stehen noch offen (oder standen noch offen, ohne Wagner's Einfluss). Organische Gebilde als Symphonie mit einem Gegenstück als Drama (oder Mimus ohne Worte?) und dann absolute Musik, welche die Gesetze des organischen Bildens wiedergewinnt und Wagner nur benützt als Vorbereitung. Oder Wagner überbieten: dramatische Chormusik. – Dithyrambus. Wirkung des Unisono.

Musik aus geschlossenen Räumen in's Gebirge und Waldgehege.

30 [113]

Allmähliches Aufgeben vom

Verband der Nation

Verband der Partei

Verband der Freundschaft

der Consistenz der Handlungen.

30 [114]

Einsicht in die Ungerechtigkeit des Idealismus, darin dass ich mich für meine getäuschten Erwartungen an Wagner rächte.

30 [115]

Wagner, der in seinen Prosaschriften mehr bewundert als verstanden werden will.

30 [116]

Im Frühling grasbewachsener Weg im Walde – Unterholz und Gebüsch, dann höhere Bäume – Gefühl der wonnigen Freiheit.

30 [117]

Wagners's Natur macht zum Dichter, man erfindet eine noch höhere Natur. Eine seiner herrlichsten Wirkungen, welche gegen ihn zuletzt sich wendet. So muss jeder Mensch sich über sich erheben, die Einsicht über sein Können sich erheben: der Mensch wird zu einer Stufenfolge von Alpenthälern, immer höher hinauf.

30 [118]

Es entschlüpfen ihm kurze Stellen guter Musik: fast immer im Widerspruch zum Drama.

30 [119]

Fürsten und Adlige, deren äusserliche Stellung zum Gedanken der Feste sehr hübsch durch eine kleine Fabel bezeichnet wird. Der höchstgestellte Gast usw.

30 [120]

Betäubung oder Rausch-Wirkung gerade aller Wagnerischen Kunst. Dagegen will ich die Stellen nennen, wo Wagner höher steht, wo reines Glück ihm entströmt.

30 [121]

Einzelne Töne von einer unglaubwürdigen Natürlichkeit wünsche ich nie wieder zu hören; ja sie auch nur vergessen zu können – Materna.

30 [122]

Wagner's Musik interessirt immer durch irgend etwas: und so kann bald die Empfindung, bald der Verstand ausruhen. Diese gesammte Ausspannung und Erregung unseres Wesens ist es, wofür wir so dankbar sind. Man ist schliesslich geneigt, ihm seine Fehler und Mängel zum Lobe zu rechnen, weil sie uns selber productiv machen.

30 [123]

Wagner, dessen Ehrgeiz noch grösser ist als seine Begabung, hat in zahllosen Fällen gewagt, was über seine Kraft geht – aber es erweckt fast Schauer, jemanden so unablässig gegen das Unbesiegbare – das Fatum in ihm selber – anstürmen zu sehen.

30 [124]

Eine Kunst, welche die Harmonie des Daseins verleugnet, und sie hinter die Welt verlegt. Alle diese Hinterweltler und Metaphysiker.

30 [125]

Die Kritik der Moralität ist eine hohe Stufe der Moralität – aber verschmolzen sind Eitelkeit Ehrgeiz Lust am Siege damit, wie bei aller Kritik.

30 [126]

Unser Denken soll kräftig duften wie ein Kornfeld an Sommer-Abenden.

30 [127]

Goldstaub abblasen.

30 [128]

Über Wagner wie über Schopenhauer kann man unbefangen reden, auch bei ihren Lebzeiten – ihre Größe wird, was man auch gezwungen ist, in die andere Wagschale zu legen, immer siegreich bleiben. Um so mehr ist gegen ihre Gefährlichkeit in der Wirkung zu warnen.

30 [129]

Das Wogende Wallende Schwankende im Ganzen der Wagnerischen Musik.

30 [130]

Ich rathe jedem, sich vor gleichen Pfaden (Wagner und Schopenhauer) nicht zu fürchten. Das ganz eigentlich unphilosophische Gefühl, die Reue, ist mir ganz fremd geworden.

30 [131]

Mir ist zu Muthe, als ob ich von einer Krankheit genesen; ich denke mit unaussprechlicher Süssigkeit an Mozart's Requiem. Einfache Speisen schmecken mir wieder.

30 [132]

Dionysus erster Gott der Thraker, ihr Zeus, wie Wotan.

30 [133]

Mendelssohn, an dem sie die Kraft des element<aren> Erschütterns (beiläufig gesagt: das Talent des Juden des alten Testaments) vermissen, ohne an dem, was er hat, Freiheit im Gesetz und edle Affecte unter der Schranke der Schönheit, einen Ersatz zu finden.

30 [134]

Schopenhauer verherrlicht im Grunde doch den Willen (das Allmächtige, dem alles dient). Wagner verklärt die Leidenschaft als Mutter alles Grossen und selbst Weisen.

Wirkung auf die Jugend.

30 [135]

Dies alles hat sich Wagner oft genug im heimlichen Zwiegespräch selber eingestanden: ich wollte er thäte es auch öffentlich. Denn worin besteht die Grösse eines Characters, als darin dass er, zu Gunsten der Wahrheit, im Stande ist, auch gegen sich Partei zu ergreifen?

30 [136]

Tiefsinn an eine unklare aber hochtrabende Wendung Wagner's („zum Raum wird hier die Zeit") verwendet.

„Auge Wotans" rührend, Mundwinkel des Philologen zucken – aber Unwille über feinere Köpfe, aus denen nur der Parteisinn redet und welche die Nachlässigkeit wohl merken.

30 [137]

Die Naturgesetze der Kunst-Entwicklung sind eigentlich die Folgen psychologischer Dinge, Eitelkeit Ehrgeiz usw.

30 [138]

Barockstil – es muß gesagt werden.

Den Gang der inneren Entwicklung Wagner's zu finden sehr schwer – auf seine eigene Beschreibung innerer Erlebnisse ist nichts zu geben. Er schreibt Parteischriften für Anhänger.

30 [139]

Untergang der letzten Kunst erleben wir – Bayreuth überzeugte mich davon –

30 [140]

Die Verhäßlichung der menschlichen Seele erfolgt ebenso nothwendig wie der Barockstil auf den klassischen – in ganzen Zeitaltem.

30 [141]

Die Wagnerischen Götter, von denen keiner „etwas taugt".

30 [142]

Man muß nur etwas Gutes und Neues vollbringen: dann erlebt man an seinen Freunden, was es heißt: zum guten Spiele eine böse Miene machen.

30 [143]

Schiller's Satz „gegen das Vortreffliche keine Rettung als Liebe" recht wagnerisch. Tiefe Eifersucht gegen alles Große, dem er eine Seite abgewinnen kann – Haß gegen das, wo er nicht heran kann (Renaissance, französische und griechische Kunst des Stils).

30 [144]

Der Irrthum hat die Dichter zu Dichtern gemacht. Der Irrthum hat die Schätzung der Dichter so hoch gemacht. Der Irrthum liess dann wieder die Philosophen sich höher erheben.

30 [145]

Bei Wagner blinde Verleugnung des Guten (wie Brahms), bei der Partei (Fr<au> (W<agner>) sehende Verleugnung (Lipiner Rée).

30 [146]

Was ist Partei, was Frivolität? Von letzterer aus verstand ich Wagner nicht.

30 [147]

Anwandlungen der Schönheit: Rheintöchterscene, gebrochene Lichter, Farbenüberschwang wie bei der Herbstsonne, Buntheit der Natur; glühendes Roth Purpur, melancholisches Gelb und Grün fliessen durcheinander.

30 [148]

Vernunft- und Welt-flüchtige Bestrebungen.

30 [149]

Wer wollte Wagner auf den Gipfel seiner Eitelkeit folgen, den er immer dort erreicht, wenn er vom „deutschen Wesen" redet – übrigens der Gipfel seiner Unklugheit: denn wenn Friedrich's des Grossen Gerechtigkeit, Goethe's Vornehmheit und Neidlosigkeit, Beethoven's edle Resignation, Bach's dürftig verklärtes Innenleben, wenn Schaffen ohne Rücksicht auf Glanz und Erfolg, ohne Neid die eigentlich deutschen Eigenschaften sind, sollte Wagner nicht fast beweisen wollen, dass er kein Deutscher sei?

30 [150]

„C'est la rage de vouloir penser et sentir au delà de sa force." Doudan. – Die Wagnerianer.

30 [151]

Die griechischen Künstler verwandten ihre Kraft auf die Bändigung, jetzt auf die Entfesselung – stärkster Gegensatz!

Willens-Bändiger, Willens-Entfesseler.

30 [152]

Milton: „es ist fast einerlei, ob man einen Menschen oder ein gutes Buch tödtet." Gegen die Partei.

30 [153]

Furchtbare Wildheit, das Zerknirschte Vernichtete, der Freudenschrei, die Plötzlichkeit, kurz die Eigenschaften, welche den Semiten innewohnen – ich glaube, semitische Rassen kommen der Wagnerischen Kunst verständnissvoller entgegen als die arische.

30 [154]

Zur Vorrede. Ich möchte meinen Lesern den Rath geben: das Kennzeichen, dass sie in die Empfindung des Verfassers eingedrungen sind – – – aber hier lässt sich nichts erzwingen. Eine Reise begünstigt.

30 [155]

Das creatürliche Leben, das wild geniesst, an sich reisst, an seinem Übermaasse satt wird und nach Verwandlung begehrt – gleich bei Schopenhauer und Wagner.

Zeit entsprechend bei Beiden: keine Lüge und Convention, keine Sitte und Sittlichkeit mehr thatsächlich – ungeheures Eingeständniss, dass der wildeste Egoismus da ist – Ehrlichkeit – Berauschung, nicht Milderung.

30 [156]

Ein Zeichen von der Gesundheit der Alten, dass auch ihre Moral-Philosophie diesseits der Grenze des Glücks blieb. Unsere Wahrheits-Forschung ist ein Excess: diess muss man einsehen.

30 [157]

Weder so heftig am Leben leiden, noch so matt und emotionsbedürftig, dass uns Wagner's Kunst nothwendig als Medicin wäre. – Dies ist der Hauptgrund der Gegnerschaft, nicht unlautere Motive: man kann etwas, wozu uns kein Bedürfniss treibt, was wir nicht brauchen, nicht so hoch schätzen.

30 [158]

Zeit – elementarische, nicht durch Schönheit verklärte Sinnlichkeit (wie die der Renaissance und der Griechen), Wüstheit und Kaltsinn sind die Voraussetzungen gegen welche Wagner und Schopenhauer kämpfen, auf welche sie wirken – der Boden ihrer Kunst. Brand der Begierde, Kälte des Herzens – Wagner will Brand des Herzens, neben dem Brand der Begierde, Schopenhauer will Kühle der Begierde neben der Kühle des Herzens (der Schopenhauer des Lebens, nicht der der Philosophie).

30 [159]

Goethe – „Byron's Kühnheit Keckheit und Grandiosität, ist das nicht alles bildend? Wir müssen uns hüten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden."

Dies auf Wagner's Kunst anzuwenden.

30 [160]

Voltaire, nach Goethe „die allgemeine Quelle des Lichts".

30 [161]

Keller, Burckhardt zu erwähnen: vieles Deutsche erhält sich jetzt besser in der Schweiz, man findet es hier deutlicher erhalten.

30 [162]

Aberglaube vom Besitz – er macht nicht freier, sondern sklavischer, braucht viel Zeit, Nachdenken, macht Sorge, verbindet mit Andern, denen man nicht gleichstehen mag, weil man sie braucht; bindet fester an den Ort, an den Staat. – Der Bettler ist freilich abhängiger, – aber wenig Bedürfnisse, ein kleiner dazu ausreichender Erwerb und viel freie Zeit. Für die welche freilich keinen Gebrauch von der freien Zeit machen können, ist das Streben nach Besitz, wie das nach Ehren Orden usw., eine Unterhaltung. Der Reichthum ist oft das Resultat geistiger Inferiorität: er aber erregt Neid, weil durch ihn die Inferiorität <sich> mit Bildung maskiren kann. Insofern ist die geistige Ohnmacht der Menschen die indirekte Quelle von der unmoralischen Begehrlichkeit der Andern. – Dies, eine Betrachtung nach dem Kriege. Die Bildung als Maske, der Reichthum als Folge der innerlichen wirklichen Unbildung und Roheit.

30 [163]

Nichts ist schädlicher einer guten Einsicht in die Cultur, als den Genius und sonst nichts gelten zu lassen. Das ist eine subversive Denkart, bei der alles Arbeiten für die Cultur aufhören muss.

30 [164]

Nach dem Kriege missfiel mir der Luxus, die Franzosenverachtung, das Nationale – so wie Wagner an die Franzosen, Goethe an Franzosen und Griechen. Wie weit zurück gegen Goethe – ekelhafte Sinnlichkeit.

30 [165]

Die Dichtkunst ist älter bei den Griechen als die anderen Künste: sie also muss das Volk an den Sinn für Maass gewöhnt haben; ihnen mussten dann die anderen Künstler folgen. Aber was mässigte die Dichter?

30 [166]

Plan.

Einsicht in die Gefährdung der Cultur. Krieg. Tiefster Schmerz, Brand des Louvre.

Schwächung des Culturbegriffs (das Nationale), Bildungsphilister.

Historische Krankheit.

Wie bekommt der Einzelne gegen die Epidemie Halt?

1) Schopenhauer's Metaphysik, überhistorisch; heldenhafter Denker. Standpunct fast religiös.

2) Wagner's Vertheidigung seiner Kunst gegen den Zeitgeschmack.

Daraus neue Gefahren das Metaphysische treibt zur Verachtung des Wirklichen: insofern zuletzt culturfeindlich und fast gefährlicher.

Überschätzung des Genius.

Die Cultur der Musik lehnt die Wissenschaft, die Kritik ab; vieles Beschränkte aus Wagner's Wesen kommt hinzu. Roheit neben überreizter Sensibilität.

Das Deuteln und Symbolisiren nimmt überhand bei den Wagnerianern.

Ich entfremdete mich der Kunst, Dichtung (lernte das Alterthum mißverstehen) und der Natur, verlor fast mein gutes Temperament. Dabei das schlechte Gewissen des Metaphysikers.

Bedeutung von Bayreuth für mich.

Flucht.

Kaltwasser-Bad.

Die Kunst, die Natur, die Milde kommt wieder.

Zweck der Mittheilung

Freunde.

30 [167]

Das Undeutsche an Wagner:

es fehlt die deutsche Anmuth und Grazie eines Beethoven Mozart Weber, das flüssige heitere Feuer (allegro con brio) Beethovens Webers, der ausgelassene Humor ohne Verzerrung.

Mangel an Bescheidenheit, die lärmende Glocke. Hang zum Luxus.

Kein guter Beamter wie Bach. Gegen Nebenbuhler nicht Goethisch ruhig.

30 [168]

Neben einer Moral der Gnade steht eine Kunst der Gnade (Inspiration). Beschreibung!

30 [169]

Damals glaubte ich das Christenthum im Verschwinden zu sehen, Wagner sandte ihm auch einige böse Worte nach – dumpfer Aberglaube – jetzt – jenseits der Berge.

30 [170]

Die grosse Oper aus französischen und italiänischen Anfängen. Spontini, als er die Vestalin schuf, hatte wohl noch keine Note eig<entlich> deutscher Musik gehört. Tannhäuser und Lohengrin – für sie hat es noch keinen Beethoven, allerdings einen Weber gegeben. Bellini Spontini Auber gaben den dramatischen Effect von Berlioz lernte er die Orchestersprache; von Weber das romantische Colorit. –

30 [171]

Was sich alles als Kraft, Inspiration, Gefühls-Überfluss geben möchte – Kunstmittel der Schwäche (der überreizten Künstler) um zu täuschen.

30 [172]

Der Luxus der Mittel der Farben der Ansprüche des Symbolischen. Das Erhabne als das Unbegreifliche Unausschöpfliche in Bezug auf Grösse. Appell an alles andere Grosse.

30 [173]

Ich zweifle nicht dass dieselben Dinge, in einen dicken süssen Brei eingehüllt, williger geschluckt werden. – Wahrheiten über Wagner.

30 [174]

Diese wilden Thiere mit Anwandelungen eines sublimirten Zart- und Tiefsinns – haben nichts mit uns zu thun. Dagegen z. B. Philoctet.

30 [175]

Wotan – die Welt vernichten, weil man Verdruss hat.

Brünnhilde – die Welt vernichten lassen, weil man liebt.

30 [176]

Wotan, wüthender Ekel – mag die Welt zu Grunde gehen.

Brünnhilde liebt – mag die Welt zu Grunde gehen.

Siegfried liebt – was schiert ihn das Mittel des Betrugs. Ebenso Wotan. Wie ist mir dies alles zuwider!

30 [177]

Wie Meister Erwin von Steinbach von seinen französischen Mustern und Meistern abhängig ist, frei und sie überragend, so Wagner von den Franzosen und Italiänern.

30 [178]

Der Gewölbebau wahrscheinlich von den Diadochen auf die Römer übergegangen, wahrscheinlich.

30 [179]

Macht und Pracht, Wille der Römer.

30 [180]

Gegensatz – Horaz unter lauter ewigen festgewordenen Dingen – wir unter lauter ganz kurzen: jedes Geschlecht soll sein eignes Feld bestellen.

30 [181]

Römer Schöpfer aller Rundformen, nicht nur Ausbildner mit Genialität.

30 [182]

Bei Goethe ist der grösste Theil der Kunst in sein Wesen übergegangen. Anders unsere Theaterkünstler, die im Leben unkünstlerisch und nur Theater-Mitleiden – – – Theater Tasso's.

30 [183]

Die Wirkungen der Wagnerischen Rhetorik sind so heftig, dass unser Verstand hinterdrein Rache übt – es ist wie beim Taschenspieler. Man kritisirt Wagner's Mittel der Wirkung strenger. Im Grunde ist es ein Verdruss darüber, dass Wagner nicht feinere Mittel nöthig fand um uns zu fangen.

30 [184]

Wie Musik im Freien bei windigem kaltem Wetter.

30 [185]

Die Freude über Rée’s psychologische Beobachtungen eine der allergrössten. Woher? so empfand ich, die Motive der Menschen sind nicht viel werth. Wie Socrates von den weisen Menschen, so ich von den moralischen. Damals machte ich Ausnahmen; um diese recht hoch zu stellen, stellte ich jene so tief (und missverstand dabei gewiss den Autor).

30 [186]

Das vorige Jahrhundert hatte weniger Historie, wußte aber mehr damit anzufangen.

30 [187]

Wie kann man nur solchen Genuß an der Trivialität haben, daß Selbstliebe die Motive aller unserer Handlungen abgiebt! 1) Weil ich lange nichts davon wußte (metaphysische Periode) 2) weil der Satz sehr oft erprobt werden kann und unseren Scharfsinn anregt und so uns Freude macht 3) weil man sich in Gemeinschaft mit allen Erfahrenen und Weisen aller Zeiten fühlt: es ist eine Sprache der Ehrlichen, selbst unter den Schlechten 4) weil es die Sprache von Männern und nicht von schwärmerischen Jünglingen ist (Schopenhauer fand seine Jugendphilosophie namentlich das 4te Buch sich ganz fremd –) 5) weil es antreibt, es auf unsere Art mit dem Leben aufzunehmen, und falsche Maßstäbe abweist; es ermuthigt.

30 [188]

Rückschritt gegen das vorige Jahrhundert in Ethik – Helvetius. Von da abwärts Rousseau Kant Schopenhauer Hegel.

30 [189]

Die Heftigkeit der erregten Empfindung und die Länge der Zeitdauer stehen im Widerspruch. Dies ist ein Punct, worin der Autor selber keine entscheidende Stimme hat: er hat sich langsam an sein Werk gewöhnt und es in langer Zeit geschaffen: er kann sich gar nicht unbefangen auf den Standpunct des Aufnehmenden versetzen. Schiller machte denselben Fehler. Auch im Alterthum wurde viel zurecht geschnitten.

30 [190]

Dies sah ich ein, mit Betrübniss, manches sogar mit plötzlichem Erschrecken. Endlich aber fühlte ich dass ich, gegen mich und meine Vorliebe Partei ergreifend, den Zuspruch und Trost der Wahrheit vernehme – ein viel grösseres Glück kam dadurch über mich, als das war, welchem ich jetzt freiwillig den Rücken wandte.

30 [191]

Wagner's Nibelungen-Ring sind strengste Lesedramen, auf die innere Phantasie rechnend. Hohes Kunstgenre, auch bei den Griechen.

30 [192]

Widerspruch im vorausgesetzten Zuhörer. Höchst künstlerisch als Empfänger und völlig unproductiv! Die Musik tyrannisirt die Empfindung durch allzupeinliche Ausführung des Symbolischen, die Bühne tyrannisirt das Auge. Etwas Sclavenhaft-Unterthäniges und doch ganz Feuer und Flamme zugleich bei dieser Kunst – deshalb eine Parteizucht sonder Gleichen nöthig. Deshalb Judenthum usw. als Hetzpeitsche.

 

[Dokument: Notizbücher]

[Sommer 1878]

31 [1]

Theopomp ganz Eifersucht auch gegen Plato als größten Litterator.

31 [2]

Gründe, warum uns die griechische Litteratur nicht fremd erscheint?

1) Gymn<asium> verwöhnt

2) Handwerkszeug der Philologie

3) wir haben zuviel Nachahmung

31 [3]

Cap<itel> sittlicher Einfluß der Dichter Redner Schriftst<eller>

Cap<itel> Prosa und Poesie

31 [4]

Thucydides vollkommener Ausfluss der sophistischen Bildung.

31 [5]

Einleitung.

Man soll nichts über die Litteraturen lesen also auch nichts über sie schreiben. So will ich sagen, wie man lesen soll. Aufgabe der Philologie. – Warnen vor dem gew<öhnlichen> Lesen.

31 [6]

Am wenigsten stimme ich dem bei, welcher mit Dekorat<ion> Scene Maschinerie zu Bayreuth unzufrieden war. Viel zu viel Fleiss und Erfindung darauf verwandt, die Phantasie in Fesseln zu schlagen, bei Stoffen die ihren epischen Ursprung nicht verleugnen. Aber der Naturalismus der Gebärde, des Gesanges, im Vergleich zum Orchester!! Was für geschraubte erkünstelte verdorbene Töne, was für eine falsche Natur hörte man da!

31 [7]

Die Kunst des modernen Staatsmanns, das gute Gewissen der Völker beim Ausbruch eines Krieges zu erwecken – den Glauben an den Sieg der guten Sache.

31 [8]

Freude am Romantischen aufgeben, dazu am Elementarischen.

31 [9]

Freunde, wir haben Freude an einander als an frischen Gewächsen der Natur und Rücksicht gegen einander: so wachsen wir wie Bäume neben einander auf, und gerade deshalb straff aufwärts und gerade, weil wir durch einander uns ziehn.

 

[Dokument: Notizbücher]

[Herbst 1878]

32 [1]

Ihr gleicht dem Grundton – – –

32 [2]

Es macht auch unter den großen Menschen einen Unterschied, ob sie beim Aufwärtssteigen nach einem hohen Ziel immer höhere oder immer niedere Ansprüche an ihre Kräfte stellen. Aber es ist für den Fernstehenden schwer zu erkennen, weil ihm das von jenen Erreichte unter allen Umständen unerreichbar ist: trotzdem kann ein Höchster immer noch sein Ideal verleugnen.

32 [3]

Den Stilen in der Kunst entsprechen Seelen: Barockseele zu zeichnen. Die hohe Seele, die feinere Seele, die vornehme Seele.

32 [4]

Die feineren Obscuranten – Lipiner.

32 [5]

Wenn ein Künstler die Menschen erschüttern erheben umwandeln will, so kann er sich doch dazu als Künstler unehrlicher Mittel bedienen: sein heiliger Zweck heiligt in diesem Fall durchaus nicht. Denn sein Zweck gehört vor das moralische, seine Mittel vor das aesthetische Gericht.

32 [6]

Um uns herum eine Art Mythenbildung. Ursache: wir sind nicht ganz ehrlich, die schönen Worte gehen mit uns durch.

32 [7]

Ein Mann, den ein Enthusiast schildert und der ihm sagt „wie gut Sie mich kennen!", erregt meinen tiefsten Widerwillen.

32 [8]

Der größte Theil unseres Wesens ist uns unbekannt. Trotzdem lieben wir uns, reden als von etwas ganz Bekanntem, auf Grund von ein wenig Gedächtniß. Wir haben ein Phantom vom „Ich" im Kopfe, das uns vielfach bestimmt. Es soll Consequenz der Entwicklung bekommen. Das ist die Privat-Cultur-That – wir wollen Einheit erzeugen (aber meinen, sie sei nur zu entdecken!).

32 [9]

Ein Roman.

Ein Band Gedichte.

Eine Historie.

Eine Philologie.

32 [10]

Die Menschen können den Ton des Versprechens und den Ton der Erfüllung nicht zusammen hören: denn sie haben sich aus dem Versprechen etwas heraus gehört, was nicht darin war. – So ich: ich versprach Wahrheits-Härte – freilich mit manchem phantastischen Ausdrucke: und nun habe ich diesen unschuldigen Kindern ihren Milchtopf umgestoßen.

32 [11]

Das Feierliche ist mir zuwider geworden: was sind wir!

32 [12]

Freunde als abgetragene Kleider.

32 [13]

Emerson p. 201 die „Überseele" ist das eigentlich höchste Cultur-Resultat, ein Phantasma an dem alle Guten und Großen gearbeitet haben.

32 [14]

„Muß man nicht entmenscht sein?" Wer hat die Ironie verstanden?

32 [15]

Emerson meint, „der Werth des Lebens läge in den unergründlichen Fähigkeiten desselben: in der Thatsache, daß ich niemals weiß, wenn ich mich zu einem neuen Individuum wende, was mir widerfahren mag." Das ist die Stimmung des Wanderers. p. 311 bei Emerson wichtig, die Angst vor der sogenannten Wissenschaft – der Schöpfer geht durch eine Thür hinein bei jedem Individuum.

32 [16]

Hast du eine große Freude an etwas gehabt? so nimm Abschied, nie kommt es zum zweiten Male.

32 [17]

Wohlgefühl nach vollbrachtem Tagewerk – das fehlt den Pessimisten und Kunst-Schwärmern.

32 [18]

„In der Natur ist alles zum Nutzen, alles schön." Aber zu allerletzt, von Oben gesehen, beim Menschen auch. Schönheit ist da, nur das Auge fehlt, sie zu sehen. Wenigstens jene Natur-Schönheit, welche zugleich Nützlichkeit ist.

32 [19]

Pinien welche horchen und den Eindruck der südlichen Stille und Mittagsruhe noch vertiefen.

32 [20]

Das Abweisen eines Buches sagt häufig, dass wir hier nichts erleben können, weil uns die Vorbereitung und die Sinne fehlen. Auch bei Menschen. Alles Negiren zeigt unseren Mangel an Fruchtbarkeit und an Organen auf diesem Gebiete: wären wir wie der Boden, wir liessen nichts umkommen.

Wir haben Fühlhörner zu vielen Menschen in uns – aber nicht zu allen.

32 [21]

Geschichte will das Befremden überwinden, der Mensch sträubt sich gegen die Vergangenheit, alles soll „Ich" „Biographie" und" „Alt-Bekannt" sein.

32 [22]

„Veredelung des Luxus, nicht Abschaffung" erstreben die Künstler – klagen die Idealisten. Aber das was man Abschaffung nennt (Verflüchtigung Sublimirung ist es) geschieht doch auf jenem Wege. Das Überflüssige ist die Voraussetzung alles Schönen.

32 [23]

„Man muß zu Fuß zu Markt tragen, was man mit Mühe erarbeitet hat" E<merson>.

32 [24]

Die ungefähr einartige Entwicklung der Vernunft und des Gefühls ist das Ziel der Cultur (als Grundlage des Verstehens, des gemeinsamen Helfens und Förderns). Darin liegt die Bedeutung solcher organisirenden Weltmächte wie Romanum imperium, Christenthum, vor allem Wissenschaft. Im Allgemeinen und Kleinen herrscht das Missverstehen vor: daher der excentrische Egoismus, nicht aus Schlechtigkeit. – Eine grosse Einbusse ist mit dieser nivellirenden Cultur verknüpft. „Geschichte" ist die Erzählung von den Mitteln, den Leitungs- <und> Verkehrswegen zur Einartigwerdung.

32 [25]

Dichter und phantastische Weise träumen daß die Natur (Thiere und Pflanzen) ohne Wissenschaft und Methode einfach aus Liebe und Intuition verstanden werde. Ganz so stehen noch die Metaphysiker zum Menschen.

32 [26]

Was wollen wir mit Wohlstand Gesundheit? – Freude und Behagen. Nun, die Quellen dazu liegen im Geiste und Gemüthe. <Mit> Wohlstand und Gesundheit suchen wir eine Art von Schlamm zu beseitigen, welcher sich dem Ausfließen entgegenstellt. – Kampf der Mittel zur Freude – wenn Kunst und Wahrheitssinn streiten. Aber dieser Kampf kann selbst zu einer Quelle der Freude werden. Zuletzt ist die Entwicklung des Menschen die Freude aller Freuden.

 

[Dokument: Notizbücher]

[Herbst 1878]

33 [1]

„Treppen-Glück" – Knaben auf Eis, eine Windlaterne in der Mondnacht am Bach.

33 [2]

Gegen Sokrates kann man jetzt einwenden daß es mit der menschlichen Tugend nichts ist, aber sehr viel mit der menschlichen Weisheit.

33 [3]

Künstler meinen, die angenehmen Momente, ein Überwallen des Herzens, seien das Ziel der Welt: sie betrachten sich als Festredner der glücklichen Momente.

33 [4]

Daß Künstler kein Gefühl für geistiges Eigenthum haben, verriethen sie ehedem in der Kunst selber: jetzt am meisten, wenn sie sich als Denker und Schriftsteller vorführen.

33 [5]

Weshalb sind alle Musiker schlechte Schriftsteller, ohne Gehör für den Rhythmus, ohne Strenge der Gedankenfügung? Die Musik erschlafft das Denken und überfeinert das Ohr. Das unbestimmte Symbolisiren – sich daran genügen lassen.

33 [6]

Die Jugend setzt auf den ihre Hoffnung, der sich immer zu stark ausdrückt, der Mann auf den, dessen Worte immer hinter seinem Vollbringen zurückbleiben.

33 [7]

Politik – Partei – Ehrlich<keit>

33 [8]

Zum Schluss – „Giebt es ein größeres Glück als die Seele zu prüfen – ein Leben ohne Prüfen: on biwtoz."

33 [9]

Was ist denn Europa? – Griechische Cultur aus thrakischen phönizischen Elementen gewachsen, Hellenismus Philhellenismus der Römer, ihr Weltreich christlich, das Christenthum Träger antiker Elemente, von diesen Elementen gehen endlich die wissenschaftlichen Keime auf, aus dem Philhellenismus wird ein Philosophenthum: so weit an die Wissenschaft geglaubt, geht jetzt Europa. Das Römerthum wurde ausgeschieden, das Christenthum abgeblaßt. Wir sind nicht weiter als Epikur: aber seine Herrschaft ist unendlich verbreiteter – Hellenisirung in vierfacher Vergröberung und Verungründlichung.

33 [10]

Also weil Sittengesetz und Recht von Menschen gemacht sind, glaubt ihr euch darüber hinweg setzen zu können: nur von Menschen, sagt ihr – wißt ihr nicht, daß, wenn ihr derartig das Menschenwerk verachtet, ihr euch selbst und all eure beabsichtigten Menschenwerke als verächtlich bezeichnet? Ihr sollt klug sein und es höher ehren als wenn es „ein Werk Gottes" wäre – denn was geht euch ein Gott an! Aber das Werk eurer Väter und Urväter – – –

33 [11]

NB. Die wahre Maja. – Halt- und gehaltlose Werthe.

33 [12]

Chinesische Arbeiter, um Asien zu europäisiren.

 

[Dokument: Notizbücher]

[Herbst 1878]

34 [1]

Es giebt gewiß viel feinere Köpfe, stärkere und edlere Herzen als ich habe: aber sie frommen mir nur soweit als ich ihnen gleich komme und wir uns helfen können. Was dann übrig bleibt, könnte, für mich, von mir aus gesehen, fehlen: die Welt bliebe immer noch ganz als meine Welt.

34 [2]

Auch der Enthus<iasmus> schwere Frage.

34 [3]

Krankheit der geistigen Constitution merkt man nicht – um so mehr aber die – – –

34 [4]

Stammelnde Dichter, Redner denen der Athem versagt und die Stimme bricht, Musiker ohne rhythmische Seele, die Weisen mit einem Wermuthgeschmack von Narrheit – diese Unvollkommenheiten der Natur gleichsam Folterer, welche die verstocktesten Menschen zur Antwort bringen: ja wir brauchen die Kunst.

34 [5]

Wir thun was wir können.

34 [6]

Aus Ignoranz greift der Anfänger wie die Kunst in ihren Anfängen nach den höchsten Zielen – irreführend.

34 [7]

Die Einfachheit ist eine kurze Ebene in den Höhen der Kunst – weder am Anfang noch am Ende.

34 [8]

Man kann wenig sogleich haben, aber man kann alles haben, wenn man nur Zeit hat. Zeit ist das Capital, welches alle Tugenden und Talente in der Welt zu Zinsen trägt.

34 [9]

Es giebt eine schleichende kaum eingestehbare Unzüchtigkeit, welche am gründlichsten erschöpft, z. B. in Kunst, beim Nachdenken, beim Fragen.

34 [10]

Homer kein Held der Schlacht, Sophokles kein duldender und verfolgter Einsiedler, die Sänger der Treue und Hingebung sind unbarmherzige Selbstlinge, die kalten Moralisten wie Helvetius sind herzensgute Menschenfreunde ohne Klugheit – das Talent will den Charakter suppliren; es ist ein gläsernes Auge für den der es trägt, nicht aber für die welche es sehen.

34 [11]

Beginnende Herrschaft der Schriftsteller.

34 [12]

Buch anonym, Zeitung unterschrieben.

34 [13]

Dichter als Apologeten Enthusiasten oder Verhehler ohne Charakter machen Diebe aus Freunden. Schluß von Werk auf Gesinnung unzulässig.

34 [14]

Wenn einer auch alle Wolfs- Fuchs- und Löwengänge der Erkenntnißtheorie durchgemacht hat – der erste beste Neuling, der in diesen Gängen sich herumdreht, ist impertinent, wenn wir die Sonne untergehen lassen und die Erde stille stehen.

34 [15]

An der Art wie das Genie bewundert, erkennt man leicht, ob es einem wilden Baume ungebändigter Selbstsucht aufgepropft ist – in diesem Falle bewundert es an den Großen früherer Zeiten sehr prunkvoll die eigenen Glanzseiten vereinzelt, es dreht nur jene Seiten an's Licht, es wirft einen Schatten auf die anderen – oder aber: ob es einem veredelten Baume als ebenbürtig erwuchs: dann liebt es das, was mehr und anders ist als bei ihm: wie Goethe.

34 [16]

Wie vergänglich Philosoph<ien> sind, erkennt man an ihrer vergänglich-machenden Kraft. Schiller, seiner Zeit frisch und lebenskräftig – jetzt schon historisch zu empfinden: die Glasur des deutschen Idealismus. So alle Dichtung mit den Tüpfeln des verstand- und weltflüchtigen deutschen Pessimismus, heute.

34 [17]

Wer jetzt in Wissenschaft und Kunst absolute Metaphysik oder selbst skeptische Metaphysik vertritt, geht über den Berg und fördert Rom.

34 [18]

Jener Abschied, wo man endlich sich trennt, weil die Empfindung <und> das Urtheil nicht mehr zusammen gehen wollen, bringt uns einer Person am nächsten und wir schlagen gewaltsam gegen die Mauer, welche die Natur zwischen ihr und uns errichtet hat.

34 [19]

<Der> Künstler wähnt, er habe durch seine großen Geschenke sich die Seele gekauft: aber er hat sie nur umfängl<icher> gemacht um noch größere Geschenke von anderen Seiten her aufzunehmen und den angebotenen Kaufpreis als viel zu gering zu achten.

34 [20]

Nie mit jemandem umgehen, der nicht zu hören versteht, sondern sich und seine Einfälle vorführt, indem er so das Gespräch zu führen meint. Es ist das Merkzeichen eines großen Egoisten, sei er noch so begabt.

Auch der welcher sich zur Aufmerksamkeit zwingt, ist ebenso egoist nur höflicher.

34 [21]

Der Dichter läßt seinen Geist für sein Herz gelten, der Denker trägt unvermerkt sein Herz in seinen Geist; ersterer als Schauspieler.

34 [22]

Sommerluft der Seele – scha<uerliches> Glück – Februar.

 

[Dokument: Notizbücher]

[Herbst 1878]

35 [1]

Vernachläss<igung> der Arbeiter – – –

35 [2]

Paris die einzige Stadt – – –

35 [3]

Zu barock" – – –

35 [4]

Manches darf der Mann der Männer wegen nicht zurückhalten: aber mit Schmerz gedenkt er der Jünglinge, welche seine Aufrichtigkeit verwirren, vom guten Wege ablenken könnte: je mehr sie bis jetzt gewohnt waren, auf die Worte ihres leitenden Lehrers zu hören. Da bleibt ihm, um ihre Erziehung nicht <zu> stören, nur übrig, sich gründlich und hart von ihnen zu entfernen und den Zügel seines Einflusses auf sie ihnen selber zuzuwerfen. Mögen sie wider ihn sich selber treu bleiben! So bleiben sie ihm treu, ohne es zu wissen.

35 [5]

Für manche Naturen mag es gut sein, ihren Leidenschaften von Zeit zu Zeit ein Fest zu geben.

35 [6]

– – – anmuthige Größe dieses ersten Seelen-Gärtners aller Zeiten wieder entdeckt – – –

35 [7]

– – – vorausgesetzt daß er in heiterer Bescheidenheit zu schwatzen versteht aus diesem Gefühl einer saturnalischen Ungebundenheit. Die Zuhörer – – –

 

[Dokument: Mappe loser Blätter]

[Herbst 1878]

36 [1]

Der Darwinist. – St. Augustinus sagte: ego sum veritas et vita, dixit Dominus; non dixit: ego sum consuetudo! – Schade darum: so ist er nicht die Wahrheit und weiß nicht, was das Leben ist.

36 [2]

Noch eine Eule nach Athen. – Daß Wissenschaft und Nationalgefühl Widersprüche sind, weiß man, mögen auch politische Falschmünzer gelegentlich dies Wissen verleugnen: und endlich! wird auch der Tag kommen, wo man begreift, daß alle höhere Cultur nur zu ihrem Schaden sich jetzt noch mit nationalen Zaunpfählen umstecken kann. Es war nicht immer so: aber das Rad hat sich gedreht und dreht sich fort.

36 [3]

Siegel und Zeugniss.

„die Reinlichkeit des Geistes hat auch die Reinlichkeit der Leidenschaft zur Folge; darum liebt ein großer und reinlicher Geist mit Wärme und sieht doch deutlich, was er liebt. – Es giebt zwei Arten des Geistes, den geometrischen und denjenigen, welchen man den feinen Geist nennen könnte. Jener hat langsame, harte, unbeugsame Ansichten; dieser hat eine Geschwindigkeit des Gedankens, welche sich an die Liebenswürdigkeiten des geliebten Gegenstandes sogleich anschmiegt. Von den Augen geht er zum Herzen und an der äußeren Bewegung erkennt er, was im Inneren vorgeht" –

Nach Pascal.

36 [4]

Wieland daß ich mich <nicht> entsinnen kann, das Wort deutsch jemals ehrenhalber nennen gehört zu haben". Werke Ausgabe von 1840 XXXI, 247.

36 [5]

Der Gedanke ist nicht nur die Geburt des menschlichen Wollens, sondern wird auch vom Menschen als menschenhaftwollende Person behandelt. Der Kopf verweilt vor einer Menschenwelt – – –

 

[Dokument: Notizbücher]

[November 1878]

37 [1]

Was hat man davon, wenn man etwas aller Welt und doch nicht sich zu Danke macht!

37 [2]

Trotz im Keime des Gedankens, oder Liebe.

37 [3]

Fastenfreude, „Pflicht"-Freude – verfehlt.

 

[Dokument: Druckmanuskripte]

[November – Dezember 1878]

38 [1]

Unerwartete Belehrung. – Erst ein Leben voller Schmerzen und Entsagungen lehrt uns, wie das Dasein ganz mit Honigseim durchtränkt ist: weshalb die Askese nicht selten aus einem verschmitzten Epikureismus gewählt sein mag. – Die „Pessimisten" sind kluge Leute mit verdorbenem Magen: sie rächen sich mit dem Kopf für ihre schlechte Verdauung.

38 [2]

Die überfeinen Unglücklichen, wie Leopardi, welche für ihren Schmerz stolz am ganzen Dasein Rache nehmen, bemerken nicht, wie der göttliche Kuppler des Daseins dabei über sie lacht: eben jetzt trinken sie wieder aus seinem Mischkrug; denn ihre Rache, ihr Stolz, ihr Hang zu denken, was sie leiden, ihre Kunst, es zu sagen – ist das nicht alles wieder – Honigseim?

 

[Dokument: Notizbücher]

[1878 – Juli 1879]

39 [1]

Litterat<ur>.

Character fälschlich aus Werken erschlossen. Diese aber nach dem künstl<erisch> Wirkungsvollsten.

Auch der Künstler irrt sich leicht über sich.

Aber allmählich verändert sich sein Wesen nach seinen Lieblingsgebilden.

39 [2]

Winckelmann Goethe ist von der Cultur aufgesaugt: deshalb erscheint es leer für uns.

39 [3]

Lust am Zwange, immer neues Sich-binden bei den Griechen.

Homer unter dem Zwange alter Technik.

39 [4]

Metrischer Zwang.

Naturfehler des Epos, der einzelnen Gattungen.

39 [5]

Thracier machen den Übergang zur Wissenschaft am ersten: Democrit Protagoras Thukydides.

39 [6]

Ansätze zu neuen Gattungen, absterbend.

Abgelehnte Themata, Auswahl.

39 [7]

Vergröberung der Kunst im Drama.

39 [8]

Zu lesende Bücher:

Taine, Frankreich v<or> der Revolution.

Lenormant, Phoenizien usw.

Gutschmid, neue Beiträge zur Assyriologie.

Duncker, Geschichte, erster Band.

Doehler, Hadrian usw. (Halle).

Reumont, Cosimo.

Reumont, Geschichte Toscana's.

Stern, Milton und <seine> Zeit.

Villari, Machiavell übersetzt Mangold.

Petrarca, Geiger.

Baudissin, Studien.

Schack, spanisches Theater.

– über den Islam?

E. Schérer, études litteraires.

Ambros III Band (Renaissance bis Palestrina).

Peschel, Völkerkunde.

Renan usw.

39 [9]

Aus zwei Augen sehen – diz to calon.

39 [10]

Ein gewähltes Wort will seinen Hofstaat von Worten um sich und sein Arom (Parfum).

39 [11]

Zeitalter des Erkennens um der Seele Ruhe und Freude zu geben.

 

[Dokument: Notizbücher]

[Juni – Juli 1879]

40 [1]

Octobermensch. Bauern im Schwarzwald.

40 [2]

Nur fehlt mir ein Menschlein.

40 [3]

Ich schließe: Beschränkung seiner Bedürfnisse. In diesen aber muß Jeder zusehen, Fachkenner zu werden (z.B. in Betreff seiner Speisung, Kleidung, Wohnung, Heizung, Clima usw.). Sein Leben auf so viel oder wenig Fundamente stellen als man ausreichend beurtheilen kann – so fördert man die allgemeine Moralität, d.h. man zwingt jeden Handwerker, uns ehrlich zu behandeln, weil wir Kenner sind. Ein Bedürfniß, worin wir nicht Kenner werden wollen, müssen wir uns verbieten: dies ist die neue Moralität.

Kennerschaft hinsichtlich der Personen, welche wir gebrauchen, ist das erste Surrogat. Also Menschenkunde, dort, wo unsere Sachkunde aufhört.

Also: eine ganz andere Art von Wissen zu erwerben, auf Grund unserer Bedürfnisse.

40 [4]

Die Maschine controlirt furchtbar, daß alles zur rechten Zeit und recht geschieht. Der Arbeiter gehorcht dem blinden Despoten, er ist mehr als sein Sklave. Die Maschine erzieht nicht den Willen zur Selbstbeherrschung. Sie weckt Reaktionsgelüste gegen den Despotismus – die Ausschweifung, den Unsinn, den Rausch. Die Maschine ruft Saturnalien hervor.

40 [5]

Die Unfreiheit der Gesinnung und Person wird durch den revolutionären Hang bewiesen.

Die Freiheit durch Zufriedenheit, Sich-einpassen und persönliches Bessermachen.

40 [6]

Gegen die Schädlichkeit der Maschine, Heilmittel

1) Häufiger Wechsel der Funktionen an derselben Maschine und an verschiedenen Maschinen.

2) Verständniß des Gesamtbaus und seiner Fehler und Verbesserungsfähigkeit

(der demokratische Staat, der seine Beamten oft wechselt)

40 [7]

Bei einem weniger gewaltsamen Charakter des socialen Lebens verlieren die letzten Entscheidungen (über sogenannte ewige Fragen) ihre Wichtigkeit. Man bedenke, wie selten schon jetzt ein Mensch etwas mit ihnen zu thun hat.

40 [8]

Mein größter Schmerz.

40 [9]

Mir wurde Angst beim Anblick der Unsicherheit des modernen Culturhorizonts. Etwas verschämt lobte ich die Culturen unter Glocke und Sturzglas. Endlich ermannte ich mich und warf mich in das freie Weltmeer.

40 [10]

Sentimentale Stimmungen (über die Vergänglichkeit aller Freude, oder melodisches Seufzen nach Befreiung aus dem Gefängniß) immer als Ausdruck deprimirter Nerventhätigkeit. Der größte Theil der Musikfreude gehört hieher. – Es giebt Culturen der aufsteigenden Nerventhätigkeit und solche der absteigenden; ebenso Philosophien, Dichtungen.

Nur die Ermüdung (des Denkens) namentlich in einer zeitweiligen Hoffnungsarmut führt sie in den Wagnerischen Dunstkreis.

40 [11]

Das „Lied an die Freude" (22. Mai 1872) eine meiner höchsten Stimmungen. Erst jetzt fühle ich mich in dieser Bahn. „Froh wie seine Sonnen fliegen, wandelt Brüder eure Bahn -". Was für ein gedrücktes und falsches „Fest" war das von 1876. Und jetzt qualmt aus den Bayreuther Blättern alles gegen das Lied an die Freude.

40 [12]

Wie auf unseren Theatern Helden mit Lindwürmern kämpfen und wir an ihr Heldenthum glauben sollen, trotzdem wir sehen – also sehen und doch glauben – so auch bei ganz B<ayreuth>.

40 [13]

Musik-sentiment<alität>.

Zu beschreiben.

Nachtwach, schlafsehnsüchtig – hell röthlich braun.

40 [14]

Je vollkommner die Maschine, desto mehr Moralität macht sie nöthig. (Beil Flinte usw.)

40 [15]

Je feiner der Geist, desto mehr leidet der Mensch beim Übermaß der Begierden. Insofern bringt geistige Verfeinerung auch dasselbe hervor was die Moralität der gebundenen Geister.

40 [16]

Die Lehre von den nächsten Dingen.

Eintheilung des Tags, Ziel des Tags (Perioden).

Speisung.

Umgang.

Natur.

Einsamkeit.

Schlaf.

Broderwerb.

Erziehung (eigne und fremde).

Benutzung der Stimmung und Witterung.

Gesundheit.

Zurückgezogenheit von der Politik.

Unnatürliche Verschiebung:

die Krankheit (als heilsam)

der Tod (als Segen)

das Unglück (als Wohlthat)

Kampf gegen den Schmerz. Die Kampfmittel werden wieder zu Schmerzen (im Kämpfen liegt die Übertreibung, das auf-die-Spitze-treiben). Natur als Schmerz, Religion als Schmerz, Gesellschaft als Schmerz, Cultur als Schmerz, Wissen als Schmerz. Also: Kampf gegen den Kampf!

Heilung der Seele.

Sorge.

Langeweile.

Begierde.

Schwäche.

Wildheit, Rache.

Entbehrung.

Verlust.

Krankheit.

Freude. Dreifaltigkeit der Freude

1) als Erhebung

2) als Erhellung 4) dreieinig.

3) als Ruhe

40 [17]

Wir schätzen die Dinge nach der Mühe ab, die das Herstellen oder Fangen derselben uns gemacht hat. Daher "Werth". Dies wird auf die Wahrheit übertragen und giebt lächerliche Resultate.

40 [18]

Gegen die philosoph<isch>-relig<iösen> Kuppler

40 [19]

Der Lehrer ist, durch Verbreitung der Selbst-Erziehung, auf die höchsten Ansprüche zu steigern, in seinen mittleren Formen zu vernichten.

Die Schule zu ersetzen durch lernbegierige Freundschafts-Vereine.

40 [20]

Das unstäte Reiseleben der Gebildeten ist ein Beweis, daß sie sich aufsuchen müssen und daß so wenig Gebildete an einem Ort leben. Zehn gereifte und mannigfache Vertreter des Geistes bannen sich fest durch den gemeinsamen Zauber ihres Zusammenlebens. – Das Natur – suchen ist ein Surrogat bei dem Mangel an guter Gesellschaft. Lieber allein als schlecht gepaart. Man flieht nicht sowohl vor sich selbst als vor seinem Umgange, wenn man regelmäßig alle Sommer den Ort verläßt.

Anwurzelung ist aber nothwendig für das Bestehen aller gemeinsamen Institutionen. Man wird Reisender „Wanderer", wenn man nirgends heimisch ist. Also: das moderne Kloster.

40 [21]

Metaphysik und Philosophie sind Versuche, sich gewaltsam der fruchtbarsten Gebiete zu bemächtigen: sie gehen immer eher zu Grunde, weil Wälder entwurzeln über die Kräfte des Einzelnen geht.

40 [22]

Gegen die geheuchelte Verachtung der nächsten Dinge und deren wirkliche Vernachlässigung (rohe Auffassung).

40 [23]

Die nächsten und die fernsten Dinge.

40 [24]

Wann ich geweint habe:

1) Commune

2) Gedicht Rosenlaui

3) Bauern Schwarzwald

4) Traum

5) Adresse aus Wien Geburtstag

40 [25]

Der Faden, auf dem die Gedanken manches Denkers laufen, ist so fein, daß wir ihn nicht sehen und daß wir vermeinen, jener fliege oder schwebe oder treibe die Kunst der beflügelten Dichter. Aber wie die Spinne oft an einem zarten Fädchen herab läuft –

40 [26]

Jetzt müssen wir unsere Zurückgezogenheit rechtfertigen: universal –

40 [27]

Wie erzeugt man Menschen mit gutem Temperament?

 

[Dokument: Notizbücher]

[Juli 1879]

41 [1]

Ein Philosoph, der des Längeren einmal in der genannten Weise gelobt wurde, schrieb während dem mit seinem Stab in den Sand: „Eheu, Triviam deam fortassis amplexus sim?"

41 [2]

Das anziehendste Buch der griechischen Litteratur: Mem<orabilia> Socr<atis>.

41 [3]

Man erstrebt Unabhängigkeit (Freiheit) um der Macht willen, nicht umgekehrt.

41 [4]

Der überwache allzuglänzende Blick und die zitternde Hand – Tristan.

41 [5]

Durch die Zwecke wird das Leben ganz unsinnig und unwahr. Man arbeitet, um sich zu nähren? Man nährt sich, um zu leben? Man lebt, um Kinder (oder Werke) zu hinterlassen. Diese ebenso – usw. und zuletzt salto mortale. Vielmehr ist im Arbeiten Essen usw. immer auch das Ende da: mit dem Zweck knüpfen wir 2 Enden aneinander. Ich esse um zu essen und um zu leben d. h. um wieder zu essen.

Die Handlung will wiederholt werden, weil sie angenehm ist. Alles Angenehme ist das Ende. Sind die Pflanzen da, um von den Thieren verspeist zu werden? Es giebt keinen Zweck. Wir täuschen uns. – Ich tauche die Feder ein um – – –

41 [6]

Climata hat man erwogen, aber Tag und Nacht überhaupt usw.

41 [7]

Auch dem Frömmsten ist sein tägliches Mittagsessen wichtiger als das Abendmahl.

41 [8]

In den Gewerben ahmen wir die Natur nach und wiederum sind wir ergötzt, wie es scheint, daß die Natur uns nachgeahmt hat, wie in dem kleinen Stiel der Alpenrosenblüthe, der aus gelber und rother Seide geflochten scheint.

41 [9]

Socialisten hülfen zum Siege der Demokratie.

41 [10]

Nemessan ungeziemende Gleichsetzung.

41 [11]

Wenn der Gleiche dem Gleichen Hülfe erweist, ist es kein Mitleid, sondern Pflicht – die Gleichsetzung hergestellt. Wenn der Starke dem Schwachen hilft, ohne Vortheil – erbarmt er sich –?

41 [12]

Stufen: den Ruf mehren

1) mit sofortigem Nutzen im Auge

2) ohne dies, aber als Capital

3) gegen den sofortigen Nutzen in Hinsicht auf kommenden

4) gegen und ohne "Eitelkeit"'.

41 [13]

Alle kleinen Dinge sind einst groß gewesen.

41 [14]

"Die Fremde statt zu kommen, reiste wieder ab".

41 [15]

Das Gehirn im Wachsen. Nur die jüngsten Theile haben ein begleitendes Bewußtsein. Die älteren arbeiten ohne diese Laterne der Controle.

Das Ziel: der Mensch eine große unbewußte Zweckthätigkeit, wie die Natur der Pflanze.

41 [16]

Mädchen die wie Turteltauben lachen.

41 [17]

Zur Zeit der lauen Februarwinde, wenn die kleinen übereisten Gewässer unter den Füßen der Kinder knistern.

41 [18]

Ein Rädergleis voll Wasser.

41 [19]

Ein Mittagsläuten vom Dorfthurm, bei dem Frömmigkeit und Hunger zugleich wachwerden.

41 [20]

Wie die Sonne in einem Tannenwald, warme Wohlgerüche und reine Kühle des Windhauchs.

41 [21]

Mücken bewölkter Himmel und feuchtwarme Luft – meine Feinde.

Felsen Wind Nadelhölzer Heidegräser und viel Luft – meine Freunde.

41 [22]

„Sphynx, Temistocles, Mythe, Paradoxe, Sophismus, Styl, Literatur usw."

41 [23]

Carey 512. Concurrenz – ihre Nützlichkeit, obwohl grundböse. – Geht gegen das Gleichgewicht – aber die andere Gruppe hat den Vortheil des Kampfes. Der Dritte, der den Esel fortführt. Sind aber Engländer, so ist der Dritte selber der Esel, der fortgeführt wird.

41 [24]

Schläfrig und zufrieden wie die Sonne in den Gassen einer kleinen Stadt am Feiertage.

41 [25]

Terzen – Oktaven: Melodie

Kindheit – lernen – erste Magie

überall wo Wehmuth, wird ein Verlust empfunden, aber ein halbes Wiederfinden damaliger Empfindung.

"Alpenglühen der Empfindung" wenn die Sonne hinunter ist

Sonntag-Nachmittag-Einsam<keit> ebenso zu erklären.

Das Kind hat die großen Entzückungen an den einfachen Dingen voraus.

41 [26]

Der Empfindsame sehr fromm – ein Schuft.

41 [27]

Soldat Kugel Dämmerung

41 [28]

Eine gew<isse> Albernheit in den Begleitungsfiguren der rhythmischen Cadenzen hebt diese Wirkung nicht auf, mitunter scheint sie dieselbe sogar zu verst<ärken>.

41 [29]

Bei der Nähe des Gewitters, wenn das graue Gebirge furchtbar und tückisch blickt.

41 [30]

Durch Jean Paul ist Carlyle zu Grunde gerichtet und zum schlechtesten Schriftsteller Englands geworden: und durch Carlyle wieder hat sich Emerson, der reichste Amerikaner, zu jener geschmacklosen Verschwendung verführen lassen, welche Gedanken und Bilder händevoll zum Fenster hinauswirft.

41 [31]

Schluss: Werden wir, was wir noch nicht sind: gute Nachbarn der nächsten Dinge.

41 [32]

Die Trostmittel des Christenthums sind bald eine Antiquität; ein Oel, das sich verrochen hat. Dann treten die Trostmittel der antiken Philosophie wieder hervor, in neuem Glanze – und unsere neue Trostmittelgattung kommt hinzu, die historische.

41 [33]

Die meisten Menschen bäumen sich wider den Tröstenden eine Zeitlang auf und übertreiben die Tiefe und Unbändigkeit ihres Schmerzes, in Worten und Wehklagen. Sie finden es unerträglich, daß der Tröstende anzunehmen scheint, er werde leichter mit diesen Unfällen Verlusten usw. fertig werden: sie deuten ihm an, dies könne nur darin seinen Grund haben, daß er nicht tief genug empfindet und in der Fähigkeit tief zu empfinden unter ihnen stehe. In Wahrheit empfinden sie kein Haarbreit tiefer als jener empfinden würde, oft weniger. Sie setzen also seiner vermeinten Überlegenheit den Schmerz zu besiegen, eine andere entgegen.

41 [34]

Der klassische Geschmack – nichts begünstigen, was die Kraft der Zeit nicht zu reinem und mustergültigem Ausdruck zu bringen vermöchte, also ein Gefühl der der Zeit eigenthümlichen Kraft und Aufgabe.

41 [35]

In Ansichten über Kunst wenigstens wollen wir uns die Leidenschaftlichkeit und Roheit verbitten: auch das blinde Parteiwesen.

41 [36]

Der Häßliche und Unansehnliche ist der Mode gram, weil sie nicht an ihn denkt. Er muß sich verkleiden.

41 [37]

Nicht das ist das Kunststück, ein Fest zu veranstalten, sondern solche zu finden welche sich an ihm freuen. Meistens ist ein Fest ein Schauspiel ohne Zuschauer, ein Tisch voller Speisen ohne Gäste. Wer mitspielt, Fürsten und Soldaten, haben ihre Pflichten und Ermüdungen dabei, und die Neugierde des Gassenjungen ist die einzige lebendige Zuthat.

41 [38]

Backwerk Zucker eine Mahlzeit, eine Treppe.

41 [39]

Gegen die Küche des prix fait – des Hotels.

41 [40]

Die strahlende gelbe Wiese, und über ihr dunkle braungrüne Waldzüge, über ihnen aber, in gewaltiger Steigerung derselben Berglinien, die Hochgebirgskronen, bläulich grau und schneeweiß schimmernd.

41 [41]

Das Große an den Alten ist ihr universaler Trieb, ihr Auge und <ihre> Schätzungen für alles, ihr geringer nationaler Accent (Griechen und Römer).

41 [42]

Zur Beendigung des Kampfes ums Dasein entsteht die Gemeinschaft. Das Gleichgewicht, ihr Gesichtspunkt.

41 [43]

Die Gemeinheit entsteht erst in der Gemeinschaft. Thukydides: jJ oneon gegen das Glänzende, zu schwärzen – also bei Gleichen.

41 [44]

Natur muß ich allein haben, um sie mir nahe zu bringen. Im Verkehre mit Menschen macht sie mich ungeduldig: und wird mir immer fremder. Menschen berauschen mich: für die Natur muß ich ganz mein Gleichgewicht gefunden haben.

41 [45]

Die Menschen verkehren zu viel und büßen dabei sich ein. Wer wenig hat, dem wird durch Gesellschaft auch noch das W<enige> gen<ommen> w<as er> h<at>.

41 [46]

Wer nicht bei Zeiten lernt, 2 Stunden des Tags allein sein zu können, ohne Geschäft und Pflicht und (die ekelhaften Halbbeschäftigungen des Dampfblasens und schluckweise-Trinkens) – der – – –

41 [47]

Vielleicht sind die Götter noch Kinder und behandeln die Menschheit als Spielwerk und sind grausam ohne Wissen und zerstören in Unschuld. Werden sie älter –

Vielleicht kümmern sich die Götter nicht um uns, wie wir nicht um den Bau der Ameisen, obwohl –

41 [48]

Gründe an Stelle der Gewohnheiten, Absichten an Stelle der Triebe, Erkenntnisse an Stelle des Glaubens, geistigseelische Freudigkeit an Stelle häufiger Einzel-Genüsse, Gleichgewicht aller Bewegungen und die Lust an dieser Harmonie an Stelle der Aufregungen und Berauschungen – und später alles wieder unbewußt werdend!

41 [49]

Dieser Dialog ist nicht von mir. Er wurde mir eines Tages übersandt, mit der einzigen Bemerkung, daß ich ihn lesen und weitergeben dürfe. Das Erstere that ich, das Andere thue ich.

41 [50]

– – – vom Heil der Seele würde keine Rede sein, der Staat würde nicht soviel Noth abzuhelfen haben und kein solches Kopfzerbrechen machen.

41 [51]

Gegen Wagner bekommt man leicht zu sehr Recht.

41 [52]

Wenn die Schätzung z. B. des Uneigennützigen erst festgestellt wurde (ob auch irrthümlich –), so wächst sie.

41 [53]

Die verschiedenen Arten der Phantasie haben eine verschiedene Kraft zu vergrößern. Phantasie die Furcht sehr groß machend – daher spekulirt auf sie zu allererst der Mächtig-sein-wollende.

41 [54]

Etwas das wir wissen, Scheint uns sehr dadurch im Werthe gestiegen. Eine Zeitlang –

41 [55]

Ein Gang am Hafen von Neapel macht den Geist frei und bringt ihn den Alten näher. Fruchtbarkeit Heiterkeit und die Pest oder Kriege –

41 [56]

Die Mittler-Moral.

Übertragung der M<ittler->M<oral> und ebenso der Gleichgewichts-Moral auf die Seele.

41 [57]

Gnade ursprünglich ein Zeichen der Verachtung.

41 [58]

Die Uneigennützigkeit kommt in Ruf durch den Mittler, wenn der Haß zwischen zwei wüthet. In Wahrheit ist der M<ittler> nicht uneigennützig.

41 [59]

Ein Ding, dem ein Begriff genau entspricht, wäre ohne Herkunft. Plato's Irrthum von den ewigen Ideen.

41 [60]

Es ist viel Charakter nöthig, die Sache des guten Geschmacks und der Vernunft aufrecht zu erhalten, wenn die großen Talente sich alle auf die entgegengesetzte Seite stellen.

41 [61]

Die größte Absicht der Kunst sollte nicht durch die Schwachen vertreten werden.

41 [62]

– nach der biblischen Moral, nach der dem, der wenig hat, auch noch das Wenige genommen wird, das er hat.

41 [63]

Unsere Schwarzseherei, unsere Sentimentalität in Tragödie und Lyrik ist Ermüdung des Kopfes, bei Völkern und Einzelnen. Nervenschwäche.

41 [64]

Ein langer Geschmack im Munde.

41 [65]

Unsere Aufgabe, alles Angeerbte Herkömmliche Unbewußt-Gewordene zu inventarisiren und zu revidiren, auf Ursprung und Zweckmäßigkeit zu prüfen, vieles zu verwerfen, vieles leben zu lassen.

41 [66]

Der Seidenwurm, dem man das Spinnen nicht verbieten soll.

41 [67]

Das Ideale bei Schiller Humboldt – eine falsche Antike wie die Canova's, etwas zu glasirt, weich, durchaus der harten und häßlichen Wahrheit nicht in's Angesicht zu sehen wagend, tugendstolz, vornehmen Tones, affektvoller Gebärde, aber kein Leben, kein ächtes Blut.

41 [68]

Ich muß weinen, wenn ich Goethes Worte auf Schiller "und hinter ihm im wesenlosen Scheine usw." lese. Warum?

41 [69]

<Wanderer> – Dies ist mir zu flach. Schatten – Soll denn ein Schatten selbst immer tief sein! Denke doch, wie dünn er ist. Wanderer – Ich wußte bisher nicht, daß die Dicken mehr Vorrecht auf Tiefe haben als die Dünnen.

41 [70]

Anekdote vom Cardinal und dem Nachtstuhl.

41 [71]

<Du kannst nicht> geläufig im Herzen lesen, aber liebst es, zu buchstabiren, und mitunter kommt das rechte Wort heraus.

41 [72]

Der Wanderer und sein Schatten.

Ein Geschwätz unterwegs.

41 [73]

Rivarol. Fontenelle.

Beyle's Briefe.

Mérimée ganz.

41 [74]

Wenn 1 mal fast = 0mal, 10mal = 100mal.

41 [75]

Jeden Tag eine Stunde: Gesundheitslehre.

 

[Dokument: Notizbücher]

[Juli – August 1879]

42 [1]

Curiosa unserer modernen Schriftsteller, welche einem Kenner der alten Sprachen wie Schmutzflecken anmuthen.

Kringel (Ge-ringel)

Kraut (Ge-reutetes)? die Parado<xie>

Kleben (ge-leben)?

zu Laut- und Geschlechts-Curiosa.

42 [2]

Ein Stück Zucker in Thee aufgelöst und ein gleiches, im Mund gehalten, während man den Thee trinkt, geben ein verschiedenes Gefühl von Süße.

42 [3]

Die Willensfreien, eine wundervolle Illusion, wodurch der Mensch sich zu einem höheren Wesen gemacht hat; der höchste Adel, am Guten wie am Schlechten bemerkbar. Doch schon thierisch. Wer sich darüber erhebt, erhebt sich über das Thier und wird eine bewußte Pflanze.

Der willensfreie Akt wäre das Wunder, der Bruch der Natur-Kette. Die Menschen wären die Wunderthäter.

Das Bewußtsein um ein Motiv bringt die Täuschung mit sich – der Intellekt der uranfängliche und einzige Lügner.

42 [4]

Plato und Rousseau über Cultur in Einem Gegensatz: Plato meint, unter Naturmenschen (Wilden) würden wir auch noch den athenischen Verbrecher umarmen (als Culturwesen). Er hat Recht gegen Rousseau.

42 [5]

Die Größe oder Kleinheit der menschlichen Kraft entscheidend bei der Constitution seiner Empfindung. Er wird erst böse und wild, wenn Mächte, die der seinen ähnlich oder unter ihm sind, ihm gegenüber treten. Gegen Gewitter ist er ohne Vorwurf.

Das Unrecht der Fürsten erträgt man leichter. Am schlimmsten ist der Nachbar daran. Wo der Mensch sich nicht unterwirft, da wird er selber Tyrann.

42 [6]

Der Türkenfatalismus ist der, welcher die individuelle Unfreiheit des handelnden Menschen als gleich der intellektuellen setzt und letztere herab stimmt zur individuellen. (Denn Blinde, deren Triebe dem Befehle gehorchen, Ein Motiv nur sehen zu wollen –)

42 [7]

1) Rache des Mächtigen gegen den Mächtigen, womöglich Vernichtung. Schonung, um sich an der Qual zu weiden.

2) Gleiche Vergeltung (um die Folgen der Rache zu schwächen).

3) Der Mächtige gegen den Unterworfenen. Das Oberhaupt Strafen verhängend (ähnlicher Gesichtspunkt wie die Gemeinde, oft persönliches Rachegelüst über den Vortheil des Oberhaupts siegend). Je größer die Gefahr, um so mehr sieht er nach, um so strenger drakonischer straft er und jedenfalls launenhafter.

4) Abschreckung und zugleich Schonung des Individuums (vom Standpunkte der Gemeinde, die es nicht verlieren will).

Grade des Schmerzes als Aequivalent der Vergehungen. Je brauchbarer einer ist, um so milder wird er bestraft.

Wird an ein ewiges Leben geglaubt, und das irdische Leben niedrig geschätzt, so ist die Schonung nicht so nöthig, also die Grausamkeit größer.

Unschädlich machen, aber doch möglichst nützlich erhalten (deshalb auch den Leib schonen) – wird Vernichtung nöthig, dann eher zu grausam, weil damit die größte Abschreckung, also der größte Nutzen erreicht wird.

5) Göttliche Strafen, als äquivalent weltlicher Gerechtigkeit (also Schicksalsschläge). Dadurch große Milderung. Die Priester kündigen diese Strafen an; der Rachedürstige wartet – viel gewonnen!

6) Die Gewissenspein als Äquivalent. Gefahr ewiger Verdammniß. Christlicher Standpunkt.

42 [8]

Die Rache des Niederen am Höheren geht immer auf das Äußerste aus, Vernichtung: weil sie so allein den Rückschlag beseitigen kann.

42 [9]

Strafgelder, Schaden wieder gut machen – etwas Anderes. Möglichst viel Nutzen erweisen, nachdem man Schaden gethan hat. An dem Schmerz beim Bezahlen wird nicht gedacht. Gemeinde-Vortheil, Pfändung, Einziehung des Vermögens usw.

Daraus eine Abschätzung der Vergehen nach Geld. (Schadenersatz, Ausgangspunkt.)

42 [10]

Der heilige Neid und der heilige Zorn.

42 [11]

(Jeder der immer zu geben hat hat was Schamloses)

42 [12]

Melodien, die nicht fröhlich zu Ende laufen, sondern wie wasserscheue Hunde mit eingeklemmten Schwänzen plötzlich stehen bleiben. –

42 [13]

Gemälde, wo der Färber sagen will, was der Zeichner nicht sagen kann.

42 [14]

Der Ansatz zum Menschen sehr oft vergeblich gemacht, bei der geringen Fruchtbarkeit Einmal ein ganz günstiges Zusammentreffen!

42 [15]

Wir bedürfen Nahrung: aber die Bedürfnisse unseres Geschmacks sind andre, erst Zwang, dann Gewöhnung, dann Lust, welche wiederholt zu werden wünscht (Bedürfniß). Ganz wie beim moralischen Sinn, der auch so verschieden ist wie der gustus, aber der Zweck, dem er dient, ist fast derselbe (Erhaltung des Menschen durch und gegen die Menschen).

Der moralische Sinn ist ein Geschmack, mit bestimmten Bedürfnissen und Abneigungen: die Gründe der Entstehung jedes einzelnen Bedürfnisses sind vergessen, er wirkt als Geschmack, nicht als Vernunft.

Der Geschmack ist ein angepaßter und auswählender Hunger. Ebenso die Moral. (Ein Hunger, der auf bestimmte Weise befriedigt werden will, nicht chemisch. –) So wollen wir, vermöge des moralischen Sinns, uns auch nicht auf jede Weise durch und gegen die Menschen erhalten.

42 [16]

Bei körperlicher oder geistiger Vollarbeit ist der Geschlechtstrieb gering. Eine mäßige Arbeitsamkeit in Einer Hinsicht förderlich.

42 [17]

Via Appia – endlich alles ruht – die Erde einst ein schwebender Grabhügel.

42 [18]

Man wandelt nicht ungestraft fortwährend unter Bildern.

42 [19]

Socialismus – das höchste Gebot: du sollst nicht besitzen.

42 [20]

So lange Nothwehr und Abschreckung (Mensch als Mittel) innerh<alb> der Gesellschaft, so lange werden die Kriege nicht aufhören. Man vergißt den verhärtenden Einfluß aller strafenden Justiz: die Verachtung der Haß auf die Verbrecher. Stehende Heere sind ein Abschreckungsmittel –

42 [21]

Rache

1) Verhinderung der Fortsetzung (Schutz –?)

2) der uns schädliche Mensch soll unschädlich gemacht werden (Versöhnung?),

3) Neid über den Sieg oder das Übergewicht des Gegners,

4) im Schwarzsehen nie übertreiben, in der Angst vor dem, was noch kommen kann ebenfalls – wir messen zu hoch.

5) Herstellung unseres Ansehens.

42 [22]

Die sittliche Belehrung welche am leichtesten vergessen wurde, müßte am schwersten gestraft werden, als Wink.

42 [23]

Es ist erbärmlich wenig, wenn eine Musik, Stimmung hat. Ein Instrument soll Stimmung haben: dann aber etwas Schönes verlauten lassen: ebenso ein Mensch und eine Schrift.

42 [24]

Wechsel und Kreislauf, darnach unterscheiden sich die Menschen (Milch täglich, dann schmeckt sie anders – man genießt aus einem Gegensatz).

42 [25]

Der Willensstarke 1) er sieht das Ziel deutlich. 2) Er traut sich die Kraft zu, zu den Mitteln mindestens. 3) Er hört auf sich mehr als auf andere. 4) Er ermüdet nicht leicht, und in der Ermüdung erblassen seine Ziele nicht. Er ist ein geübter Bergsteiger. 5) Er erschrickt nicht sehr und oft. Also: diese Art Freiheit des Willens, die man an ihm rühmt, ist Bestimmtheit und Stärke des Wollens, nebst Geübtheit und Schwäche der Phantasie, sowie Herrschaft oder Herrschsucht und Selbstgefühl. Man redet von Freiheit weil diese gewöhnlich mit Kraft und Herrschaft verbunden ist.

42 [26]

Rache sehr complicirt!

42 [27]

Gleichgewicht. Das Gefühl der Willensfreiheit entsteht aus dem Schwanken und Stillestehen der Wage, bei Gleichgewicht der Motive.

42 [28]

Grade der Freiheit. Wenn er neue Motive den alten (Gewohn<heiten> oder vererbten Motiven) vorzieht, bewußte den triebähnl<ichen> Motiven – – –

42 [29]

Sie haben das Gebiet der pudenda so ausgedehnt, daß ein Gespräch über Verdauung, ja über Zahnbürsten schon für unzart gilt: und die Feineren denken folglich auch nicht über solche Dinge nach.

42 [30]

Hauptfrage bei jedem Menschen einzeln zu beantworten: sind deine Gefühle mehr werth oder deine Gründe (Vernunft)? Dies hängt von der Vererbung und Übung ab. (Gute Eltern aber dumm!)

42 [31]

Wir wollen uns so freuen, daß unsere Freude den Anderen nützlich ist.

42 [32]

Möglichst viel Freude an sich haben. Aber heißt das nicht die Selbstgefälligen ermuthigen? – Sind sie so schädlich? Und die Gefahr der Enttäuschung!! Heißt es die ermuthigen, welche nur eine eingebildete Gesundheit haben?

42 [33]

Selbst-Entdeckung

Selbst-Abschätzung

Selbst-Veränderung

42 [34]

Würde des Verbrechers. Wenn der König das Recht hat, Gnade zu üben, so hat der Verbrecher das Recht, sie zurückzuweisen.

42 [35]

Gegen das Sprechen bei Tisch.

42 [36]

An den sogenannten großen Mahlzeiten, zu denen sich auch noch in diesem Zeitalter die Menschen einladen, nimm nie Theil.

42 [37]

Minderungen der Heeresmacht – ein Unsinn! Aber das Schwert zerbrechen! Sowohl das Schwert der Gerechtigkeit als des Krieges! Die kostbarste, siegreichste Waffe!

42 [38]

Armeen der Nothwehr? – Aber Nothwehr der Selbsterhaltung wegen. Wie viele Angriffs-Kriege werden der Selbsterhaltung wegen geführt! (Um einem Angriff zuvorzukommen, um das Volk abzulenken usw.) Der Eroberer sucht zuletzt auch nur seine Selbsterhaltung, als das Wesen, welches er ist: er muß erobern: „Eure Nothwehr rechtfertigt jeden Krieg. Zerbrecht das Schwert und sagt: wir wollen lieber alles leiden, ja zu Grunde gehen als die Feindschaft in der Gesellschaft aufrecht zu erhalten."

Ebenso steht es mit der strafenden Gerechtigkeit.

Kein Staat giebt jetzt zu, das Heer aus Eroberungs-Absichten zu erhalten. So heißt dies: den Nachbar der Eroberungs-Gelüste und der Heuchelei zeihen. Dies ist eine feindselige Gesinnung.

42 [39]

Falsch gerichteter Ehrgeiz z. B. Trinken bei jungen Leuten, während Feinheit des Gehirns – – –

42 [40]

Control-Reise eines Bäckers über Stadtgebäck.

42 [41]

Die zarteren Naturen, welchen auch die härtesten Bissen des Lebens unwillkürlich in Milch eingebrockt werden, wären zu glücklich, wenn sie ihr Gutes einsähen: und so plagt sie ein geheimer Neid auf die Gewaltsameren Kräftigeren und gar zu gern heucheln sie deren Tugenden, d. h. deren zurückgebliebenes Menschenthum: was sich vor dem Unbefangenen so ausnimmt, als wenn das Lamm im Wolfskleide unter Lämmern Schrecken machen will.

Das ist nun freilich eine Nachahmung zum Lachen, denn ihre Vorbilder, die sie beneiden, verstehen es, unter Wölfen selber Schrecken zu machen: und dazu gehört sich freilich nicht nur ein Wolfsfell, sondern ein Wolfsgebiß und eine Wolfsseele – und noch mehr.

42 [42]

Daß das Heute nicht das Morgen um seine Pflicht bestehle!

42 [43]

An den Tagesstunden, wo der Geist seinen Fluthstand hat, wer wird da nach einem Buche greifen! Da wollen wir unsre eigenen Bootsmänner und Lootsen sein.

42 [44]

Selbst bei den Worten "Kirschen und Johannisbeeren" Rührung – Melodie.

42 [45]

Eckermann das beste Prosawerk unserer Litteratur, der höchste Punkt der deutschen Humanität erreicht.

42 [46]

Erdenrund, Erdenring – apeioesih.

42 [47]

Die Zunge stolperte, das Herz wußte nichts davon.

42 [48]

Socr<atis> Mem<orabilia> keine beglückenden curiosa, sondern einfältige Nachbarlichkeit.

42 [49]

Der See und das Hochgebirge. Ein Greis der einen Spiegel in der Hand hält (am Abend, wenn die Sonne zu tief steht, um in den See zu scheinen, scheint das Hochgebirge in ihn hinein: es ist als ob ein Greis – – –

42 [50]

Es kommt der Tag, wo das Volk der siegreichsten Heere die Abschaffung des Heers beschließt.

42 [51]

Man hält den Verbrecher so lange im Gefängniß bis – „seine Strafzeit abgelaufen". Absurd! Bis er der Gesellschaft nicht mehr feindlich gesinnt ist! Bis er auch für seine Strafe kein Rachegefühl mehr hat! Ihn dann noch länger zu halten wäre 1) Grausamkeit 2) Vergeudung von Kraft, die im Dienste der Gesellschaft wirken könnte 3) Gefahr, ihn rachedurstig zu machen, da er die überflüssige Härte empfindet, also moralische Verschlechterung.

42 [52]

In der Welt der Kunstwerke giebt es keinen Fortschritt, über die Jahrtausende weg. Aber in der Moral wohl: weil in der Erkenntniß und Wissenschaft.

42 [53]

Der Verbrecher beim Einfangen zart, wie ein Kranker zu behandeln. Die Polizei ganz andere Menschen!

42 [54]

Verantwortlich sein d.h. die Motive, aus denen man handelte, wissen und angeben können. Aber wissen wir von irgend einer Handlung alle Motive? Ihre verhältnißmäßige Stärke und Art?

42 [55]

Der schöne Ernst – schwarze Seide, mit rothen Fäden gleichmäßig durchsponnen, ein gedämpftes Leuchten.

42 [56]

Gegen die strafende Gerechtigkeit.

Ein Versuch zur Milderung der Sitten.

42 [57]

Paulus – welcher eine jener großen Immoralitäten ist, an denen die Bibel reicher ist als man denkt.

42 [58]

Voraussetzung, daß die Handlungen des Zwangs nicht gestraft werden. Nur die absichtlichen Handlungen – aber nicht alle absichtlichen Handlungen! Wo jemand absichtlich handelt: weil oder damit – da ist der Zwang der Motivation. Motive darf man nicht strafen. Aber da ist kein Zwang: es giebt andere Motive: warum folgt er diesen nicht?" Eben warum nicht?! Sie wiegen ihm nicht gleich jenen!" Warum nicht – Fehler des Urtheils? Des Charakters? Überall wäre da Zwang. – Also: sie wiegen ihm gleich jenen, die Wage ist im Gleichgewicht. „Jetzt springt der freie Wille hervor". Aber wenn es ganz gleich ist, so oder so zu handeln, so ist da (in dieser Vollendung des Urtheils) auch ein Zwang. Unstrafbar! Also: wie ihr euch dreht, ihr straft wider eure Voraussetzungen. Ihr straft den Gezwungenen.

42 [59]

„Aber die Gesellschaft geht da zu Grunde!" So gesteht, daß Strafe Nothwehr ist. Aber mißbraucht die Moral-Worte nicht, redet nicht von Gerechtigkeit. Da sind eben die kleinlichen Abstufungen der Strafen unsinnig, bei Nothwehr. Individuelle Zumessung nöthig! – Aber das giebt Willkür!

42 [60]

„Er hat die Wahl zwischen Gutem und Bösem! – "

42 [61]

Lehrer an Stelle der Richter. – Wider die strafende Gerechtigkeit. An deren Stelle kann nur die belehrende treten (welche die Vernunft verbessert und die Gewohnheiten eben dadurch – das Motiv-schaffende!). „Dem Kinde einen Schlag! es wird die Handlung nicht wieder thun". Hier ist also der Schlag eine Erinnerung an die Belehrung: der Schmerz als stärkster Erreger des Gedächtnisses. Daraus ergäbe sich die allergrößte Milderung aller Strafen: und möglichste Gleichsetzung derselben! Nur als mnemotechnische Mittel! Da genügt wenig!

(Das Lob beseitigt!)

42 [62]

Wird die Strafe darnach bemessen, ne iterum peccet, so ist das Maaß individuell verschieden. Die Absicht ist, das Motiv stark genug einzuprägen, einzuschneiden: und da kommt es auf den Stoff an, in welchem geschnitten wird. – Nun aber haben wir kein individuelles Strafmaaß. Also ist die individuelle Besserung nicht die Absicht. Sondern es ist die verdiente Strafe, nach der Theorie des freien Willens: nämlich in Bezug auf den freien Willen werden Alle als gleich angesetzt: weil es ein Wunderakt ist, ohne Vorgeschichte, gar nicht individuell. Wegen dieser Gleichheit kann auch die Strafe gleich für alle Menschen sein. – Die Differerz gegen andere Strafen bezieht sich auf den Inhalt der Schuld, nicht auf den Schuldigen? Aber dann sollte auch die Strafe eine sein für alle Verbrechen.

42 [63]

Die Gleichsetzung der Strafen setzt die Gleichsetzung der Verbrechen voraus. Aber es giebt in Bezug auf Motive keine Gleichheit – und geht man bis zur Freiheit des Willens zurück, so ist nicht abzusehen, warum es verschiedene Strafen geben sollten – es müßte nur Eine geben. Aber die Motive strafen wäre unmoralisch – weil man den Unfreien nicht strafen will. Also scheint man in Bezug auf jene Freiheit Unterschiede zu machen – eine größere oder kleinere Freiheit des Willens je nach dem größeren oder kleineren Vergehen. Etwas ganz Unsinniges Unlogisches! Da dann die Freiheit eben keine absolute wäre, d. h. Gewichte da wären, welche die Wagschale nach dieser oder jener Seite sinken machten. Die Gradation der Freiheiten wäre soviel als Unfreiheit annehmen.

42 [64]

diz hbhsaz: Hesiod als Heros bekam die hbh und lebte dann nicht im Hades, sondern mit den anderen Heroen. Es gab ein doppeltes Fortleben: 1) im Hades diz paidez, eigentlich potenzirtes Greisenalter, 2) im Elysium diz hbhsaz.

42 [65]

Wir machen nur verantwortlich, wenn jem<and> seine Vernunft anwenden konnte d. h. wenn er Gründe hatte und angeben kann. Strafen wir ihn, so strafen wir, daß er die schlechten Gründe den besseren vorzog: also die absichtliche Verleugnung seiner Vernunft. Wenn er die besseren Gründe nicht gesehen hätte (aus Dummheit), so dürfte man nicht strafen. Er hätte dann einem Zwange gefolgt, er hätte keine Wahl gehabt. Ebenso wenn man annimmt, daß er zwar das Bessere sielt, aber vermöge eines inneren Zwangs das Andere thut, so ist er nicht zu strafen: er ist unfrei (wie die Mutter die ihr Kind erdrückt). "Er folgt dem bösen Hang" – aber wenn er frei sein soll, dann aus absoluter Willkür. Wie kann einer absichtlich unvernünftiger sein als er sein muß! Dies nennt man „freien Willen": also das Belieben der schlechten Gründe als Motive – rein als unmotivirtes Sinken der Wage, als Wunder. (Oder es ist das „radikal Böse" usw.) In Wahrheit: er wählt das Schlechtere weil 1) sein Sinn für den Gemeinde-Vortheil zu schwach vererbt ist 2) weil seine Phantasie zu schwach ist, den zukünftigen Vortheil und das kommende Anpreisen sich so vorzustellen, daß es den Reiz des Gegenwärtigen überwindet. Er muß in beiden Fällen.

Also: das Wunder wird in beiden Fällen entweder gestraft oder gelobt. Das isolirte Faktum.

42 [66]

Man bestraft eigentlich die Freiheit des Willens – weil man Gebundenheit durch Gesetz und Moral verlangt? Aber da wäre nichts zu loben, nichts moralisches – auch diese Welt muß gänzlich willkürlich, grundlos sein.

42 [67]

Via Appia.

Gedanken über den Tod.

42 [68]

Als Atheist, habe ich nie das Tischgebet in Pf<orta> gesprochen und bin von den Lehrern nie zum Wochen-Inspektor gemacht worden. Takt!

42 [69]

„Das Libell der Mytus der Sophismus" – fehlerhafte Anwendung oder Schreibung fremdländischer Worte.

42 [70]

Geschichte der Criminalstrafen.

 

[Dokument: Manuskripte]

[Juli – August 1879]

St. Moritzer

Gedanken-Gänge.

1879

43 [1]

Beyle's Briefe („Stendhal") zu lesen: er hat auf Prosper Mérimée den stärksten Einfluß gehabt.

43 [2]

Wer am Ausdruck „milchgrüner See" Anstoß nimmt, liest mit dem Gaumen und nicht mit den Augen.

43 [3]

Vorgestern gegen Abend war ich ganz in Claude Lorrain'sche Entzückungen untergetaucht und brach endlich in langes heftiges Weinen aus. Daß ich dies noch erleben durfte! Ich hatte nicht gewußt, daß die Erde dies zeige und meinte, die guten Maler hätten es erfunden. Das Heroisch-Idyllische ist jetzt die Entdeckung meiner Seele: und alles Bukolische der Alten ist mit einem Schlage jetzt vor mir entschleiert und offenbar geworden – bis jetzt begriff ich nichts davon.

43 [4]

Das jus talionis ist, als Privatstrafrecht, eine höhere Stufe der Moral, es ist nur auf Wiedervergeltung aus. Das Gemeinde-strafrecht enthält einen Überschuß – es stehen sich eben der Einzelne und die Gemeinde gegenüber, der Zustand der Gleichheit fehlt.

43 [5]

Unverdaulichkeit des Verbrechens

 

[Dokument: Notizbücher]

[August 1879]

44 [1]

Weißt du, daß jeder von den Eigenschaften der Menschen und Dinge, denen du jetzt deine schönsten Worte giebst, ohne Weiteres annimmt, es seien deine Eigenschaften.

44 [2]

Schubert verhält sich zu Beethoven wie die naive Dichtung zur sentimentalischen. Schubertartige Musik ist der Gegenstand der Beethovenschen Musikempfindung.

44 [3]

Die moralische Verkehrtheit hat darin ihren Anschein von Radikal-Bösem, daß der Mensch heute intellektueller ist als morgen, aber auch umgekehrt. Er ist etwas verschiedenes: aber man nimmt den Intellekt als fest.

44 [4]

Gesetzt, jemand hat Herzeleid durch einen boshaften anonymen Brief: die gewöhnliche Kur ist die, seine Empfindung entladen, indem man einem Anderen Herzeleid macht. Diese alberne Art uralter Homöopathie müssen wir verlernen: es ist klar, daß wenn er sofort auch einen anonymen Brief schreibt, womit er jemandem eine Wohlthat und Artigkeit erweist, er seine Wiedergenesung auch erlangt.

44 [5]

Einem Unglücklichen, der einen Trost will, muß man entweder zeigen, daß alle Menschen unglücklich sind: das ist eine Wiederherstellung seiner Ehre, insofern sein Unglück dann ihn doch nicht unter das Niveau herabdrückt: wie er geglaubt hat. Oder man muß zeigen, daß sein Unglück ihn unter den Menschen auszeichne.

44 [6]

Man soll da, wo etwas gethan werden muß, nicht von Gesetz reden, sondern nur da, wo etwas gethan werden soll. Gegen die sogenannten Naturgesetze und namentlich die ökonomischen usw.

44 [7]

„Eitelkeit" ein Quellengebiet, aus dem die mächtigsten Ströme der Moralität hervorgebrochen sind.

44 [8]

Sobald wir uns verstimmt oder gallsüchtig fühlen, sofort den Geldbeutel heraus oder die Brieffeder oder den nächsten Armen oder das erste beste Kind, und etwas verschenken, womöglich mit wohlwollendem Gesicht: wenn es aber nicht geht, dann auch mit verbissenen Zähnen.

44 [9]

Poesien welche, wenn man sie in Prosa übersetzen will, verdunsten.

44 [10]

Mit so zarter und verschämter Haut daß das Blut ganz von ferne aus durchzublicken wagt.

44 [11]

Plato's Ansichten – er kannte die verbotenen Eingänge aller Heiligthümer.

44 [12]

Walter Scott, 2 Novellen = das Beste.

Die 3 vollkommenen Erzähler.

44 [13]

Jean Paul im Verkehr mit den d<eutschen> Schr<iftstellern> z. B. S<chiller> war mehr als ein k<leiner> G<oethe>.

44 [14]

Seine Rigorosität im Laokoon hatte Eine gewichtige Gegnerschaft: die guten Dichter. Auch soll man ihm nicht vergessen, daß er die unsterbliche Lächerlichkeit – – –

44 [15]

Kein Parteimensch versteht die Treue gegen sich selber.

44 [16]

Den großen Werth der neuen Institutionen angeben – Schutzwehr und Bollw<erk> gegen das Räuber- und Ausbeuterthum in Geist und Geld.

 

[Dokument: Manuskripte]

[August 1879]

45 [1]

„Jene sonnigen langmüthigen Octobertage, an denen unser gemäßigtes Klima zu seiner Seligkeit und Fülle kommt."

45 [2]

„In der sommerlichen Nachmittagsstille, wenn die Wanduhr vernehmlicher spricht und die fernen Thurmglocken einen tieferen Klang haben."

45 [3]

„jene fahle Gesichtsfarbe des Hochthals, wenn es eben vom Winter zu genesen beginnt und der Schnee abgethaut ist."

45 [4]

„jetzt liegt alles so hell, so stille da: ist dies die Stille des Lebensmüden, die Helle des Weisen? Man weiß es nicht. Der Wind läuft inzwischen an den Berghalden hin und bläst die Spätsommerweise: bald schweigt er wieder ganz: das Gesicht der Natur macht ihm bange? das verblichene regungslose? Man weiß es nicht; es ist alles ungewiß wie die ersten Träume eines Wanderers, der den ganzen Tag gegangen ist."

45 [5]

„Durch ein Dorf muß man am Nachmittage des Sonnabends gehen, wenn man die wahre Feiertags-Ruhe in den Gesichtern der Bauern sehen will: da haben sie noch den ganzen Ruhetag unangebrochen vor sich und sind fleißig im Ordnen und Säubern zu Ehren desselben, mit einer Art Vorgenuß, welchem der Genuß nicht gleich kommt. Der Sonntag selber ist doch schon der Vor-Montag."

45 [6]

Der Einsame sagt: jetzt lebt meine Uhr in den blauen Tag hinein. Früher war sie moralisch und ein Pflichten-Wegweiser.

 

[Dokument: Druckmanuskripte]

[September – Oktober 1879]

46 [1]

Gaudii maxima pars est oblivio. Dolor de se ipso meditatur.

46 [2]

Aegrotantium est sanitatem, medicorum aegritudinem cogitare. Qui vero mederi vult et ipse aegrotat, utramque cogitat.

46 [3]

Kurzer Sommer. – Manchen Naturen ist nur ein Augenblick Sommerzeit beschieden: sie hatten einen späten Frühling und sollen einen langen Herbst haben. Es sind die geistigern Geschöpfe.

 

[Dokument: Notizbücher]

[September – November 1879]

47 [1]

„Er hat einen starken Willen sein Intellekt sein Urtheil und Phantasie ist sehr gleich in versch<iedenen> Zeiten, sagt dieselben Dinge oder so nahe und reizvoll – es hat nichts mit dem freien Willen zu thun: er ist unabhängig von Anderen, also frei (als abhängig von sich). Der Unfreie Schwache ist von sich nicht genug abhängig, daher sehr von Anderen abhängig.

47 [2]

Narren, die wir sind! An solche Dinge zu denken, wo Europa in zwei militärische über und über in Erz starrende Gruppen auseinandertritt (hier und dort) anscheinend, um damit die gesammt-europäischen Kriege zu verhüten, mit dem vermutlichen Erfolge aber, daß –

47 [3]

Für das Volk ein Maulkorb-Christenthum! – So sagen viele Gebildete, die sich nicht zum Volk rechnen, unter sich: denn laut dürfen sie es nicht sagen, die Angst vor dem Volke ist ihr Maulkorb.

47 [4]

Wenn ein griechischer K<ünstler> sich seine Zuhörer oder Zuschauer vor die Seele stellte, so dachte er nicht an die Frauen (weder an die Mädchen, wie deutsche Romanschriftsteller, noch an die jungen Frauen, wie alle französischen Romanschriftsteller, noch an die alten, wie die englischen Romanschriftsteller), auch dachte er nicht an das „Volk", an die große Masse, welche arbeitend und schwitzend die Straßen und Werkstätten seiner Vaterstadt füllte: ich meine die Sklaven; er vergaß ganz die Bauern ringsumher so wie die Fremden und zeitweilig Angesiedelten seines Heimwesens: sondern allein jene Hunderte oder Tausende von regierenden Männern standen vor ihm, die eigentliche Bürgerschaft seines Ortes, also eine sehr kleine Minderheit der Einwohnerschaft, ausgezeichnet durch eine gleiche Erziehung und ähnliche Ansprüche in allen Dingen. Der Blick auf eine so feste und gleichartige Größe gab allen seinen Schriften eine sichere "Culturperspektive": etwas, das heutzutage z. B. allen fehlt, die an den Zeitungen arbeiten.

47 [5]

Der große Grund-Fehler Schopenhauer's liegt darin, nicht gesehen zu haben, daß das Begehren (der „Wille") nur eine Art des Erkennens und gar nichts weiter ist.

47 [6]

Der Genuß der Eitelkeit ist der Genuß eines Mittels zu einem Zwecke, den man selber vergessen hat.

47 [7]

O über diesen erhabenen halbblödsinnigen Ernst! Giebt es denn kein Fältchen um dein Auge? Kannst du nicht einen Gedanken auf die Fingerspitzen nehmen und ihn emporschnellen? Hat dein Mund nur diesen einen verkniffenen verdrießlichen Zug? Giebt es keine Gelegenheit, die Achseln emporzuwerfen? Ich wollte, du pfiffest einmal und benähmest dich wie in schlechter Gesellschaft, als daß du so achtbar und unausstehlich sittsam mit deinem Autor zusammensitzest.

Ein Autor hat immer seinen Worten Bewegung mitzutheilen.

Hier ist ein Leser; er merkt nicht, daß ich ihn beobachte. Er ist mir von ehemals her bekannt – ein gescheuter Kopf: es schadet nicht, von ihm gelesen zu werden. – Aber er ist ja ganz verwandelt: bin ich es, der ihn verwandelt hat?

Kommata, Frage- und Ausrufezeichen, und der Leser sollte seinen Körper dazu geben und zeigen, daß das Bewegende auch bewegt.

Da ist er. Er ist ganz verwandelt.

Moral: man soll gutlesen lernen; man soll gutlesen lehren.

Die Moral ist: man soll nicht für seine Leser schreiben. Sie meinen, man soll nicht schreiben. Womöglich für sich – – –

Beachten Sie wie schnell er liest, wie er die Seiten umschlägt – genau nach der gleichen Sekundenzahl Seite für Seite. Nehmen Sie die Uhr zur Hand.

Es sind lauter einzelne wohlüberdenkbare Gedanken schwerere leichtere – und er hat für alle Einen Genuß! Er liest sie durch, der Unglückliche, als ob man je Gedanken-Sammlungen durchlesen dürfte!

47 [8]

Daß die dramatische Person (auch wenn das Thema der Gegenwart gehört) singt, ist erlaubt, das ist unsere Art Kothurn des Gefühls.

47 [9]

In wiefern kann das Gefühl der Überlegenheit oder gar der Herrschaft Freude machen? Nicht an sich und ursprünglich, sondern nur als der Born vieler Güter und das Hinderniß vieler Übel – also als Mittel, das eigentlich nur im Vorgenießen des Zieles selber Freude machen könnte. Aber, um so häufiger, ist die Macht allmählich das Mittel zum Zweck geworden und wird um seiner selber willen begehrt: als etwas Begehrtes macht es Freude, sobald es erlangt wird: namentlich im Hinblick auf die, welche nicht an's gl<eiche> Ziel kamen.

47 [10]

Man wird gegen all das Lästige und Langweilige, was die Herrschaft der Demokratie mit sich bringt (und bringen wird –), geduldiger und milder gestimmt, wenn man sie als eine jahrhundertelange sehr nothwendige „Quarantäne" betrachtet, welche die Gesellschaft innerhalb ihres eignen Gebietes – – – um die neue „Einschleppung", das neue Um-sich-greifen des Despotischen, Gewaltthätigen, Autokratischen zu verhindern.

47 [11]

Gewählte Cultur – – –

47 [12]

Blindschleichen. – Aber vielleicht thut es euren Augen wohl, daß ihr in euren dunklen Zimmern wohnt – wer hätte ein Recht, euch drob zu schelten!

47 [13]

Richard Wagner sucht die Musik zu den Empfindungen, welche er beim (inneren) Anblick dramatischer Scenen hat. Nach dieser Musik zu schließen, ist er der ideale Zuschauer des Dramas.

47 [14]

"Ich denke einen langen Schlaf zu thun."

47 [15]

Schwangerschaft

Larochef<oucauld> und Rée

Cultur-Ansiedelungen gegen das Nomade<nthum>

– Wundt „Aberglaube in der Wissenschaft"

– halbasiatische Barbaren

– umnebelter Sumpf

– Retorte