Erklärung der Zeichen und Sonderzeichen:

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Die Fragmente von Anfang 1880 bis Sommer 1882 bestehen aus 9 Heften bzw. Manuskripten, 7 Notizbücher, 2 Mappen mit losen Blättern und ein Exemplar von R. W. Emerson Essays übers. von G. Fabricius, Hannover 1858.

 

Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882

[Dokument: Notizbuch]

[Anfang 1880]

Vom Aberglauben. Vom Loben und Tadeln. Von der zulässigen Lüge.

1 [2]

Schätzung des Mitleids (von Seiten derer ausgehend, die bemitleidet werden?)

Monogamie

1 [3]

Befinden die Menschen sich schlecht in Folge ihrer Unmoralität oder ihrer Moralität? – Oder in Folge von Beiden und vielen anderen Dingen?

1 [4]

Wie soll man handeln? So daß der Einzelne möglichst erhalten bleibt? Oder so daß die Rasse möglichst erhalten bleibt? Oder so daß eine andere Rasse möglichst erhalten bleibt? (Moralität der Thiere) Oder so daß das Leben überhaupt erhalten bleibt? Oder so daß die höchsten Gattungen des Lebens erhalten bleiben? Die Interessen dieser verschiedenen Sphären gehen auseinander. Aber was sind höchste Gattungen? Giebt die – Höhe des Intellekts oder die Güte oder die Kraft den Ausschlag? In Bezug auf diese allgemeinsten Maaßstäbe für das Handeln gab es kein Nachdenken, geschweige denn Übereinstimmung.

1 [5]

Was Freundlichkeit und Wohlwollen betrifft, steht Europa nicht auf der Höhe: es zeugt gegen das Christenthum.

1 [6]

Das universale Glück zu erstreben ist eine Unverschämtheit, und Albernheit.

1 [7]

Der schlechte der kranke der nicht erzogene Mensch ist ein Resultat, dem man die Fortdauer und die Wirksamkeit beschneiden muß.

1 [8]

Die schädlichste Tendenz ist die, immer an Andere zu denken (für sie thätig sein ist fast eben so schlimm als gegen sie, es ist eine Vergewaltigung ihrer Sphäre. Welche Brutalität ist die gewöhnliche Erziehung, der Eingriff der Eltern in die Sphäre der Kinder!

1 [9]

Die Moralität (ebenso wie die Dichtkunst) ist am stärksten bei Naturvölkern (ihre Gebundenheit durch die Sitten) Bei den höchst cultivirten Nationen sind die Sitten meist das Rückständigste, oft Lächerliche, hier ist der ausgezeichnete Mensch immer unmoralisch.

1 [10]

Gesetzt, es wird mehr geschätzt, für Andere sich zu opfern, so thut man es: aber weil es geschätzt wird. Instruktiv!

1 [11]

Teufelsanbetung Spencer p. 31

1 [12]

Erziehung Fortsetzung der Zeugung. Das ganze Leben ist Anpassung des Neuen an das Alte.

1 [13]

Napoleons präsentables Motiv: „ich will Allen überlegen sein". Wahres Motiv: „ich will Allen überlegen erscheinen".

1 [14]

Das größte Problem der kommenden Zeit ist die Abschaffung der moralischen Begriffe und die Reinigung unserer Vorstellungen von den eingeschlichenen und oft uns schwer erkennbaren moralischen Formen und Farben.

1 [15]

Der „Mörder", den wir verurtheilen, ist ein Phantom: „der Mensch der eines Mordes fähig ist". Aber das sind wir Alle.

1 [16]

An dem Gleich-sein-wollen verkümmert die Fähigkeit der Freude.

1 [17]

Die Barbarei im Christenthum.

2) Überreste der Teufelsanbetung usw.

1 [18]

Wenn man ein so außerordentliches Wohlgefallen an seinen Werken hat und ihretwegen sich selber überhebt, so setzt man sich in der Rangordnung der Geister herab: denn es liegt nun nicht mehr viel daran, was man über andere Werke und Menschen urtheilt. Man hat die große Feuer-Probe der Gerechtigkeit nicht bestanden und darf nicht mehr auf dem Richterstuhl sitzen wollen.

1 [19]

Wenn es nicht verboten ist: "du sollst nicht morden!" – in ganzen Perioden hat das innere Gefühl nichts gegen den Mord einzuwenden.

1 [20]

Wer die Pein erfahren hat, <die> Wahrheit zu sagen trotz seiner Freundschaften und Verehrungen, scheut sich gewiß vor neuen.

1 [21]

Es giebt ganz gescheute Menschen, welche meinen, wenn sie gegen eine Sache hartnäckig die Augen verschließen, dieselbe sei nicht mehr auf der Welt.

1 [22]

Giebt es etwas Wichtigeres und Wirksameres, als jeden Menschen seiner Bekanntschaft als einen schwierigen Prozeß anzusehen, vermöge dessen sich eine spezifische Art Wohlsein durchsetzen möchte: erst wenn dies Wohlsein erreicht ist, ist, das, Gleichgewicht zwischen ihm und uns Allen hergestellt; von da an theilt er von seiner Freude mit und drängt sich doch nicht in die Sphäre der Anderen, er steht als kräftiger Baum unter anderen Bäumen, in der Freiheit des Waldes.

1 [23]

NB. Dunkle und abergläubische Menschen glauben 1) – – – 2) – – – 3) – – – im Gegensatz zu den aufgeklärten

1 [24]

Das Mitleid ohne Intelligenz ist eine der unangenehmsten und störendsten Erscheinungen: von sich aus ist leider das Mitleid durchaus nicht hellsichtig, wie Schopenhauer will.

1 [25]

Keine lauere und flauere Empfindung wäre möglich als wenn alle Menschen sich einander eins oder auch nur gleich wähnten. Die schwungvollste Empfindung, die der amour-passion, besteht gerade im Gefühl der größten Verschiedenheit.

1 [26]

Dadurch daß das Christenthum entwurzelt ist, wächst unsere Jugend ohne Erziehung.

1 [27]

Die Gesellschaft muß immer mehr Wahrheit ertragen lernen.

1 [28]

Menschen die vor Gift und Eifersucht gegen Menschen beißen möchten, predigen Wohlwollen gegen die Thiere

1 [29]

Eine neue Cultur – die soll man nicht verschauspielern!

1 [30]

Gerade jetzt wo die bejammernswerthe Comödie die Kunst mit dem Christenthum zu versöhnen wieder aufgeführt, an Schopenhauer zu erinnern! ihm sehr zu Ehren, daß er nie –

1 [31]

Das Bedürfniß, sich über alle Sachen auszusprechen, die uns quälen – ließ Gott dem Christen immer gegenwärtig erscheinen; für die gröberen phantasieärmeren Naturen schuf die Kirche seinen Vertreter, den Beichtvater. Warum will man sich aussprechen? Weil eine Lust dabei ist, eine Vergewaltigung des Anderen, dem wir unser Leid zu hören, mitzuempfinden, mitzutragen geben Gott als Sündenbock muß auch Beichtvater sein.

1 [32]

Ich kenne einen, der sich durch den kleinen Windhauch seiner "Freiheit" so verwöhnt hat, daß die Vorstellung zu einer Partei zu gehören, ihm Angstschweiß macht – selbst wenn es seine eigne Partei wäre!

1 [33]

Unsere Aufgabe ist die Cultur zu reinigen, den neuen Trieben Luft und Licht zu schaffen und im Glauben, daß nach Überwindung der Gegensätze sehr viel Kraft mehr da ist.

1 [34]

Ob ein Mensch zum Nutzen der Gesellschaft zu tödten sei? Der Mörder stört die Sicherheit, der Freigeist gefährdet die Seele für alle Ewigkeit. Die Murrköpfe stören das Behagen

1 [35]

Die unmoralischen Handlungen machen die moralische Lebensweise bestimmter roher Culturen aus. – Sie sind auch noch in unseren Organen vorhanden. Wir morden, stehlen, lügen, verstellen uns usw. selbst im Höchsten.

1 [36]

Unsere späteren Werthschätzungen bilden sich nach Analogie der angelernten, wie ein angefangenes Haus ausgebaut wird – d. h. – – –

1 [37]

So lange euch diese Sätze noch irgendwie paradox klingen, habt ihr sie nicht verstanden: sie müssen euch überflüssig und allzuklar erscheinen.

Man kann nicht leicht genug darüber nachdenken.

1 [38]

Freie Geister versuchen andere Arten des Lebens, unschätzbar! die moralischen Menschen würden die Welt verdorren lassen. Die Versuchs-Stationen der Menschheit

1 [39]

Es wird erstaunlich viel Schmerz auf den Versuchsstatonen neuer Lebensweisen und Nützlichkeiten umsonst erlitten – es hilft nichts: möge es nur Andern helfen! daß sie erkennen, was hier für ein verfehltes Experiment gemacht wurde.

1 [40]

Nach Gewohnheit zu handeln ist sich selber nachahmen das Nächste und Leichteste – ohne daß die Motive der ehemaligen Handlungen wieder wirken.

1 [41]

Der erfinderische G<eist> muß Zeit haben und darf sich nicht zu sehr an Regelmäßigkeit gewöhnen.

1 [42]

Unabhängig von gewissen körperlichen und geistigen Zuständen sollten wir Gott aus dem Teufel kennen, denn auch die göttlichen Zustände ("Gott wirkt in uns" der Teufel wüthet in ihm usw.) –

1 [43]

Moralität als Hinderniß der Erfindungen. Der Erfindsame, der zu faul ist, erfindet die Maschine und das Thier; der Ehrsüchtige die Staaten, der Versteller das Schauspiel usw. – Der vernünftige Mensch lebt von den Errungenschaften der Erfindsamen.

Sittlich ist die vernünftige Handlung thun, deren Zwecke und Mittel gebilligt werden.

Nur sittlich: da verarmt die Menschheit und wird nichts erfunden.

1 [44]

Wo Erregungen noth thun, da ist das zwecklose Überströmen der Kraft nicht mehr da; dies will man also herstellen – aber überströmen?

1 [45]

Man ist thätig, weil alles was lebt sich bewegen muß – nicht um der Freude willen, also ohne Zweck: obschon Freude dabei ist. Diese Bewegung ist nicht Nachahmung der zweckmäßigen Bewegungen, es ist anders.

1 [46]

Gesetzt, es würde durch die Wissenschaft sehr vielen zufriedenen Vorstellungen und mancher angenehmen Faulheit ein Ende gemacht, so wirkt sie ungesund. Aber dagegen ist zu rechnen, daß sie sehr viele Unzufriedenheit beseitigt und namentlich die schrecklichen Vorstellungen aller bösen Philosophien und Religionen, daß wir durch und durch böse sind und harten Bußen entgegengehen.

1 [47]

Die Handlungen der Gewohnheit hat man nur in Hinsicht auf ihren gemeinen Nutzen sittlich, also mit dem höchsten menschlichen Prädikat, nennen können – in sich sind sie sehr arm und fast "unter-thierisch".

1 [48]

Eine Sache beschreiben

1 [49]

Die unmoralischen Menschen sind die, welche freie Bewegung haben ohne Zwecke, oder die alten Bahnen gehen mit anderen Zwecken.

1 [50]

Bisher hat von den 2 Hauptmotiven die Furcht vor dem Schmerz ganz übermächtig mehr gewirkt als das Trachten nach Freude. Man kannte gar zu wenig Freuden und gar zu viele Gefahren. – Hier zeigt sich im Ganzen die Zurückgebliebenheit des Menschen, je nachdem die Motive der Furcht gröber verfeinert oder erblaßt und von den Motiven der Freude überleuchtet sind.

1 [51]

Ein zufälliges Zusammentreffen zweier Worte oder eines Wortes und eines Schauspiels ist der Ursprung eines neuen Gedankens.

1 [52]

Menschen, welche viel Zufälliges haben und gerne herumschweifen, andere welche nur auf den bekannten Wegen nach Zwecken gehen.

1 [53]

Das Genie wie ein blinder Seekrebs, der fortwährend nach allen Seiten tastet und gelegentlich etwas fängt: er tastet aber nicht, um zu fangen, sondern weil seine Glieder sich tummeln müssen.

1 [54]

Die Handlungen mit einem unerwarteten Erfolg, zu einem anderen Zwecke unternommen – z. B. ein Thier das seine Eier bewacht, als Nahrung und plötzlich Wesen seines Gleichen vor sich sieht.

1 [55]

Wer sich auf prachtvolle moralische Attitüden versteht, den rechne man unter die Hanswürste Kapuziner Seiltänzer Feuerfresser und andere Künstler, die für die arbeitende Masse da sind, diese hat solche Lust am Unwahrscheinlichen und Verrückten; ich habe die besten Menschen in ihren besten Handlungen immer etwas beschämt und kurzathmig gefunden. Es giebt schon eine Art moralische Augen zu machen, wodurch der ganze Kerl verdächtig wird. Die Tugend ohne Scham vor sich selber ist nichts als eine List.

1 [56]

Veränderung der Werthschätzung z. B. Verachtung gegen die Abergläubischen und ihre Gegenstände.

1 [57]

Das Gute, das Ausgezeichnete thun, ohne Lob dafür zu erwarten, zu stolz sein, Lob dafür anzunehmen, und einen geringschätzigen Blick für den Allzudreisten, welcher trotzdem lobt, bereit halten, und an diese männliche Praxis jedermann aus seiner Umgebung gewöhnen; das Gelobtwerden aber den weibischen und künstlerischen Naturen gestehen und es da auch gelten lassen, weil diese Naturen ihr Bestes nicht aus Stolz, sondern aus Gründen der Eitelkeit thun. – Das ist das Rechte! Wenn wir es nur in Stunden der vollen Kraft ebenso als das Rechte empfänden, so ist dies gewiß kein Einwand dagegen. Für den Kranken und Müden mag etwas Lob als Würze oder Betäubung nöthig sein. – Zwischen gerechtem und ungerechtem Lobe mache ich hier keinen Unterschied und ebensowenig zwischen gerechtem und ungerechtem Tadel: letzteren sollen wir nicht nur gelten lassen, sondern herausfordern und ermuthigen; vermöge umfänglichen und jederzeit erklingenden Tadelns, sei dieses gerecht oder ungerecht, erheben wir uns über uns selber, denn wir sehen damit uns so, wie wir erscheinen, und zwar in unbestochenen Augen.

1 [58]

Man lernt die präsentablen Motive.

1 [59]

Ein ganz bewußter Egoismus würde jener Freuden entbehren, welche durch eingebildete Motive entstehen oder dadurch weil wir nur Ein Motiv von den vielen sehen wollen.

1 [60]

"Alle Menschen sind Sünder" ist eine solche Übertreibung, wie "alle Menschen sind Irre", auf welche Ärzte gerathen könnten. Hier sind die Grad-Unterschiede außer Acht gelassen, und das Wort und die Empfindung, welche der abnorme äußerste Grad erweckt hat, sind auf das ganze verwandte Seelenleben der mittleren und niederen Grade mit übertragen. Man hat die Menschheit schrecklich gemacht, dadurch daß man eine Abnormität in ihr Wesen verlegte.

1 [61]

Die erfinderischen und die zweckthätigen Naturen – Gegensatz.

1 [62]

Zu begreifen, wie wenig Werth die sittlichen Handlungen haben, wie wenig Unwerth die unmoralischen – wie groß dagegen die intellektuelle Verschiedenheit in ihnen ist – diese Aufklärung über die Motive der Handlungen zu bekommen, bringt das höchste Erstaunen hervor.

1 [63]

Grundsatz: in der gesamten Geschichte der Menschheit bisher kein Zweck, keine vernünftige geheime Leitung, kein Instinkt, sondern Zufall, Zufall, Zufall – und mancher günstige. Diese sind ins Licht zu setzen. Wir dürfen kein falsches Vertrauen haben und am allerwenigsten uns weiter auf den Zufall verlassen. Derselbe ist in den meisten Fällen ein sinnloser Zerstörer.

1 [64]

Wenn ein Volk auf bestimmten moralischen Urtheilen stehen bleibt, so wird es dadurch beschränkt, verknöchert, isolirt, alt und geht endlich daran zu Grunde.

1 [65]

Moralische Urtheile werden am sichersten von Leuten ausgesprochen, die nie gedacht haben, und am unsichersten von denen, welche die Menschen kennen. Es ist nichts zu loben und zu tadeln.

1 [66]

Willkürliche Handlungen – das ist eigentlich ein negativer Begriff – Handlungen welche nicht unwillkürlich, nicht automatisch, ohne Zwecke verlaufen. Das Positive, was man dabei empfindet, ist ein Irrthum. "Unwillkürlich" das ist eigentlich der positive Begriff. Streng genommen, sind willkürliche Handlungen zwei unwillkürliche, welche zeitlich aneinander schließen, eine Gehirnbewegung, welcher eine Muskelbewegung nachfolgt, ohne ihre Wirkung zu sein.

1 [67]

Die größte Mannigfaltigkeit der menschlichen Existenz-Bedingungen aufrecht erhalten und nicht mit einem moralischen Codex die Menschen uniformiren – dies ist das allgemeinste Mittel, den günstigen Zufall vorzubereiten. – Bisher hat sich die Menschheit keinen Zweck gesetzt, welchen sie als Ganzes erreichen will – vielleicht geschieht es einmal. Einstweilen, da der Zweck fehlt, sind auch keine Mittel dazu erkenntlich. Inzwischen ist die möglichst große Masse solcher Individuen herzustellen welche individuelles Wohlbefinden haben was sich gegenseitig bedingt – das allgemeinste

1 [68]

Die Moral ist die Gesetzgebung solcher, welche sich klüger wußten als ihre Umgebung und für sie mit dachten. Man machte die oft schweren Anforderungen unwidersprechlich, dadurch daß man den Willen der Gottheit dazu gewann.

1 [69]

Es giebt also keine tadelnswürdigen Handlungen, sondern Lob und Tadel trifft nur Menschen, nicht Dinge.

1 [70]

Alles, was lebt, bewegt sich; diese Thätigkeit ist nicht um bestimmter Zwecke willen da, es ist eben das Leben selber. Die Menschheit als Ganzes ist in ihren Bewegungen ohne Zwecke und Ziele, es ist darin von vornherein kein Wille: wohl aber wäre es nicht unmöglich, daß der Mensch einmal einen Zweck hineinlegte: so wie gewisse ursprünglich zwecklose Bewegungen der Thiere zum Dienst ihrer Ernährung verwandt werden.

1 [71]

Bei Siegesfesten geht die siegreiche Armee fast zu Grunde, der Sieger streicht den Tag schwarz an und erholt sich ein Jahr lang nicht von dieser Strapatze – aber die Straßenjungen aller Geschlechter und Lebensalter sind glücklich. Doch muß man zugeben daß es billige Mittel <giebt>, sie glücklich und zwar sehr viel Glückliche zu machen.

1 [72]

Das Christenthum gieng in dem Grade bei dem alten Testament in die Schule, als es sich bemühte eine Weltreligion zu werden. Das weltflüchtige Christenthum brauchte das alte Testament nicht.

1 [73]

In unseren Schulen wird die jüdische Geschichte als die heilige vorgetragen: Abraham ist uns mehr als irgend eine Person der griechischen oder deutschen Geschichte: und von dem, was wir bei Davids Psalmen empfinden, ist das, was das Leben Pindars oder Petrarca's in uns erregt, so verschieden wie die Heimat von der Fremde. Dieser Zug zu Erzeugnissen einer asiatischen, sehr fernen und sehr absonderlichen Rasse ist vielleicht inmitten der Verworrenheit unserer modernen Cultur eine der wenigen sicheren Erscheinungen, welche noch über dem Gegensatz von Bildung und Unbildung erhaben stehen: die stärkste sittliche Nachwirkung des Christenthums, welches sich nicht an Völker sondern an Menschen wendete und deshalb gar kein Arg dabei hatte, den Menschen der indogermanischen Rasse das Religionsbuch eines semitischen Volkes in die Hand zu geben. Erwägt man aber welche Anstrengungen das nicht semitische Europa gemacht hat, um diese fremdartige kleine jüdische Welt sich recht nahe ans Herz zu legen, sich über nichts darin mehr zu wundern, sondern sich nur über sich selbst und seine Befremdung zu wundern – so hat vielleicht in nichts Europa sich so sehr selbst überwunden wie in dieser Aneignung der jüdischen Litteratur. Das jetzige europäische Gefühl für die Bibel ist der größte Sieg über die Beschränktheit der Rasse und über den Dünkel daß für Jeden eigentlich nur das werthvoll sei, was sein Großvater und dessen Großvater gesagt und gethan haben. Dieses Gefühl ist so mächtig, daß wer sich jetzt frei und erkennend zur Geschichte der Juden stellen will, erst viele Mühe nöthig hat, um aus der allzugroßen Nähe und Vertraulichkeit herauszukommen und das jüdische wieder als fremdartig zu empfinden. Denn Europa hat sich selber zu einem guten Theil in die Bibel hineinlegen und im Ganzen und Großen etwas Ähnliches thun müssen, wie die Puritaner Englands, welche ihre Sentenzen, ihre Gewohnheiten, ihre Zeitgenossen, ihre Kriege, ihre kleinen und großen Schicksale in dem jüdischen Bude aufgezeichnet (prophezeit) fanden. – Was aber sagt der Europäer, welcher nach dem Vorzug der altjüdischen Litteratur vor allen anderen alten Litteraturen gefragt wird: "Es ist mehr Moral darin ". Das heißt aber: es ist mehr von der Moral darin, welche jetzt in Europa anerkannt wird: und dies heißt wiederum nichts anderes als: Europa hat die jüdische Moralität angenommen und hält diese für eine bessere, höhere, der gegenwärtigen Gesittung und Erkenntniß angemessenere als die arabische, griechische, indische, chinesische. – Was ist der Charakter dieser Moralität? Sind die Europäer wirklich vermöge dieses moralischen Charakters die ersten und herrschenden Menschen des Erdballs? Aber wonach bemißt man den Rang der verschiedenen Moralitäten? Zudem wollen es die Nicht-Europäer wie die Chinesen gar nicht Wort haben, daß die Europäer sich durch Moralität vor ihnen auszeichneten. Es gehört vielleicht mit zum Wesen der jüdischen Moralität, daß sie sich für die erste und höchste hält: es ist vielleicht eine Einbildung. Ja man kann fragen: giebt es überhaupt eine Rangordnung der Moralität<en?> Giebt es einen Kanon, der über allen waltet, das Sittliche definirt ohne Rücksicht auf Volk, Zeit, Umstände, Erkenntnißgrad? Oder ist eine Ingredienz aller Moralen, der Grad von Anpassung an die Erkenntniß, vielleicht das, was eine Rangordnung der Moralen ermöglicht?

1 [74]

Wie viel Glück ist bei der Aufopferung für eine geliebte Sekte, usw. (man freut sich selbst mißachtet, gekränkt zu werden – wie kommt es?

1 [75]

Die schädliche Seite der Religion ist oft hervorgehoben <worden>, ich möchte die schädliche Seite der Moral zum ersten Male zeigen und dem Irrthum entgegnen, daß sie den Sinnen von Nützlichkeit ist.

1 [76]

Den angeblichen Causalitäten in Gebieten, wo in Wahrheit es nur ein Hintereinander giebt, danken viele Illusionen über die Moral ihre Entstehung.

1 [77]

Die Wissenschaft zu verwünschen, weil ihre Art bisweilen wehe thut, wäre so klug als das Feuer zu verwünschen weil ein Kind oder eine Mücke sich daran verbrannt hat. In der That verbrennen sich jetzt nur Mücken und Kinder an der Wissenschaft – ich meine die Schwärmer.

1 [78]

Das Urtheil sehr arbeitsamer und thätiger Zeitalter über den Werth des Lebens klingt wie fast desperat: man dachte über das Leben nach, wenn man nicht mehr arbeiten konnte und müde war. Die Griechen dachten besser vom Leben, dafür waren sie das Volk der Muße: sie arbeiteten eigentlich zur Erholung vom Müßiggang, und ihr Nachdenken kam aus frischer Kraft.

1 [79]

"In den Augen liegt die Seele": die gewöhnliche Art der Bewegungen und der Muskelcontraktionen herum verräth, wozu die Augen zumeist gebraucht werden. Denker haben einen vollen klaren oder durchdringenden Blick; das Auge des Ängstlichen scheut sich ganz hinzusehen; der Neidische streift von der Seite und will etwas erhaschen. Auch wenn wir gar nicht im Dienste dieser Empfindungen sehen wollen, so zeigt die Stellung des Auges doch die Gewöhnung an.

1 [80]

Die erfinderischen Menschen leben ganz anders als die Thätigen; sie brauchen Zeit, damit sich die zwecklose ungereregelte Thätigkeit einstellt, Versuche, neue Bahnen, sie tasten mehr als daß sie nur die bekannten Wege gehen, wie die nützlich-Thätigen.

1 [81]

Einstmals muß die Kunst der Künstler ganz in das Festebedürfniß der Menschen aufgehen: der einsiedlerische und sein Werk ausstellende Künstler wird verschwunden sein: sie stehen dann in der ersten Reihe derer, welche in Bezug auf Freuden und Feste erfinderisch sind.

1 [82]

Schopenhauer, der letzte der die ethische Bedeut<ung> des Daseins vertritt: er fügt seine triftigen Trümpfe bei, ohne welche er uns nichts schenkt und welche in den Augen der einen Gattung seiner Leser seine Glaubwürdigkeit ebenso verstärken als sie dieselbe in den Augen einer anderen Gattung verringern.

1 [83]

Einige zeigen Geist, Andere beweisen ihn, noch andere zeigen ihn, aber beweisen ihn nicht, die Vielen aber thun keines von Beiden, und glauben beides zu thun.

1 [84]

Die ärmliche Handvoll Wissen, womit die heutige Erziehung den Gebildeten abfindet, scheint diesen engen und pfäffischen Köpfen schon zu viel, sie bekommen Angst, es möchte der Kunst ein Abbruch geschehen, und dieselbe sich nicht mehr so dünkelhaft gebärden dürfen, wie es jetzt wohl geschieht. – Die Nothstände welche bei jenen seltenen Menschen entstehen, in denen die Wissenschaft ein gewaltiges Feuer ist, dürften solche Köpfe wahrlich nicht im Munde führen

1 [85]

Wir finden die Schwäche der Furcht verächtlich bei dem welcher weiß, daß ihm Wein schädlich ist und trotzdem Wein trinkt.

1 [86]

Die Moral hat die Erkenntniß gehemmt insofern sie das Bedürfniß danach hemmt, sie gab Regeln zum Handeln und erweckte den Glauben, daß die Erkenntniß nicht nöthig sei, um auf das zweckmäßigste Handeln zu kommen.

1 [87]

Manche Philosophen entsprechen vergangenen Zuständen, manche gegenwärtigen, manche zukünftigen und manche unwirklichen.

1 [88]

Das Individuum stand in manchen Epochen höher, war häufiger. Es sind die böseren Zeiten, es wurde mehr sichtbar, man wagte mehr, man schadete mehr, aber log weniger.

1 [89]

Die Einbildung über die Schätzung (allgemeine Werthschätzung) und ebenso falsche Schätzung sind der Ursprung vieler unegoistischer Handlungen.

1 [90]

Moralität, eine asiatische Erfindung. Wir hängen von Asien ab.

1 [91]

Den Zufall benützen und erkennen heißt Genie. Das Zweckmäßige und Bekannte benützen – Moralität?

1 [92]

So nützlich und unangenehm wie ein eingeöltes Schlüsselloch

1 [93]

Die Ängstlichkeit vergiftet die Seele.

1 [94]

Man sollte keine neuen Wege gehen, <wenn> unser Herz nicht noch kühner ist als unser Kopf: sonst frißt – – –

1 [95]

Niemand ist einer grausameren Rache fähig als jene dichterischen und empfindlichen Seelen ohne Stolz, die fortwährend im Verborgenen leiden und aus Furcht ruhig und sanft erscheinen – ich denke z. B. an Racine.

1 [96]

Das ganze vergangene Zeitalter ist das der Furcht. Man lernt die Dinge wie sie in anderen Köpfen sind, man lernt, wie sie geschätzt werden, man thut dasselbe in Betreff der Mittel. Man ängstigt sich, abzuweichen, aufzufallen. Unsere Fertigkeiten sind das, was Anderen nutzt und Freude macht. – Unsere größte Freude ist Anderen zu gefallen, unsere beständige Furcht ist, ihnen nicht gefallen zu können. – Dies hat die einsiedlerische Thierheit gebändigt.

1 [97]

Wer eine herrschende Leidenschaft hat, der empfindet bei der Ausnahmehandlung einen Gewissenbiß z. B. der Jude (bei Stendhal) der verliebt ist und Geld für ein Armband von seinem Geschäft bei Seite legt, oder Napoleon nach einer generösen Handlung, der Diplomat, der einmal ehrlich gewesen ist usw.

1 [98]

Spencer setzt immer "Gleichheit der Menschen" voraus.

1 [99]

Auch im Handeln giebt es solche erfinderischen, stets versuchenden Menschen, welche den Zufall aus sich nicht bannen mögen (Napoleon).

1 [100]

Die angelernten Werthschätzungen verringern die Freude und in Folge die Lebensfähigkeit. Zeiten der "Gleichheit" sind matt und lassen vor der Zukunft erschrecken.

Die Freude an fremden Urtheilen über uns ist jetzt beinahe die mächtigste aller Freuden.

1 [101]

Was ist Gewohnheit? – Übung.

1 [102]

"Es merkt doch niemand" – aber es pflanzt niemand das was du thust in dir aus, sodann wächst deine Gewohnheit des Verheimlichens und Für-sich-Behaltens, man sieht dir endlich Beides doch an.

1 [103]

Das Bischen Wissenschaft, das jetzt auf der Erde ist, macht ihnen schon angst und bange so daß Unkenrufe laut werden. Und diese schändliche wissenschaftliche Erziehung!

1 [104]

Die verborgenen d. h. die häufigsten Handlungen zwingen uns zuletzt zu unseren sichtbaren seltenen, ohne daß wir an Zwang denken.

1 [105]

Bei den Christen herrschen noch alle jene Vorstellungen wie bei den Wilden – cfr. Spencer p. 52 und Roskoff.

1 [106]

Spencer verwechselt die Systeme der Moral "Wie soll gehandelt werden?" mit der Entstehung der Moral. Der Mangel der Einsicht in die Causalität ist für letztere wichtig.

1 [107]

Überall wo es eine furchteinflößende Macht giebt, die befiehlt und gebietet, entsteht Moralität d. h. die Gewohnheit zu thun und zu lassen, wie jene Macht will, der das Wohlgefühl auf dem Fuße folgt, der Gefahr entronnen zu sein: während im umgekehrten Falle das Gewissen sich regt, die Stimme der Furcht vor dem Kommenden, des Verdrusses über das Gethane usw. Es giebt persönliche Mächte, wie Fürsten, Generale, Vorgesetzte, dann Abstrakte wie Staat Gesellschaft, endlich imaginirte Wesen, wie Gott, die Tugend, der kategorische Imperativ usw.

1 [108]

Tragische Hanswürste

1 [109]

Es giebt bei jeder Handlung 1) das wirkliche Motiv das verschwiegen wird 2) das präsentable eingeständliche Motiv. Letzteres geht von uns aus, von unserer Freude, unserem Individuum, wir stellen uns individuell damit. Ersteres aber hat die Rücksicht auf das, was die Andern denken, wir handeln, wie jeder handelt, wir präsentiren uns als Individuen, aber handeln als Gattungswesen. Komisch! Z. B. ich suche ein Amt 2) "ich bin es mir schuldig, mich nützlich zu machen" 1) „Ich will meines Amtes wegen von den Andern respektirt werden".

1 [110]

Die Erzeugung einer Nachkommenschaft ist nicht altruistisch. Das einzelne Thier folgt dabei einer Lust, an der es oft zu Grunde geht. Die Aufopferung für die Brut ist Aufopferung für das Eigen-Nächste, für das Erzeugniß usw., absurd noch nicht Altruismus.

1 [111]

Dieselben Dinge werden immer wieder gethan, aber die Menschen umspinnen sie mit immer neuen Gedanken (Werthschätzungen)

1 [112]

Motive und den Mechanismus zu unterscheiden – und dabei ist der Ausdruck Motiv irreführend, sie setzen nicht in Bewegung – sondern wenn sie in Bewegung sind, tritt die Bewegung des Mechanismus ein.

1 [113]

Das Unglück des Frevlers, d. h. er hat Furcht vor schlimmen Folgen oder Ekel und Übersättigung usw., nicht Gewissensnoth.

1 [114]

Man soll auch die kleinste Berührung mit Menschen benützen, um seinen gerechten und wohlwollenden Sinn zu üben.

1 [115]

Wenn wir in einen bestimmten physiologischen Zustand treten, dann tritt uns das ins Gedächtniß, was das letzte Mal, als wir in ihm waren, von uns gedacht wurde. Es muß eine Auslösung im Gehirn für jeden Zustand geben.

1 [116]

Es giebt Menschen welche ihre nicht eben landläufigen Gedanken nicht anders mitzutheilen wissen als indem sie dabei an aller Welt ihren Ärger auslassen. Das heißt doch seine Meinungen etwas zu theuer auf den Markt bringen. Giebt es aber oft solche Käuze, so entsteht ein Vorurtheil gegen alle nicht landläufigen Meinungen, wie als ob Zank, Verdruß, Verleumdung Verbitterung Niedertracht ihre nothwendigen Begleiter sein müßten.

1 [117]

Handlungen der Gewohnheit („sittlich" unter Umständen genannt) sind Mechanismen ohne Bewußtsein, so wenig moralisch wie die Themen einer aufgezogenen Spieluhr. Weder „frei" noch mit „bewußter Aufopferung", noch "für Andere" – aber angenehm und nützlich und deshalb mit den höchsten Prädikater bezeichnet.

1 [118]

Vor jedem Einzelnen sind wir voll 100 Rücksichten: aber wenn man schreibt, so verstehe ich nicht, warum man da nicht bis an den äußersten Rand seiner Ehrlichkeit vortritt. Das ist ja die Erholung!

1 [119]

Um die Moral haben sich im Ganzen immer nur die sehr moralischen Menschen bekümmert, meistens in der Absicht, sie zu steigern. Was Wunder, daß eigentlich die unmoralischen und durchschnittlichen Menschen dabei fast unbekannt geblieben sind. Die moralischen Menschen haben über sie phantasirt und vielfach ihre Phantasien den Leuten in den Kopf gesetzt.

1 [120]

Versuche einer außermoralischen Weltbetrachtung früher zu leicht von mir versucht – eine aesthetische (die Verehrung des Genies -)

1 [121]

Wer so thut, ist abergläubisch usw.

Wer so thut, ist abergläubisch

Wer alles das thut, ist ein Christ.

1 [122]

Schopenhauer's Theorie ist unpsychologisch. Sehr leidende oder sorgende Menschen sind ohne Mitleid. Wenn wir alles vergangene Elend wiederkäuen, welches die Menschheit erlitten hat, so werden wir krank und schwach. Man muß den Blick abwenden. Nur glückliche Menschen sind zur Historie geeignet.

1 [123]

Falscher Begriff des Genie's in jetziger Zeit: man verehrt den wilden Intellekt und verachtet den gezähmten d. h. man ist der Moralität müde.

Die Consequenz der Moralität ist der Sand. Kritik der bisherigen Moralität, dadurch daß man ihre Resultate in der Zukunft aufzeigt.

Nothwendigkeit antimoralischer Theorien.

1 [124]

Es giebt Musik, welche sosehr den Eindruck sichtbarer Dinge nachahmt, daß man sie allen denen empfehlen kann, welche Ohren haben, um zu sehen.

1 [125]

Wollen d.h. ich stelle mir den Erfolg einer Handlung vor

dieser Erfolg hat diesen oder jenen Werth für mich

diese Werthschätzung hat diese oder jene Ursachen

der Erfolg bedingt diese oder jene Aktion (als Mittel, die mir <aus> meiner Erfahrung bekannt und noch viele andre welche mir nicht bewußt sein können.

Also was will ich

Absicht: warum will ich

Motiv: was treibt mich zu dieser Schätzung?

Die Absicht geht auf etwas das für uns Werth hat.

Wie erreiche ich das Ziel?

Das Motiv ist die Ursache der Werthschätzung

1 [126]

Wir vergessen immer das Wesentlichste, weil es am nächsten liegt z. B. beim Spielen die Spontaneität, das fortwährende Tasten und Tappen der Bewegung. Die Folgen der Bewegung lehren uns.

Worte schweben uns fortwährend vor, daraus bilden sich die Gedanken, dem Auge zahllose Figuren fortwährend – – –

1 [127]

Die wenigsten Handlungen geschehen nach Zwecken, die meisten sind nur Thätigkeiten, Bewegungen, in denen sich eine Kraft entladet. Die Resultate, die sich am Ende ihrer Bahn ergeben, bringen uns bei öfterem Wiederholen auf den Gedanken von Ursache und Wirkung d. h. wir thun etwas absichtlich und erwarten daß sich etwas ereignet – wir erzeugen willkürlich eine Vorstellung und deren Werthschätzung, und dabei geräth unwillkürlich der Mechanismus in Bewegung, dessen Resultat unserem Willen entspricht.

1 [128]

Es giebt viel höhere Schauspieler, die den Staatsmann, den Cultur begründenden moral<ischen> Prophenten (Frauen, die die Hofdame usw.) spielen: kommt man dahinter, so hört man auf, sich über sie zu ärgern und hat einen Genuß mehr.

1 [129]

Das Moralische hat eine sehr sublime Art von Lustempfindungen geschaffen. Nützlich ist die Unmoralität sowohl als das M<oralische>.

1 [130]

Orient

Europa unmoralisch,

Schopenhauer's schlechter Geschmack für die Buddh<istischen> Heiligen – besser die Brahmanen

Stoicism ist semitisch

Europa arm in der Moralität

[Dokument: Notizbuch]

[Frühjahr 1880]

2 [1]

Von der Knechtschaft des Geistes (wir übertragen die Vorgänge der politischen Tyrannis und Knechtschaft auf das Gebiet des Geistes

2 [2]

Der Weinende will daß mitgeweint werde, so übt er Herrschaft aus und freut sich.

2 [3]

Sittlich leben und sichs dabei sauer werden lassen mag gut sein, aber wenn daraus immer, wie es scheint, die Forderung entsteht, daß das Leben durchaus einen ethischen letzten Sinn haben müsse, so müßte man es sich verbitten, denn es wäre dann die Quelle der größten Unverschämtheit.

2 [4]

Viele machen eine Theorie des Handelns und reden stets davon, handeln aber nie darnach. Es ist ihre Huldigung und Abfindung vor der Moral (Engländer) So finden sich katholische Priester mit Gott ab, ihre Devotion ist um so größer, je gottloser ihr Leben ist. Dabei erst fühlen sie sich wohl. – Andere haben auch den Widerspruch, aber befinden sich schlecht dabei. Andere haben den – – –

2 [5]

Stark sinnliche Menschen gewinnen ihre intellektuelle Kraft erst bei der abnehmenden Ebbe ihrer Nerven: das giebt ihrer Produktion den schwermüthigen Charakter.

2 [6]

Die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zu unserer Vorstellung vom Nächsten. Wir können nur uns selber lieben, weil wir uns kennen. Die Moral des Altruism ist unmöglich.

2[7]

Das Weibliche erscheint bei Bach religiös befangen und fast nonnenhaft, ich denke z. B. an manche verschleierte schamhafte Klagen, wie die einer Nonne (Bachs Präludien

2 [8]

wo wir nicht wissen, was allein wir eigentlich können, reden wir von „Willen". Die vollkommene Einsicht redet nur von Müssen.

Wir übersehen immer einige Kräfte die zu einer That nöthig sind.

Jede That (Willensakt) ist ein Experiment, ob unser Urtheil (im Willen) richtig war

2 [9]

Die meisten Philosophien sind erdacht, um Übelstände so für die Empfindung zu verändern, daß man sie ins Nothwendige der Welt verlegt – während die Verstimmung und der Übelstand fugitiv sind!

Philosophie gehört in den Kampf gegen den Schmerz, ist also bestimmt zu Grunde zu gehen!

2 [10]

Für einen einzigen Menschen wäre die Realität der Welt ohne Wahrscheinlichkeit. Aber für zwei Menschen wird sie wahrscheinlich. Der andere Mensch ist nämlich eine Einbildung von uns, ganz unser „Wille", ganz unsere „Vorstellung": und wir sind wieder dasselbe in ihm. Aber weil wir wissen daß er sich über uns täuschen muß und daß wir eine Realität sind trotz dem Phantom, das er von uns im Kopf trägt, schließen wir daß auch er eine Realität ist trotz unserer Einbildung über ihn: kurz daß es Realitäten außer uns giebt.

2 [11]

Die eingebildete Welt (wir lieben und hassen meist Einbildungen, nicht Realitäten, Menschen).

2 [12]

Schilderung der Ehe zum Zweck der Erkenntniß St. Mill (Comte)

2 [13]

Gesetz der Welt-Verdüsterungen

2 [14]

In der belebten Welt (von der Pflanze an) sucht sich so viel Individualismus als möglich zu entfalten. Er ist jetzt größer als je, im Ganzen.

2 [15]

Der Mangel an Selbstsucht ist es, woran die Menschheit leidet.

2 [16]

Nur die moralischen Menschen empfinden Gewissensbisse: das Elend des Unmoralischen ist eine Dichtung.

2 [17]

Achtung, Freude an den Verschiedenheiten der Indiv<iduen>! Freude am Fremdartigen der Nationen und Culturen ist ein Schritt dazu (das „Romantische" -)

Erst die Fabel-Menschheit, wie sie in den Köpfen spukt, ist gleichheitlich und bildet die wirklichen Menschen zur Gleichheit (jeden nach ihrem Bilde) Diese "Fabel" zu beseitigen!

2 [18]

Die bildenden Künste und der Roman sind auf dem rechten Wege!

2 [19]

es giebt viel mehr Moralität (latente) Mor<alische> M<enschen> im Affekt bejahen die Moralität der vorletzten Stufe, die effektvolle Moralität. Diese wird weit überschätzt

2 [20]

Unser Leben muß gefährlicher werden.

2 [21]

Wie kann sich der moderne Mensch den Vortheil der Absolution verschaffen, dem Gewissensbiß ein Ende machen? Ehemals hieß es: "Gott ist gnädig": es hilft nichts, die Menschen müssen es jetzt sein!

2 [22]

Trauer um die Todten – sie sind nicht unglücklich! also egoistisch

2 [23]

Je mehr Erkenntnisse und Vernunft ich habe, um so mehr nimmt der Glaube an die Freiheit ab, es steht uns nicht viel zu wählen offen

2 [24]

Mit Hülfe der Wissenschaft kann jeder Mensch seine Originalität fortschreiten lassen

2 [25]

Zügellosigkeit der Trauer wie der Liebe ist gemeiner Seelen Art.

2 [26]

In Rußland Absolutismus

in Deutschland sucht man, was Richelieu für Frankreich

in Frankreich experimentirt man 25 Verfassungsformen in 100 Jahren.

2 [27]

Gang und Eintritt in die Cultur!

2 [28]

Ein Corse hält Betteln für unmoralisch, als Bandit leben nicht: Tödten der vendetta sogar moralisch. Stolz! als Maßstab.

2 [29]

100 tiefe Einsamkeiten bilden zusammen die Stadt Venedig – dies ihr Zauber. Ein Bild für die Menschen der Zukunft.

2 [30]

Die dramatische Musik ist ein Mittel zur Erregung oder Steigerung von Affekten: sie will nicht Freude an der Musik selber geben, wie die Musik für Kenner und Liebhaber (Kammermusik)

Weil sie von etwas überzeugen will, was außer ihr liegt, gehört sie in die Rhetorik.

2 [31]

Durch die Worte, die uns umschweben, kommen wir auf Gedanken.

2 [32]

Wer wird das lesen wollen! Gott weiß es nicht, ich auch nicht.

2 [33]

Südliche Musik. Haydn empfand bei der ital<ienischen> Oper, wohl das, was Chopin bei einer ital<ienischen> Barcarole! Beide machten Musik der Sehnsucht mit Verwendung der wirklichen ital<ienischen> Musik.

2 [34]

Warum erscheint es uns verächtlich, daß jemand sich öffentlich schmeicheln läßt, etwa ein alter Mann durch Jünglinge? Weil er der Scham ins Gesicht schlägt: die Scham will, daß eine so große Begierde wie die nach der Schmeichelei gar nicht oder nur im Verborgenen befriedigt werde: jene allzugroße Unsinnigkeit macht der allgemeinen menschlichen Vernunft Schande.

2 [35]

Vermöge des Wissens um das Leid kann man es verringern. Das eigentliche Mitleiden verdoppelt eben nur das Leid und ist vielleicht selbst Quelle des Unvermögens zu helfen (beim Arzte). – Weshalb hilft der Wissende aber? Weil ein Übel nicht verhindern, das man hindern kann, beinahe so schlimm ist als es thun.

2 [36]

„Malerische Moralität"

Die Effekt-Moralität ist gewaltsam, ein Ausbruch, der so viel angehäufte Unmoralität (z. B. feiges Nachgeben gegen ungerechte Herrn usw.) zurückwerfen muß. Im Kleinen, aber beständig das Ungerechte hemmen ist weniger pathetisch für Andere und für uns selber. Ebenso die absolute Abstinenz effektvoller als die relative kleine

2 [37]

Eine diätetische Vorschrift gegeben, und wir handeln nicht darnach: unmoralisch (weil unvernünftig, weil sich selber schädlich). Aber "sich selber will man nicht schaden": es ist eine Illusion: der Selbstschaden

also weil wir nicht schaden wollen. – Wesh<alb> aber wollen wir nicht schaden? – Aus Gewohnheit jetzt – und aus Furcht ursprünglich.

2 [38]

Keiner weiß genau, was er thut, wenn er ein Kind zeugt; für den Weisesten ist es ein Lotteriespiel. Und der Mensch soll frei sein! der nicht einem Vernunft-Akte sein Dasein dankt!

2 [39]

Mitwissen um das Leiden –

Leidet man wirklich durch das Mitleid, so nimmt man sich ein Leid ab. Nur wenn man drum weiß, aber nicht leidet, kann man um des Nächsten willen handeln, wie der Arzt.

Solche welche drum wissen und sich freuen (die Götter der Kannibalen und Asketen)

2 [40]

Hoffentlich giebt es noch genug von solchen, welche wissen was ein olympisches Gelächter ist: es entsteht, wenn jemand erleichtert darüber ist, daß Andere nicht seinen Geschmack theilen.

2 [41]

Kein Blut sehen können – ist das moralisch?

2 [42]

sich dem Schmerz hingeben ist ein Vergnügen (Napoleon)

2 [43]

Öffentliche Vorleser

(gegen die Restaurants und die Presse.)

Untergang des Theaters.

Wie griechisch zu lernen ist?

Abends wird die Seele verwirrt.

Mangel an sittlicher Erziehung, keine Rechenschaft über den Tag.

2 [44]

Das zweite Greisenalter, das Leben im Hades, auch mit der unwürdigen Gier nach Leben wie sie alte Leute haben.

2 [45]

Wie ist der entmenschte Mensch zu denken wenn der Mensch das entthierte Thier ist?

2 [46]

Menschen des labilen Gleichgewichts, deren gefährliche Kleinigkeiten im Sittlichen und Gesunden.

2 [47]

Moralität: wir legen unseren Handlungen einen imaginären Werth zu (abhängig vom Erfolge) die Empfindung des Nicht-mehr-Sklaven! auf alles drückt er, das Siegel der neuen Freiheit. Stärkstes Gefühl der Veränderung, wenn der Sklave thun kann, was er will

2 [48]

Ermüdungen unvermeidlich – also angenehm!

Warum Verstimmungen, peinlich, gefährlich?

2 [49]

Moralität, wenn nothwendig Verantwortlichkeit, dann nur die Handlungen, die aus klarstem Verstande hervorgegangen, die oberflächlichsten, deren Motive wir kennen können. "Warum habe ich dies gethan?" Bei den aus dem Gemüth kommenden ist Verantwortlichkeit unmöglich, weil wir die Motive nicht kennen. Insofern hieße moralisch handeln immer nur oberflächlich handeln, ohne Passion-Nachdruck? Verantwortlichkeit ist eine Großthuerei. Wo wir empfinden, sind wir unverantwortlich, also "unmoralisch"?

Der Glaube an die Freiheit genügt, zur Moralitit: die Illusion.

2 [50]

Es ist schwer, etwas zu thun, was denen, die wir am höchsten verehren, mißfällig ist, auch wenn wir nur ihre Schwächen verehren würden, falls wir uns der Handlung enthielten.

2 [51]

Pfui über alle Parteien! Sie fälschen die Freundschaft die reinste Ergebenheit, die stärkste Wahrheitsliebe – ihre fortwährende Thätigkeit ist Falschmünzerei. Der bedeutendste Mensch ist nicht weit vom Schurken und Verleumder, wenn er eine Partei machen will.

2 [52]

Der Altruism gilt nicht andren Individuen, sondern imaginären gleichen Wesen. Dem Individuum zu helfen ist unmöglich, weil man es nicht erkennen kann. Das Unerkennbare – das ist der Nächste.

2 [53]

Unter Ausländern kann man hören, daß die Juden noch nicht das Unangenehmste sind, was aus Deutschland zu ihnen komme.

2 [54]

Abnahme der Nerven und ihre Philosophie.

2 [55]

Mor<al> im Dienste physiologischer Funktionen.

2 [56]

Die "Möglichkeit einer äußeren Einwirkung, das Bedingt-werden-können" setzt gerade nicht „Freiheit" sondern „Bedingtheit" voraus.

Zwei unbedingte Dinge können nicht aufeinander wirken.

2 [57]

Das vollkommene Wissen hätte den Begriff "Freiheit" nicht entstehen lassen und so die moralische Abschätzung der Thaten verhindert. Wenn es keine unmoralischen Taten gäbe, so gäbe es keine Moral.

2 [58]

M<enschen> müssen ihrer täglichen Ärger haben.

2 [59]

Die Anmaßenden aus früheren Gewohnheiten, die es nicht mehr merken (und doch nicht den Stolzen gleichen, weil ihre Gebärden Accente usw. anders sind)

2 [60]

Manche wollen für anmaßend gelten, weil es immer noch besser ist als für einen armen gedrückten Teufel zu gelten.

2 [61]

Wir lernen Gewohnheiten und Meinungen der Anderen, nicht Individuen kennen. So setzen wir uns im späteren Leben auch nicht mit Individuen auseinander d. h. wir behandeln uns selber nicht wie Individuen.

2 [62]

Die schwere physische Arbeit wie die der Packträger Rudermeister Ackerbauer wird schlecht bezahlt, der welcher sie thut geringgeschätzt. Der Handelsmann läßt sich seinen Überschuß an Geist zu hoch bezahlen; höhere Rassen wie z. B. die jüdische gerathen auch in den schrecklichsten Lagen nicht leicht in die äußerste Noth, sich als physische Maschinen vermiethen zu müssen.

2 [63]

Die Emotionen sind eine physiologische Gegenkraft.

2 [64]

Einer, der etwas nachempfindet, schätzt es darauf höher, ja er will es wiederhergestellt haben z. B. das Religiöse (F. Schlegel)

2 [65]

Es kommt. darauf an, daß eine Tugend erreicht werde, nicht auf welchem Wege. Der Erfolg sei das Glück: es handelt sich darum, eine schwere Mechanik so zu lernen, daß sie so leicht wie ein Spiel wird.

2 [66]

Jede Handlung, jeder Gedanke, jede Regung baut an dem Glück oder Unglück deiner Zukunft; sie bauen dein Gemüth, deine Gewohnheiten, es giebt nichts Indifferentes. Dein logischer Leichtsinn wird zu büßen sein. Das Gemüth ist die große Cisterne, klares Bewußtsein ist das Mittel, endlich ein klares Gemüth zu haben – aber vielleicht erst in der 3ten Generation.

2 [67]

Die moralischen Handlungen sind Mittel, deren Zwecke man aus den Augen verloren hat und die an sich zu erreichen jetzt schon Vergnügen macht.

2 [68]

Es giebt kein eigenes Organ des „Gedächtnisses": alle Nerven z. B. im Beine, gedenken früherer Erfahrungen. Jedes Wort, jede Zahl ist das Resultat eines physischen Vorgangs und irgendwo in den Nerven festgeworden. Alles was den Nerven anorganisirt worden, lebt in ihnen fort. Es giebt Wellenberge der Erregung, wo dies Leben ins Bewußtsein tritt, wo wir uns erinnern.

2 [69]

Wer jetzt zum Christenthum eine zweideutige Stellung einnimmt, sieht sich sofort von der besten strengeren edleren Gesellschaft verlassen.

2 [70]

Die bewußte Erfahrung des einzelnen Individuums ist eine zu kurze Kette und mißt nicht bis an sein Ende.

2 [71]

Der Eitle bleibt beim Mittel zum Zweck stehen und bekommt es lieb, so daß er den Zweck vergißt.

2 [72]

Es ist so viel überflüssiger Verdruß Leid und Elend in den unabhängigen Klassen, weil so wenige ihres Wirkens froh werden können – in Folge falscher Lebensführung, falschen Berufes d. h. in Folge einer überflüssigen Abhängigkeit.

2 [73]

Widerlich! jemand kommt uns mit einem Lobspruch entgegen, er will uns damit für sich einnehmen d. h. er will von uns Besitz ergreifen, weil er glaubt, daß wir dem Lobenden eine freie Hand machen. Aber der Lobende stellt sich über uns, er will uns besitzen – es ist unser Feind.

2 [74]

Liebe zum Nächsten

2 [75]

ich gestehe, es ist angenehm daß nicht alle guten Gedanken über das Thema schon darin stehen

2 [76]

nicht mehr bewußtes Denken bei Mutter und Kind

2 [77]

der faut<e>-de-mieux-Mann Dühring

 

[Dokument: Manuskript]

[Frühjahr 1880]

 

L'Ombra

Di

Venezia.

3 [1]

Vorrede

Als ich jüngst den Versuch machte, meine älteren Schriften, die ich vergessen hatte, kennen zu lernen, erschrak ich über ein gemeinsames Merkmal derselben: sie sprechen die Sprache des Fanatismus. Fast überall, wo in ihnen die Rede auf Andersdenkende kommt, macht sich jene blutige Art zu lästern und jene Begeisterung in der Bosheit bemerklich, welche die Abzeichen des Fanatismus sind, – häßliche Abzeichen, um derentwegen ich diese Schriften zu Ende zu lesen nicht ausgehalten hätte, wäre der Verfasser mir nur etwas weniger bekannt gewesen. Der Fanatismus verdirbt den Charakter, den Geschmack und zuletzt auch die Gesundheit: und wer diesen dreien zugleich wieder von Grund aus aufhelfen will, muß sich auf eine langwierige Cur gefaßt machen.

Nachdem ich so viel und dazu nicht das Erbaulichste von mir gesagt habe – wie es die Sitte der Vorrede zwar nicht anräth, aber doch erlaubt – darf ich wenigstens hoffen damit erreicht zu haben, daß meine neuesten Gedanken, welche ich im vorliegenden Buche mittheile, nicht ohne Vorsicht gelesen werden.

3 [2]

1. Wir gehen leichter an unsern Stärken, als an unsern Schwächen zu Grunde; denn in Bezug auf diese leben wir vernünftig, nicht aber in Bezug auf unsere Stärken.

3 [3]

2. Zur selben Zeit geht immer in uns eine Art Betrachtung der Welt ihrem Ende zu und eine andere wächst: denn unsre unklare Erziehung macht uns mit verschiedenen zu gleicher Zeit bekannt, und jede versucht, auf unserem Boden zu wachsen.

3 [4]

3. Unsere Liebe zur Wahrheit zeigen wir am deutlichsten in der Behandlung der "Wahrheiten", welche Andere dafür halten: da verräth sich, ob wir wirklich die Wahrheit oder nur uns selber lieben.

3 [5]

5. Dies sind die abnehmenden Grade des Mitleidens: erstens Mitleid mit Eigenem (Kind, Erzeugniß, Besitz, Weib, Diener), zweitens mit dem von uns zum Eigenthum Begehrten, drittens mit uns Ähnlichem, viertens mit uns Bekanntem. Das Merkmal, welches das Mitleid vom Leiden unterscheidet, ist die Erbitterung, daß unserem Eigenthum oder Eigenthum-Ähnlichen Etwas zu Leide geschieht. Das Leiden des uns Feindlichen ist angenehm, als Anzeichen vom Schwinden einer Kraft der Feindseligkeit: am Fremden, uns Unähnlichen, beinahe angenehm, weil dies uns beinahe feindlich dünkt, wie das Ähnliche und Bekannte in uns eine Empfindung erweckt, die der Empfindung für das Eigenthum verwandt ist.

3 [6]

8. Einem kommenden Zeitalter, welches wir das bunte nennen wollen und das viele Experimente des Lebens machen soll, wird eigenthümlich sein: erstens die Enthaltung in Bezug auf die letzten Entscheidungen (sobald man nämlich eingesehen hat, wodurch diese bisher ihre ungeheure Überschätzung erhalten haben, hören sie auf für uns bedeutend zu sen);

zweitens die Voreingenommenheit gegen alle Sitten und alles nach Art der Sitte Bindende; drittens eine größere Ehrlichkeit im Sichtbar-werden-lassen sogenannter böser Eigenschaften.

3 [7]

10. Es ist ein Vorurtheil daß die zweckmäßige Kost dem Menschen auch die natürliche und von vornherein angenehme sei; ursprünglich aber schmeckte wohl Vieles schlecht, und war ihm „unnatürlich", was die Noth doch zu essen anbefahl; im Verlauf der Gewöhnung kam aber der Reiz und die Lust dazu. Und so steht es in vielen Dingen, die nichts mit der Nahrung zu thun haben: das Erste ist der Zwang dazu: die Freude daran ist nachgeboren und oft spätgeboren.

3 [8]

11. Der Anmaaßende stellt sich stolz, aber gerade der Stolz ist frei von Verstellung (zum Unterschiede vom Eiteln); insofern ist Anmaaßung die Heuchelei einer Art Verstellungslosigkeit und wird in dem Falle, wo sie meisterhaft gespielt wird, mit dem Stolz verwechselt.

3 [9]

12. Man trachte immerhin nach allen Freuden, aber besinne sich wohl bei jenen, welche nothwendig Unlust und Erschöpfung nach sich ziehen; dies sind je nach der Art des Menschen die betäubenden und erschütternden Genüsse der Begeisterung, des Mitleidens, der Ekstase, des Zorns, der Rache oder des Alcohols, des Opiums, der Geschlechtlichkeit usw. Zuletzt wird man als die werthvollsten Freuden weder die höchsten, noch die schwächsten, sondern die mittleren bezeichnen und erstreben: das heißt die, welche Dauer haben und keine Unlust nach sich ziehen und anderseits intensiver sind als die schwächsten. Insofern haben Plato und Aristoteles Recht, in den Freuden der Erkenntniß das Erstrebenswertheste zu sehen – vorausgesetzt daß sie damit eine persönliche Erfahrung und nicht eine allgemeine aussprechen wollen: denn für die meisten Menschen gehören die Freuden der Erkenntniß zu den schwächsten und stehen tief unter den Freuden der Mahlzeit.

3 [10]

13. Bevor wir die physiologischen Zustände physiologisch verstehen lernten, meinten die Menschen mit moralischen Zuständen zu thun zu haben. Folglich hat sich das Bereich des Moralischen, außerordentlich verkleinert – und wird fortwährend noch kleiner: ganz so wie die Religion im Leben der Alten umfänglicher war als im Leben des katholischen Christen, und wie wiederum der Protestant den Umfang der Religion noch einmal verkleinert hat.

3 [11]

18. Die Natur ist böse, sagt das Christenthum; sollte das Christenthum also nicht ein Ding wider die Natur sein? Sonst wäre es ja, nach seinem eigenen Urtheil, etwas Böses.

3 [12]

21. In den Leidenschaften des Menschen erwacht das Thier wieder; die Menschen kennen nichts Interessanteres, als diesen Rückgang ins Reich des Unberechenbaren. Es ist als ob sie sich an der Vernunft allzusehr lan<g>weilten.

3 [13]

22. Was man besitzt, das vertritt man, helfend und fürsorgend; was man liebt, begehrt, das heißt besitzen will, vertritt man noch lebhafter, weil der Besitz noch nicht enttäuscht, noch nicht gesättigt hat. Die Empfindung der Liebe setzt die Empfindung für das Eigenthum voraus.

3 [14]

25. Wir können dem Nächsten immer nur helfen, indem wir ihn in eine Gattung (Kranke, Gefangene, Bettler, Künstler, Kinder) einordnen und dergestalt erniedrigen; dem Individuum ist nicht zu helfen.

3 [15]

26. In Risano (Dalmatien) wurden die gefallenen Mädchen gesteinigt; noch 1802 verhinderten die Österreicher einen solchen Akt, der Vater an der Spitze des Volkes hob eben den ersten Stein auf. In der Sahara-Stadt Biskra lebt eine Zeit lang jedes Mädchen der benachbarten Völker von der Prostitution, um sich durch sie zu bereichern; der Erwerb wird dann den Eltern überbracht und es würde als unmoralisch, ja als unverzeihlich gelten, wenn jemand nicht auf diese Weise seine Pietät ausdrückte.

3 [16]

27. Da das Mitleiden das einzelne Wehe in der Welt verdoppelt, ja verhundert- und vertausendfacht, so dürfte es wohl in den Augen solcher Götter, wie sie Kanibalen und Asketen haben, die größte Tugend heißen.

3 [17]

30. Der Tadelnde grenzt sich gegen uns ab; er ist nicht für uns eingenommen und will uns nicht einnehmen: er läßt frei, während der Lobende von uns Besitz ergreifen will. Dies beachte der, welcher sich selber kennen und doch – unabhängig bleiben will.

3 [18]

32. Das Bild des Nächsten, wie es uns immer vorschwebt, ist entweder das Erzeugniß einer Fülle, die nach Entladung begehrt, oder eine Leere, die nach Füllung begehrt – es ist immer ein physiologischer Zustand, für den wir kein eigentliches und bezeichnendes Wort haben.

3 [19]

33. Das Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie ist eine Überzeugung, die noch kein Zeitalter hatte: daß wir die Wahrheit nicht haben. Alle früheren Menschen "hatten die Wahrheit": selbst die Skeptiker.

3 [20]

34. Wie ist es doch geschehen, daß, in der Geschichte des Christenthums, zu den Geistig-Armen, unter und aus denen es geboren wurde, endlich auch die Geistreichen, ja selbst die Reichen des Geistes überliefen? Das Christenthum als große Pöbel-Bewegung des römischen Reichs ist die Erhebung der Schlechten, Ungebildeten, Gedrückten, Kranken, Irrsinnigen, Armen, der Sklaven, der alten Weiber, der feigen Männer, im Ganzen aller derer, welche Grund zum Selbstmord gehabt hätten, aber den Muth dazu nicht hatten; sie suchten mit Inbrunst ein Mittel, ihr Leben auszuhalten und aushaltenswerth zu finden, fanden es, und boten der Welt ihre neue Art von Glück an. Ein Glück solchen Ursprungs war die größte Paradoxie des Alterthums; die damalige Bildung war zu paradoxensüdtig, um es nicht sehr anziehend zu finden. „Das Heil kommt von den Juden", – das war ein Satz, gegen den kein geistreicher Alter seine Haltung auf die Dauer behauptete. „Versuchen wir es also mit den Juden" – so klang die innere Stimme, durch welche der Geist auf die Seite der großen Bewegung gerufen wurde.

3 [21]

35. Unsere Nächsten geben im Kreislaufe unserer körperlichen und seelischen Funktionen die Gelegenheitsursachen ab, um physiologische Vorgänge, die in uns nöthig sind, zu fördern.

3 [22]

37. Wenn Einer gähnt – und das ist doch etwas Unangenehmes – und der Andere mitgähnt, so haben wir ein einfaches Beispiel für das Phänomen des Mitleidens. Sollte aber wirklich dabei das principium individuationis durchbrochen sein?

3 [23]

38. Jene Moralität, welche am allerstrengsten von jedermann gefordert, geehrt und heilig gesprochen wird, die Grundlage des socialen Lebens: was ist sie denn als jene Verstellung, welche die Menschen nöthig haben, um mit einander ohne Furcht leben zu können? (So daß der Einzelne sich dem Anderen als gleich giebt und sich benutzen läßt, so wie er jenen benutzt.) Der allergrößte Theil dieser Verstellung ist schon in Fleisch Blut und Muskel übergegangen, wir fühlen es nicht mehr als Verstellung, so wenig wir bei Begrüßungsworten und höflichen Mienen an Verstellung denken: was sie trotzdem sind. Die gewöhnlichsten Arten der Verstellung sind: erstens man ähnelt sich seiner Umgebung an, man versteckt sich gleichsam in ihr; zweitens man macht es einem andern Menschen, der Ansehen und Erfolg hat, nach und giebt sich als etwas Höheres als man ist. Im ersten Falle folgt man der Sitte und wird "sittlich", im zweiten Falle folgt man der Autorität und wird "gläubig": unter allen Umständen erregt man keine Furcht mehr – denn wir haben jetzt viele "Unsers Gleichen".

3 [24]

43. Wir lernen die Ansprüche und Meinungen der Anderen eher kennen, als unsere eigenen; jene werden durch lange Übung uns anorganisirt. Wenn wir später selbstständiger werden, beziehen wir doch all unser bewußtes Urtleilen und Handeln immer auf den anorganisirten Grundstock, vergleichend oder widerstrebend, uns dagegen empörend oder uns mit ihm versöhnend.

3 [25]

45. Die Moral und die Civilisation suchen „weniger Schmerz", aber nicht „mehr Glück".

3 [26]

46. Ein Herz voll Tapferkeit und guter Dinge braucht von Zeit zu Zeit etwas Gefahr, sonst wird ihm die Welt unausstehlich.

3 [27]

48. Der dramatische Musiker muß nicht nur als Dichter, sondern auch als Musiker Schauspieler und ganz und gar Schauspieler sein. Dies trennt ihn unerbittlich ab vom eigentlichen Dichter und eigentlichen Musiker; er ist im Vergleich zu Jedem von ihnen geringerer Gattung. Aber als Schauspieler kann er sich zur Genialität und zum gleichen Range mit ihnen erheben.

3 [28]

53. Der Eine giebt seinen Handlungen am Schluß einen anmaaßlichen Charakter durch eine Art Ausdeutung, der Andere handelt von vornherein anmaaßend. Der Erste, der sich gehen läßt und erst am Schluß der Handlung einen Blick auf die Anderen wirft, hat mehr Stolz, als der Andere, aber kernt das Wesen des Stolzes schlechter, als der Andere.

3 [29]

56. Das, was man nicht kennt, das kann man nicht lieben, sonst liebt man etwas Anderes, nämlich ein Phantom, und dies ist das Gewöhnliche. Die Liebe ist gewiß alles Andere eher, als ein Mittel der Erkenntniß.

3 [30]

67. Um über das Mitleid so zu phantasiren, wie Schopenhauer, muß man es an sich nicht aus Erfahrung kennen. Wo die Mängel eines Menschen liegen, da werden seine Ideale phantastisch.

3 [31]

68. Dreimal hat Deutschland auf Frankreich eingewirkt; im dritten Jahrhundert brachte es wilde Sitten und barbarische Unwissenheit; im Zeitalter Montaigne's brachte es ein zweites nachgeborenes Mittelalter und Religionskriege, und in diesem Jahrhundert brachte es die deutsche Philosophie, die Romantik und das Bier.

3 [32]

70. Sein heller Kopf trieb ihn oft auf einsame Bahnen, wo er die Menschen los war; aber sein Herz war zu ängstlich dafür und schlug unerträglich dabei gegen seine Rippen. Gab er dem Herzen nach, so mischte er sich wieder unter die Menschen und nun befand sich sein Kopf elend.

3 [33]

74. Alles, was wir für uns thun, thun wir um der Anderen willen; aber auch Alles, was wir für die Anderen thun, thun wir um der Anderen willen. Dies ist aber kein "Altruismus"!

3 [34]

75. Das Nachmachen, das Äffische, ist das eigentlich und ältest Menschliche – bis zu dem Maaße, daß wir nur die Speisen essen, die Anderen gut schmecken. – Kein Thier ist so sehr Affe als der Mensch. – Vielleicht gehört auch das menschliche Mitleiden hierher, sofern es ein unwillkürliches inneres Nachmachen ist.

3 [35]

77. Die schüchternsten Mädchen präsentiren sich halb nackt, wenn es die Mode gebietet, und selbst verwelkte alte Weiber wagen einem solchen Gebote nicht zu widerstehen, so geistreich und gut sie sonst auch sein mögen.

3 [36]

78. Die Kraft, zu wollen, die einige Menschen und Culturen in höherem Grade, als andere, besitzen, besteht darin, daß man ungefähr die gleiche Anzahl von eingeübten inneren Mechanismen und von Werthschätzungen hat: so daß, sobald nur ein werthgeschätztes Ding in die Vorstellung tritt, sofort auch der dazu gehörige Mechanismus sein Stück abspielt. Anderen Menschen und Zeitaltern fehlt es an einer solchen Zahlencongruenz von Mechanismen und Werthschätzungen. Sie erzeugen sehr viel mehr Werthschätzungen, bei denen Nichts herauskommt, als solche, welche eine "Wirkung" haben, wie man sagt. Dabei ist immer festzuhalten, daß die Werthschätzung niemals die Ursache einer Handlung ist; vielmehr tritt durch eine alte Association der Mechanismus automatisch in Bewegung, wenn eine werthgeschätzte Vorstellung im Gehirne aufgestiegen ist: es ist ein regelmäßiges Nacheinander, nicht Ursache und Wirkung, so wenig etwa, als ein Wort die Ursache des Begriffs ist, welcher bei seinem Erklingen in uns erscheint. – Wollende Zeitalter waren bis jetzt immer gedankenarm, aber nothwendig ist dies nicht.

3 [37]

79. Der Anschein des Seienden und Festen im Individuum, der Anschein willkürlicher Handlungen, der Anschein eines absoluten Charakters der Handlungen, der Anschein eines absoluten Werthes gewisser Handlungen (das heißt eines unbegrenzt höchsten Werthes), – diese vier Irrthümer haben zur Weiterentwicklung der Moral am meisten beigetragen.

3 [38]

80. Weshalb der religiöse Glaube jetzt nicht mehr aufrecht stehen kann, ist oft gezeigt worden; aber noch Niemand hat gezeigt, warum auch der Glaube an die Moral unglaublich geworden ist.

3 [39]

81. Die Ehe giebt verschiedenen Arten von Menschen zu verschiedenen Arten des moralischen Heroismus Anlaß: ich weiß nicht, ob darin nicht ihr höchster Werth zu suchen ist. Die Einen würden auch mit der geliebtesten Person keine Ehe eingehen, im Falle die Kirche ihren Segen vorbehielte, und Andere umgekehrt würden auf die Ehe verzichten, wenn dieselbe von einer kirchlichen Einsegnung abhängig gemacht würde; wieder Andere finden Gelegenheit zum Heroismus in dem Gedanken, daß die einmal geschlossene Ehe unlösbar sei, dagegen hatte die George Sand umgekehrt ihre strengsten und sittlichsten Empfindungen in die Forderung gedrängt, daß die Ehe nur so lange Dauer haben dürfe, als die leibliche Verengung von Seiten beider Gatten mit dem Zustande einer seelischen Begeisterung für einander verbunden ist.

3 [40]

82. Der Irrthum der kirchlichen Absolution (und oft auch der staatlichen Strafen) besteht darin, daß hier ein Einmal zum Keinmal gemacht werden soll. Wenn die Erinnerung an eine Schuld nicht mehr quält, dann wirkt der durch sie eingeübte innere Mechanismus viel leichter und es giebt kein Hinderniß mehr für ein neues Abspielen des alten Liedes. Daher fromme ehebrecherische Frauen unter den Katholiken keine Seltenheit sind, welche täglich sündigen und sich täglich absolviren lassen.

3 [41]

83. Man soll das unbeschreibliche Unbehagen, welches so oft produktive Menschen um sich verbreiten, als Gegenrechnung aufstellen, wenn man die Freude und Erhebung überschlägt, welche die Menschen ihren Werken danken. Ihre Unfähigkeit, sich zu beherrschen, ihr Neid, die Böswilligkeit und Unsicherheit ihres Charakters machen aus ihnen leicht ebenso Übelthäter der Menschheit, als sie sonst deren Wohlthäter sein mögen. Namentlich ist das Verhalten der Genie's zu einander eines der dunkelsten Blätter der Geschichte . Die Genieverehrung ist oft eine unbewußte Teufelanbetung gewesen. Man sollte überrechnen, wie viele Menschen in der Umgebung eines Genie's sich ihren Charakter und ihren Geschmack verdorben haben. Große Menschen ohne Werke thun vielleicht mehr noth, als große Werke, um die man einen solchen Preis von Menschenseelen zahlen muß. Aber einstweilen versteht man kaum, was ein großer Mensch ohne große Werke ist.

3 [42]

84. Schopenhauer hatte sich seinen Ruhm zu früh festgestellt und war nicht stolz genug, sich gegen seine ausgesprochenen Grundsätze weiter zu entwickeln. Er fürchtete für seinen Ruhm und zog die verhältnißmäßige Unfruchtbarkeit der Beschämung vor, sich widersprechen zu müssen.

3 [43]

87. Ob man lobt oder tadelt: man fürchtet dabei. Mit dem Tadel wollen wir uns fürchten machen, mit dem Lobe wollen wir den Andern heimlich einnehmen, ihn mit uns versöhnen oder uns auf die Seite jener Macht bringen, die wir fürchten. – Aber nur das seltenste Lob, der seltenste Tadel ist ehrlich, das heißt drückt einfach unsere Furcht vor einer Person aus, sondern zumeist drücken wir unsere Furcht vor Anderen anders aus, als wir empfinden, aus Furcht vor einer zweiten Person. Gewöhnlich ist Lob und Tadel eine durch Furcht gekreuzte Furcht.

3 [44]

91. Die Moralität der Männer nimmt im Leben ab; als Kinder sind wir am moralischesten, weil ohne Furcht, von Liebe umgeben und der Anmaaßung fremd. Die Moralität der Frauen, welche in ähnlichen Verhältnissen wie die Kinder zeitlebens leben, nimmt deshalb mit den Jahren eher zu, als ab.

3 [45]

93. Was wir erwarten, das nennen wir recht und billig; was uns verwundert, was uns wunderbar vorkommt, das loben oder tadeln wir. Die erste Empfindung der Verwunderung ist die Furcht: Lob und Tadel ist ein Produkt der Furcht. Dagegen läßt das Rechte und Billige uns zufrieden, ist für die Empfindung neutral und entspricht der Gesundheit. – Das, was jeder von sich und Anderen erwartet in jeder Lage, also das Gewöhnliche einer ganzen Cultur, ist aber für eine andere Cultur nicht das Gewöhnliche und erregt deren Verwunderung, erweckt Lob und Tadel, und wird also jedenfalls zu stark empfunden. Die Culturen verstehen das, was zur Gesundheit der anderen gehört, nicht. Das Erwartete, das Gewöhnliche, das Gesunde, das für die Empfindung Neutrale macht den größten Theil dessen aus, was eine Cultur ihre Sittlichkeit nennt.

3 [46]

94. Gesetzt, man erwartet immer das Böse, die unangenehme Überraschung, so ist man immer in feindseliger Spannung, wird für Andere unerträglich und leidet selber an der Gesundheit: solche Naturen sterben aus. Im Ganzen sind nur die zufriedeneren und hoffnungsreicheren Rassen am Leben geblieben. – Wer immer Schlimmes erwartet, wird böse, nämlich feindselig argwöhnisch unruhig; dies ist die Wirkung pessimistischer Denkweisen.

3 [47]

95. Die Wissenschaft, die das Loben und Tadeln aufheben will, will das Verwundern beseitigen und die Menschen so leiten, daß sie immer das Billige und Rechte erwarten; zuletzt sollen sie, selbst wenn ein Vulcan ausbricht, sich sagen: es ist billig und gerecht, er kann ja nicht anders; was ist da zu verwundern?

3 [48]

96. Wo wir fühlen, daß wir etwas mit einem Überschuß von Kraft thun, da fühlen wir uns frei; wo das Thun selber ergötzt und nicht nur um des ergötzlichen Zweckes willen gethan wird, da entsteht das Gefühl der Freiheit des Wollens: wir wollen hier zwar einen Zweck, aber der Zweck beherrscht uns nicht ganz, er giebt nur eine Gelegenheit, damit unsere Kraft mit sich spiele, wir wissen, es giebt noch viele andere Gelegenheiten dazu; weil wir den Zweck etwas beliebig und gering schätzen, so fühlen wir uns nicht als seine Sklaven, das heißt, wir fühlen uns als wollend in Bezug auf diesen Zweck, aber auch als frei vor ihm.

3 [49]

99. Auf Menschen, denen viel Plötzliches begegnet, sei es von außen oder von innen her, wirkt Alles, was ruhig erwartet werden kann, humanisirend; also zum Beispiel jede Gewohnheit, welche über sie und über ihre Gesellschaft herrscht: denn das Gewohnte macht keine rasche Spannung, keine schnelle Maaßregel nöthig. Plötzliches ungestümes Handeln ist ebenso halbwildenhaft wie plötzliches ungestümes Überwunden-werden von Affekten; für solche Zustände besteht das Moralische im Gewohnten, Ruhigen, Abwartenden, Überlegenden. In anderen Zeitaltern, wo dagegen gerade ein Übermaaß von diesen Eigenschaften existirt, scheinen die Leidenschaften und ungestümen Handlungen moralischer; es ist als ob den Menschen dieser Zeiten ein Blick in die Natur dabei gegönnt wäre, so daß ihnen freier, kühner, erregter zu Muthe wird, sie halten also das Plötzliche für das humanisirende Element wie jene Früheren das Gegentheil.

3 [50]

101. Giebt es Menschen, welche die Affekte bewundern, die Vernünftigkeit verachten und die moralische Werthschätzung <bei Seite> stellen? Unter den handelnden Menschen gewiß nicht; hie und da aber wird ein Künstler die Vernünftigkeit und die Moralität nicht malerisch genug finden: er will Menschen mit starken Contrasten.

3 [51]

102. Die moralischen Urtheile sind Mittel, unsere Affekte auf eine intellektuelle Weise zu entladen als dies durch Gebärden und Handlungen geschieht. Das Schimpfwort ist besser, als ein Faustschlag oder ein Anspeien; die Schmeichelei (Lob) besser, als ein Streicheln oder Lecken (Kuß); der Fluch übergiebt einem Gotte oder Geiste die Rache, die das Thier selbst gegen seinen Feind ausübt. Vermöge der moralischen Urtheile wird es dem Menschen leichter zu Muthe, sein Affekt wird entladen. Schon der Gebrauch von Formen der Vernunft bringt eine gewisse Nerven- und Muskelbeschwichtigung mit sich; das moralische Urtheil entsteht in jenen Zeiten, wo die Affekte als lästig und die Gebärden als eine zu grobe Erleichterung empfunden werden.

3 [52]

103. Die plötzlichen Affekte sind das, was die Menschen auf die Dauer häßlich macht. Das Christenthum hat die plötzlichen Affekte entfesselt, folglich –

3 [53]

106. Das niedere katholische Volk, das gar nichts von freiwilliger Enthaltsamkeit weiß, aber sehr viel von unfreiwilliger – weshalb es die Genüsse des Lebens anbetet -, sieht im Heiligen ein Gegenstück von Handlungsweise, von dem es nichts begreift: es glaubt an den Heiligen, quia absurdus est. In unsern protestantischen Ländern, wo gerade jetzt die moralische Erziehung fast fehlt oder ganz gedankenlos vor sich geht, hat man vor dem Heiligen einen fast gleichen Respekt; man denkt an die Asketik wie an etwas Übermenschliches und vergißt dabei, daß zu jeder antiken Moral, selbst zur epikureischen, eine Asketik gehörte.

3 [54]

107. Zuerst lernt man nicht Einsichten in die Dinge und Menschen, sondern Werthurtheile über die Dinge und Menschen; diese verhindern den Zugang zur wirklichen Erkenntniß. Man müßte durch eine radikale Skepsis des Werthes erst einmal alle Werthurtheile umwerfen, um freie Bahn zu haben.

3 [55]

108. Die feine höfische Cultur unter Ludwig XIV hatte in vielen Stücken den Stoicismus nöthig; viele Empfindungsstürme mußte man in's Herz verschließen, viele Müdigkeit verhehlen, vielen Schmerz mit Heiterkeit bedecken. Unsern bequemen Mitmenschen würde diese Lebensart zu streng sein.

3 [56]

109. Es ist die Art der Juden, ihre Chancen im Verhältniß zu Personen auszunützen, indem sie dicht an die Grenze derselben treten und es merken lassen, daß sie sich an der Grenze wissen. Dies macht sie zudringlich; wir alle wollen ja unnahbar sein und unbegrenzt erscheinen; die Juden wirken diesem phantastischen Unfaßbar-sein-wollen bei Einzelnen und bei Nationen entgegen und werden dafür sehr gehaßt.

3 [57]

110. Erkenntnißtheorie ist die Liebhaberei jener scharfsinnigen Köpfe, die nicht genug gelernt haben und welche vermeinen, hier wenigstens könne ein jeder von vorne anfangen, hier genüge die "Selbstbeobachtung".

3 [58]

113. Wenn wir das Gute, das wir einem Besitze verdanken, bei allem Bemühen, es zu überschauen, nicht mehr zu überschauen vermögen, so entsteht Liebe: ein Überströmen gegen etwas Unbegrenztes; es fehlt ihr die Kenntniß des ganzen Werthes einer Sache oder Person, weil keine Wage groß genug ist <ihn> zu fassen. Man bringt alles Höchste, das man kennt, zur Vergleichung heran; lieben wir, so denken wir fortwährend an alles Höchste aller Art, und weil es <uns> immer zugleich mit dem geliebten Gegenstande einfällt, so verwechseln wir es auch wohl mit ihm.

3 [59]

114. Anstatt zu wünschen, daß Andere uns so kennen wie wir sind, wünschen wir, daß sie so gut als möglich von uns denken; wir begehren also, daß die Anderen sich über uns täuschen: das heißt wir sind nicht stolz auf unsere Einzigkeit.

3 [60]

115. Die Verkümmerung vieler Menschen hat darin ihren Grund, daß sie immer an ihre Existenz in den Köpfen der Anderen denken, das heißt sie nehmen ihre Wirkungen ernst und nicht das, was wirkt: sich selber. Unsere Wirkungen aber hängen von dem ab, worauf gewirkt werden muß, stehen also nicht in unserer Gewalt. Daher so viel Unruhe und Verdruß.

3 [61]

116. Trübe und bittere Gedanken sind ohne physiologische Ursachen gar nicht möglich. Um der große Ankläger der Zeit oder des ganzen Lebens zu werden, muß unsere Leber dazu präparirt sein.

3 [62]

117. Unsere ersten leidenschaftlichen Entscheidungen für oder gegen, mit denen wir in der Jugend unserem Lebenskahne die Richtung geben, sind gewöhnlich die Beweise für schlechte Erziehung, unreifen Geschmack und den Mangel an Nachdenken, in dem wir bis dahin gelebt haben.

3 [63]

121. Das große volle offene Auge hat der, welcher gewohnheitsmäßig viel auf einmal überschauen will, also das Kind, welches oft erstaunt ist, der Liebende, der all sein Glück mit seinem Blicke umspannen möchte, der Denker, der viele wichtige Dinge vor sich hat und sie ordnen will; Andere, welche viel an kleine Dinge denken, haben das verkleinerte scharfe Auge, sie wollen möglichst genau sehen, als ob sie den Bewegungen eines Insektes folgten, so auch der Argwöhnische. Der Schrecken blickt groß, weil in ihm Erstaunen ist, die Furcht wechselt die Richtung des scharfen Blickes sehr schnell, unruhig darüber, woher die Gefahr kommt.

3 [64]

122. Unsere Werthschätzungen bestimmen unsere Lebensweise (Aufenthalt, Beruf, Umgang usw.), und unsere Lebensweise bestimmt, wie sehr oder wie wenig wir einen Schmerz oder eine Lust fühlen, nicht nur im Feineren und Geistigsten, sondern bis auf‘s Körperlichste herab. Wer die Werthschätzungen verändert, verändert mittelbar auch die Lust- und Unlust-Arten und -Grade der Menschen.

3 [65]

123. Zu den Trostmitteln der leidenschaftlichen und ungebändigten Charaktere gehört die Tragödie; sie räth an, Ruhe und innere Freiheit nur jenseits der Welt zu erwarten – damit beseitigt sie vorübergehend die moralische Unzufriedenheit solcher Naturen mit sich, denn sie scheint zu sagen: das Unmögliche nicht zu vermögen, sollte keinen Kummer machen.

3 [66]

125. Alles, was wir jetzt unmoralisch nennen, ist irgendwann und irgendwo einmal moralisch gewesen. Was bürgt dafür, daß es seinen Namen nicht noch einmal verändert?

3 [67]

128. Es giebt eine komische Definition des Komischen: es soll, nach Vinet, die Naivetät der Sünde sein.

3 [68]

129. Die Gesellschaft muß ihrer so sicher werden, daß sie eine leidliche Summe Verbrechen ertragen kann, ohne im Ganzen dadurch gestört zu werden; ebenso muß der Staat so klug und dauerhaft begründet sein, daß viel Ungeschick und Thorheit seiner Diener ihm nicht wesentlich schädlich wird.

3 [69]

130. Die moralische Beurtheilung der Menschen und Dinge ist ein Trostmittel der Leidenden, Unterdrückten, innerlich Gequälten: eine Art Rache-nehmen.

3 [70]

131. Ein Jahrtausend lang war es den freisinnigsten Geistern nicht möglich, sich eine unreligiöse Denkungsart vorzustellen; jetzt besitzen wir dieselbe, sind aber wiederum außer Stande, uns eine außermoralische Denkungsart vorzustellen; spätere Menschen werden vielleicht auch diese haben.

3 [71]

132. Die Wissenschaft giebt fortwährend Gebote, zum Beispiel für die Gesundheit und Erziehung: sie begründet sie mit Hinweisung auf die schädlichen Folgen von deren Vernachlässigung: so begründeten auch die früheren Gesetzgeber der Moral ihre Gebote, nur daß die Folgen von deren Vernachlässigung nicht die Wirkungen aus den natürlichen Ursachen, sondern willkürliche Strafakte Gottes sein sollten. Die volksthümliche Moral kennt in Hinsicht auf die Folgen der Handlungen die natürliche Causalität nicht, sondern nur das Wunder.

3 [72]

133. Für wen nicht die landläufigen Vorurtheile anfangen paradox zu klingen, der hat noch nicht genug nachgedacht.

3 [73]

134. Es ist zu bedauern, daß Jesus Christus nicht länger gelebt hat, er wäre vielleicht der erste Renegat seiner Lehre geworden, vielleicht hätte er dann auch noch das Lachen gelernt und weniger oft geweint.

3 [74]

135. Die Trostmittel, welche sich Bettler und Sklaven ausdenken, sind Gedanken aus schlechtgenährten, müden oder überreizten Gehirnen; darnach ist das Christenthum und die socialistische Phantasterei zu beurtheilen.

3 [75]

136. Erstens: die Strafe aus der Welt zu schaffen; zweitens: die Sünde aus der Welt zu schaffen; drittens: das moralische Messen und Wägen aus der Welt zu schaffen.

3 [76]

137. Es scheint, daß viele Verbrechen aus derselben Kraft stammen, aus der die pessimistische Denkweise stammt; sie sind die Entladung dieser Kraft in Handlungen.

3 [77]

138. Wieviel Krankheit giebt es noch! Wieviel Erschöpfung durch übermäßige Anstrengung! Wieviel böse Langeweile! – und in all diesen Zuständen wird gedacht und geurtheilt, über sich selber, über die Mitmenschen, über den Werth alles Daseins. Folglich: wieviel Pessimismus muß es geben!

3 [78]

139. Wie? die Wahrheit sei einfach? – der Wahrhafte ist einfach, aber die Wahrheit ist sehr, sehr complicirt.

3 [79]

140. In den außergewöhnlichsten Zuständen meint sich der Mensch der Wahrheit näher, in den höchsten Erregungen schreibt er sich übermenschliche Fähigkeiten zu – und doch sind solche Zustände und Erregungen für die Erkenntniß einer Sache am wenigsten geeignet, wohl aber sieht er da Visionen, Gespenster, siebente Himmel und höllische Abgründe. Daher die Religion, daher die meiste Metaphysik -. Und mit diesen Ausgeburten der halben Verrücktheit hätte die Wissenschaft nöthig, sich zu versöhnen!

3 [80]

141. Wir haben die wilden Thiere vergessen: es gab Jahrtausende, da die Menschen wachend und schlafend an sie dachten.

3 [81]

143. In der Zukunft wird es geben: 1. zahllose Anstalten, in welche man sich zeitweilig begiebt, um seine Seele in Cur zu nehmen; hier wird der Zorn bekämpft, dort die Wollust usw.; 2. zahllose Mittel gegen die Langeweile; zu jeder Zeit wird man Vorleser hören können und dergleichen; 3. Feste, in welchen viele einzelne Erfindungen zum Gesammtzweck des Festes vereinigt sind, denn die, welche ein Fest feiern, müssen am Feste mit erfunden haben; 4. es werden sich Einzelne und ganze Gruppen geloben, niemals gerichtliche Hülfe in Anspruch zu nehmen.

3 [82]

145. Die Summe von Geist, welche die Menschen auf Bekämpfung der Übel verwenden, fehlt ihnen zur Erfindung der Freude; deshalb brachte es die Menschheit im Ganzen bis jetzt nicht höher, als bis zu Trostmitteln; endlich gelingt es vielleicht der Wissenschaft, die Ungeheuer zu vernichten und zu allerletzt wird sie auch noch die Trostmittel vernichten müssen, welche in der langen Zeit ihrer Existenz selber zu Ungeheuern geworden sind.

3 [83]

146. Pessimistische Vorstellungen hemmen den Ausdruck der Gebärden, empfehlen die Verstellung, namentlich die der schrecklichen Verzerrung (um Furcht zu erregen), sie heißen die erregte Seele in der Sprache nicht hörbar werden lassen, kurz sie verhäßlichen den Menschen in Gebärde und Laut.

Die Verachtung ebenso wie die Furcht machen häßlich.

3 [84]

148. Was jetzt die Bildung fordert, unsere Gemüthsbewegungen nicht auszudrücken, ist die lange Folge der Furcht: die Menschen sollen nicht sehen, was in uns vorgeht, wobei vorausgesetzt wird, daß es immer etwas Schlimmes ist oder daß wir damit unseren Feinden gute Gelegenheiten geben. Die höfische Verstellung, der Stoicismus in einem festgehaltenen artigen Gebärdenspiel geht von bösen Voraussetzungen über die Mitmenschen aus: sie sollen uns nicht kennen lernen, es wäre unser Schade.

3 [85]

149. Damit man nicht den Art erhaltenden Trieb, das Verhalten der Eltern zu ihren Jungen, irrthümlich als den Anfang einer ganz neuen Kette von Motiven ansehe, der sogenannten unegoistischen, möge man sich diese Hypothesen vorlegen: die niedrigste Form des Art erhaltenden Triebes zeigt sich darin, daß einige Fischarten bei ihren Eiern Wache halten und Feindliches abwehren. Ich vermuthe hier, wie in anderen Fällen der Thierwelt, halten die Eltern die Eier und die Jungen für eine Nahrung, welche man aufbewahren und schützen müsse; in vielen Fällen leben auch die Thiere davon. Diejenigen Gattungen, welche am stärksten für diese Art Nahrung gesorgt und gewacht haben, haben die beste Aussicht, sich fortzupflanzen, und die Gewohnheit, für die Eier und die Jungen zu sorgen, vererbt sich immer stärker, zuletzt als für sich mächtiger Trieb, bei dem das erste Motiv vergessen ist.

3 [86]

150. Das Mitgefühl nimmt zu, wenn freudige Empfindungen sein überwiegendes Resultat sind; es nimmt ab, wenn es mehr Schmerzen, als Freude davonträgt. Bei dem beständigen Anblick von Leidenden sinkt das Mitleid beständig, aber man wird um so empfindlicher gegen fremdes Leid je mehr man Mitfreude hat. – Die mitleidigsten Menschen sind solche, welche viel innere Freude haben, ihnen thut alles Widersprechende wehe; Unglücks- und Kriegsmenschen sind hart.

3 [87]

151. Wer hat denn die Welt so gefärbt, so in diese Gluthlichter getaucht? Das waren die Menschen der geistigen Convulsionen, der äußersten Schrecken und Entzücken, der tiefsten Niedergeschlagenheit: Medicinmänner, Tragiker, Heilige usw.; vor ihnen hatte man Furcht; man glaubte ihnen, weil sie es wollten, denn sie waren schrecklich.

3 [88]

152. Thiere gleicher Art schonen sich vielfach gegenseitig, nicht aus einem wunderbaren Instinkte des Mitgefühles, sondern weil sie bei einander gleiche Kraft voraussetzen und sich als unsichere Beute betrachten; sie versuchen es, von Thieren anderer Art zu leben und sich ihrer zu enthalten. Daraus bildet sich die Gewöhnung, von einander abzusehen und endlich Annäherung und dergleichen. Schon die Absicht, Weibchen oder Männchen an sich zu locken, kann die Thiere bestimmen, in Hinsicht auf ihre Art nicht schrecklich zu erscheinen, sondern harmlos. In ritterlichen Zeitaltem wird der Mann um so artiger und huldvoller gegen alle Frauen, je stolzer und furchtbarer er gegen alle Männer erscheint; nur so lockt er das Weibchen.

3 [89]

153. Jenes ausschweifende und phantastische Pathos, mit dem wir die seltsamsten Handlungen abgeschätzt haben, macht sich bezahlt mit der absurden Gleichgültigkeit und Verachtung, welche wir gegen unscheinbare und alltägliche Handlungen richten. Wir sind die Narren der Seltenheit und haben unser täglich Brod dadurch entwerthet.

3 [90]

154. Die Meisten haben allein Geist, wenn sie in kriegerischer Verfassung sind, bei Angriff, Furcht, Vertheidigung, Rache; dafür verfallen sie, sobald dieser Zustand nachläßt, in die Dumpfheit. Es gehört sehr viel Geist dazu, im Wohlbefinden noch davon übrig zu haben.

3 [91]

155. Was Dasein hat, kann nicht zum Dasein wollen; was kein Dasein hat, kann es auch nicht. Also giebt es keinen Willen zum Dasein. Es ist dies eine schlechte und widersinnige Wörterzusammenstellung. Wohl wäre zu verstehen: Wille zu einem längeren, oder höheren, oder anderen Dasein. – Wille ist die Vorstellung eines werthgeschätzten Gegenstandes verbunden mit der Erwartung, daß wir uns seiner bemächtigen werden. "Struggle for existence"?

3 [92]

156. Wenn nicht das alte jus talionis noch fortwirkte, so würde man gewiß nicht gerade den Mörder hinrichten, sondern nach dem Satze, daß die Ehre mehr werth ist, als das Leben, viel eher den Ehrenräuber, den Verleumder. Ebenso ist schmerzhafte Verstümmelung und Ähnliches ein viel schwereres Leiden als das Sterben; folglich wäre der Grausame eher hinzurichten, als der Mörder, insgleichen der gewissenlose Arzt, Hebamme usw. Endlich, insofern der Urheber vieler Tode unheilvoller ist, als der Mörder, so müßten alle Fürsten, Minister, Volksredner und Zeitungsschreiber, durch welche ein Krieg erregt und befürwortet worden ist, hingerichtet werden; ich meine natürlich die ungerechten Kriege, aber man wird mir sagen, daß es keine ungerechten Kriege giebt.

3 [93]

157. Die moralischen Vorschriften stammen aus Zeiten, in welchen man die Natur, die Völker und Menschen viel weniger kannte, als jetzt. Unwissenheit und falsche Voraussetzungen sind durch die feierliche Unantastbarkeit, in der die Moral lebt, mitheiliggesprochen.

3 [94]

158. Wenn man sagt: dies ist nützlich, jenes ist schädlich, so muß dieser Satz sich in seinen Folgen beweisen, das heißt er wird fortwährend geprüft und je nachdem verfeinert oder verworfen. Sagt man dagegen: dies ist sittlich – so glaubt man etwas gesagt zu haben, das durch seine Folgen nicht bewiesen zu werden braucht, ja nicht bewiesen werdet kann. Deshalb hält sich das Schädliche unter der Aufschrift „sittlich" so lange aufrecht.

3 [95]

159. Manche allzuängstliche Staatsmänner mögen thun, was sie wollen, es bleibt immer ein Flecken an ihnen haften: wie Manche nicht ein Ei aufschlagen können, ohne sich schmutzig zu machen.

3 [96]

160. Das Leben für die Zukunft – das ist eine Folge der Moral, bei der das ganze Leben, das heißt die Summe aller gegenwärtigen Momente, eine Thorheit und Jagd und Unannehmlichkeit wird. Das Leben für die Anderen – eine Folge der Moral, bei der die Anderen willkürlich gemaaßregelt werden und der Mensch selber allen seinen Verstandes- und Herzensschwächen um seines guten Zieles willen ohne Bedenken nachhängt.

3 [97]

161. Inwiefern hat die Moral schädlich gewirkt? Insofern sie den Körper verachtete, im Asketismus der Pflicht, des Muthes, des Fleißes, der Treue usw. Namentlich in jenem mit Religion verquickten Kanon, daß Sich-Freuden-bereiten der Gottheit unangenehm, Sich-Leiden-bereiten ihr angenehm sei. Man lehrte, zu leiden, man rieth ab, sich zu freuen, – in allen Moralen (die des Epikur ausgenommen), das heißt die Moral war bisher ein Mittel, die physiologische Grundlage des Menschen in ihrer Entwicklung zu stören – an der Schwäche der Moral lag es, daß sie diese Grundlage nicht zerstört hat; sie war ein furchtbarer Würfel im großen Würfelspiel. – Wir müssen das Gewissen verlernen, wie wir es gelernt haben. – Im Ganzen war die große erhaltende Kraft, welche gegen die Moral das Übergewicht behauptete, das, was sie das Böse nannten, das Streben des Individuums, sich ohne Rücksicht auf Lehren selbst zu behaupten, sich wohl zu fühlen, sein Vergnügen zu suchen, die näheren Bedürfnisse den entfernteren unterzuordnen, während die Moral diese nicht nur als höhere und niedere Bedürfnisse unterscheidet, sondern die letzteren verachten und oft verdammen lehrt (die sogenannten sinnlichen Freuden).

3 [98]

162. Je mehr das Gefühl der Einheit mit den Mitmenschen überhand nimmt, um so mehr werden die Menschen uniformirt, um so strenger werden sie alle Verschiedenheit als unmoralisch empfinden. So entsteht nothwendig der Sand der Menschheit: Alle sehr gleich, sehr klein, sehr rund, sehr verträglich, sehr langweilig. Das Christenthum und die Demokratie haben bis jetzt die Menschheit auf dem Wege zum Sande am weitesten gefahren. Ein kleines, schwaches, dämmerndes Wohlgefühlchen über Alle gleichmäßig verbreitet, ein verbessertes und auf die Spitze getriebenes Chinesenthum, das wäre das letzte Bild, welches die Menschheit bieten könnte? Auf der Bahn der bisherigen moralischen Empfindung unvermeidlich. Es thut eine große Überlegung noth, vielleicht muß die Menschheit einen Strich unter ihre Vergangenheit machen, vielleicht muß sie den neuen Kanon an alle Einzelnen richten: sei anders, als alle übrigen und freue dich, wenn jeder anders ist, als der Andere; die gröbsten Unthiere sind ja unter dem Regimente der bisherigen Moral ausgetilgt worden – es war dies ihre Aufgabe; wir wollen nicht gedankenlos unter dem Regimente der Furcht vor wilden Thieren weiterleben. So lang, allzulang hieß es: Einer wie Alle, Einer für Alle.

3 [99]

163. Bei Allem, was geschieht, sagen: Gott würde es nicht zulassen, wennn es mir nicht zuträglich wäre – an dieser himmlischen Kinderei hätte die Menschheit schon mehrere Male zu Grunde gehen können. Glücklicherweise gab es immer Menschen, die nicht christlich genug waren, um sich so kindlich zu beruhigen.

3 [100]

164. Wenn das allgemeine Glück das Ziel jeder einzelnen Handlung sein sollte, so müßte der Einzelne darauf verzichten, in seinem Leben eine einzige Handlung wirklich zu thun: die Überlegung, ob sein Vorhaben wirklich dem höchsten Wohle aller gegenwärtigen und zukünftigen Menschen entsprechen werde, würde sein ganzes Leben verzehren. Das Christenthum bezeichnete den Nächsten als den Zielpunkt unserer Handlungen und überließ es Gott, zu bestimmen, wer unsere Nächsten werden sollten; wem dieser religiöse Ausweg nicht offen steht, müßte doch sagen: ich will mir in Bezug auf die Handlungen, die ich thue, doch nicht jeden beliebigen Nächsten als Objekt gefallen lassen, sondern die suchen, zu denen meine Handlungen am meisten passen, denen sie wirklich nützen können. Dazu freilich müßte man seinen Nächsten so gut wie sich kennen lernen, und das könnte wieder das ganze Leben verzehren.

3 [101]

165. Vorschriften, wie gehandelt werden soll, sind um so indiskutabler, je mehr die Einsicht der Handelnden unter der des Vorschreibenden steht. Da außer ihm niemand genau weiß, welche Folgen er von den Handlungen erwartet, so sind auch jene Folgen, welche sich thatsächlich aus den Vorschriften ergeben, indiskutabel. So stellt sich der religiöse Mensch zu Gottes Gebot, der moralische Mensch zum Sittengesetz – eine Erbschaft aus Zeiten, in denen es einen Häuptling und blind gehorchende Anhänger gab, welche in ihm ihre Vernunft sahen und ohne ihn keine hatten.

3 [102]

166. Der metaphysische Pessimist, der das Vergnügen und die Sicherheit flieht und dem Unglück und Leiden den höchsten Werth beimißt – nämlich über den Unwerth des Lebens aufzuklären -, wie dürfte er Mitleiden haben, wenn ein Anderer leidet? Er dürfte sich darüber nur freuen, wie er gleichfalls das Mitleiden zurückzuweisen hätte, wenn er in Noth wäre; andererseits würde er, wenn er den Anderen in der Freude fände, Leid über ihn empfinden und ihm die Freude zu vergällen suchen, – so sollte Schopenhauer's praktische Moral klingen. Das Mitleiden, wie es Schopenhauer schildert, ist, von seinem Standpunkte aus, die eigentliche Perversität, die gründlichste aller möglichen Dummheiten.

3 [103]

168. Ich weiß nicht zu erklären, wie es kommt, daß die Juden von allen Nationen die sittliche Erhabenheit auf‘s Höchste gebracht haben, im Theoretischen wie im Praktischen. Nur ihnen ist ein Jesus von Nazareth gelungen; nur ihnen ein heiliger Gott, nur ihnen die Sünde an ihm. Dazu der Prophet, der Erlöser – das sind ihre Erfindungen.

3 [104]

169. Was die Römer an den Juden haßten, das war nicht die Rasse, sondern eine von ihnen beargwöhnte Art des Aberglaubens und namentlich die Energie dieses Glaubens (die Römer, wie alle Südländer, waren im Glauben lässig und skeptisch, und nahmen nur die Gebräuche streng). Dasselbe ist ihnen an den Juden anstößig was ihnen an den Christen anstößig ist: der Mangel an Götterbildern, die sogenannte Geistigkeit ihrer Religion, eine Religion, die das Licht scheut, mit einem Gott, der sich nicht sehen lassen kann, dies erweckte Argwohn, noch mehr das, was man vom Osterlamm munkelte, vom Essen des Leibes, Trinken des Blutes und dergleichen. – In summa: die Menschen der Bildung damals meinten, Juden und Christen seien heimliche Kanibalen. Dann traute man ihnen zu, verrücktes Zeug ehrlich zu glauben, das jüdische und christliche Maaß im Glauben-können war den Römern verächtlich; der Jude in Christus war es, der vor allem Glauben forderte; die Gebildeten jener Zeit, vor denen alle philosophischen Systeme einander in den Haaren lagen, fanden dieses Glauben-fordern unausstehlich. "Credat Judaeus Apella" (Horaz).

3 [105]

170. Das Christenthum hält 1. eine fundamentale Verbesserung des Menschen für möglich ohne Verbesserung ihres Wissens, ohne Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Zustände; 2. es will Enthaltung von der Welt, aber nicht Förderung der Welt; 3. es zieht Leid und Trübsal vor, und erweckt Argwohn gegen das Wohlbefinden; 4. es zieht den Glauben dem Wissen und die Unbegreiflichkeit dem Verständniß vor und macht argwöhnisch gegen die Vernuft; 5. es beachtet Geschlecht, Stand, Volk nicht, diese Unterscheidungen sind ihm unwesentlich; wenn aber mit diesen Unterscheidungen Nothstände verbunden sind, so findet es die Aufrechterhaltung der Unterschiede wünschenswerth, um der Nothstände und ihrer Heilswirkungen halber; 6. es setzt die tiefe Verderbtheit aller Dinge und Menschen voraus und sieht den Untergang als bevorstehend an; es will diesen Untergang nicht aufhalten, es will die Welt sich möglichst verleiden. – Dächte man sich das Christenthum, in seiner ganzen Stärke aufgefaßt, als herrschend, dächte man sich, daß keine Kräfte dagegen wirken, so würde es in kurzer Zeit den Untergang des Menschengeschlechtes herbeiführen: es nimmt den Menschen die Gesundheit, die Freude, das Zutrauen, die Absichten für die Zukunft der Welt (also die Thätigkeit). Diese Consequenz geben einige Kirchenväter zu: sie sehen hier keinen Vorwurf und Einwand.

3 [106]

172. Das christliche Mitleid, ganz verschieden von dem der Inder und ihres Jüngers Schopenhauer, entsteht in Hinsicht auf die ewige Verdammniß des Anderen, auf die Ungnade Gottes, auf den Mangel an Glauben, auf die Freude am Weltlichen, auf die Fülle von teuflischem Trug, welche den Nicht-Christen, zum Beispiel den ungetauften Barbaren, ihm unbewußt, umringt: es ist ein Erbarmen über den Anschein von Glück oder über den Irrthum, mit welchem der Andere sein Unglück bejammert, Mitleid mit Unwissenheit und Irrthum also, nicht mit Schmerz – also eigentlich nicht Mit-Leid.

3 [107]

173. Fast überall auf Erden, wo eine Kirche, ein Tempel steht oder stand, hat sich einmal ein Wunder begeben, das heißt der Pilz der sakralen Baukunst schießt überall dort auf, wo religiösen Menschen ein kleiner Irrsinn begegnete. Hat man je schon an einem Orte gebaut, wo einem Menschen eine große Wahrheit zuerst aufleuchtet? wahrscheinlich nicht; aber warum auch, eine solche Wahrheit will kritisirt, nicht angebetet sein.

3 [108]

175. Der Dichter scheint fortwährend Zugänge zu einer neuen oder besseren Erkenntniß von Natur und menschlichen Dingen zu eröffnen: bevor man noch recht begriffen hat, daß was hier so aufregend winkt, ein Irrlicht ist, gaukelt schon wieder ein anderes vor den Sinnen. Die Vergleichungen, die Metaphern des Dichters sind von ihm durchaus nicht als solche gegeben, sondern als neue, bisher unerhörte Identitäten, vermöge deren ein Reich der Erkenntniß sich zu eröffnen scheint. Je weniger noch darüber fest steht, was in der Natur wirklich wahr und erwiesen ist, um so stärker ist die Wirkung des Dichters, um so größer seine Schauspielerkunst, zeitweilig den Ergründer der Natur zu repräsentiren. Die Frage, wie weit etwas, das ein Dichter sagt, wahr ist, ist eine Pedanterie. Aller Werth liegt gerade darin, daß es nur einen Augenblick wahr scheint, und dies gilt von seiner gesammten Weltbetrachtung, seiner moralischen Ordnung, seinen moralischen Sentenzen ebenso sehr wie von seinen Gleichnissen, seinen Charakteren, seinen Geschichten. Eine ernsthafte, der Wissenschaft zugehörige Meinung damit bekräftigen wollen, daß irgend ein Tragiker etwas Ähnliches gesagt hat, ist eine Albernheit: Dichter haben in Dingen der Erkenntniß immer Unrecht, weil sie als Künstler täuschen wollen und als Künstler gar nicht das Bestreben nach höchster Wahrhaftigkeit verstehen; sagen sie zufällig etwas Wahres, so ist ihre Autorität nicht geeignet, Glauben, sondern Mißtrauen zu erwecken. Es ist ein solcher Genuß, daß der erkennen wollende Trieb auch einmal mit sich spielt und von einem Zweige zum andern hüpft, mit reizenden Tönen und bunten Federchen geschmückt – und wir sollten Narren sein und da ein Orakel erwarten, wo ein Vogel singt und tirilirt!

3 [109]

176. Hier wird eine Handlung geschätzt, weil sie dem Handelnden schwer fällt, dort eine andere, weil sie ihm leicht fällt, dort eine, weil sie selten ist, dort eine, weil sie nach der Regel ist, dort eine, weil der Beurtheilende sie bei sich für unmöglich hält, dort eine, weil der Beurtheilende sie überhaupt für unmöglich hält (ein Wunder), dort eine, weil sie für nützlich gilt, dort eine, weil sie keine Rücksicht auf Nutzen zeigt, dort eine, weil der Mensch so für sein bestes Heil sorgt, dort eine, weil er nicht dabei für sich sorgt, dort, weil sie Pflicht ist, dort, weil sie Neigung ist, dort, weil sie ohne Neigung gethan wird, dort, weil sie Instinkt ist, dort, weil sie hellste Vernunft ist – und alles das heißt man gelegentlich sittlich! Man handhabt jetzt die Maaßstäbe der verschiedensten Culturen zugleich und vermag durch diese beinahe jedes Ding als sittlich oder als unsittlich abzuschätzen, wie man eben will, das heißt je nach unserm guten oder bösen Willen gegen die Mitmenschen oder gegen uns selbst; die Moral ist jetzt die große Topik des Lobens und Tadelns -, aber warum immer loben und tadeln? Könnte man sich dessen entschlagen, so hätte man auch die große Topik nicht mehr nöthig.

3 [110]

177. Der trübe Ernst, die Spannung und die Furcht sind allen Leidenschaften gemeinsam: es ist in ihnen kein Überschuß von Leben, ja es scheint, als ob nicht genug davon vorhanden sei.

3 [111]

179. Jetzt sucht man vor allem das Menschenleben zu erhalten: dies giebt unserer Cultur den Anstrich der Feigheit und der Alten-Manns-Gier nach langem Leben; ehemals, wo man das Leben viel zufälliger verlieren konnte, als jetzt, gehörte es zum Wesen der Tugend, daß man das Leben leicht wegwarf und sehr viele Dinge für höher im Preise hielt.

3 [112]

180. Das moderne Leben will so sehr wie möglich vor allen Gefahren geschützt sein: mit den Gefahren aber geht viel Munterkeit, Übermuth und Anregung verloren, unsere groben Remeduren sind Revolutionen und Kriege.

3 [113]

181. Mit dem Almosen unterhält man den Zustand, der als Motiv des Almosens wirkt, man giebt also nicht aus Mitleiden, denn dieses würde den Zustand nicht unterhalten wollen.

3 [114]

181. Der Kraftüberschuß sucht den Kampf und wird darin böse; das Bösesein ist aber hier doch nur Mittel (zum Zweck der Entladung) und deshalb harmloser, als beim Schwachen, der böse ist, um weh zu thun.

3 [115]

183. Will man behaupten, daß der Germane für das Christenthum vorgebildet und vorbestimmt gewesen sei, so darf es Einem nicht an Unverschämtheit fehlen, denn das Gegentheil ist nicht nur wahr, sondern auch handgreiflich. Woher sollte auch die Erfindung zweier ausgezeichneter Juden, des Jesus und des Saulus, der zwei jüdischesten Juden, die es vielleicht gegeben hat, gerade die Germanen mehr anheimeln, als andere Völker? (Beide meinten, das Schicksal jedes Menschen und aller Zeiten, vorher und nachher, nebst dem Schicksal der Erde, der Sonne und der Sterne, hänge von einer jüdischen Begebenheit ab: dieser Glaube ist das jüdische Non plus ultra.) Wie reimt sich die höchste moralische Subtilität, welche ein Rabbiner- und nicht ein Bärenhäuter-Verstand so geschärft hat, und welcher die Erfindung des heiligen Gottes und der Sünde an ihm zuerst gelungen ist, das Gefühl der Unfreiheit und Knechtschaft in einem grenzenlos ehrsüchtigen Völkchen, sein Ausschauen nach dem Erlöser und Vollender aller Hoffnungen, die priesterliche Hierarchie und das volksthümlichere Asketenthum, die überall fühlbare Nähe der Wüste, und nicht die des Bärenwaldes, – wie reimt sich dies alles zum faulen, aber kriegerischen und raubsüchtigen Germanen, zum sinnlich kalten Jagdliebhaber und Biertrinker, der es nicht höher als bis zu einer rechten und schlechten Indianer-Religion gebracht hat und Menschen auf Opfersteinen zu schlachten noch vor zehnhundert Jahren nicht verlernt hatte?

3 [116]

184. Nicht die Sittenverderbniß – diese beschränkte sich auf fünf bis zehn Städte des ungeheuren Reiches -, sondern die Ermüdung, welche überall eintrat, weil man am Ziele zu sein glaubte, in Betreff der Cultur und der staatlichen Formen, führte die alte Welt in die Schlinge des Christenthums; die Menschen wollen lieber untergehen, als sich am Ende wissen, das Ausleben als einziger Zweck des Lebens ist ihnen ein unerträglicher Gedanke; man war seiner selbst und der Welt müde: das Christenthum machte Alles wieder interessant, indem es alle Werthurtheile umdrehte und hinter das Ende aller Dinge ein Gericht setzte.

3 [117]

185. Das Christenthum erscheint als eine epidemische Panik; es war prophezeit worden, daß in Kürze die Erde untergehen würde. An den Gedanken dieser furchtbaren Gefahr rankten sich benachbarte Gedanken an, – Untergang warum? um unserer Sünden halber? also vielleicht ein Gericht? und wo ein Fürsprecher? usw. Zuletzt erschien es als das allgemein Rathsamste, in gewohnter antiker Weise vor die Richtstätte zu treten, das heißt in dem denkbar erbärmlichsten und mitleiderweckendsten Zustande. Dieses Bild des antiken Angeklagten halten später die Anachoreten fest, – sie wollen jeden Augenblick bereit sein und die Vorstellung des plötzlich hereinbrechenden Gerichtes ließ sie Alles ersinnen, wodurch ein Mensch bejammernswürdig erscheint; Gott solle es, wie ein römischer Prätor, nicht aushalten, ein so verkümmertes und entsetzlich leidendes Wesen als schuldig zu behandeln. Das Christenthum kennt nur den würdelosen Schuldigen.

3 [118]

187. Der Dichter läßt den erkennenwollenden Trieb spielen, der Musiker läßt ihn ausruhen, – sollte wirklich Beides neben einander möglich sein? Sind wir ganz der Musik hingegeben, so giebt es keine Worte in unserem Kopfe, – eine große Erleichterung; sobald wir wieder Worte hören und Schlüsse machen, das heißt sobald wir den Text verstehen, ist unsere Empfindung für die Musik oberflächlich geworden: wir verbinden sie jetzt mit Begriffen, wir vergleichen sie mit Gefühlen und üben uns im symbolischen Verstehen, – sehr unterhaltend! Aber mit dem tiefen seltsamen Zauber, der unsern Gedanken einmal Ruhe gab, mit jener farbigen Dämmerung, welche den geistigen Tag einmal auslöschte, ist es vorbei. – Sobald man freilich die Worte nicht mehr versteht, ist Alles wieder in Ordnung: und dies ist glücklicherweise die Regel; immerhin sind billigerweise schlechte Texte den besseren vorzuziehen, weil sie kein Interesse auf sich lenken und überhört sein wollen. – Die Oper will die Augen zugleich beschäftigen, und weil bei der großen Menge die Augen größer sind, als die Ohren, was viel sagen will, so richtet sich die Musik der Oper nach den Augen und begnügt sich, charakteristische Fanfaren zu blasen, sobald etwas Neues zu sehen ist, – Anfang der Barbarei.

3 [119]

189. Ein Mädchen, das ihre Jungfernschaft hingiebt, ohne daß der Mann feierlich vorher vor Zeugen geschworen hat, das ganze Leben nicht mehr von ihr zu lassen, gilt nicht nur für unklug: man nennt sie unsittlich. Sie folgte nicht der Sitte, sie war nicht nur unklug, sondern auch ungehorsam, denn sie wußte, was die Sitte gebietet. Wo die Sitte nicht so gebietet, wird das Betragen eines Mädchens in jenem Falle auch nicht als unsittlich bezeichnet, ja es giebt Gegenden, wo es sittlich genannt wird, seine Jungfernschaft vor der Ehe zu verlieren. – Also den Ungehorsam trifft der Kern des Vorwurfs, dieser ist unsittlich; ist dies genug? Ein solches Mädchen gilt als verächtlich, – aber welche Art des Ungehorsams ist es, die man verachtet? (Die Unklugheit verachtet man nicht.) Man sagt von ihr: sie konnte sich nicht beherrschen, deshalb war sie ungehorsam gegen die Sitte; man verachtet also die Blindheit der Begierde, das Thier im Mädchen. Insofern sagt man auch: sie ist unkeusch – denn damit kann ja nicht gesagt sein, daß sie das thut, was die ehelich angetraute Gattin auch thut, und welche man deshalb doch nicht unkeusch nennt. – Die Sitte fordert demnach, daß die Unlust des unbefriedigten Bedürfnisses ertragen werde, daß die Begierde warten könne. Unsittlich heißt also hier, eine Unlust trotz des Gedankens an die vorschriftengebende Macht nicht ertragen können. Es soll ein Gefühl durch einen Gedanken niedergerungen werden, genauer: durch den Gedanken der Furcht (sei dies die Furcht vor der heiligen Sitte oder vor der Strafe und Schande, welche die Sitte androht). An sich ist es nun keineswegs schimpflich, sondern natürlich und billig, daß ein Bedürfniß sofort befriedigt werde; somit liegt das eigentlich Verächtlich ein jenem Mädchen in der Schwäche ihrer Furcht. Sittlich sein heißt: in hohem Grade der Furcht zugänglich sein; Furcht ist die Macht, von welcher das Gemeinwesen erhalten wird. – Erwägt man andererseits, daß jedes ursprüngliche Gemeinwesen in anderen Stücken auf‘s Höchste gerade die Furchtlosigkeit seiner Mitglieder nöthig hat, so ergiebt sich, daß, was im Falle des Sittlichen schlechterdings gefürchtet werden soll, im höchsten Grade furchtgebietend sein muß, deshalb hat sich die Sitte überall als göttlichen Willen eingeführt und sich unter die Furchtbarkeit von Göttern und dämonischen Strafmitteln zurückgezogen: so daß unsittlich sein bedeutete das unbegrenzt Furchtbare nicht fürchten. – Von Einem, der die Götter leugnete, war man Alles gewärtig, es war dadurch der fürchterlichste Mensch, den kein Gemeinwesen ertragen konnte: weil er die Wurzeln der Furcht ausriß, auf denen das Gemeinwesen gewachsen war. Man nahm an, daß in einem solchen Menschen die Begierde schrankenlos walte: man hielt jeden Menschen ohne diese Furcht für grenzenlos böse. – Nun geht aber völlige Furchtlosigkeit auf einen Mangel an Phantasie zurück; der böse Mensch in diesem Sinne wird immer ein Mensch ohne Phantasie sein. Die Phantasie der Guten war eine Phantasie der Furcht, eine böse Phantasie, – eine andere kannte man noch nicht. Die böse Phantasie sollte die böse Begierde niederhalten, das war das alte Sittengesetz; die beständige Herrschaft der Furcht über die Begierde machte den sittlichen Menschen aus. Daraus entsteht als Anzeichen des Sittlichen die Asketik: Ertragenkönnen, Wartenkönnen, Schweigenkönnen, Hungernkönnen – das ist zum Beispiel die Moralität der Indianer. – Man leitete die verhältnißmäßige Sicherheit der Gemeinschaft von der Fähigkeit ab, sich oft und stark unangenehme Bilder vor die Seele zu stellen, vermöge deren man sich der sofortigen Befriedigung schmerzhafter Bedürfnisse enthalten konnte. Es sind die Bilder der Strafen und der Schande, und zwar vor allen die unbestimmteren, unheimlicheren Strafen von Göttern und Geistern: während bei den Strafen der weltlichen Gerechtigkeit nicht zuerst an die abschreckende Wirkung gedacht werden darf (zumeist handelt es sich bei ihnen um Bußgelder, vermöge deren ein Schaden wieder gut gemacht werden soll). Selbst die Aussicht auf die schmerzhaftesten Strafen der weltlichen Gerechtigkeit, auf Tod mit Martern und dergleichen, thut in wilderen Zeiten lange nicht die Wirkung, wie die Aussicht auf Götter- und Geister-Strafen: man fürchtete damals den Tod viel weniger, als heute, und war im Ertragen von Martern geübt und stolz; um solcher Gründe willen sein Rachegelüst, sein Raubgelüst, seine Wollust in Schranken zu halten, würde man kaum für männlich gehalten haben; anders ist es, wenn mit Wahnsinn, Furien, Ausschlag, weißen Haaren, mit plötzlichem Altwerden, mit nächtlichen Schrecken gedroht wird: die Drohung solcher Strafen wirkt. Kurz gesagt, die Furcht, auf der damals die Sittlichkeit ruhte, war die abergläubische Furcht: unsittlich sein hieß ohne abergläubische Furcht sein. – Je friedlicher der Zustand eines Gemeinwesens ist, je feiger seine Bürger werden, je weniger sie an das Ertragen von Schmerzen gewöhnt sind, um so mehr werden die weltlichen Strafen als Abschreckungsmittel schon genügen, um so schneller erweisen sich die religiösen Drohungen als überflüssig. Der Friede also verdrängt die Religion, die unbestimmten Angstmittel der Phantasie werden nicht mehr nöthig; denn die Ängstlichkeit vor den bekannten Strafen des Staates und der bürgerlichen Achtung ist schon groß genug. In hoch cultivirten Völkern dürften endlich selbst die Strafen höchst überflüssige Schreckmittel werden; schon die Furcht vor Schande, das Erzittern der Eitelkeit ist so beständig wirksam, daß daraufhin die unsittlichen Handlungen unterbleiben. – Die Verfeinerung der Sittlichkeit nimmt mit der Verfeinerung der Furchtsamkeit zu. Jetzt ist die Furcht vor unangenehmen Empfindungen anderer Menschen fast die stärkste unserer unangenehmen Empfindungen. Man möchte gar zu gerne so leben, daß man nichts mehr thue, als was Anderen angenehme Empfindungen macht und selber an nichts mehr Vergnügen habe, bei dem nicht diese Bedingung mit erfüllt wird.

3 [120]

190. Wir begreifen den allerkleinsten Theil dessen, woraus sich jede Handlung zusammensetzt, und die lange Kette von strenge in einander greifenden Nerven- und Muskelvorgängen dabei ist uns sogar ganz unbekannt. So nehmen wir denn die Handlung als einen momentanen Akt des Willens in der Art wie ein hebräischer Schriftsteller es von Gott sagt: er gebeut und es steht da, das heißt wir machen eine Zauberei daraus und fühlen uns als Zauberer frei. Unsere Unwissenheit spielt uns den angenehmen Streich, daß sie unsern Stolz aufrecht erhält. Gelingt es einmal nicht, was wir wollen, so muß es wohl an einem feindlichen Wesen liegen, welches, wiederum durch Zauberei, zwischen unsern Willen und die That ein Hemmniß legt. Das Gute wollen und das Verkehrte thun – das schiebt der Eine dem Teufel zu, der Andere der Sündhaftigkeit, ein Dritter sieht darin die Strafe für die Schuld früherer Lebenszeiten: alle fast legen es moralisch und dämonisch aus. Kurz, nachdem wir den Wilden-Glauben an die Wunder als die Regel der Natur aufgegeben haben, hat derselbe Glaube sich in Bezug auf unsere psychologischen Vorgänge festgesetzt; hier gilt noch immer das Wunder als die Regel. In Wahrheit heißt etwas wollen ein Experiment machen, um zu erfahren, was wir können; darüber kann uns allein der Erfolg oder Mißerfolg belehren.

3 [121]

191. Einige zeigen Geist, Andere verbergen und beweisen ihn.

3 [122]

192. Das allgemeine Glück oder die allgemeine Nächstenliebe sind Resultate, welche vielleicht durch fortwährendes Wachsen der Moralität erreicht werden können (vielleicht auch nicht!). Nichts von den menschlichen Errungenschaften wieder fahren lassen und immer die jeweilige Höhe der Menschheit festhalten, das ist vielleicht eine Folge der allgemeinen Moralität (eine Begleit-Erscheinung); aber das, was die Menschen zu moralischen Handlungen treibt, jetzt treibt, sind nicht jene Resultate, noch weniger diese Folgen, auch etwas anderes, als das, was ursprünglich die Anerkennung moralischer Prädikate erzeugt hat. Der Ursprung der Moralität kann nicht im Moralischen liegen. Man hat also nicht zu verwechseln: erstens Resultate der Moral, zweitens Folgen der Moral, drittens Motive moralischer Handlungen, viertens Motive der Entstehung moralischer Begriffe. Und doch soll in den bisherigen Moralen Ein Ding, das „Princip", für so verschiedene Dienste genügen.

3 [123]

193. Wir verehren, wo wir nicht begreifen, zum Beispiel bei alten Sitten, bei Worten, die mit feierlichem Tone gesprochen werden usw. Aber wir sollten unser Urtheil zurückhalten, wo wir nicht begreifen, damit der aufgethürmten Verehrung ohne Kern nicht noch mehr auf Erden werde: sieht doch unsere geistige Welt noch sehr ägyptisch aus, Wüste und ungeheure Pyramiden darin – und in den Pyramiden, meist unzugänglich, ein erbärmlicher Leichnam.

3 [124]

195. Plato mußte es noch erleben, daß die Lehre von den Ideen von einem helleren und umfänglicheren Geiste, als er war, widerlegt wurde: und der Widerlegende war noch jüngst sein Schüler gewesen. So lange die Denker ihre Erkenntnisse als ihre Erzeugnisse betrachten, so lange noch jene lächerliche Vater-Eitelkeit in ihnen wüthet, wird die Widerlegung die Dornenkrone der Philosophen sein – wie viele haben sie schon tragen müssen! – während ein Freund der Wahrheit, das heißt ein Feind des Betrogenwerdens, das heißt ein Freund der Unabhängigkeit, bei einer Widerlegung ausrufen sollte: ich bin einer großen Gefahr entronnen, fast hätte ich mich in meiner eigenen Schlinge erdrosselt. Einem so ingrimmigen und herrschsüchtigen Menschen, wie Schopenhauer war, kann man Glück wünschen, daß er es nicht errathen hat, wie kurz der Triumph seiner Philosophie sein solle und wie bald alle Prachtstücke seiner Erfindung als Trugbilder erkannt würden.

3 [125]

196. Sobald die Schulweisheit es sich träumen läßt, giebt es ein Ding mehr zwischen Himmel und Erde; wenn aber eine Wahrheit erkannt ist, so nimmt die Zahl solcher Dinge ab, und eine Anzahl angeblicher Sterne löscht aus. Freilich nicht etwa sogleich! sondern wie man von Sternen spricht, deren Lichtstrahlen uns erst erreichen nachdem sie längst schon zerfallen sind, so strahlen die Irrthümer noch lange ihren Glanz fort, nachdem sie widerlegt sind. Denkt man an die Kürze des Menschenlebens, so reicht auch wohl ein Irrthum aus, um das Leben vieler Geschlechter ganz in Licht zu tauchen; wenn endlich sein Glanz verbleicht und stirbt, so sind sie längst dahin und haben die äußerste Bitterkeit, die es giebt, nicht erfahren: den Stern erlöschen zu sehen.

3 [126]

197. Ein Übel geschehen lassen, das man hindern kann, heißt beinahe es thun, deshalb retten wir das Kind, das spielend auf den offenen Brunnen zuläuft, nehmen den Stein aus dem Wege, der auf eine glatte Bahn gefallen ist, stellen einen Stuhl zurecht, der umzufallen droht, – Alles nicht aus Mitleid, sondern weil wir uns hüten, Schaden anzurichten. Daran haben wir uns gewöhnt; was auch die Motive für diese Gewohnheit sein mögen, jetzt handeln wir nach Gewohnheit und nicht mehr nach jenen Motiven.

3 [127]

199. Wir können manches Wort einer fremden Sprache nicht nachsprechen, ja nicht einmal richtig hören; wir können manche Dinge nicht sehen, wenn wir nicht gelernt haben, die Theile zu sehen. Auch das Sprechen, Hören und Sehen muß gelernt werden; aber bei unserer ungenauen Beobachtung des Lernvorganges glauben wir in allen drei Fällen, der gute Wille genüge und setzen bei einem jungen Menschen, dem es mißlingt, bösen Willen voraus. Wie böse hat man sich die Menschheit dadurch gemacht, daß man ihr Unvermögen in den Willen verlegte.

3 [128]

201. Europa hat einen Exceß von orientalischer Moralität in sich wuchern lassen, wie die Juden ihn ausgedacht und ausempfunden haben. Man wird nicht das glücklichste und besonnenste Volk sein, wenn man derart im Moralischen ausschweift und es in's Göttliche, Menschen-Unmögliche hineinverlegt. Sie sind viel gefangen und unterworfen gewesen, sie haben die orientalische Verachtung kennen gelernt dafür, daß sie in ihrem Glauben hartnäckig waren; sie haben sich gegen diesen Glauben so benommen wie asiatische Völker gegen ihre Fürsten, kriechend ergeben und voller Angst, auch nicht frei vom Gelüst der Unabhängigkeit: so bekamen sie eine unruhige, begehrliche, im Heimlichen sich schadlos haltende Phantasie, die Brutstätte jener sublimen anklägerischen Moralität und jenes wilden Heroismus, der sich ebenso in der Hingebung an ihren Heerführer Gott als in der Verachtung gegen sich selbst kund giebt. Das Christenthum hat vermöge seiner jüdischen Eigenschaften den Europäern jenes jüdische Unbehagen an sich selber gegeben, die Vorstellung von der inneren Unruhe als der menschlichen Normalität: daher die Flucht der Europäer vor sich selber, daher diese unerhörte Thätigkeit; sie stecken Kopf und Hände überallhin. Zudem ist es dem Christenthum gelungen, die rein orientalischen Gegentypen, den Anachoreten und den Mönch, als, die Vertreter eines "höheren Lebens" in Europa auftreten zu lassen; dadurch hat es eine falsche Kritik über alles andere Leben ausgesprochen und das Griechische in Europa unmöglich gemacht. Die Athener fühlten sich zwar als die unruhigsten Griechen: aber wie ruhig, wie voll von sich und anderen guten Dingen erscheinen sie neben uns! Sie wußten niemanden über sich und brauchten sich selbst nicht zu verachten.

3 [129]

202. Was ist denn die Phantasie? Eine gröbere, ungereinigte Vernunft, – eine Vernunft, die bei Vergleichungen und Einordnungen große Fehler macht, unstät im Tempo ist und von den Affekten hin- und hergegängelt wird: eine wilde und malerische Art der Vernunft, die Mutter der Scheinerkenntnisse und der "plötzlichen Erleuchtungen" (wo der Glanz einer Idee mit dem Lichte der Wahrheit verwechselt wird); beide, die Vernunft und die Phantasie sind gebärend, aber letztere wird leichter befruchtet und setzt vielmehr Mißgeburten und Mondkälber in die Welt. Vernunft ist eine Phantasie, welche durch Schaden klug geworden ist, vermöge des zunehmend besseren Sehens, Hörens und Sich-erinnerns.

3 [130]

203. Das allgemeine Gebot aller Sitten und Moralen heißt: denke nach und fürchte dich, beherrsche dich, verstelle dich.

3 [131]

204. Für die bisweilen sichtbar werdende Verdüsterung der Welt giebt es folgende Veranlassung: erstens die Kreuzung der Culturen, aus welcher viel Häßlichkeit entsteht; der beständige Anblick des Häßlichen macht düster: zweitens die moralische Phantastik des Christenthums, welche den menschlichen Handlungen nur die bösen Prädikate gelassen hat und eine Verherrlichung von Leben, Menschen, Handlungen eigentlich unmöglich machen wollte; wenn man niemals verherrlichen darf, wird man düster; drittens das Barbarische und Thierhafte, das uns zeitlich noch nicht fern genug liegt; viertens die Angst vor dem Individuellen und die Beargwöhnung desselben, weil die Gesellschaft ihrer selber nicht mehr sicher ist; fünftens die Angst vor dem Natürlichen, welche an die Stelle der früheren Angst vor der Natur getreten ist; sechstens die Vergleichung des Lebens mit imaginären Seligkeiten, von denen das Christenthum und die Dichter gesprochen haben; siebentens das übertriebene Gefühl der Verantwortlichkeit, welches alle indifferenten, kleinen und harmlosen Dinge wegstreicht und in jedem Falle so gehandelt wissen will, daß man damit einem Ankläger Stand halten kann.

3 [132]

205. Hat die Moral den Menschen wirklich mehr Glück oder Unglück gegeben? Und selbst, wenn man an Stelle von Glück „mehr Schmerzlosigkeit und geringere Schmerzen" setzt, kann man noch zweifelhaft bleiben; sie ist das Erzeugniß jener Zeiten, wo, dem Andern mit That und Urtheil wehe zu thun, eine viel größere Befriedigung brachte, als ihm eben damit wohl zu thun: die Zeit, wo man an böse Gottheiten glaubte. Die Freude an dem Wehethun durch moralische Urtheile stärkte immer den Hang zu schädlichen und grausamen Handlungen und wurde so selber die Veranlassung größeren Wehes, als das moralische Urtheil zu thun vermag.

3 [133]

206. Den moralischen und den religiösen Urtheilen ist gemeinsam: erstens der Glaube, die Erkenntniß der menschlichen Natur und des menschlichen Innern zu besitzen; zweitens beide leugnen es, nur einen lokalen und relativen Werth zu haben: wo sie auch nur erscheinen, so benehmen sie sich als absolute, allzeitlich gültige Urtheile; drittens beide glauben an Zugänge zur Erkenntniß, welche verschieden von denen sind, die die Wissenschaft kennt; viertens beide imaginiren Wesen, die nicht existiren, die religiösen Urtheile Götter, die moralischen Urtheile gute und böse Menschen und dergleichen; fünftens beide hassen die Untersuchung und sprechen von Schamlosigkeit und Schlimmerem, wenn man sie nackt sehen will; sechstens sie sind einander selber gemeinsam, sie haben sich mit einander verbunden, um sich zu stützen, und trennt man sie, so doch nie vollständig: die einen leben in den anderen weiter.

3 [134]

207. Höflich (hübsch), gentile, edel, vornehm, noble, généreux, courtoisie, gentleman – dies bezeichnet die Eigenschaften, welche man an der obersten Kaste wahrnahm und nachahmte; somit stammt ein guter Theil der Moralität wahrscheinlich aus den Instinkten dieser Klasse, als aus dem persönlichen Stolz und der Lust am Gehorsam gegen einen Chef, der Auszeichnung verleiht; sie verachten nach unten hin, sie achten nach oben hin und bei ihres Gleichen, sie verlangen selber aber von aller Welt (Ober-, Mittel- und Unterwelt) Achtung, sie gebärden sich als die bessere Hälfte der Menschheit. Dagegen bedeutete im Deutschen der schlichte Mann ehemals den schlechten Mann: so weit gieng das Mißtrauen gegen den, welcher nicht die künstlicheren Gebärden und Ausdrücke der guten Gesellschaft besaß.

3 [135]

208. Das Christenthum (und nicht nur die katholische Kirche) fährt fort, sich zu stellen, als ob es alles forderte, aber es ist sehr zufrieden, sehr dankbar, wenn es nur etwas erhält. In dieser Genügsamkeit ist jetzt auch der beste Christ, nach christlichem Maaße gemessen, schlimmer als ein Heide; er will weder für seinen Glauben leben, noch mit seinem Glauben sterben; er ist zufrieden, wenn man ihnen beiden ein Almosen giebt.

3 [136]

209. Stark empfinden, eine starke Empfindung lange anhalten lassen können und auf Einer Saite viele Melodien spielen – das macht die großen Pathetiker unter den großen Schriftstellern, zu denen auch Schopenhauer gehört: sie unterscheiden sich von den Philosophen, ob sich schon Schopenhauer zu diesen rechnete: sie wollen nämlich nicht um jeden Preis erkennen, sonder um jeden Preis ihr Lied singen.

3 [137]

210. Das Christenthum ist aus dem Judenthum hervorgegangen und aus nichts Anderem, aber es ist in die römische Welt hineingewachsen und hat Früchte hervorgetrieben, welche sowohl jüdisch als römisch sind. Dieses gekreuzte Christenthum hat im Katholicismus eine Form gefunden, bei der das römische Element zum Übergewicht gekommen ist: und im Protestantismus eine andere, bei der das jüdische Element vorherrscht; dies liegt nicht daran, daß die Germanen, die Träger der protestantischen Gesinnung, den Juden verwandter sind, sondern daß sie den Römern ferner stehen, als die katlolische Bevölkerung Süd-Europas.

3 [138]

211. Die moralischen Vorstellungen sind Genußmittel und Würzen, um derentwillen wir die nöthigen Handlungen leichter thun; ohne sie wären uns diese Handlungen widerlich oder langweilig.

3 [139]

212. Nicht an den Anderen denken, alles strengstens um seiner selber willen thun ist auch eine hohe Moralität. Der Mensch, hat so viel für sich zu thun, daß er immer fahrlässig ist, wenn er etwas für Andere thut. Weil so viel für Andere gethan wird, deshalb sieht die Welt so unvollkommen aus.

3 [140]

213. Ist nicht unsere Denkfreigeisterei als ein übertriebenes einseitiges Handeln aufzufassen, dem das Gegengewicht abhanden gekommen ist? Wird nicht auch der Künstler häufig durch sein künstlerisches Schaffen aus seinem Centrum geworfen? Sind nicht Sich-verhehlen, Sich-vergessen, Sich-verleugnen die Gefahren des fruchtbaren Einsamen?

3 [141]

214. Es ist selten, daß Einer, der berühmt geworden ist, nicht eben dadurch feige und närrisch geworden ist; die Anhänger als Masse hängen sich immer an seine Schwächen und Übertriebenheiten und haben leichtes Spiel, ihn zu überreden, daß hier seine Tugend, seine Bestimmung zu sehen sei. Ist jemals ein großer Mann von seinen Zeitgenossen darin erkannt worden, worin er groß ist? ist jemals ein berühmter Mann der Feind seiner Anhänger gewesen? – Schopenhauer war zum Narren seines Ruhmes geworden, bevor er ihn hatte.

3 [142]

218. Die größte Masse des Bösen wird aus Schwäche und Krankheit gethan, um sich das Gefühl der Überlegenheit zu schaffen (durch Wehethun), zum Ersatz des physischen Kraftgefühles. Schwäche und Krankheit aber haben ihre Wurzeln zumeist in der Unkenntniß.

3 [143]

219. Wenn uns die Freude der Anderen wehe thut, zum Beispiel wenn wir uns in tiefer Trauer befinden, so verhindern wir diese Freude, wir verbieten dann zum Beispiel den Kindern das Lachen. Sind wir dagegen froh, so ist uns der Schmerz der Anderen peinlich. Was ist denn Sympathie?

3 [144]

220. Die Gleichheit läßt das Glück der Einzelnen abnehmen, aber bahnt den Weg zur Schmerzlosigkeit Aller. Am Ende ihres Zieles stünde freilich neben der Schmerzlosigkeit auch die Glückslosigkeit.

3 [145]

221. Die Lüge und die Verstellung, welche innerhalb der Gemeinde groß gezüchtet werden, zur Herstellung der Gleichheit, ergeben zuletzt einen freien Überschuß, der sich in der Erzeugung von Dichtern und Schauspielern entladet. Man denke, welche Lust eine Gemeinde an der Aufschneiderei, Schimpferei, Taschenspielerei und ähnlichen Urkünsten hat.

3 [146]

226. Die Vaterlandsliebe nimmt ab, wenn das Vaterland aufhört, unglücklich zu sein.

3 [147]

227. Die Fanatiker haben zwar keine moralischen, wohl aber intellektuelle Gewissensbisse; sie nehmen an allen Andersdenkenden dafür Rache, daß sie selbst im Grunde und heimlich und unter ingrimmigem Schmerzgefühl – anders denken.

3 [148]

228. Die Natur benutzt das Gehirn, um dem Unterleibe eine Funktion zu erleichtern und umgekehrt.

3 [149]

229. Es giebt keine unmittelbare instinktive Furcht vor dem Tode; man flieht vor dem Schmerz, der an der Pforte des Todes steht, vor dem Unbekannten, zu dem der Tod führt und das er selber ist; man will sich noch oft freuen, deshalb will man leben, deshalb erträgt man auch das Leiden. Auch der Selbsterhaltungstrieb ist ein Stück Mytlologie.

3 [150]

230. Hier sind Menschen, welche alle Welt mit Musik trunken machen möchten und vermeinen, dann käme die Cultur; bisher aber kam auf die Trunkenheit immerdar etwas Anderes, als die Cultur.

3 [151]

232. Das Glück liegt in der Zunahme der Originalität, weshalb andere Zeiten als die unsere reichlicher davon gehabt haben mögen. – Die Wissenschaft ist das Mittel, die Nothwendigkeit der Erziehung zur Originalität zu beweisen. – Wenn das Herkommen und das cos fan tutti die Moralität ausmachen, so ist diese der Hemmschuh des Glücks. – Die Lehre, daß die Moralität das rechte Mittel zur Schmerzlosigkeit des Lebens sei, ist gewiß das Produkt sehr schmerzlicher Zeiten. – Wenn die Originalität tyrannisiren will, so legt sie die Hand an ihr eigenes Lebensprincip. – Freude an fremder Originalität haben, ohne der Affe derselben zu werden, wird vielleicht einmal das Zeichen einer neuen Cultur sein.

3 [152]

233. Keine Mythologie hat schädlichere Folgen gehabt, als die, welche von der Knechtschaft der Seele unter dem Körper spricht.

3 [153]

237. Die Moralität wirkt malerisch, wenn sie lange durch Unmoralität aufgestaut war.

3 [154]

238. Der Intellekt der jetzigen Menschen reichte wohl aus, um aus einem Chaos ein geordnetes Sonnensystem herzustellen, aber es fehlt ihm vielleicht die dazu nöthige Zeit und vor allem das Chaos; sicherlich wäre die Welt unendlich weiter, wenn der menschliche Intellekt an Stelle des Zufalls hätte schalten und walten dürfen, auch hätte er Milliarden von Jahren gespart.

3 [155]

240. Wer sich jetzt auf die Sitte beruft, als den Grund seiner Handlungsweise, sagt beinahe: ich bin abergläubisch, oder: ich bin tolerant, – aber ehemals hieß es: ich bin klug und gut.

3 [156]

241. Das Ziel der christlichen Moralität ist nicht das irdische Glück, sondern die irdische Unseligkeit. Das Ziel des praktischen Christen, der in der Welt steht, ist nicht der Welterfolg, sondern das Nicht-mehr-handeln-müssen oder sogar der Mißerfolg. Jene Unseligkeit und diese Mißerfolge sind die Mittel und Stufen zur Entweltlichung. Giebt es noch Christenthum? Es scheint, es ist schon am Ziele seiner Entweltlichung, nämlich zur Welt hinaus. Aber es hat, bevor es schied, an die Wand seine Schrift gemalt, und diese ist noch nicht verschwunden: die Welt ist verächtlich, die Welt ist böse, die Welt ist das Verderben.

3 [157]

242. Es vollzieht sich eine Reduktion des Gefühls von Moral: alle Faktoren dieses Gefühls, welche aus Einbildungen stammen, aus Verehrungen, wo nichts zu verehren war, aus Anhäufung der Achtung, weil die Kritik gegen das Geachtete fehlte, aus der nachbarlichen Dämmerung der Religion – alles dies wird allmählich subtrahirt werden und das Resultat wird sein, daß die Verbindlichkeit der Moral für die Thörichten abnimmt. Daraus ergiebt sich die Aufgabe, mit allen Kräften danach zu streben, daß die Thörichten abnehmen.

3 [158]

243. Gewiß ist unsere gegenwärtige Bildung etwas Erbärmliches, eine faulriechende Schüssel, in der lauter geschmacklose Brocken durch einander schwimmen, Brocken von Christenthum, von Wissen, von der Kunst, an denen sich nicht einmal Hunde satt essen könnten. Aber die Mittel gegen diese Bildung etwas aufzustellen, sind kaum weniger erbärmlich, nämlich christlicher Fanatismus oder wissenschaftlicher Fanatismus oder künstlerischer Fanatismus von Leuten, die kaum auf ihren Beinen stehen können, es ist, als ob man einen Mangel durch ein Laster curiren wolle. In Wahrheit erscheint aber die gegenwärtige Bildung erbärmlich, weil eine große Aufgabe vor ihr am Horizont aufgestiegen ist, nämlich die Revision aller Werthschätzungen; dazu bedarf es aber, noch bevor die sämmtlichen Dinge auf die Wage gelegt werden, der Wage selber – ich meine jene höchste Billigkeit der höchsten Intelligenz, welche im Fanatismus ihren Todfeind und in der jetzigen „allseitigen Bildung" ihren Affen und Vortänzer hat.

3 [159]

245. Wenn wir überall, wo der Christ sich seinen Gott wirkend denkt, den Zufall an die Stelle Gottes setzen, so bekommt man einen Überblick, wie sehr der Christ in der Summe seines Handelns die Welt entgeistet und dem Zufall wieder preisgiebt (zum Beispiel wenn er in Krankheiten den Arzt ablehnt). Die Religionen haben das Reich des Zufalls verlängert, das heißt dem Geiste seine Zeit und Kraft beschränkt. – So lange wir moralisch handeln, lassen wir den Zufall, daß wir in diesem Lande geboren sind und diese Menschen um uns haben, zum Gesetz über uns werden und entziehen uns dem Geiste, welcher nur das individuelle Beste sucht.

3 [160]

246. Wir Fliegen von einem Tage wollen nicht allzugefährlich und ängstlich mit unsern Gedanken thun; man kann ja mit ihnen nicht mehr die Seele eines Andern in ewige Gefahr bringen, – was das Mittelalter glaubte. Das Princip der Gedanken- und Preßfreiheit ruht auf dem Unglauben an die Unsterblichkeit.

3 [161]

247. Welches auch immer die Stufe der Gesittung, die Lage der Gesellschaft, der Grad der Erkenntniß sei: für das Individuum ist immer dabei eine Art glücklichen Lebens möglich, – das wollen ihm die Religion und die Moral aus der Nähe zeigen und anempfehlen. Ob das Gefühl des Glücks und die Unvermischtheit desselben mit Leid wirklich wächst mit Zunahme der Erkenntniß, Verbesserung der gesellschaftlichen Lage, Erleichterung des Lebens, ist zu bezweifeln, denn es gehen bei diesem Wachsthum immer Kräfte verloren oder werden schwach, denen man ehemals das Glücksgefühl vornehmlich dankte: die Sicherheit und die Verlängerung des Lebens, worauf sich unsere moderne Welt als ihre Errungenschaften so viel zu Gute thut, sind vielleicht durch Abnahme des Glücksgefühls als durch Zunahme erkauft worden. Die Cultur um des Glücks der Einzelnen willen fördern – das wäre dem nach eine sehr zweifelhafte und vielleicht thörichte Sache! – aber sind wir einmal irgendwie im Glück, so können wir gar nicht anders als die Cultur fördern! Das neue hohe Vertrauen auf uns, die Befriedigung an unserer Kraft, das Aufhören der Furcht vor Anderen, das Verlangen nach ihrer Nähe, der Ringkampf mit ihnen im Guten, der Überschuß an Vermögen, Werkzeugen, Kindern, Dienern, dessen wir bewußt werden, – in summa: jede Art von Glücksgefühl treibt uns in die Bahnen der höheren Cultur und in ihnen vorwärts. Noth dagegen bildet uns zurück, macht uns defensiv, argwöhnisch, in der Sitte abergläubisch und überstreng. Die Cultur ist eine allmähliche Folge vom Glück zahlloser Einzelner, nicht die Absicht dieser Einzelnen! – je individueller der Einzelne wird, um so produktiver für die Cultur wird sein Glück sein, selbst wenn dessen Zeitdauer kürzer und dessen Intensität geringer und gebrochener sein sollte, als das Glück auf niedrigeren Culturstufen. Wenn man die Förderung der Cultur dem Glücklichen versagen wollte, um das Glück im Allgemeinen auf einem hohen Grade zu erhalten, so wäre das so thöricht als dem Seidenwurme das Spinnen zu verbieten um des Glücks der Seidenwürmer willen. Was hat man denn vom Glück jeder Art, wenn nicht eben aus ihm etwas zum Besten der Cultur thun zu müssen? – Glück ist gar nicht zu erhalten weder hoch, noch niedrig, wenn man seine nothwendigen Äußerungen unterbinden wollte. Also: die Cultur ist die Äußerung des Glücks.

3 [162]

248. Die Entstehung des kategorischen Imperativs ist nichts Erhebliches. Gewiß wollen die Meisten einen unbedingten Befehl, ein unbedingtes Gebot lieber als etwas Bedingtes: das Unbedingte erlaubt ihnen, den Intellekt aus dem Spiele zu lassen und ist ihrer Faulheit gemäßer; häufig entspricht es auch einem gewissen Hange zur Hartnäckigkeit und gefällt den Personen, welche sich ihres Charakters rühmen. Überhaupt gehört es in den Bereich des blinden militärischen Gehorsams, zu welchem die Menschen durch ihre Fürsten gezüchtet worden sind: sie glauben, daß es mehr Ordnung und Sicherheit giebt, wenn der Eine absolut herrscht, der Andere absolut gehorcht. So will man auch, daß der moralische Imperativ kategorisch sei, weil man meint, daß er so der Moralität am nützlichsten sei. Man will den kategorischen Imperativ: das heißt, es soll ein absoluter Herr durch den Willen Vieler geschaffen werden, welche sich vor sich und vor einander fürchten: er soll eine moralische Diktatur ausüben. Hätte man jene Furcht nicht, so hätte man keinen solchen Herrn nöthig.

3 [163]

249. Die Werke des deutschen Genie's halten sich nicht, wenn sie in's Ausland kommen: sie müssen wie die italiänischen Weine an Ort und Stelle getrunken werden.

3 [164]

250. Es ist die europäische Art des moralischen Idealismus, sich die moralischen Vorstellungen so hoch und so fein auszudichten, daß, wenn der Mensch von ihnen aus auf sein Handeln zurückblickt, er sich gedemüthigt fühlt. Diese Art Idealismus verträgt sich vorzüglich mit einem gewinnsüchtigen, rücksichtslosen, ehrgeizigen Leben, die Minute der Demuth ist Abschlagszahlung für ein Leben, welches mit jenem Idealismus nichts zu thun hat.

3 [165]

251. Was haben die Philosophen vom Glücke derer phantasirt, welche die Welt überwunden haben! Welche Wunder hat sich Schopenhauer über jenen Zustand eingeredet, wo der Mensch nicht mehr von seiner Geschlechtlichkeit incommodirt wird.

3 [166]

253. Geistesgegenwart: das heißt die Fähigkeit sich seine Worte und Handlungen durch die Umstände diktiren (zu) lassen, – ist also eine Fähigkeit zu lügen und zu heucheln.

3 [167]

254. Wenn die Lüge zu unserm Charakter stimmt, lügen wir am besten.

3 [168]

257. Es gab Götter, die das Unglück wollten, andere, die vor Unglück schützten, noch andere, die im Unglück trösteten.

3 [169]

259. Wo die Moralität am größten ist, da geht der Intellekt zu Grunde. Die Voraussetzung, daß der Nachbar uns betrügt, wo er kann, hält unsern Kopf in Spannung, und dies kann wie in italiänischen Städten mit Schelmerei geschehen, ohne daß wir dem Nachbar gram sind.

3 [170]

260. Die Ehrlichkeit verlangt, daß man anstatt der unbestimmten moralischen Worte von edlem Klange, wie sie üblich sind, nur die erkennbaren und in der Mischung überwiegenden Elemente bei Namen nenne, trotz dem Fehler der Unvollständigkeit und trotz dem, daß diese überwiegenden Elemente bisher einen bösen Klang hatten; aber wenigstens wird so ein falscher Heiligenschein zerstört. Man soll ein Ding a potiori nennen, und nicht a nihilo.

3 [171]

261. Wie soll man handeln? So, daß der Einzelne möglichst erhalten bleibt? Oder so, daß die Rasse möglichst erhalten bleibt? Oder so, daß durch unsere Rasse eine andere Rasse möglichst erhalten bleibt? Oder so, daß möglichst viel Leben erhalten bleibt? Oder so, daß die höchsten Gattungen des Lebens erhalten bleiben?

3 [172]

262. Die vollkommene Moralität ist die der Gerechtigkeit, welche jedem Ding das Seine giebt und nichts von Lohn, Strafe, Lob und Tadel weiß. In jeder ganzen Erkenntniß vollzieht sich diese vollkommene Moralität, jede Übung der Erkenntniß ist eine Übung dieser Moralität, und wenn sich selbst die Erkenntniß mit der gefährlichsten Kritik der moralischen Handlungen abgiebt, so ist sie dennoch ferne davon, dieselbe zu untergraben. Im Augenblick, da eine Erkenntniß zu Stande kommt, ist der Erkennende moralisch absolut vollkommen, an einer mangelhaften Erkenntniß sind gewöhnlich moralische Fehler mitbetheiligt, wie Ungeduld, Ungerechtigkeit, Neid, Hochmuth. – Aber verbergen wir es uns nicht: es giebt keine anderen als mangelhafte Erkenntnisse!

 

[Dokument: Notizbuch]

[Sommer 1880]

4 [1]

263. Das Volk oder richtiger die wenigen Leute, welche sich an den Theaterbesuch gewöhnt haben, nehmen es als Mährchen, und geben die feierlichste Versicherung, es sei nichts Geringeres als Mythus, und alles Ernst, und nicht ohne philosophische Geheimnisse

4 [2]

264. Man verlangt von der Musik, sie solle mährchenhaft seltsam unverständlich sein: wovon frühere Zeiten gar keine Vorstellung hatten. Ja festlich lustig gesellig innig feierlich! aber – – –

4 [3]

265. Jede Zeit hat ihren Erzähler von Tausend und Einer Nacht. Unserer ist jetzt Wagner; es sind Dinge, die man nicht glaubt, nicht für möglich hält – aber sehr gern einmal im Theater sieht, als wären sie wahr.

4 [4]

Die moralischen Vorurtheile.

4 [5]

WAS ZU VERLERNEN IST.

4 [6]

2. Alle Fortschritte der Individuen werden durch den Zufall der Ehen wieder unnütz gemacht, deshalb ist es mit der Menschheit nichts. Und Gott soll die Ehen schließen!

4 [7]

7. Die Illusionen haben, den Menschen auch Bedürfnisse angezüchtet, welche die Wahrheit nicht befriedigen kann.

4 [8]

Byron sagt "hätte Coleridge sein schönes Talent nicht mit transcendentaler Philosophie und deutscher Metaphysik verdorben, so würde er der größte Dichter seiner Zeit geworden sein"

4 [9]

10. Die moralischen Vorschriften werden in gebildeten Zeiten immer unbestimmter, wie auch die Gottesvorstellung immer blasser wird. Es wird der Moral immer mehr Gebiet entrissen (überall wo der Erfolg controlirbar wird und die Erkenntniß eintritt, hört der moralische Maaßstab auf) Da flüchtet die Moral in's "Ideale" usw.

4 [10]

11. Wie viel Illusion der Mensch zum Wohlleben nöthig hat!

4 [11]

12. Wo man nicht mehr versteht, wird man feierlich. Dies kam der Moral zu Gute.

4 [12]

Wie soll man handeln? Wozu soll man handeln? Aber je höher hinauf, um so willkürlicher wird die Entscheidung: um so mehr muß sie künstlich autoritativ gemacht werden. Zwecke und Mittel pathetisch machen, je weniger sie an sich klar sind.

4 [13]

21. Der Beweis für die Sitten liegt nicht in ihren Folgen, sondern in den Zufällen, welche eine Gemeinde treffen. Wenn Unglück sie trifft, glauben sie entweder Verstöße gemacht zu haben, oder neue Sitten sich angewöhnen zu müssen.

4 [14]

23. Gegen den, der außerhalb der Gemeinde ist, giebt es keine Sitte. Hier tritt Furcht vor dem Individuum, Mitleid mit dem Individuum auf. Innerhalb der Gemeinde ist der Leidende nicht Gegenstand des Mitleids, sondern des Argwohns, er hat sich wohl versündigt. Krankheit ist dämonisch. – Gegen den Feind entsteht das Mitleid auf der Basis der Verachtung, ein nicht-zu-Fürchtender.

4 [15]

24. Die Tugend des Buddh<ismus> ist: zu deinem Leid noch fremdes Leid hinzunehmen (während alles voll Leid ist) Die Tugend Christi: die Sündenstrafe auf sich zu nehmen, und die Tugend des Christen, freiwillig zu leiden nach seinem Vorbild (nicht Mitleiden -) Dies sind Anfänge der Moral mit dem Zwecke individueller Folgen. Dies der Fortschritt. Der Aberglaube daß sich mit Leiden eine Schuld tilgen lasse – ein mysteriöser Vorgang, nicht Abschreckung, nicht Rache, sondern Purgation von der Befleckung.

4 [16]

25. Jene neue Moral hebt an, wenn die Gemeinde und der Staat nicht mehr in der Furcht vor Feinden leben und die Sitten sich lockern, d. h. das Individuum hervortritt, das Unsittliche. Jetzt werden die individuellen Folgen in den Vordergrund gerückt, die abergläubischen voran.

4 [17]

28. Zwei Moralen der Individuen a) man lebt, um völlig dem vorschwebenden Typus in der Gemeinde gleich zu werden ("wie sein Vater", Spruch der Spartaner) oder b) man lebt, um sich unter seines Gleichen auszuzeichnen. Im ersten Falle ist das Verschiedensein vom Typus etwas, was als Mangel empfunden wird, und das Ziel ist schwer. Im zweiten Falle ist die Gleichheit als leicht erreichbar gedacht, sie giebt noch keine Ehre.

4 [18]

29. In Deutschland hat man unbändigen Respekt vor ungereiften oder verwilderten Talenten, man nennt sie „Genies", man ist gegen den malerischen Effekt des Geistes sehr empfänglich, es ist der Geschmack für das Wildromantische. Vollendung Anmuth und Freiheit des Geistes werden nicht "genossen" – man spricht da von esprit usw.

4 [19]

30. Der Verrückte der Lahme als Lustigmacher. Don Quixotes schauderhaftes Beispiel. Hephäst im Olymp.

4 [20]

32. Der Werth einer Sache wird gesteigert, wenn die Verehrung sich anhäuft d. h. wenn man den Nutzen einer Sache für das Individuum aus dem Auge verliert und ins Auge faßt, wie vielen Individuen sie schon genützt hat (oder zu haben scheint) Man traut ihr jetzt mehr Kräfte zu –

4 [21]

33. Die Naivetät bei den Deutschen! während alle diese verwilderten Talente damit Theater gespielt haben! In Frankreich gieng sie durch den Hof zu Grunde, in Deutschland durch die Genies (selbst Beethoven)

4 [22]

Das Problem in der Zeit der griechischen Tragödie war: wie konnten diese gräßlichen Dinge eigentlich geschehen, während die Thäter Heroen und keine Verbrecher waren? Dies war die große Übung in der Psychologie Athens.

4 [23]

Die Neigung zu scheußlichen Thematen. Nothzucht, Blutschande usw. – woraufhin?

4 [24]

Ungeschickte Gebärden und Worte der Abweisung werden als Beleidigung empfunden, wenn jemand aus dem tiefsten Gefühle reden möchte z. B. "sagen Sie mir keine Complimente"

4 [25]

Die Kindesmörderin handelt aus Furcht vor Schande und bringt ihr das größte Opfer. Wenn die Gesellschaft nicht verachtete und schändete, würde das Kind leben bleiben. Adam Bede.

4 [26]

Das Verhehlen der That als moralisch ursprünglich – der Gesellschaft soll sie aus der Welt geschafft werden: ebenso Verhehlung des Übelthäters.

4 [27]

Man kann den Werth der Moralität nur bestimmen indem man sie an etwas mißt z. B. am Nutzen (oder Glück); aber auch den Nutzen muß man wieder an etwas messen – immer Relationen – absoluter Werth ist Unsinn.

4 [28]

Die Vernunft als Ursache der moralischen Gefühle – und der Einfluß der moralischen Gefühle auf die Entwicklung der Vernunft!

4 [29]

Die Anrede "mein Herr" zeigt, wie sehr allen Menschen die Unterwerfung schmeichelt und wie jeder vor allem stolz und herrschend gedacht werden will.

4 [30]

Schopenhauer, so fern der Verneinung, war doch so anständig, sie nie zu heucheln und keinen Putz daraus zu machen; was ehrgeizige Künstler sofort thun, weil sie dadurch einen Vorrang zu gewinnen hoffen. Die Schauspielerei mit asketischen und mirakulösen Stoffen ist schon ein Stück persönlicher Heuchelei.

4 [31]

Die Rhetorik eine Kunst wie die Architektur – der Nutzen ist die erste Norm (und sobald sie als Kunst bewußt wirkt, hebt sie die Wirkung ihres Nutzens auf oder stellt ihn in Frage. Oder umgekehrt?) Wir sollen dabei nicht an den Nutzen denken, aber unvermerkt dazu geführt werden, daß uns genützt werde.

Nein! Der Rhetoriker und der Schauspieler sind zu vergleichen: 1) geht auf eine Wirkung aus 2) stellt eine Wirkung dar.

4 [32]

Shakespeare und Aeschylus, die vielartigen Dramatiker, beugen sich vor den einartigen höheren Menschen, den Dichtern ihrer Zeit. Goethe beugt sich vor Shakespeare – nicht vor dem Theater-Dichter, sondern, als Anhänger Rousseaus, vor der Natur-Unendlichkeit in ihm. Es ist ein Zeitgeschmack.

4 [33]

Ach der menschliche Intellekt! Ach "Genie"! Es ist nicht so gar viel, einen "Faust", eine Schopenhauerische Philosophie, eine Eroica gemacht zu haben!

4 [34]

Gerecht sein – nichts! Alles flüssig! um nur zu sehen brauchen wir Flächen, Beschränktheiten!

4 [35]

Die Thatsache ist der ewige Fluß. Der Staat bemüht sich, aus seinen Bürgern etwas von bleibendem Charakter zu machen, die Moral aus jedem Individuum etwas Festes – Das Gedächtniß ist die Grundlage für diese anscheinende Festigkeit (von Tag zu Tag, von Generation zu Generation), Verachtung gegen den Wechsel gelehrt.

4 [36]

Der blinde Maulwurf stammt vom gut sehenden ab – Wirkung der Dunkelheit auf die Sehnerven.

4 [37]

In der Moral ist selbst die Periode der Hypothesen noch nicht dagewesen: sie ist jetzt gut zu heißen; der Umfang der Möglichkeiten, aus denen die Moralität ihre Entstehung haben könnte, ist jetzt durch Phantasie zu erschöpfen. Ich mache den Anfang; sehr skeptisch!

4 [38]

Irgendwann einmal wird "Vererbung" eben auch als Schlupfwinkel der Unklarheit und der Mythologie gelten: einstweilen ist es noch etwas.

4 [39]

Die Art, wie der M<ensch> von seinen Mitm<enschen> im Geiste abhängt, ist sehr paradox und gar nicht so von selber einleuchtend.

4 [40]

Goethe that sich etwas darauf zu Gute, was für Mühe nöthig gewesen sei, um gegen Voltaires Naturauffassung Stand zu halten. – Es war ein Irrthum, und es bezeichnet die Reaktion.

4 [41]

Die Huldigung des Genies vor der Güte bei Schopenhauer war eine schöne Attitüde.

4 [42]

Der Mensch, erstaunlich furchtsam, versucht nur nothgedrungen etwas Neues. Gelingt es, so wiederholt er es, bis es eine Sitte wird und spricht es heilig.

4 [43]

Werden die Contemplation die Thätigen nicht nothwendig mißverstehen? Ist viel Erkenntniß also von ihnen in Betreff der Geschichte zu erwarten? Aber es giebt zurückgekommene Thätige : deren Sache ist dies.

4 [44]

Das höchste Glück, wie es Plato und Aristoteles erkannten, ist nicht in der intuitiven Erkenntniß (Genialität Schopenhauer's), sondern der thätige dialektische Verstand ist die Quelle dieses Glücks – übrigens sind es subjektive Urtheile, daß hierin das größte Glück liege – aber für solche Subjekte danke ich.

4 [45]

Menschen, die in der Einsamkeit leben, quälen sich oft erstaunlich über ihren Charakter: aber nicht der Charakter, sondern die Einsamkeit ist <es>, woran sie leiden. Wer dies nicht hinnehmen will, der gehe in den Strom der Welt zurück, wo man "seinen Charakter bildet": während die Einsamkeit ihn verzehrt. – Man gewöhne sich an den Verkehr mit den Todten: dies erhält den Charakter. Nein, man soll sich mit gebildetem Charakter erst in die Einsamkeit begeben – nicht zu früh!

4 [46]

Auf die Welt verzichten, ohne sie zu kennen, wie eine Nonne dies giebt eine unfruchtbare Einsamkeit, vielleicht eine schwermüthige, entsagende – aber vita contemplativa soll nichts von Entsagung haben, sondern von solchen Naturen gewählt werden, denen die vita practica eine Entsagung wäre, Entsagung von sich selber.

Zuletzt braucht die vita contemplativa nicht einsam zu sein: selbst als Ehe denkbar.

4 [47]

Jemand der starken Kafee getrunken hat, sieht nicht nur im Spiegel gesehen lebhafter aus, sondern er sieht auch sein Bild lebhafter an (sieht mehr als sonst davon)

4 [48]

Sich vor einem Gotte hinwerfen, sich ganz in seine Gnade begeben, noch über sein Almosen überselig zu sein, einem Hunde gleich ihn umwedeln – das hat als höchste Aufgabe des Menschen gegolten! Dadurch ist die Liebe als Moralprincip für alle Zeiten etwas verdächtig geworden. Was ehemals einem Gotte gegeben wurde, das jetzt einem Genie, einem Fürsten; einem Weibe – –

4 [49]

Richard Wagner trägt für mich – zu viel falsche Diamanten.

4 [50]

Nicht das unegoistische Handeln ist (durch Vergessen) aus Vererbung entstanden, sondern das fortwährende Denken an Andere als Maaß unserer Handlungen.

4 [51]

Wir thun so vieles um der Andern Willen, fast Alles, daß die Handlungen, bei welchen wir einzig an uns denken, Ausnahme sind: die Egoisten sind die größte Ausnahme.

4 [52]

Auch die (chinesische) Tugend der Höflichkeit ist eine Folge des Gedankens: ich thue den Anderen wohl, weil es mir so zu Gute kommt – doch so daß dies Weil vergessen worden ist. Nicht aber entsteht Wohlwollen auf dem angegebenen Wege durch Vergessen. – Aber Höflichkeit ist doch sehr benachbart. Die Chinesen haben die Familienempfindung durchgeführt (Kinder zu den Eltern), die Römer mehr die der Väter zu der Familie (Pflicht

4 [53]

cqeitton t agaJ on, sagen die Neuplatoniker, d. h. nützlicher ist das Nützliche als die Wahrheit – natürlich. Wenn die Erhaltung und Förderung des Glückes die letzte Aufgabe ist, da mag die Wahrheit zusehn, wie sie dem Irrthum im Wettstreit Stand hält. Zuletzt aber wird sich die Menschheit auf die Wahrheit einrichten müssen, wie sie sich auf die Natur einrichtet, obwohl eine Allgegenwart liebevoller Mächte ein angenehmerer Glaube gewesen sein mag. Dann wird viel trügliche Hoffnung und also viel Enttäuschung weniger sein, und der Anlaß zum Trösten seltener als jetzt.

4 [54]

Die Philosophen jetzt als Dekorationskünstler der Wissenschaft, sie arrangiren effektvoller <die> Natur.

4 [55]

Grundsätze: es giebt in der Natur keine Zwecke, es giebt keinen Geist außer bei Menschen und menschenartigen Wesen, es giebt keine Wunder und keine Vorsehung, es giebt keinen Schöpfer, keinen Gesetzgeber, keine Schuld, keine Strafe.

4 [56]

Luther läugnet daß Gott Gefallen haben könne an den "gerühmten geistlichen Werken der Heiligen" – etwas boshaft. Nur an den 10 Geboten.

4 [57]

(Baum<ann> 243) Luther: etwas haben, dem das menschliche Herz in Allem trauen könne d. h. einen Gott haben. Nach Thomas Aquinas braucht der Mensch wegen der Mängel, die er fühlt, einen Höheren, dem er sich unterordnet, und der ihm helfen und leiten kann: Gott. – Beide meinen es müsse einen Gott geben, weil die Menschen ihn nöthighaben. So auch Fräulein v<on> M<eysenbug>, es wäre das Leben nicht auszuhalten, wenn alles nur eine letzte physische Bedeutung hätte. In Wahrheit ist es umgekehrt: weil man an Gott oder an die ethische Bedeutung des Daseins gewöhnt ist zu glauben, vermeint man, "der Mensch" habe sie nöthig, es sei sonst nicht zu leben möglich. – Übrigens ergäben sich daraus höchstens "nothwendige Vorstellungen" – erst wäre ein Gott oder die ethische Bedeutung des Daseins damit nöthig.

4 [58]

Unter den contemplativen Naturen haben 1) die religiösen am stärksten gewirkt, den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen 2) die Künstler sind gewöhnlich unerträglich als Personen, und dies ist vom Gewinn ihrer Werke abzuziehen 3) die Philosophen waren etwas von beider Art und noch dazu gemischt das Dialektische, wodurch sie langweilig wurden für die Praktiker 4) die Denker – – –

4 [59]

Luther ließ seine Wuth gegen die vita contemplativa aus, nachdem ihm das Mönchsleben mißrathen war und er sich zum Heiligen unfähig fühlte, rachsüchtig und rechthaberisch, wie er war, trat er auf die Seite der vita practica, der Ackerbauer und Schmiede.

4 [60]

Ich glaube daß viele von uns, wenn sie mit ihren enthaltsamen mäßigen Sitten ihrer Sanftmuth ihrem Sinn fürs Rechte in die Halbbarbarei des 6.-10. Jahrhunderts versetzt würden, als Heilige verehrt würden.

4 [61]

Ach die tiefe Erniedrigung, die mich ergreift, wenn ich die Badegesellschaft sprechen höre, oder in einen Speisesaal junger Männer trete, oder eine Zeitung in die Hand nehme.

4 [62]

Nehmen wir an, daß ein guter Arzt unter Wilde käme, und ließe sich das Zauberer-Wesen gefallen, um wie viel wäre er allen Zauberern überlegen! Ebenso jeder gute Historiker jetzt jedem Propheten!

4 [63]

Zwecke sind meistens ungewollte, aber sehr erwünschte Ergebnisse, mit denen wir nachträglich unsere Handlungsweise vor der Vernunft rechtfertigen.

4 [64]

Etwas, das seit langem besteht, nicht zu Grunde gehen lassen – eine vorsichtige Praxis, weil alles Wachsthum so langsam ist und selbst der Boden so selten günstig zum Pflanzen. Die bestehenden Kräfte umbiegen zu anderen Wirkungen!

4 [65]

Theatralische Musik (- nicht "dramatische Musik") richtet den Geschmack an der Musik zu Grunde, wie das Theater selber die Freude an der Poesie beeinträchtigt (es fehlt Einsamkeit Natur, wirkliches Leben um uns, es ist ein Luxus und eine Versammlung der Müssiggänger, stimmungslos.

4 [66]

Der gemischte unreine Charakter der Künstler: ehrgeizig und rücksichtslos, in wüthender Rivalität gegen alles, was Ansehen hat, ja selber gegen alles, was tüchtig und achtungswerth ist, und in den Mitteln ohne Bedenken, verleumderisch tückisch – ganz Napoleon, aber man fühlt sich bei ihm in ehrlicher Luft, weil er weiß, was er will und sich nichts über sich vormacht. Die Spekulation auf die Massen, auf die Enthusiasten jeder Art, diese Furcht vor dem Geiste und der moralist<ischen> Wissenschaft (Napoleon litt nicht daß von de Tracy und Cabanis in irgendeinem Sinne geredet wurde) – alles, was die Instinkte der besten Anhänger, der Fanatiker verletzen würde, wird herausgewittert und verunglimpft, als Gegenstand des Hasses selbst im Motiv der Kunst noch gebrandmarkt, und umgekehrt: der Fanatismus die todwüthende Liebe durch die Kunst gepredigt. Im eignen Leben völlig bequem, bekennt man sich zu den extremsten fanatischen Tugenden (wie Keuschheit Heiligkeit unbedingte Treue) – so wird alles eine Schule des Fanatismus, Kunst, Ansichten, Anhänger.

4 [67]

Alle Moralen und Gesetze gehen darauf aus, Gewohnheiten anzupflanzen d. h. für sehr viele Handlungen die Frage nach dem Warum? aufzuheben, so daß sie instinktiv gethan werden. Dies ist auf die Dauer eine große Beeinträchtigung der Vernunft. Sodann ist "Handeln aus Gewohnheit" ein Handeln aus Bequemlichkeit, auf den nächsten Impuls hin, zugleich eine Furcht vor dem Ungewöhnlichen, vor dem, was die Andern thun, eine Beeinträchtigung des Individuums. Eine Rasse mit starken Instinkten züchten – das will eine Moral.

4 [68]

"Moralische Gefühle" sagen die Deutschen, "moralische Urtheile" die Engländer. "Mitleid" gehört z. B. für St. Mill nicht unter die moralischen Phänomene, sondern unter die der "Liebenswürdigkeit", es ist Sache der "Sympathie"; und die großen Stoiker haben sie sogar als unmoralisch bezeichnet. Für die Gefühle giebt es kein "du sollst", sondern nur "ich muß": aber was wird aus der Pflicht, wenn der Mensch sich sagt "dies muß ich thun, ob ich es soll oder nicht" „ich kann nicht anders". Dies bewundert der Deutsche z. B. an Luther: nicht, wie einer sich unter ein Gesetz zwingt, beugt, sondern wie einer trotz allem Gebot und Verbot sich selber treu ist, d. h. man bewundert in Deutschland das individuelle Handeln, wohl weil es dem furchtsamen und gehorsamen Deutschen so selten ist.

4 [69]

Wenn ich sage: "diesen Menschen mag ich, mit ihm sympathisire ich", so soll das nach Schopenhauer moralisch sein! Und wieder die Antipathie das Unmoralische – als ob nicht aus demselben Grunde einer für diesen sympathisch, für den anderen antipathisch empfände! So wäre der Moralische nothwendigerweise unmoralisch! – Vielmehr hat man Sympathie und Antipathie-haben nie ins Moralische gerechnet, es ist eine Art Geschmack – und Schopenhauer will, daß wir den Geschmack für alles was lebt hätten? Das müßte ein sehr grober und roher gefräßiger Geschmack sein, der mit allem zufrieden ist!

4 [70]

Wenn ein Idealist der Praxis nicht Skeptiker aus Instinkt ist, so wird er zum Narren der Eitelkeit und hält sich zuletzt für Gottessohn.

4 [71]

Es ist ein Interesse des Menschen, das was er seinem Eigennutze abgerungen hat und dem allgemeinen Besten opfert, mit so hohen Worten wie möglich zu benennen; die, welche wenig opfern, bestehen am strengsten auf der moralischen Prachtrede. Wem es natürlich ist, der will, daß einfach davon gesprochen werde, womöglich etwas zu gering: so fällt es nicht in die Augen und kann still geübt werden. Die Besten haben ein Interesse an der Verkleinerung der moralischen Wortwerthe.

Andere haben die moralischen erhabenen Attitüden nöthig, jene Halbschauspieler, deren Werth in dem liegt, was sie bedeuten, nicht in dem, was sie sind.

4 [72]

Wenn ein Mensch, dessen Leben voll von Ehebruch und Unzucht ist, die Keuschheit verherrlicht, so hat er allen Grund dazu: denn mit derselben wäre sein Leben viel würdiger gewesen; er kennt den Eros nicht anders als einen wilden unersättlichen wüsten Dämon. Aber für wen er etwas anderes ist (für einen Anacreon), für den wird auch die Keuschheit nichts so Verehrungswürdiges an sich sein.

4 [73]

Wie die Natur nicht nach Zwecken verfährt, so sollte der Denker auch nicht nach Zwecken denken d. h. nichts suchen, nichts beweisen oder widerlegen wollen, aber so wie bei einem Musikstück zuhören: er trägt einen Eindruck davon, je wieviel oder wie wenig er gehört hat. Dieser Eindruck entsteht aus einer Vergleichung dessen, was man früher an Eindrücken von Musik gehabt hat, man muß diese Art Sprache verstehen; je feiner man sie versteht, desto größer ist Lust und Unlust dabei. Der grobe Mensch genießt das Leben wie die Musik jeder Art, wesentlich als Genuß und Lust. – Die feineren Kunstfreuden sowie die feineren Erkenntnisse muß man theuer erkaufen d. h. zu oft durch Enttäuschung Unbehagen leiden. – Die Masse und die Häufigkeit des musikalischen Genusses nimmt mit der Verfeinerung des Geschmacks ab – ist dies ein Gegengrund gegen die Entwicklung der Musik und die Pflege derselben? Und ist es nicht in allem so, auch in der Erkenntniß? An was für Dingen hat ein Kind Erkenntnißfreuden! Und wie groß!

4 [74]

Wir dürften nicht erstaunt sein, wenn einer lehrte, kein Mensch habe bis jetzt das Motiv seines Handelns gekannt, denn zwischen das wirkliche Motiv habe sich das angelernte Scheinmotiv gelegt, seit Menschenanbeginn. Wir sehen und hören so schlecht und sind so eingebildet dazu!

4 [75]

Die vielen Kümmernisse und Ärger der gebildeten Stände, ja der sublimsten Geister –

4 [76]

Als die höheren Triebe werden die bezeichnet, die im Gegensatz zu den verachteten stehen. Man verachtet aber, was keine Furcht einflößt, bei niedrigen Leuten zu haben ist usw. – Es sind ganz verschiedene Dinge zur höheren Menschlichkeit gerechnet worden, entgegengesetzte.

4 [77]

Die Moral die zunächst gar nicht an's Glück der Individuen denkt, vielmehr dasselbe fürchtet und zu dämpfen sucht („Maaß" der Griechen) will etwas, das über die Zeit der Individuen hinausreicht, den Verband mehrerer Generationen und zwar vom Standpunkt der Gemeinde: das Individuum ist der Sündenbock für die Collektiva "Staat" Menschheit usw. "Nur als Ganzes können wir uns erhalten" das ist die Grundüberzeugung. So denken die alten Männer und die Fürsten, welche ihren Nachkommen die Gemeinde gesichert übergeben wollen. "Tugend" ist hier nicht etwas Auszeichnendes, sondern die verlangte Regel, welche kein Lob erntet (wie in militärischen Organisationen) Individuelle Auszeichnung ist überhaupt erst in Griechenland erfunden worden, in Asien gab es nur Fürsten und Gesetzgeber. Die Moral für Individuen trotz der Gemeinde und deren Satzung beginnt mit Sokrates.

4 [78]

Wenn die Moral Tapferkeit Treue Enthaltsamkeit außer der Ehe vorschreibt, so denkt sie nicht an das Glück des Einzelnen als Zweck, an seine geistige und leibliche Gesundheit: vielmehr bringt sie diese dem allgemeinen Wohle zum Opfer. Für die Moral besitzt die geringere Menschlichkeit einer Masse einen Werth, den sie mit der höheren Menschlichkeit Einzelner zu bezahlen kein Bedenken trägt: ebenso in Betreff der Gesundheit, des Glücks. Dabei geht sie von sehr unwissenschaftlichen Voraussetzungen über die Mittel aus, wodurch eine Masse Glück Gesundheit Fortbestand erlangt: sie irrt sich oft genug. Die Änderungen der Moral sind Beweise, daß man sich geirrt hat und es fühlt.

4 [79]

Alle bisherigen Moralen gehen von dern Vorurtheil aus, daß man wüßte, wo zu der Mensch da sei: also sein Ideal kenne. Jetzt weiß man, daß es viele Ideale giebt: die Consequenz ist der Individualismus des Ideals, die Leugnung einer allgemeinen Moral.

4 [80]

Viele Menschen sind nur eines sehr geringen Glücks fähig: es ist kein Einwand gegen eine Moral, daß sie diesen nicht mehr Glück geben könne, so wenig es Einwand gegen die Heilkunst ist, daß manche Menschen nicht zu kuriren und ewig kränklich sind. – Es ist die Lebensauffassung zu wählen, bei der wir unser höchstes Maaß an Glück erreichen: das immer noch sehr klein sein kann.

4 [81]

Wodurch haben sich die adligen Geschlechter so gut erhalten, zu allen Zeiten? Dadurch daß der junge Mann in der Ehe nicht vor allem Geschlechtsbefriedigung suchte, und in Folge dessen sich hierin berathen ließ und nicht von der amour passion oder amour physique sich fortreißen ließ, unpassende Ehen zu schließen. Erstens waren es in Sachen der Liebe erfahrene junge Männer, welche sich verheirateten – und dann hatten sie an Repräsentation usw. zu denken, kurz mehr an ihr Geschlecht als an sich zu denken. Ich bin dafür, moralische Aristokratien wieder zu züchten und außerhalb der Ehe etwas Freiheit zu geben.

4 [82]

Es giebt keine Handlung noch Denkweise, die an sich sittlich wären, ohne Rücksicht auf das, was in einem Land und Volk als Sitte gilt. Wohl wäre es möglich daß ein Philosoph die Menschen eines Landes überredet, es anders zu empfinden: also an das "An sich Sittliche" zu glauben. Damit ist dann diese Denkweise (der Glaube an das Sittliche) zur Sitte geworden: d. h. ein Irrthum gilt hier als sittliches Gebot.

4 [83]

List Betrug Wortbruch Mord Grausamkeit, in Hinsicht auf die Feinde der Gemeinde – gilt als tugendhaft: ein Behandeln der Feinde als auszeichnend und ruhmgebend.

4 [84]

Bei der Annahme einer ewigen Existenz des Individuums ist der Individualismus extrem, er kennt keine Rücksicht auf bestehende Gemeinwesen, es ist jede Rücksicht unsinnig im Verhältniß zu einer Ewigkeit: kein Compromiß, keine Milde, nicht eine Linie breit ist nachzugeben, wenn es sich darum handelt. Hier ist der Fanatismus des Individuums auf seiner Höhe: dagegen wir mit unseren 70 Jahren dürfen milder sein. Was liegt zuletzt daran ob einer 70 Jahre leidet!

4 [85]

Ein Ideal aufstellen, voranstellen, als Einleitung? Ungestört in ewiger Ruhe, durch sein Vorbild, nicht durch aktives Eingreifen wirken, sich sichtbar werden lassen, nicht lang leben wollen, sondern individuell, durch keine Tugend sich auszeichnen, in keiner Sitte heimisch, ohne Vaterland, leicht angeknüpft an die Bedürfnisse, nicht nörgelnd und verunglimpfend, aber tapfer allerwegen, im Erkennen Anerkennen, und daher versöhnend in der That, ohne Absicht, den großen Worten und dem sittlichen Richten abgeneigt, nicht böse sein über die, welchen manche dieser Einsichten zu häßlich sind und deshalb nicht mit uns weitergehen wollen – vielleicht sind sie feinere Naturen, und Tapferkeit ist keine Tugend, sondern Sache des Temperaments –

4 [86]

Die Historie ist als reaktionäre Macht nach der Revolution aufgetreten (s. St. Mill über Coleridge). Und jetzt? –

4 [87]

Die Naturen welche sich am kräftigsten gegen die Moral gesträubt haben (wohl die Individuen!) müssen noch ihre Ehre haben. Bis jetzt sieht man den Fortschritt nur auf der anderen Seite.

4 [88]

Diese Betrachtung ist nicht für – geschrieben. Herzliches und feines Theilnehmen an den menschlichen Dingen, ohne aufdringlich durch Rathgeben zu werden.

4 [89]

Jene Wirkung der "Erlösung" übte eine Einbildung: genug daß eine Vorstellung im Stande ist, dem Menschen den Sieg über sein anhängendes unvermeidliches Wesen zu geben und ihn triumphiren zu lassen.

4 [90]

Man könnte die Menschen darnach abschätzen, wie hoch das Glück eines jeden ist, das ihm überhaupt möglich ist: wiederum, wie viel Glück er mitzutheilen vermag, wie viel Unbehagen und Unglück usw.

4 [91]

Beschäftigt wollen die Menschen noch mehr als glücklich sein. Also ist jeder, der sie beschäftigt, ein Wohlthäter. Die Flucht vor der Langeweile! Im Orient findet sich die Weisheit mit der Langeweile ab, das Kunststück, das den Europäern so schwer ist, daß sie die Weisheit als unmöglich verdächtigen.

4 [92]

Die Wirkung der Musik auf hysterische Personen männlichen und weiblichen Geschlechts kann ungeheuer sein und ganz unabhängig vom Verdienst des Componisten. Elementarische Wirkungen treten häufig bei Wagn<erischer> Musik auf. Die Grenzen der reinen Elemente der M<usik> sind noch nicht erkannt (Bergluft Schönheit

4 [93]

Das Gewissen, insofern es wesentlich unlustvolle Empfindungen erzeugt hat, gehört unter die Krankheiten der Menschheit.

4 [94]

Man beachte wie z. B. ein plötzlicher Regenguß auf verschiedene Personen wirkt: jeder legt das Ereigniß nach Stimmung und Temperament aus. Unsere Schmerz empfindungen scheinen nur Schwächen des Organism zu sein: dieselben Reize führen zur Lust. Es giebt nichts an sich Unglückliches.

4 [95]

"Das Auge kann nie durch das Sehen hervorgerufen worden sein" Semper. NB. "Nie wird eine Farbe durch Zuchtwahl oder Anpassung hervorgebracht, sondern immer nur eine Färbung, Anordnung der Farben" Semper

4 [96]

Es herrscht immer noch die Neigung alle hochgeschätzten Dinge und Zustände auf eine noch höhere Ursache zurückzuführen: so daß diese Welt hoher Dinge gleichsam ein Abglanz einer noch höheren sei. Es scheint also die Verminderung einer Eigenschaft den Menschen natürlicher als eine Steigerung: "das Vollkommene kann nicht werden, sondern nur vergehen" ist eine uralte Hypothese. Erinnerung an eine frühere bessere Welt (Präexistenz) oder Paradies im Anfange oder Gott als Ursache der Dinge – alles setzt die gleiche Hypothese voraus. "Der werdende Gott" ist der mythologische Ausdruck für die wahren Vorgänge.

4 [97]

"Gehirn im Fuße", Mollusken theilweise: Ohr im Schwanze, Crustaceen

4 [98]

Die Entsinnlichung in der Moral und das Lob der Heiligkeit ist ein niedrigerer Grad als die hellenische Forderung der Mäßigkeit. Orientalische Wüstheit weiß sich nicht anders zu helfen. Die Verneinung der Welt ist die Consequenz des Dünkels solcher Naturen. – Statt zu herrschen, lieber verzichten, so daß es nichts mehr zu beherrschen giebt: Mittel der äußersten Gefahr.

4 [99]

Es ist vollkommen falsch, daß die großen Geister wesentlich gleich über das Dasein und den Menschen geurtheilt hätten: diese Gleichheit nachzuweisen geht <man> vom Glauben aus, daß die Genie's dem Wesen der Welt näher ständen und insofern auch richtiger d. h. gleichmäßiger sagen müßten, was sie sei. Aber die Genie's haben individuelle Ansichten gehabt – und sich in die Dinge hineingetragen: weshalb sie sich tief widersprechen und immer alle andern vernichten zu müssen glauben.

4 [100]

Es giebt so viele Moralen jetzt: der Einzelne wählt unwillkürlich die, welche ihm am nützlichsten ist (er hat nämlich Furcht vor sich selber) d. h. er muß den Irrthum umarmen, im Grade darnach, daß er ein gefährliches Thier ist. – Ehemals wo die Leute Einer Rasse gleich waren, genügte auch Eine Moral.

Jetzt sind die Menschen sich sehr ungleich! Es giebt mehr Individuen als je, man lasse sich nicht täuschen! Nur so malerisch und grob sichtbar sind sie nicht, wie früher.

4 [101]

Da es mehr als je individuelle Maßstäbe giebt, so ist wohl auch die Ungerechtigkeit größer als je. – Der historische Sinn eine moral<ische> Gegenkraft. Das Wehethun durch Urtheile ist jetzt die größte Bestialität, die noch existirt. Es giebt keine allgemeine Moral mehr; wenigstens wird sie immer schwächer, ebenso der Glaube daran unter den Denkern.

Es giebt genug Menschen, welche ohne Moral leben, weil sie dieselbe nicht mehr nöthig haben (wie solche die ohne Arzt Medizin peinliche Prozeduren leben, weil sie gesund sind und entsprechende Gewohnheiten haben) Moralisch bewußt leben – setzt Fehlerhaftigkeit voraus und deren Druck und Folgen d. h. wir haben unsere Existenzbedingungen noch nicht gefunden und suchen sie noch.

Für das Individuum, so weit es kein Denker ist, hat Moral ein begrenztes Interesse: so lange es ihm nicht wohl, nicht regelmäßig zu Muthe ist, denkt er nach den Ursachen und sucht moralische, da andere ihm als Schlechtgelehrten unbekannt sind. Die Fehler seiner Constitution seines Charakters in die Moralität sich schieben, an seiner Krankheit schuld sein wollen – ist moralisch!

4 [102]

Wenn einer seine Sitten festgestellt hat, mit denen er seine Umgebung erträgt und die Umgebung ihn erträgt, so ist er sittlich. So lange er schwankt und niemand sich auf ihn verlassen kann, ist er es noch nicht. Der "Sittliche" wird "berechenbar" z. B. als Parteimann: daher viel Haß gegen den Unsittlichen.

4 [103]

Der Trost Luthers als die Sache nicht vorwärts gieng, "Untergang der Welt". Die Nihilisten hatten Schopenhauer als Philosophen. Alle die extrem Aktiven wollen die Welt in Stücke gehen lassen, wenn sie ihren Willen als unmöglich erkennen (Wotan)

4 [104]

Wir haben nur gegen uns selber wahr zu sein: gegen Andere es zu sein ist Aufopferung, und nur in dem Falle, daß dazu der natürliche Hang in uns ist, ist auch die Wahrheit gegen Andere ein Gebot der Natur, das befriedigt werden will. – Gegen uns selber ist es Selbsterhaltung z. B. unsere physischen Kräfte müssen wir uns richtig vorstellen. Uns im Geistigen einen Sprung zumuthen, zu dem unsere Beine nicht reichen, ebenso im Moralischen ist Anlaß zu Beinbrüchen und den schwersten Schmerzen; unsere Moralität hat das Maaß ihrer Idealität an dem Maaße der uns möglichen Kraft, vorausgesetzt daß wir diese steigern können. Alles Wachsthum muß allmählich, nicht sprungweise geschehen. – Wie viel Elend ist in der Welt, dadurch daß man an sich den Maaßstab einer unmöglichen Moralität legt! Man schämt sich doch nicht, wenn man nicht wie ein Läufer zu laufen vermag: aber in moralischen Dingen sind wir so kindisch, das Fehlen der natürlichen Bedingungen sich zur Schuld und Schande anzurechnen! Als ob wir unser Werk wären! Dies ist auch wirklich die Hypothese, auf der jenes Schamgefühl wuchs.

4 [105]

Die höheren Menschen unterscheiden sich von den niederen wie die höheren Thiere von den niederen, durch die Complicirtheit ihrer Organe und Menge derselben. Sich nach Einfachheit sehnen – d. h. es leichter haben wollen!

Jetzt wird immer noch, namentlich von Künstlern, der Halbbarbar verherrlicht: Kraft Gefühl Unwissenheit natürliche Gebärde und Instinkte – dies ist der malerische Standpunkt "diese Gattung nimmt sich gut aus" – jetzt ist die Gefahr der Erkrankung und partiellen Verkümmerung so vieler Organe groß.

4 [106]

Jetzt gefällt es, sich hetzen zu lassen und zu hetzen: selbst Künstler wählen den Geist der Unzufriedenheit als die Muse, welche sie begeistert. Sieht man sie dann in ihren Erholungen, so sind sie ganz leer, sie haben keine Kraft daran zu verschwenden und ziehen das Fadeste vor (selbst bedeutende Gelehrte). Es wäre sehr unbillig, darnach die Zeit zu beurtheilen: sie giebt im Vergnügen und der Erholung nicht sich ganz, geschweige denn ihren besten Theil zu erkennen. So sei man tolerant gegen ihre Kunst, und bedaure die höheren Künstler, denen die Zeit nicht entspricht, wahrlich nicht, weil sie ihrer unwürdig wäre! Das beurtheilt man als Jüngling falsch.

4 [107]

Die Moralisten nahmen die vom Volke verehrte Moral als heilig und wahr und suchten sie nur zu systematisiren, d.h. sie hiengen ihr das Kleid der Wissenschaft um. Den Ursprung zu untersuchen hat kein Moralist gewagt: der rührte an Gott und dessen Boten! Man nahm an, daß die Moral im Munde des Volks entstellt lebe, daß es ihrer "Reinigung" bedürfe. –

4 [108]

Man ehrt die welche im Denken den Bann der Sitte durchbrachen. Aber die welche es durch die That thaten, verunglimpft man und schiebt ihnen schlimme Motive unter. Dies ist unbillig, mindestens sollte man den Freidenkern dieselben schlimmen Motive unterschieben. – Daß im Verbrecher sehr viel Muth und Originalität des Geistes, Unabhängigkeit bewiesen werden könne, wird verhehlt. Der "Tyrann" ist vielfach ein freierer tapferer Geist, sein Wesen nicht schlechter als das der Furchtsamen, oft besser, weil ehrlicher. Man beantwortet jetzt allgemein die Frage ob die russischen Nihilisten unmoralischer seien als die russischen Beamten zu Gunsten der Nihilisten. – Es sind zahllose Sitten den Angriffen der Freidenker und Freithäter zum Opfer gefallen: unsere jetzige individuelle Denkweise ist das Resultat von lauter Verbrechen gegen die Sittlichkeit. Jeder der das Bestehende angriff, galt als „schlechter Mensch"; die Geschichte handelt nur von diesen schlechten Menschen!

4 [109]

Die Freithäter sind im Nachtheil gegen die Freidenker, weil ihre egoistischen Motive sichtbarer werden als die jener. Aber jene fanden die Befriedigung ihrer egoistischen Motive oft schon im Aussprechen des Verbotenen: so ist das Unmoralische harmloser und deshalb beschimpft man es nicht. In Hinsicht auf die Quelle ist alles Eins: Napoleon und Christus.

4 [110]

Die Griechien litten nach Aristoteles öfter an einem Übermaaß von Mitleid: daher die nothwendige Entladung durch die Tragödie. Wir sehen, wie verdächtig diese Neigung ihnen vorkam. Sie ist staatsgefährlich, nimmt die nöthige Härte und Straffheit, macht, daß Heroen sich gebärden wie heulende Weiber usw. – In jetziger Zeit will man das Mitleid durch die Tragödie stärken – wohl bekomm's! Aber man merkt nichts davon, daß es da ist, vorher und nachher.

4 [111]

Entweder man gehorcht als Sklave und Schwacher, oder man befiehlt mit: letzteres der Ausweg aller stolzen Naturen, welche jede Pflicht sich auslegen als Gesetz, das sie sich und den Anderen auferlegen: ob es gleich von außen her ihnen auferlegt wird. Dies ist die große Vornehmthuerei in der Moralität – "ich soll, was ich will" ist die Formel.

4 [112]

Seit Rousseau hat man die Unmittelbarkeit des Gefühls verherrlicht, sich jemandem an die Brust werfen, seinen Zorn wie seinen Speichel auswerfen usw. Sonderbar, daß alle großen Weisen der Moral das gerade Gegentheil verlangt haben! Zurückhaltung des Gefühls – und daher die Würde im Benehmen des sittlichen Menschen. Es giebt reizende vollkommene Seelen, denen es wohl ansteht, weil sie kein Übermaaß in sich haben: aber das Gesetz nach einem Mozart machen, heißt doch – – – ; wir sind keine Singvögelchen. Auch gute und respektable Gefühle, maaßlos und unmittelbar geäußert, erregen Widerwillen gegen sich: so hat wohl jeder einmal das Mitleiden, das sich nicht in Schranken hält, zu allen Teufeln gewünscht.

4 [113]

Ist es nöthig die sittlichen Worte beizubehalten? Was haben die Ausdrücke der Alchymie in der Chemie zu suchen?

4 [114]

1) Vorurtheil: die Folgen die man einer geheiligten moralischen Vorschrift nachrühmt, würden auch die Folgen anderer Vorschriften sein: aber man meint, diese Eine allein, habe das Privilegium 2) die Folgen sind that<sächlich> gar nicht die Folgen sondern ein häufiges post hoc 3) die Folgen sind in Wahrheit die Folgen einer Begleiterscheinung die man übersieht usw.

4 [115]

Da jedes Ding bei längerem Bestehen etwas Würde haben will, so sehen wir auch die Wagnerische Kunst nach allem greifen, was im Stande ist, Würde zu verleihen, Christenthum, Fürsten- und Adelsgunst usw., gar zu gern möchte sie einen Heiligenschein, aber wo sind die Mächte, welche solche zu vergeben hätten!

4 [116]

Dinge, die man dauernd lieb haben will, muß man ein wenig unter ihrem wahren Werthe ansetzen: man darf nie ganz wissen, was sie sind. Wehe dem, der übertreibt! Er verliert jedes Kleinod: falls er nämlich aus der Stimmung der Übertreibung in ihren Gegensatz geräth.

4 [117]

Im Sittlichen muß man nicht an seine äußersten Grenzen gehen: sonst geräth man in den Ekel am Sittlichen.

4 [118]

Kenntniß seiner Kräfte, Gesetz ihrer Ordnung und Auslösung, die Vertheilung derselben, ohne die einen zu sehr, die andern zu wenig zu gebrauchen, das Zeichen der Unlust als unfehlbarer Wink daß ein Fehler, ein Exceß usw. begangen ist – alles in Hinsicht auf ein Ziel: wie schwer ist diese individuelle Wissenschaft! Und in Ermangelung derselben greift man nach dem Volksaberglauben der Moral: weil hier die Recepte schon präparirt sind. Aber man sehe auf den Erfolg – wir sind das Opfer dieser abergläubischen Medizin; das Individuum nicht, sondern die Gemeinde sollte durch ihre Recepte erhalten bleiben!

4 [119]

Was die Werthschätzungen ursprünglicher Völker ausmacht, läßt sich durch keine Phantasie errathen, man muß es erfahren. Bestimmte Gebräuche und der damit verbundene Gedankenkreis sind nicht zu construiren; wenn man von den "natürlichen" Bedürfnissen und Begehrungen der Menschen redet, so denkt man sich die Sache zu einfach: die intellektuellen Bedürfnisse z. B. sind höchst absonderlich befriedigt worden.

4 [120]

Oft kommen 2 Menschen zusammen, deren Sittlichkeit so schlecht zusammen paßt, daß der eine da ein vacuum hat, wo der andere seine Kraft und Tugend fühlt; sie nennen sich gegenseitig "unsittlich".

4 [121]

Das, was über die Nothdurft hinausgeht, höher zu achten, das Entbehrliche, den Putz usw. ein uralter Trieb: eine gewisse Verachtung gegen das, was den Organismus und das Leben constituirt. Kalon Griechen, honestum Römer – sehr sonderbar! das Außerordentliche? Die Moral wollte den menschlichen Handlungen eine Bedeutung geben, einen Putz, einen fremden Reiz, ebenso alle Beziehungen zur Gottheit – ein intellektueller Trieb äußert sich so, das Leben soll interessant aufgefaßt werden, und ehe man die Wissenschaft hatte, welche gerade alles was zur Nothdurft gehört, im höchsten Maaße interessant machte, glaubte man sich über die Nothdurft erheben zu müssen, um den Menschen interessant zu finden. Deshalb die Annahme geheimnißvoller dämonischer Gewalten in ihm usw. (Namentlich wo die Befriedigung der natürlichen Triebe leicht ist, bei großer Fruchtbarkeit des Bodens usw. trat schnell Geringschätzung gegen das "Natürliche" ein)

4 [122]

Das Regelmäßige in der Natur, das ist das Berechenbare, dem kann man sich fügen, so daß es unschädlich oder gar nützlich verläuft: so hat man überall wo Regel waltet, an gute wohlthätige Mächte geglaubt (durch eine Verwechslung). Das Böse, das ist das Unberechenbare z. B., der Blitz. Der Mensch ist berechenbar auf Grund der Moral, insofern gut, das fremde Volk unberechenbar, also böse, fremde Sitten werden als böse betrachtet. Die Übertragung dessen, was uns gut ist, auf das Objekt, das nun gut genannt wird –

4 [123]

Das Gefühl der Sympathie könnte aus dem Gegensatz entstanden sein: die Furcht und die Antipathie gegen das Fremde Andere ist das Natürliche. Nun tritt der Fall ein, wo dies Gefühl schweigt, keine Furcht: wir beginnen dies Ding zu behandeln, wie uns selber.

4 [124]

Der Mensch ist nicht der Erbe aller sympathischen Empfindungen der Thierwelt.

4 [125]

Wenn die Geschlechter sich suchen und locken, entsteht ein Gegensatz von Antipathie: hier ist die Heimat der Moral als sympathischer Regungen. "Mit einander ein Vergnügen haben" – nach einander verlangen, nicht um sich zu fressen. – Die Moralität als sympathisches Verhalten der Thiere steht im Verhältniß zum Grade ihrer Sinnlichkeit. – Unter Menschen auch? Die Religionen welche Mitleid und Liebe am höchsten geachtet haben, sind unter sehr sinnlichen Völkern entstanden, was sich schon dadurch beweist, daß sie in Bezug auf Sinnlichkeit das asketische Ideal aufstellten: ein Beweis, daß sie sich in dieser Hinsicht maaßlos und ungebändigt fühlten (Inder und Juden)

4 [126]

Die Novelle wirkt stärker als das aufgeführte Schauspiel, weil sie sich der Historie gleichstellt; während das Schauspiel die Illusion fortwährend zerstört; gesetzt ein Schauspieler bringt sie hervor, dann zerstört sie ein anderer, und jedenfalls das Theater und die Menschen um uns. Wie matt, wie wenig überzeugend ist Mozarts Don Juan gegen Merimées Don Juan! Dann sind wir beim Erzählenhören viel thätiger als beim Anschauen, letzteres erzeugt den Hang zu kritisiren viel öfter. Die Musik wirkt, als fortwährende Begleitung, unter allen Umständen abziehend und störend, auch die beste Musik langweilt zu oft.

4 [127]

Sympathie für jemand, d. h. <ihn> nicht fürchten und Freude von ihm erwarten. Und das soll unegoistisch sein!

4 [128]

Zu verstehen, wie es einem Anderen (oder einem Thiere) zu Muthe ist, ist etwas anderes als mitempfinden, das Wissen des Arztes z. B. und das der Mutter des kranken Kindes – aber die Voraussetzung? Es ist durchaus nicht ein Nachbilden dieses bestimmten Leidensgefühls, sondern ein Leiden darüber, daß jemand leidet. Dagegen bezieht sich das Wissen auf die bestimmte Art des Schmerzes. "Seinen Schmerz ihm nachfühlen" weil man ähnliches erlebt hat ist von der Art des ärztlichen Wissens um den Schmerz – ist nicht das eigentliche Mitleid, das generell mit dem Leide einer Person leidet, nicht mit dem bestimmten Leide. Das Gefühl, jemand leidet, den wir lieben der in unserer Pflege oder Macht steht, ist ganz persönlich, gewöhnlich mit dem Ärger über unsere Ohnmacht verknüpft (beim Mitleid kann die Fähigkeit, sich die Art des Leidens vorzustellen, sehr gering sein).

4 [129]

Aus Mitleid die Freunde schonen gilt als Schwäche und ist der Gegensatz der Tugend, welche Strenge gegen sich gebietet, wo es gemeinnützige Maaßregeln gilt.

4 [130]

In Indien ist das Höchste Contemplation, das Zweite Leben nach den Vorschriften der Kaste –

4 [131]

Die Leidenschaften sind "falsche Urtheile" nach den Stoikern.

4 [132]

Das erste Christenthum schätzte am höchsten die Eigenschaften, die zur Mission befähigten, um vor dem nahen Ende die Lehre bis an die Grenzen der Erde zu tragen (Ehelosigkeit und Verlassen der Güter) – Weltflucht hieß das griechisch-römische Leben nicht mitmachen, da dies durch und durch auf heidnischer Cultur ruhte. Neuplatonische Grundannahme, daß wir für ein höheres Leben zu leben hätten, die Erde erschien zu niedrig, insgleichen die Cultur. Dieser naive Stolz! "Entrückt- und Erhobensein von der Erde, Berühren des höchsten Weltgrundes im Gefühle" – eine Art platonischer Erkenntniß – alles Täuschung. Die neuplatonische Ansicht verschmolz mit dem Christenthum, es sind die religiosi, die höheren Menschen. Die Reformation verwarf diese Höheren und leugnete die Erfüllung des sittlichen religiösen Ideals, sie hatte gegen die vita contemplativa viel Bosheit und Widerspruch.

4 [133]

In der Moral fordert man die strengste Theorie von Jedermann.

4 [134]

Dem theoretischen Leben ist die Oberflächlichkeit zu eigen: das praktische ist gründlich und führt immer durch alle nöthigen Mittel zum Ziele oder anders wird das Ziel verfehlt. Dagegen erreicht der Denker oft vermeintlich sein Ziel, und bemerkt die fehlerhaften Wege und Sprünge nicht als solche: er hat zu oft und zu leicht das Gefühl des Gelingens.

4 [135]

Die Keuschheit ist nur für das Alter der Halbjünglinge und Mädchen eine Tugend: an sich eine Perversität, weil es die Gattung vernichten würde. Als individuelle Maßregel im Interesse der Anderen eine Ausnahme: wo nämlich nur die völlige Entsagung den M<enschen> retten kann.

4 [136]

Die Menschheit wird sich im neuen Jahrhundert vielleicht schon viel mehr Kraft durch Beherrschung der Natur erworben haben als sie verbrauchen kann und dann wird etwas vom Luxushaften unter die Menschen kommen, von dem wir uns jetzt keine Vorstellung machen können. Gesetzt, der Idealismus der Menschen in ihren Zielen bliebe nicht stehen, so könnten dann großartige Unternehmungen gemacht werden, wie wir sie jetzt noch nicht träumen. Allein die Luftschifffahrt wirft alle unsere Culturbegriffe über den Haufen. Statt Kunstwerke zu schaffen wird man die Natur in großem Maaße verschönern in ein paar Jahrhunderte Arbeit, um z. B. die Alpen aus ihren Ansätzen und Motiven der Schönheit zur Vollkommenheit zu erheben. Dann wird alle frühere Litteratur etwas nach der Enge kleiner Städte riechen. Ein Zeitalter der Architektur kommt, wo man wieder für Ewigkeiten wie die Römer baut. Man wird die zurückgebliebenen Völkerschaften Asiens Afrikas usw. als Arbeiter verwenden, die Bevölkerungen des Erdbodens werden anfangen sich zu mischen. Wenn man an die Vergangenheit denkt, wird man an den düsteren Trübsinn und die träge Beschaulichkeit derselben denken: Feuer und Überschuß an Kraft Folge der gesunden Art zu leben. Um eine solche Zukunft vorzubereiten, müssen wir die Trübsinnigen Griesgrämigen Nörgler Pessimisten separiren und zum Aussterben bringen. Die Politik so geordnet, daß mäßige Intellekte ihr genügen und nicht jedermann jeden Tag drum zu wissen braucht. Ebenso die wirthschaftlichen Verhältnisse ohne die Gier ob leben und sterben. Zeitalter der Feste.

4 [137]

Ich halte es für möglich, daß ein mit Thatsachen reichlich angefüllter und logisch meisterlicher Geist in einer ungeheuren Aufregung des Intellekts eine unerhörte Masse von Schlüssen hintereinander macht und so zu Resultaten kommt welche ganze Generationen von Forschern erst einholen: ein Phantasiren ist es auch – er wird es büßen müssen.

4 [138]

Bei unsern jetzigen induktiven Forschern ist der Scharfsinn und die Vorsicht geist- und erfindungsreicher (auch phantasievoller) als bei den eigentlichen Philosophen.

4 [139]

Vorurtheil, daß man, um selbständig zu urtheilen einen hohen Rang, eine Macht repräsentiren müsse, daß die Niederen auch nicht frei im Gedanken sein dürfen. "Das will räsonniren, Ansichten haben usw. usw.", – – – als man, nach seiner Meinung, zu lange über die Ansichten – – –

4 [140]

Es haben doch zu viel Jammerseelen und Kopfhänger sich fortgepflanzt!

4 [141]

Das Glück der Menschen welche sich befehlen lassen (zumal Militärs Beamte): keine völlige Verantwortung in Betreff der Richtung ihrer Thätigkeit, ein Leichtsinn und Harmlosigkeit, Forderung der strengen Pflichterfüllung (welches der schönere Name für Gehorsam ist, dessen Würde). Auch kluge Christen haben diesen Leichtsinn. Die Wissenschaft entlastet ebenso (Unverantwortlichkeit)

4 [142]

Nichts mit der Wirklichkeit zu thun haben wollen, die wahre Wirklichkeit in entrückten Gefühlen zu tasten suchen, abweichend zu sein und ohne Verständniß für das Leben: dafür hatte die frühere "Wissenschaft" ihre Formeln, es war ihr eine vernünftige Tendenz, weil sie an die Hinterwelt glaubte. Dem Dichter concedirt man es, wenn er schöne Narrheiten aus einer "möglichen" Welt erzählt: sei es daß er selber unsere Welt verachtet, er zahlt für diese Geringschätzung mit seinen Werken. Aber wehe ihm, wenn er uns verführen wollte, uns "über die Welt zu erheben" d. h. im Handeln zu schwärmen und die angenehme Lügnerei einer müssigen Stunde zur Richterin des Lebens zu machen! Darin sind wir jetzt streng.

4 [143]

Sind nicht alle "erhabenen Gefühle" jetzt verdächtig geworden, weil die falsche Schwärmerphilosophie sich so nah seit langer Zeit an sie gelegt hat, daß neben einem erhabenen Gefühl fast regelmäßig ein verdrehter Gedanke, ein überspannter Gesichtspunkt aufsteigt! Traurig. Die ästhetische Rücksicht findet noch dazu die phantastischen Gedanken reizvoller als die strengen und angepaßten, und alle Künste bestehen wie auf einem Dogma, daß die intellektuelle Verstiegenheit und die erhabenen Gefühle zusammen leben und sterben. Daß es Erhebung ohne Phantasterei giebt, bitte beweist es täglich und stündlich! Freunde!

4 [144]

Geht man einem moralischen Gefühle nach, so entdeckt man, nach dem Gange desselben durch Nachahmung, endlich eine sehr starke Werthschätzung einer Sache oder Handlung, welche ihren Grund in einer Theorie hat. Also wenn Begriffe die Menschen überreden unterjochen und sie nach ihnen etwas messen, so entsteht als praktisches Resultat ein Begehren oder ein Verabscheuen. Dies wird dann direkt weiter gepflanzt, ohne die dazu gehörige Motivation und oft hinterher mit einer untergeschobenen neuen. Wo es moralische Gefühle giebt, da ist entweder ein Begriff ins Blut übergegangen oder ein Gefühl nachgeahmt.

4 [145]

Alle halten das für moralisch, was ihren Stand aufrechterhält, die Mutter, was ihr Ansehen mehrt, der Politiker, was seiner Partei nützt, der Künstler, was seinem Kunstwerke zur Verewigung verhilft: und der Grad von Geist und Kenntnissen entscheidet, wie weit einer dies Interesse treibt, ob er die Reform der ganzen Welt, ja selbst den Untergang derselben für das sittliche Ziel erklärt, damit er so dem Interesse seines Standes usw. am höchsten nütze. Der Fürst, der Adlige haben Eine Moral mit dem Volksmann, aber ihre Mittel nennen sie gegenseitig unsittlich. "Die Sittlichkeit ist immer bei uns zu Hause"; es fragt sich, wie weit wir dies "bei uns" ausdehnen.

4 [146]

Blutschande Ehebruch Nothzucht erotische Besessenheit, nach denen nicht nur die französischen Dramatiker des romantischen Geschmacks, sondern auch die deutschen Operncomponisten griffen – Zeichen wovon? Diese Neigung zu mythischen Gräueln, woran auch die Griechen litten, ist jedenfalls ein schlechter Geschmack: schlimm genug, wenn die Philosophie dessen bedarf, um ihre Sätze glaubhaft zu machen.

4 [147]

Wir begreifen nicht, was der andere will, ärgern uns und ihn: entsetzliches Elend in der Familie ist der Grund, und dabei sind es die guten Menschen, welche am meisten sich ärgern, weil sie, was sie nicht verstehen, sich fremd, also böse fühlen.

4 [148]

Da die moralischen Urtheile und Gefühle sehr viel Elend gebracht haben, namentlich die Gewissensbisse, so ist zu fragen: ist dies durch ein größeres Gut aufgewogen? "Die Menschheit exstirt durch sie" zweifelhaft: die thierischen Gattungen existiren ohne sie. Viele Stämme haben gegen ihre Nachbarn wegen der moralischen Unterschiede solche Vernichtungswuth.

4 [149]

In den Wissenschaften der speziellsten Art redet man am bestimmtesten: jeder Begriff ist genau umgrenzt. Am unsichersten wohl in der Moral, jeder empfindet bei jedem Worte etwas Anderes und je nach Stimmung, hier ist die Erziehung vernachlässigt, alle Worte haben einen Dunstkreis bald groß bald eng werdend.

4 [150]

Ein Überdruß am Menschlichen, als ob es immer die alte Komödie sei, ist möglich, für ein erkennendes Wesen ist es eine furchtbare Beschränkung, immer als Mensch erkennen zu müssen, es kann einen intellektuellen Ekel vor dem Menschen geben.

4 [151]

Sehr ehrgeizige Menschen, denen der Zugang zu einem Gebiete der Auszeichnung verschlossen ist z. B. der Feldherrnkunst der Astronomie der Medizin, rächen sich entweder, indem sie diese Dinge und ihre Vertreter geringschätzen und bespötteln oder – sie wähnen, es gäbe für sie einen besonderen „königlichen Weg" um gleich zur Quintessenz zu kommen. Da bildet man sich hellseherische Kräfte eben ein.

4 [152]

Jenes heiße brennende Gefühl der Verzückten "dies ist die Wahrheit" dies mit Händen Greifen und mit Augen Sehen bei denen, über welche die Phantasie Herr geworden ist, das Tasten an der neuen anderen Welt – ist eine Krankheit des Intellekts, kein Weg der Erkenntniß.

4 [153]

Erster Grundsatz: erfüllbare und nahe Ideale: also individuelle!

4 [154]

"Ihr braucht nur Märtyrer zu sein, dann seid ihr eurer Sache gewiß!" – so klang die Stimme der Verführung, mit der man über die Moralforderungen triumphirte. Ein Entschluß wie zum Zahnausziehen!

4 [155]

Ohne leibliche Vollkommenheit – ist denn eine geistige oder sittliche möglich? – Welches Aufpassen beim kränklichen Zustand, wie nöthig das Durchsieben. Übrigens hat das Wieder-gesund-werden vielleicht zu viel vom Rausch der Gesundheit, als daß nicht auch seine Erkenntnisse etwas verdächtig sein sollten.

4 [156]

Der Schiffbrüchige der das Land sieht und am Land zu sein sehr schätzen würde aber nicht schlieren kann – was nützt es ihm, an's Land zu wollen? An unserem Willen liegt es nicht, wenn wir wenig erreichen, sondern an den Kräften oder dem Mangel an Übung: vor allem an Kenntniß unserer Kräfte: sonst würden wir vieles gar nicht wollen.

4 [157]

Der Geist "der Mensch im Menschen" Philo (bei dem alles wahre Sein der Wirklichkeit entrückt ist und nur die mit pneumatischer Offenbarung Begnadeten daran Antheil haben)

4 [158]

Die Juden haben das Irdische als das Schwache Vergängliche gegenüber dem Erhabenen im Himmel Thronenden empfunden – in "demüthigster Unterordnung"

Das rein geistige Sein ist eine griechische, nicht jüdische Erfindung. Aber die himmlische und die irdische Welt ist jüdisch.

Die Juden glauben nicht an unerfüllbare Ideale, die "himmlischen Tafeln" (verwandt mit den platonischen Ideen) verwirklichen sich vollständig, die himmlische Weisheit erscheint adäquat im Gesetz. Anders Plato.

4 [159]

Hellenistisch: für Offenbarung zugänglich durch Enthaltung von Fleisch und Wein. Solcher Bedingungen braucht es beim Jüdischen nicht.

4 [160]

Durch die Essener dringt Hellenistisches ein.

4 [161]

Die leibliche Auferstehung ist jüdisches Dogma. Dem Todten bleibt Fleisch und Blut. Beides nimmt am seligen Leben Theil. Ein Märtyrer hofft seine herausgerissenen Eingeweide bei der Auferstehung wieder zu erhalten (2 Macc.)

4 [162]

"Das Fleisch gelüstet wider den Geist pn<euma> – und der Geist wider das Fleisch" Paulus. "In meinem Fleisch wohnt die Sünde" und das Fleisch wirkt dann auf Geist und Herz, den inneren Menschen.

Die Verbindung von Tod und Sünde! Weil alle sterben, müssen alle gesündigt haben.

4 [163]

Nach Philo ist der erste Mensch in höchster Vollkommenheit, ganz weise: er fällt, indem er der geschlechtlichen Begierde nachgiebt, ganz freiwillig.

4 [164]

Jüdisch und auch paulinisch: es giebt eine religiös anhaftende Schuld ohne Wissen und Wollen

ein Zuwiderhandeln gegen das Gesetz begründet Schuld, die zu büßen ist (die Bestimmungen über levitisch Reines und Unreines)

Nach Philo ist Sünde: die bewußte Hingebung des nouz an die böse Qualität des Körperlichen – das ist griechisch.

"Das Fleisch muß entfernt werden" Paulus. Der Widerstand des inneren Menschen bloß mit Kenntniß des Gesetzes und Freude an demselben reicht nicht aus, völlig ohnmächtig. (Er hat also nicht gemeint, daß Wissen und Werthschätzung ausreichen zum effektiven Willen.)

Beweis für Paulus war die Erscheinung bei Damascus: der Lichtglanz Gottes auf dem Angesichte Jesu.

Er hat den sinnlichen sündigen Leib des Menschen angenommen; das menschliche Sündenfleisch. Es ist amaotia: es beherrscht vor dem Erscheinen des Gesetzes das pneuma an<J owpon> , ohne dessen Wissen, nach dem Erscheinen des Gesetzes mit Wissen desselben. und erzeugt die paoabaoiz. In Christo aber ein pneuma Qeon, der die amaotia in einem gefesselten Zustande hielt. Indem Gott die saox Christi tödtete, vernichtete, hat er die amaotiazum Tode verurtheilt, vernichtet. Die Besiegung der saox nicht durch das Erdenleben Christi sondern durch seinen Leibestod. – Durch die Taufe ist, was an Chrito geschehen, am Getauften mitgeschehen. Die Wirkung sofort. Wenn seine saox gestorben ist, so ist er frei von Sünde. Die radikale Extirpation der Sünde! Man ist eins geworden mit Christo, mit dem "lebenerzeugenden Geiste" – ergo unsterblich, und das Auferstehen wie Christus auferstanden ist.

Der Mensch, der von pneuma erfüllt ist, ist gerecht und heilig. Und Luther? Der Fleischesleib ist nicht fort – aber todt.

Der Umstand daß Paulus ermahnt, beweist, daß die saox dem Untergang Preis gegeben ist. Das Absterben der saox nicht zu unterbrechen.

Therapeuten, Essener, später die Ebioniten überlassen die Abtödtung der Sinnlichkeit dem Einzelnen.

Für die Spannezeit bis zur Parusie wird der Christ die saox an sich haben.

Paulus kennt 1) keine Auferstehung des Fleisches 2) keine Auferstehung der Unerlösten.

4 [165]

Da das Sünden- und Verworfenheitsgefühl eine Einbildung ist, so giebt es auch Gegenmittel, mit denen es aufgehoben werden kann. Das beständige Leben in einer Idee des Gegentheils, mit Gott eins geworden zu sein. Überhaupt jede starke missionirende todbereite märtyrerhafte Existenz ist ein Mittel gegen moralische Desperation: d. h. Wiederherstellung eines ungeheuren Hochmuthes, der Sprung von der Tiefe in die Höhe. "Gerecht und heilig" gar nicht oder mit Einem Schlage! An Stelle des Besserwerders das Wunder der Vollkommenheit.

4 [166]

Alle religiös produktiven Naturen haben Gesichte und Entzückungen gehabt. Das beweist gegen die Gesundheit des Religiösen.

4 [167]

Die kosmische Stellung Jesu, der Erlöser der Natur. Sehnsucht nach Vollendung, oft ohne Ausdruck zu finden, Seufzer. Der Rest der Sarx wird ganz entfernt, wir werden "Söhne Gottes" – bei der Auferstehung.

4 [168]

Da die Moral eine Summe von Vorurtheilen ist, so kann sie durch ein Vorurtheil aufgehoben werden.

4 [169]

Das Gefühl gänzlich gut geworden zu sein ist ebensosehr herstellbar als das, gänzlich verworfen zu sein. Es handelt sich um eine Ausdeutung, eine Anpassung.

4 [170]

Der Fanatismus ein Mittel gegen den Ekel an sich. Was hat Paulus auf dem Gewissen? Die saox hat ihn verleitet zu Unreinheit Bilderdienst und Zauberei (jaomaceia) Feindschaft und Mord, Trunkenheit und Gelage (cwmoi) Alles Mittel zum Gefühl der Macht.

4 [171]

Wenn dem Gesetze durch Christi Tod genug gethan, kann man sich von ihm emancipirt fühlen. Das gottfeindliche Princip ist vernichtet, indem der Fleischesleib Christi untergeht: nicht nur ist eine Schuld abgetragen – sondern "die Schuld" an sich aus der Welt verdrängt.

4 [172]

In den vier Hauptbriefen Gedankenarbeit im Kampfe mit dem Judaismus.

4 [173]

Wir würden jetzt die Neigung zu religiösen Verzückungen mit Abführmitteln behandeln.

4 [174]

Wodurch wird im Menschen das Gefühl unbändiger Machterhöhung hervorgebracht? Bramanen: sich mächtige Götter vorstellen und sich Mittel ausdenken, sie in seine Gewalt zu bekommen und als Werkzeuge zu behandeln.

(oder: sich große Menschen in's Gigantische vergrößern und dieselben als Vorstufen für sich selber hinstellen.

4 [175]

Das Gefühl der Macht? Die Askese als Mittel dazu (Vereinigung mit Gott, Verkehr mit Todten usw.) Das der-Welt-absterben ist schon Hochmuth.

4 [176]

Das Gefühl der Macht, insofern man zu einem starken Häuptling Familie Gemeinde Staat gehört – fundamental für Stiftung moralischer Verbindlichkeit; wir ordnen uns unter, damit wir das Gefühl der Macht haben. – Wer dem Vaterland abgeneigt ist, hat doch in Augenblicken der Gefahr desselben sofort seinen Opfermuth wieder: er will das Gefühl der Ohnmacht nicht.

4 [177]

Übergang aus dem Gefühl der Ohnmacht in das der Macht sehr lustvoll: daher oft die tiefste Demüthigung gesucht. David, um nachher -. Vielleicht jüdisch?

Der geheime Hochmuth des Sklaven: religiös z. B. – – –

Die Abgrenzung gegen die Thiere; der Erde gegen die Sterne.

4 [178]

In Betreff eines Dramas wollen die Deutschen, daß man begreife, was geschieht, die Franzosen, daß man begreife, warum es geschieht; sie sind vernünftiger, erstere bleiben bei der Anschauung und der Freude stehen.

4 [179]

Die erste Wirkung des Glückes ist das Gefühl der Macht: diese will sich äußern 1) gegen uns selber 2) gegen Menschen 3) gegen Vorstellungen 4) gegen eingebildete Wesen und Dinge. Vernichten, verspotten, beschenken.

4 [180]

Die Herrschaft über die Natur, die fixe Idee des 20. Jahrhunderts ist Bramanismus, indogermanisch.

4 [181]

Schauspieler-Genie. Ist es denkbar, daß jemand solchen Unsinn aufstellen kann? – Ich selber habe ihn einstmals aufgestellt. Dulce est desipere in loco. – Sed non hic locus.

4 [182]

Man soll doch die Behauptung, daß Moral Aberglaube ist, nicht damit zu widerlegen glauben, daß man sagt, Moral sei unsäglich nützlich und namentlich gewesen: also ein sehr nützlicher, vielleicht unentbehrlicher Aberglaube.

4 [183]

Das Gefühl der Macht heute auf Seiten der Wissenschaft: nicht der Einzelne für sich ("Philosoph") sondern als Glied. Die Fürsten und Völker dienen ihr. – Bramanenthum ist vielleicht zu übertreffen. Was sind die Mittel, die Unabhängigkeit des Einzelnen zu steigern? Das Gefühl der höheren Wesen?

4 [184]

Zu allen Zeiten haben die Menschen darnach gestrebt, zum Gefühl der Macht zu kommen: die Mittel dazu, welche sie erfanden, sind fast die Geschichte der Cultur. Jetzt sind viele dieser Mittel nicht mehr möglich oder nicht mehr räthlich.

4 [185]

Er fühlt sich, sie fühlt sich, es fühlt sich – Mann Frau und Kind.

4 [186]

"Nicht die indischen Götter sind die Geber der Gaben: aus den heiligen Handlungen, aus den Liedern, ja aus deren Metren geht aller Reichthum und alles irdische Glück hervor." W<ackernagel>

4 [187]

Die Gegengabe gegen die moralische Einschränkung des Individuums ist die Steigerung seines Gefühls von Macht (als Mitglied einer Gemeinde, später einer höheren geistigen Menschheit, eines Ordens) Vermöge der moralischen Handlung kann man zaubern. Untergehen mit dem Gefühl der Macht – ein besonderer Kunstgriff, im Sterben siegen ("die Materie abschütteln" usw.)

4 [188]

Die unpersönliche Geistigkeit Gottes ist griechisch, die Juden hatten den Gott ihres Volkes, den Bundesgott, eine Persönlichkeit. Die Christen schwanken, doch mehr jüdisch.

4 [189]

Cyprian "alle außerhalb der Kirche geübte Tugend, selbst das Martyrium ist werthlos".

"felsenfeste Überzeugungen und todesmuthige Gewißheit" soll das Christenthum der alten Welt gebracht haben.

4 [190]

Plato im Grunde Pantheist, doch in der Verkleidung des Dualisten.

4 [191]

Die Spirituosen und Narcotica als Mittel zum Gefühl der Macht. Die Berauschungen der Künste, der Feste der Schönheit der Pflicht

4 [192]

Zu wissen daß so und soviel Personen mit uns sterben als unser nöthiges Gefolge, oder als Gattinnen usw. – giebt ein Gefühl und einen Ausdruck von Macht, der wieder die zukünftigen Opfer stolz macht, als einem so Mächtigen unterthan.

4 [193]

Die Kunst der Schmeichelei vor Gott Fürsten Frauen hat im Werthe eingebüßt; man wünscht jetzt die freie Gefolgschaft oder die widerwillige wird verachtet die Knechtsgebärde: es ist so ästhetischer.

4 [194]

Je nachdem das Gefühl der Schwäche (Furcht) oder das der Macht überwiegen, entstehen pessimistische oder optimistische Systeme.

4 [195]

Es ist das klügste, sich auf die Dinge zu beschränken, wo wir ein Gefühl der Macht erwerben können, das auch von Anderen anerkannt wird. Aber die Unkenntniß ihrer selber ist so groß : sie werden durch Furcht und Ehrfurcht auf Gebiete fortgerissen, wo sie nur durch Illusion ein Gefühl der Macht haben können. Reißt der Schleier, so giebt es Neid.

4 [196]

Von außen her sich seine Macht beweisen lassen, an die man selbst nicht glaubt – also durch Furcht in der Unterordnung unter das Urtheil der Anderen – ein Umweg eitler Menschen.

4 [197]

Die große Leidenschaft der M<acht> (Napoleon Cäsar) man muß dabei eitler erscheinen als man ist, es wollen, um das Gefühl der Macht bei den Werkzeugen (Nationen) zu befriedigen. Für mich und mein Volk Macht und nicht nur das Gefühl in uns, sondern die Macht sichtbar außer uns. Weil eine solche Macht das stärkste und erhebendste Gefühl befriedigt, geht die Geschichte hier ihren großen Gang: die Eroberer sind wirklich die Hauptsache, die inneren Vorgänge der Völker, ihre Nothdurftfragen sind Nebensache d. h. werden immer so empfunden: die Völker wollen lieber Wein als Brod.

4 [198]

Die Macht der Wissenschaft baut jetzt ein Gefühl der Macht auf, wie es Menschen noch nicht gehabt haben. Alles durch sich selber. – Was ist dann die Gefahr? Welches wäre die größte Vermessenheit, vorausgesetzt daß die Wissenschaft eben Wissenschaft bleibt?

4 [199]

Die Blase der eingebildeten Macht platzt: dies ist das Cardinalereigniß im Leben. Da zieht sich der Mench böse zurück oder zerschmettert oder verdummt. Tod der Geliebtesten, Sturz einer Dynastie, Untreue des Freundes, Unhaltbarkeit einer Philosophie, einer Partei. – Dann will man Trost d. h. eine neue Blase.

4 [200]

Gegen Jedermann ein spitzes zweischneidiges aufreizendes Wörtchen haben: das sind die, welche es gern haben, wenn die Ochsen schneller laufen und etwas nachhelfen. Aber es giebt Tollkühne, welche jedermann rasend machen wollen, um sich so der Wirkung ihrer Kraft zu freuen.

4 [201]

Die sogenannten Commensalisten fressen ihre Wohnthiere nicht, benutzen sie aber häufig als Mittel, sich die ihnen zuträgliche Nahrung zu schaffen. Hier haben wir eine Schonung zum Zweck der Ernährung.

Etwas Belebtes um sich zu haben, das nicht Furcht einflößt – könnte den Thieren ihre Jungen anempfehlen. Daß sie ernährt werden wollen, wird errathen. Das Gefühl des Eigenthums, der Herrschaft läßt die Eltern dann sehr gereizt erscheinen, wenn man sie ihnen nehmen will. Vergesellschaftung von Thieren ist wohl eine ebenso alte Sache als Pflege der Jungen.

Wie sich auf vielen Thieren Parasiten ansiedeln, welche das Thier nicht los werden kann, so auch auf Menschen – sie unterscheiden sich von den Dienern, daß sie vom Wirthe leben, wider oder mit seinem Willen, ohne ihn zu Grunde giengen: viele Frauen. Ehemals freies Leben und dazu eine Menge Organe, die dann für das Parasitenleben nicht mehr nöthig sind: sie degeneriren und werden rudimentäre Organe. Giebt es so etwas bei Menschen?

4 [202]

Diese Kriege, diese Religionen, die extremen Moralen, diese fanatischen Künste, dieser Parteihaß – das ist die große Schauspielerei der Ohnmacht, die sich selber Machtgefühl anlügt und einmal Kraft bedeuten will – immer mit dem Rückfall in den Pessimismus und den Jammer! Es fehlt euch an Macht über euch!

4 [203]

Ich empfehle Euch die Mäßigkeitsvereine, nicht als ob Ihr eine Kraft hättet, die zu mäßigen wäre, sondern damit ihr nicht zuviel geistige Getränke trinkt, die Euch das Gefühl der Macht auf Stunden und den Ekel an euch auf die Dauer geben.

4 [204]

Die Asketen erlangen ein ungeheures Gefühl von Macht; die Stoiker ebenfalls, weil sie sich immer siegreich, unerschüttert zeigen müssen. Die Epikureer nicht ; sie finden das Glück nicht im Gefühl der Macht über sich, sondern der Furchtlosigkeit in Hinsicht auf Götter und Natur; ihr Glück ist negativ (wie nach E<pikur> die Lust sein soll) Gegen die Gefühle der Macht ist das Nachgeben gegen angenehme Empfindungen fast neutral und schwach. Ihnen fehlte die Herrschaft über die Natur und das daraus strömende Gefühl der Macht. Die Erkenntniß war damals noch nicht aufbauend, sondern sie lehrte sich einordnen und still genießen.

4 [205]

Selbst aus der Geschichte der Moral soll das Gefühl der Macht strömen: unwillkürlich wird sie gefälscht, der Mensch wird herrlich gedacht, als höheres Wesen mit Eigenschaften, welche die Thiere nicht haben. Fast alle Schriften sind der Schmeichelei gegen den Menschen verdächtig.

4 [206]

Wollen wir durch die Wissenschaft den Menschen ihren Stolz wiedergeben, wie sie ihn aus Kriegen davon trugen, so muß die Wissenschaft gefährlicher werden, mehr Aufopferung bedingen: sich selber preisgeben

4 [207]

Man schuf die Götter, nicht nur aus Furcht: sondern wenn das Gefühl der Macht phantastisch wurde und sich selber in Personen entlud.

4 [208]

Der Luxus ist erniedrigend für den Mann der Erkenntniß. Er ist nicht etwa bloß entbehrlich für ihn, sondern er repräsentirt ein anderes Leben als das schlichte und heroische – und wirkt insofem auf die Phantasie lähmend und widersprechend. Wir sind nicht "zu Hause". Hang zum Luxus geht in die Tiefe eines Menschen: das überflüssige und Unmäßige für das Auge und Ohr als Wasser, worin ein solcher sich wohl fühlt.

4 [209]

Der Taschenspieler scheint neue Causalität darzustellen, die man noch nicht kennt, das erhebt! Ebenso der Dichter durch seine Bilder und Gleichnisse.

4 [210]

Von der Liebe haben nur solche Menschen so emphatisch und sehnsüchtig gesprochen, die wenig davon hatten. Allgemeine Menschenliebe wäre gar nicht auszuhalten: wenn nach uns nicht einer, nein Hunderte sich so sehnten und bemühten, wie es jetzt die Liebenden thun, da würde jeder nach den Zeiten ohne Liebe zurückverlangen. Gefühl der Macht als Basis des Helfenwollens ist schon gefährlich, weil der vorausgesetzt wird, der sich helfen läßt.

4 [211]

Wo man sich auch nur hinstellt in der Geschichte, es war immer der Augenblick einer tiefen Gährung, wo neue Begriffe überall siegten: so ist es nicht erst heute.

4 [212]

Ein Zeitalter des Überganges: so heißt unsere Zeit bei jedermann und jedermann hat damit Recht. Indessen nicht in dem Sinne als ob unserem Zeitalter dies Wort mehr zukomme als irgend einem anderen. Wo wir auch in der Geschichte Fuß fassen, überall finden wir die Gährung, die alten Begriffe im Kampf mit den Neuen; und die Menschen der feinen Witterung, die man ehemals Propheten nannte, die aber nur empfanden und sahen, was an ihnen geschah – wußten es und fürchteten sich gewöhnlich sehr. Geht es so fort, fällt alles in Stücke, nun so muß die Welt untergehen. Aber sie ist nicht untergegangen, die alten Stämme des Waldes zerbrachen, aber immer wuchs ein neuer Wald wieder und zu jeder Zeit gab es eine verwesende und eine werdende Welt.

4 [213]

Wenn doch die Künstler wüßten, was für Phantasie jede größere Erkenntniß zur Voraussetzung hat, wie viel erdacht <werden> und erblühen muß, um unbarmherzig abgeschnitten zu werden! Wir sind ein Fruchtgarten: meint ihr denn, es sei so leicht, die anmuthigsten Erfindungen und Hypothesen einfach zu annulliren? Wir sind gegen uns fast grausam, aber um der Früchte willen, die ihr und Alle haben sollt! – Goethe wußte es, was zum wissenschaftlichen Menschen gehört: er ist ein Ideal, in dem alle menschlichen Tüchtigkeiten sich vereinigen wie alle Ströme im Meer. Warum beurtheilt ihr ihn nach den Arbeitern des Geistes? Wir beurtheilen euch ja auch nicht nach euren Farbenreibern und Statisten.

4 [214]

Die Deutschen haben den betrunkenen Scharfsinn der Hegelianer erlebt, welche Goethe zu erklären vermeinten, indem sie ihn in Schemen zerschlugen, und die widerliche Beschränktheit der Anhänger Wagners, welche aus jeder Schwäche ihres Meisters ein Dogma und eine Aufforderung machten, daß hier jeder schwach sein solle.

4 [215]

Trostmittel: mehr zu ertragen haben als alle anderen, das giebt ein Gefühl von Vorrecht, von Macht.

4 [216]

Wie kann das Gefühl von Macht 1) immer mehr substantiell und nicht illusionär gemacht werden? 2) seiner Wirkungen, welche schädigen, unterdrücken, geringschätzen usw. entkleidet werden?

4 [217]

Wer „in Zungen redet", hat von dem, was er sagt, kein klares Bewußtsein.

4 [218]

Das Herz als jüdischer Begriff, unverständig verfinstert erblindet verhärtet, durch Schmeicheleien zu berücken oder das Gegentheil: seine Funktionen sind die Affekte: das Alte Testament theilt das Vermögen des nouz dem Herzen zu: nur Gott vermag in das Herz zu blicken. Das fleischerne Herz: in den Affekten sind die Eingeweide thätig. Ungefähr entspricht es dem Schopenhauerschen "Willen"

4 [219]

Paulus glaubt an einen himmlischen Leibesstoff, den der Auferstehungleib bekommt.

Paulus fühlt, daß er bei den Korinthern äußerlich sehr schüchtern erschienen ist.

"Das paradoxe Todesschicksal ist der Knoten des Räthsels, hier muß man hinter den Rathschluß Gottes kommen können.-

Zunächst stritt der Tod Christi gegen die Messianität: aber das Wunder bei Damascus bewies sie.

Befreit von der saqx, erfüllt von dem pneuma, sind wir nicht mehr unter dem Gesetz. Das Gesetz stellt die amaqtia der saqx in ihrer größten Kraft vor Augen, wodurch sie dem Menschen unerträglich wird. "Im Fleische sein" heißt "im Gesetze sein". Dem Bösen absterben ist auch dem Gesetze absterben. – Welchen tiefen Haß trägt hier Paulus ihm nach!

Paulus hat durch mehrere Acte das Gesetz als abgethan erklärt, es war ihm der wichtigste Punkt. Was jetzt ein Christ that, er hatte es nicht mehr am Gesetz zu messen, das war todt, wie die saqx. Einer dieser Acte: Christus hatte es erfüllt

Im Gefühle göttlicher Verzeihung und Gnade die eine Argumentation, die andere im Gefühle der innersten Einvergeistung in Christum durch die Taufe. "Aus dem Glauben und durch Gnade" – das Gesetz sollte die Übertretungen erst provociren.

Der Tod Christi wäre im göttlichen Rathschluß unmöglich, wenn es überhaupt eine Gesetzerfüllung geben könnte: "Käme die Gerechtigkeit durch's Gesetz, so wäre er unnütz gestorben". Sich vom Geiste treiben zu lassen, sich ihm ganz hingeben, ohne den eignen Willen zu befragen –

Das Gesetz ist die Ursache daß ich gestorben bin. Damit bin ich aber dem Gesetz abgestorben. Wenn ein Christ auch sündigt, so doch nicht mehr gegen das Gesetz, er ist außerhalb desselben "Ich lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Was ich noch im Fleische lebe, das lebe ich im Glauben an ihn. Wenn ich jetzt das Gesetz wieder aufnehmen wollte (so daß ich mich ihm unterordne), so mache ich Christum zum Mithelfer der Sünde."

Die amaqtia ist noch da, aber sie ist überwindlich: während unter dem Gesetz die amaqtia unüberwindlich ist: das sündenwirkende Gesetz ist vernichtet (und zwar die Natur nothwendigkeit der Sünde ist vernichtet)

Die Sünde bald als Schwäche und Unvollkommenheit gegen den heiligen Gott – bald als selbstthätiges diabolisches Princip.

p. 204-5 steht die Schärfe der Sache.

4 [220]

Sobald etwas als wahr gilt, hört alles feinere Verstehen auf, z. B. hat die ganze Christenheit ihren Paulus wort- und satzweise zur Erbauung gelesen, aber die eigentliche Dialektik, seine widerstrebenden Gedankengänge, seine eigentliche Noth und crux: also den leidenden und kämpfenden Paulus gar nicht gefaßt: er war todt d. h. er redete inspirirt, als Mundstück Gottes.

4 [221]

Wer ausschließlich einer einzigen Gattung Musik Gehör schenkt, weiß endlich nicht mehr, wie abscheulich sie klingt: mehr noch, er weiß die feineren und guten Sachen nicht mehr von den schwachen und übertriebenen zu unterscheiden und genießt im Einzelnen weniger als man glaubt, im Ganzen freilich hat er das Gefühl der Macht – seine Musik sei die beste Musik und sei durchweg gute Musik: obschon von beiden das Gegentheil wahr ist. Wer nur sich liebt, kann aus dem schlechtesten Geschmack eine Seligkeit empfinden und daraus ein Gesetz, eine Tyrannei machen: le mauvais goût mène au crime.

4 [222]

Wenn die Don Quixoterie unseres Gefühls von Macht einmal uns zum Bewußtsein kommt und wir aufwachen – dann kriechen wir zu Kreuze wie Don Quixote, – entsetzliches Ende! Die Menschheit ist immer bedroht von dieser schmählichen Sich-selbst-Verleugnung am Ende ihres Strebens.

4 [223]

Ich will der fanatischen Selbstüberhebung der Kunst Einhalt thun, sie soll sich nicht als Heilmittel gebärden, sie ist ein Labsal für Augenblicke, von geringem Lebenswerthe: sehr gefährlich, wenn sie mehr sein will.

4 [224]

Die Griechen in alter Zeit hielten Milch und Honig für die Kost der Götter – das waren keine Weintrinkerzeiten. Den Germanengöttern war Meth der Trank, der Unsterblichkeit gab: da haben wir die Trinker. Soma der Eranier ein berauschendes Getränk, das nur im Opfer vorkommt. Also: man bringt im Gedanken die berauschenden Getränke und die Empfindungen der Unsterblichkeit und Leidlosigkeit in Verbindung. Durch den Genuß des Soma hören für den Sterblichen am Ende der Tage alle Leiden der Sterblichkeit auf, sie gehen zur Seligkeit der Götter über. – Die Entrückung bei Milch und Honig: zu denken an Ninon d'Enchos, welche eine Suppe schon berauschte.

4 [225]

Dionysisch – für uns ist der Wein etwas sehr Nüchternes. Und so suchen wir die Ursache des Dionysischen neben dem Wein und nehmen dessen Wirkung höchstens als Symbol. Umgekehrt! Die Wirkung des Weins war das Neue, was man nur wie ein neues Leben und eine neue Gottheit zu fassen wußte – man verstand andere Erscheinungen darnach symbolisch.

4 [226]

Die epileptische Drehwuth, welche die hysterischen Weiber Griechenlands befiel, wurde mit dem Weintaumel verglichen.

4 [227]

Flössen alle Thränen, die jeden Augenblick auf Erden geweint werden, zusammen, es flösse beständig ein starker Strom durch die "Wiese des Unheils"

4 [228]

Alles ist eitel und vergänglich, nichts dauernder Anstrengung werth; also genieße den Augenblick, das Unheil kommt doch – Salomo

4 [229]

Sich ein Unglück aus dem Sinn schlagen, durch heftige Arbeit, heftiges Vergnügen. Epicureer.

4 [230]

ein schlimmes Ding nicht sehen wollen, seine Existenz nicht zugestehen, es ableugnen, umdeuten, seine intellektuelle Ehre in die Leugnung setzen – ein Trostmittel.

4 [231]

Paulus ist ein Fanatiker und Ehrenwächter des Gesetzes gewesen und hat ihm genug thun wollen: aber es gieng nicht! Die saqx! Und dann das Gesetz selbst, das reizte zur Übertretung! – Er hat einen tiefen Haß ihm nachgetragen: es vernichtet zu sehen durch Chr<isti> Tod war sein Triumph, der unbesiegbare Feind dieses herrschsüchtigen Menschen war besiegt.

4 [232]

Der Wein hat anders auf die Griechen gewirkt als auf unsere alkoholisirten Gehirne. "Unvermischter Wein macht wahnsinnig" sagten sie.

4 [233]

Falsche Schlüsse: "ich schätze die Menschen gering, folglich schätzen sie mich hoch" "ich fürchte die Menschen nicht, folglich fürchten sie mich" – aber die umgekehrten Schlüsse sind ebenso falsch. Das Schließen ist hier eben das Falsche: es ist als ob ein Kind schließt: ich mache die Augen zu, folglich sehen mich die Anderen nicht.

4 [234]

Die Genies, die ihren Anhängern ein Stück Gehirn ausschneiden, gleich Hühnern, so daß diese dann halbtrunken und schwankend die Reflexbewegungen der Anbetung ausführen.

4 [235]

Die Christen verlernten das Lesen, und wie hatte sich das Alterthum, in seinen Philologen, bemüht, es zu lernen! Aber die Bibel!

4 [236]

Ehemals meinte man, wo Wein sei, da sei Gott. Wo Erhebung ist, meint man noch, sei Gott. Ach, Erhebung ist wie Wein: Alcohol und Narcose.

4 [237]

Unglück der Menschheit und Grund ihres langsamen Fortschrittes ist, daß man die erhebenden und erregenden Dinge höher geschätzt hat als die nährenden.

4 [238]

Wenn die Menschheit uns im Werthe sinkt (z. B. bei Krankheit), sinkt auch unsre Achtung vor ihren Institutionen, "der Kranke ist ein Schuft" und der Heilige auch!

4 [239]

Sagt nicht, daß die Langeweile sie plagt: sie wollen an nichts anbeißen, weil ihr Wille zur Macht nicht weiß, wie er zu sättigen ist – alles andre ist nichts dagegen.

4 [240]

Bei einem Verbrechen: die furchtbare Erniedrigung im Gefühle der Macht, aus einer unbescholtenen eine bescholtene Familie zu werden. Der Gedanke an Feinde quält nie mehr. Nicht Gewissensbisse!

4 [241]

Wesen der Kunst: eine schädliche Funktion wird ausgeübt, ohne daß sie Schaden bringt. Angenehmste Paradoxie.

4 [242]

Racoczi-Marsch der schönste der Welt.

4 [243]

Man verträgt jetzt die Wahrheit schon über jüngste Vergangenheit, weil die Generationen nicht ihre Ansichten auf die vergangenen gründen und so ihre Ehre haben – sondern sie der früheren Ansicht entgegensetzen und so ihr Gefühl von Macht von Unabhängigkeit haben.

4 [244]

Die großen Staatsmänner haben die Phantasie ihres Volkes – dadurch sind sie groß d. h. wirksam: man empfindet im Volk, daß sie das Gefühl von Macht hervorbringen, nach dem man dürstet. Das eine Volk will die Macht mit Prunk und milit<ärischem> Erfolg, ein anderes will sie mit List und diplomatischer Überlegenheit.

4 [245]

Die großen Fürsten und Eroberer sprechen die pathetische Sprache der Tugend, zum Zeichen, daß diese vermöge des Gefühls von Macht, welches sie giebt, unter den Menschen anerkannt ist. Die Unehrlichkeit jeder Politik liegt darin, daß die großen Worte, welche jeder im Munde führen muß, um sich als im Besitz der M<acht> zu kennzeichnen, nicht sich mit den wahren Zuständen und Motiven decken können.

4 [246]

Ach es ist unmöglich, mit der Sprache der Wahrheit zu wirken: Rhetorik ist nöthig, d. h. die alte Gewohnheit, nur bei gewissen Worten und Motiven bewegt zu werden, regiert und verlangt die Verkleidung der Wahrheit.

4 [247]

Ich sehe vom Interesse und von der Eitelkeit des Einzelnen und der Völker ab: aber das Bedürfniß, Macht in sich zu fühlen, verschwenderische aufopfernde hoffende trauende phantastische Empfindungen daraus quellen zu lassen – das treibt die große Politik als gewaltigstes Wasser. Man handelt da gegen sein Interesse, gegen seine Eitelkeit (denn man hat vielleicht Sklavendienste zu thun, damit die Nation das Gefühl der Macht haben kann, oder sein Leben, sein Vermögen seine Ehre in Gefahr zu bringen) (Tugend)

4 [248]

Man darf den Völkern selbst die Ruhe und das Vergnügen nicht anbieten, ohne den Lorbeerkranz darum: als ob es im Gefühle der Macht erlaubt sei, ruhig und vergnügt zu sein, sonst aber nicht: ja als ob es eine Pflicht sei, sich so zu zeigen, weil man so sich mächtig zeige.

4 [249]

Die Falschmünzerei des Machtgefühls und das Bezahlen mit falschen Münzen ist das größte Leiden der Menschheit. Die Völker werden so betrogen, weil sie einen Betrüger suchen: einen aufregenden Wein für ihre Sinne, nicht eine gute Nahrung. Die Regierungen sind das Mittel, dem Volke jenes Gefühl zu geben: Männer aus dem Volke gewählt, geben es viel weniger als glänzende Eroberer, kühne Verschwörer, alte legitime Häuser: sie müssen etwas haben, an dem man sich berauschen kann.

4 [250]

Die Kriege sind einstweilen die größten Phantasieaufregungen, nachdem alle christlichen Entzückungen und Schrecknisse matt geworden sind. Die sociale Revolution ist vielleicht etwas noch Größeres, deshalb kommt sie. Aber ihr Erfolg wird geringer sein als man denkt: die Menschheit kann so sehr viel weniger als sie will, wie es sich bei der französischen Revolution zeigte. Wenn der große Effekt und die Trunkenheit des Gewitters vorbei ist, ergiebt sich, daß man, um mehr zu können, mehr Kräfte, mehr Übung haben müßte.

4 [251]

Das Christenthum siegte, wie ein starker Wein siegt; das Alterthum betrank sich, weil es sich nicht mehr stark und froh fühlte und sich an große Aufregungen gewöhnt hatte. Die Vorstellung vom Ende der Welt nahm sich angesichts des römischen imperium höchst phantastisch und berauschend aus.

4 [252]

Eigentlich war es für Paulus consequent zu sagen, durch den Tod Chr<isti> und die Vereinigung mit ihm durch die Taufe sei die saqx todt und unser Leib somit ein anderer Leib, der himmlische Leib. Aber das war nicht möglich zu sagen, obwohl in einzelnen Moment<en> er es vielleicht glaubte: aber niemand glaubte es ihm! Wenn die Vereinigung also nicht völlig war – wodurch wird sie das? Glaube und Taufe nicht genug. Warum erst bei der Auferstehung? In Nachahmung Chr<isti>! Drei Tage Verwesung?

4 [253]

An der Herrlichkeit Glorie (Ruhm) Gottes theilhaben, Söhne Gottes werden – das ist freilich ein Ziel! Da ist keine Bescheidenheit mehr! Es darf nur ihrer nicht zu Viele geben, sonst ist die Ehre zu gering! Dafür wird gesorgt!

4 [254]

Solche Naturen wie Paulus legen sich alle Erlebnisse nach der Logik ihrer Leidenschaft zurecht. Der Erscheinung von Damasc<us> war der Gedanke vorangegangen: "gesetzt die Christen hätten Recht" – und er hatte die Vortheile geahnt für seine persönliche Pein – vor allem war es ein neuer Versuch, und der Widerwille gegen seinen bisherigen Zustand wurde zu groß. So sah er "Christus" – woher wußte er es! warum glaubte er es, wenn die Erscheinung es sagte? "Warum verfolgst du mich" – es ist nicht vernünftig, sagte sich der kluge Jude.

4 [255]

Paulus als Bekehrer der Heiden: dazu war nöthig "vom Gesetz erlöst zu sein" – stolzeste Aufgabe – - ach der Heilige Paulus! Man sieht bei ihm durch und durch.

4 [256]

Gehorchen, mehr thun als seine Pflicht ist, Lob ablehnen, stolz sein auf Integrität: deutsch. Jetzt haben wir die wüthend gewordene Eitelkeit, und leider sind einige unsrer hervorragenden Denker und Künstler vorangegangen: jeder will mehr bedeuten als sein und macht für sich "Reclame".

4 [257]

Warum macht die Cultur schwach? Carthago unterlag dem weniger cultivirten Rom, die hohe arabische Cultur unterlag usw. Weil in der Cultur die Phantasie-Befriedigung der Macht zu hoch geschätzt und zu leicht gemacht wird: so daß die wahre Macht schwach wird (Macht über sich selbst usw.)

4 [258]

Wie erhob sich das Christenthum über den Begriff eines "erfüllten Judenthums", einer jüdischen Spezialität, während die Nation dabei blieb, ihr Ideal sei noch nicht erfüllt? – Das ist eigentlich die persönliche Geschichte des Paulus, den es vor Juden und Judenchristen davon trieb – er wollte nichts mehr mit dem Gesetz zu thun haben. Daß man Christ werden könne, ohne vorher Jude zu werden – war seine Erfindung. – übrigens war es ein Irrthum: die Christen sind doch Juden geworden.

4 [259]

Soll man denn in der Welt leben, als habe man die Gebote einer höheren Geisterwelt hier durchzuführen und nichts anderes zu thun? Dies könnte geschehen aus Interesse oder aus Eitelkeit oder aus einem Gefühl der Macht (aus der Überzeugung, man gehöre zu dieser Geisterwelt und führe seine eigenen Bedürfnisse durch) Wenn man aber nicht mehr glaubt? Dann leitet uns unser Interesse, unsere Eitelkeit, unser Gefühl der Macht direkt im Handeln, nicht mehr indirekt. Denn alle alten Moralen, so heilig sie empfunden werden mögen, sind aus niederer Erkenntniß entsprungen, sie dürfen nicht mehr herrschen.

4 [260]

Unser Leben soll ein Steigen sein von Hochebene zu Hochebene, aber kein Fliegen und Fallen – letzteres ist aber das Ideal der Phantasiemenschen: höhere Augenblicke und Zeiten der Erniedrigung. Diese schlimme Verwöhnung degradirt den allergrößten Theil des eignen Lebens, zugleich lernen wir die anderen Menschen, weil wir sie nicht in der Ekstase sehen, geringschätzen: es ist ungesund, denn wir müssen die moral<isch>en ästhetischen Ausschweifungen bezahlen. Bei tiefer eingewurzeltem Übelbefinden und innerem Mißmuthe muß die Dosis Erhebung immer stärker werden, wir werden zuletzt gleichgültig gegen den Werth und nehmen mit der stärksten Erregung für lieb. Verfall. – Dieser Prozeß ist in der Geschichte jeder Kunst sichtbar: das klassische Zeitalter ist das, wo Ebbe und Fluth einen sehr zarten Unterschied machen und ein wohliges Gefühl von Kraft die Norm ist: es fehlt immer das, was die tiefsten Erschütterungen hervorbringt: deren Erzeugung gehört in die Periode des Verfalls.

4 [261]

Man glaubte an Napoleon, weil man einen Helfer und Beruhiger nöthig hatte; Paulus glaubte an Christus, weil er ein Objekt nöthig hatte, das ihn concentrirte und dadurch befriedigte. Luther bekämpfte die Geistlichkeit, weil sein ernsthafter Versuch, ihr idealer Ausdruck zu werden, ihm nicht gelungen war, ihm nun überhaupt unmöglich und bei jedermann unmöglich erschien. Er verdächtigte die ganze vita contemplativa mit seinen Erfahrungen; er glaubte an die Bibel, weil er nicht mehr an den Papst glauben wollte, er gab sie in jedermanns Hände und lehrte das allgemeine Priesterthum – er haßte eben die Priesterschaft.

4 [262]

Im tiefsten Kummer, klagend und schreiend in seiner Kammer liegen – und da kommen die Menschen herein, wie das grelle Tageslicht: Aufschreiend und sich das Gesicht verhüllend: ach die Menschen! ach die Menschen!

4 [263]

Herumgehen wie verwandelt, mit einer anderen Schwere in den Füßen, beladen mit einer Last, daß man immer niederfallen möchte, die Töne der Andern kommen wie aus einem dicken Nebel, ihre Gründe klingen wie fließende dumpfrauschende Wasser, es ist hell, und dabei die Empfindung der Nacht.

4 [264]

Einem Regiment treu und gewissenhaft gedient zu haben, welches sich zuletzt als ein böses und verhängnißvolles herausstellt – und nicht mehr zurück, nicht mehr rechts und links können – welche Bitterkeit! In der Schlinge seiner arglosen Tugend sich gefangen sehen! Gewissenhaft sein und als sicheren Lohn die Verachtung derer die das Regiment verachten d. h. der Besten ernten! Da auszuharren kann heroischer sein als die Flucht aus dem Kampf und das Preisgeben der Sicherheit und der Güter.

4 [265]

Es giebt Vorstellungen, welche die Aufgabe des Weins haben: sie erheben vergnügen ermuthigen, aber viel genossen erzeugen sie den Rausch und oft genossen ein Bedürfniß, ohne dessen Befriedigung das Leben oede und unausstehlich wird.

4 [266]

Die moralischen Vorurtheile sind immer noch unentbehrlich: es ist zu bedauern, daß man sie noch nicht entbehren kann, denn die Kräftigung, die sie geben, unterhält die Schwäche und Unkraft, gegen welche sie als Medizin eingenommen werden, am sichersten.

4 [267]

Die Ehre einer Geliebten schonen, indem man sich in einem Kreise, wo man über sie spricht, ihr fast fremd stellt, und jetzt eine Beleidigung ihrer zu hören, welche man nicht rächen darf, um ihren Ruf nicht zu vernichten – gräßlich!

4 [268]

Wer die Krallen jener schönen Katzen erfahren hat, die um die großen Künstler schwärmen, ist nicht mehr der Meinung, daß das Genie den Charakter seiner Umgebung verbessere.

4 [269]

Woran liegt es daß die gemeinen Leute, namentlich im Orient glücklich und ruhig sind? Es fehlen ihnen die falschen Phantasie-Befriedigungen, die geistigen Räusche und Ernüchterungen, sie leben geistig gleichmäßig. Nicht der Geist, sondern die Geistigkeit ist die Gefahr.

4 [270]

Was auf jetzige Deutsche wie berauschend wirkt, das sehe man aus den Themata W<agner>s; was auf frühere, aus Schlillers Themata. Man gedenke Corneilles.

4 [271]

Darf ich doch mitreden! Alle die Wahrheiten sind für mich blutige Wahrheiten – man sehe meine früheren Schriften an.

4 [272]

Der Selbstmord ausgeübt an einer ganzen Epoche unseres Lebens, unserer Erfahrungen – alles soll todt sein – und alles soll vergessen sein – alles soll anders gewesen sein als es war! Paulus.

4 [273]

Die Sprache ist undeutlich geworden, weil so große Unklarheit inder Umgrenzung der Begriffe gewüthet hat und das Bedürfniß nach fester Bestimmung nicht gepflegt ist. Also ist die Aufgabe klar.

4 [274]

Ach die Entwerthung der einfachen Freuden! Die Griechen haben damit angefangen; es sei sclavenhaft, sich mit den anagcaia genügen lassen. Fröhlich soll es zugehen! Das niedere Volk hat recht! – Luxus herrscht im Geistigen, daran kranken wir. Die Wahrheit ist: ihr lebt sklavenhaft in eurer Überarbeitung, in eurem Zwange der Gesellschaft, ihr braucht die Geistigkeit als Rausch: und sie bekommt euch schlecht.

4 [275]

Die Menschen jeder Zeit, welche Kunstbedürfnisse haben, vor allem aber eine tiefe schwere Gemüthsart, fallen dem Künstler zu, welcher tief und ernst ist, und sanktioniren ihn, indem sie ihm ihre Tugenden unterschieben: er kommt dem gern entgegen. Aber bewiesen für den Künstler ist damit nichts.

4 [276]

Die Seele erfüllt von häßlichen Erfahrungen, häß<lichen> Befürchtung<en>, da muß man freilich anderes von der Kunst verlangen, Reinigung, Durchschüttelung, Vergessen.

4 [277]

Das Nachdenken und die Erfindsamkeit in Bezug auf die elementaren Reize (in Musik und Farben usw.) gehört zum philosophischen Charakter in unserer Zeit: ebenso wie die Naturtreue der Maler. Man geht so weit man kann und ist radikal.

4 [278]

sie verachten die Form: als ob diese Musik das geringste Interesse hätte, wenn sie nicht sich auf dem Hintergrund, der gegensätzlichen Forderung der Form, aufschriebe, gegen ihn abhöbe!

4 [279]

Was ein Künstler an Meinungen Sympathien Antipathien Gewohnheiten Excessen alles nöthig hat, um die Luft sich zu schaffen, in der er seine Produktivität wachsen fühlt, das geht uns alles nichts an: so wenig uns der Boden kümmert, wenn wir Brod essen. Verlangt er freilich, daß wir alles jenes mit ihm theilen, um ganz den Genuß seiner Kunst zu haben, so ist zu antworten, daß der Genuß des größten Kunstwerkes ein einziges verschrobenes Urtheil, eine Verrückung unserer Stellung nicht aufwiegt. Das Kunstwerk gehört nicht zur Nothdurft, die reine Luft in Kopf und Charakter gehört zur Nothdurft des Lebens. Wir sollen uns von einer Kunst losmachen, die ihre Früchte zu theuer verkauft. Hält es ein Künstler nicht in der hellen guten Luft aus, muß er, um seine Phantasie zu schwängern, in die Nebelhöhlen und Vorhöllen hinein, gut: wir folgen nicht. Ebenso wenn er Haß und Neid braucht, um seinem künstlerischen Charakter strenge Treue zu wahren. Ein Künstler ist nicht Führer des Lebens – wie ich früher sagte.

4 [280]

Sich vorstellen, was ein Anderer empfindet, wenn wir dies oder jenes thun – also den Nutzen oder Nachtheil von uns zu berechnen aus dem erschlossenen Nutzen oder Nachtheil eines Anderen, zu welchem ihn unsere Handlung führt – das ist eingeübt im Thierreich in den Mitteln des Schutzes und des Angriffs. Sich die Wirkung auf einen Anderen vorstellen und um des Anderen willen etwas thun – die größte Schule! der Erkenntniß! Dazu hat am wenigsten das instinktive Mitleid geführt, sondern die Angst und deren Phantasie: und ihr Resultat ist vom Hunger (als, Ausgang des Angriffs auf ein anderes Wesen) acceptirt worden. Zu errathen, wie es einem zu Muthe ist, aus seinen Gebärden, ob er fliehen oder angreifen will usw. – ohne die höchste Anspannung des Intellekts durch die Noth hätte man das nicht gelernt. Das Mitleid kommt spät, nach dem alles gelernt ist, es spannt den Intellekt nicht an; es ist für die Kenntniß des Menschen ziemlich unproduktiv.

4 [281]

Die Liebe phantasirt über den Anderen: ihr geheimer Impuls ist, im Anderen so viel Schönes als möglich zu entdecken, oder ihn sich so schön als möglich zu denken. Die Illusion ist hier also eher ein Vortheil. Die Furcht will errathen, was der Andere ist, was er kann und will: die Illusion wäre der größte Nachtheil. Also die Erkenntniß des wahren Menschen ist viel mehr durch Furcht als durch Liebe (Mitleid) gefördert worden.

4 [282]

Ich kenne jene schwellende Brust, jenes Herablächeln auf die irdischen Dinge, jenen heißen Strom, den stolzen Tritt des Fußes, jenes glühende verachtende und hoffende Auge –

4 [283]

Wenn man bedenkt, wie viel Schmerz man übernehmen, wie viele man sich anthun muß, wie fehlerhaft es wäre, die sofortige Befriedigung zu wählen; so ergiebt sich, daß auch im Verhältniß zu anderen Menschen wir Leid machen müssen und nicht gleich befriedigen dürfen d. h. daß das Mitleid uns nicht beherrschen, sondern unsere Einsicht über den Nutzen über das Mitl<eid> herrschen müsse.

4 [284]

Die Männer gründen die Ehe, um das Gefühl der M<acht> zu haben: die Frauen auch (unabhängig sein) Aber sie irren sich beide. Die Liebe ist kein Grund zur Ehe, eher ein Gegengrund: ein tiefes Gefühl verbirgt sich.

4 [285]

Ich habe meine Schriften jederzeit mit meinem ganzen Leib und Leben geschrieben: ich weiß nicht, was "rein geistige" Probleme sind.

4 [286]

Plato wurde ungeduldig, er wollte am Ende sein. Und warum? Sein Gefühl der Macht wollte Befriedigung, jener starke politische Trieb. Die Kürze unseres Lebens verlangt, daß an einem Punkte die Höhe eintritt und das Ziel erreicht ist.- sonst blieben wir ewig in der Schwebe und das hält ma<n> nicht vor Ungeduld aus. Individuell nothwendig der Anschein der Wahrheit.

4 [287]

Plato hielt sich nicht in der Bahn des Socrates, die ersten Eindrücke des Heraclit schlugen vor, Pythagoras war das geheim neidisch angeschaute Ideal.

4 [288]

Wenn die Alten von Nothwendigkeit: anagch reden, so meinen sie das Reich, wo es beliebig zugeht (zufällig), wo nicht auf jede Ursache ihre Wirkung folgen muß. Nur der teleologische Bereich, wo die Gottheit ihre Spuren sichtbar werden läßt, macht eine Ausnahme: der Geist bringt Ordnung und Regelmäßigkeit hinein. – Umgekehrt die neueren, welche im Geist das Princip der Freiheit sehen, in der Natur den Zwang.

4 [289]

Man glaubte, wenn man die Eigenschaften eines Dinges verallgemeinerte, auf seine Ursache zu kommen: und die allgemeinste Verallgemeinerung müßte die Ursache aller Dinge sein. So sollte die Vollkommenheit an sich existiren als Wesen, aus dem dann die Tugenden und die tugendhaften Menschen zu erklären seien.

4 [290]

Ich weiß so wenig von den Ergebnissen der Wissenschaft. Und doch scheint mir bereits dies Wenige unerschöpfbar reich zu sein zur Erhellung des Dunklen und zur Beseitigung der früheren Arten zu denken und zu handeln.

4 [291]

Im hingebenden und trotzigen Gefühle der Jugend hängt man sich gerade an jene Lehrer und Männer, die unseren Kräften fremd sind und sich auf den Gebieten erheben, wo wir unsere Mängel fühlen. So triumphiren wir durch unsere Parteinahme über den Zufall, gerade in dem und jenem arm und niedrig geboren zu sein. Später halten wir uns an unsere starken Seiten, weil wir hier allein tüchtig arbeiten bauen können und Meister werden wollen.

4 [292]

Je mehr wir begreifen, wie unsere Werthschätzungen entstanden sind, um so mehr verringert sich ihr Werth und das Bedürfniß nach neuen Abschätzungen stellt sich heraus. Das Studium der ersten und letzten Fragen z. B. verliert jene centnerschwere Bedeutung, wenn wir sehen, durch welche Irrthümer wir unser gegenwärtiges Befinden und ewiges Heil daran gehängt haben.

4 [293]

Daß sich Schopenhauer's Lehre vom "Willen" so leicht einschmeichelt, liegt darin, daß wir auf das Wesentliche derselben schon eingeübt worden sind – durch den jüdischen Begriff "Herz", wie er uns durch Luther's Bibel geläufig geworden ist. Die Empfindung, daß uns etwas leicht fällt und an lauter schon vorhandene Empfindungen anknüpft, gilt uns als Zeugniß der Wahrheit.

4 [294]

Hat einer einen jener großen Aufschwünge ins höhere Reich der Geister gemacht und ihn darstellen können, da macht die Menschheit den Versuch, ihn in sich aufzusaugen: d. h. Viele versuchen in der gleichen Richtung zu fliegen und erst spät beruhigt sich die Begierde. Es sind die Moden im großen Stile, namentlich für die Ehrgeizigsten. Es war die Art, wie man ehemals reiste und Abenteuer suchte.

4 [295]

Die Wissenschaften repräsentiren die höhere Sittlichkeit im Vergleich zu den Welträthsellösern und Systembauern: die Mäßigung Gerechtigkeit Enthaltsamkeit Friedfertigkeit Geduld Tapferkeit Schlichtheit Schweigsamkeit usw.

4 [296]

Die Kunst hat auch die Phantasie-Befriedigung: und es ist diese unschuldiger und harmloser als sonst, weil die Schönheit den Maaßstab des Maaßes mitbringt: sodann weil die Musen sagen: "Wir lügen".

4 [297]

Was bestimmt uns zu so rascher Verallgemeinerung, daß wir nach Einem Zuge uns den Menschen denken und schlechterdings niemand sein Bild eines Andern unausgeführt lassen will? Die Furcht und die Gewohnheit der Furcht: "er zeigt diesen Zug – wie, wenn er immer so wäre? Nehmen wir es der Vorsichthalber an, nämlich wenn es ein gefährlicher Zug ist!"

4 [298]

Die Thiere welche durch eine entsetzliche Buntheit aller Augen auf sich ziehen, werden trotzdem sehr in Ruhe gelassen: sie haben alle eine böse Waffe, ein Gift und dergleichen – Gleichniß.

4 [299]

Wenn wir eine Handlung im Gefühle der Macht thun, so nennen wir sie moralisch und empfinden Freiheit des Willens. Handlungen im Gefühle der Ohnmacht gelten als unzurechnungsfähig. Also die begleitende Stimmung entscheidet, ob etwas in die moralische Sphäre gehört "gut oder böse" ist. Darum dieses unaufhörliche Bemühen um Mittel, diesen Zustand herbeizuführen: es ist der menschliche!

"In Macht Böses thun ist mehr werth als in Ohnmacht Gutes thun" d. h. das Gefühl der Macht wird höher geschätzt als irgend ein Nutzen und Ruf.

4 [300]

sie begeistern sich in der Jugend einmal und sind dauernd dafür dankbar, während sie den Gegenständen dieser Begeisterung ferner werden: aber an einer Kritik hindert sie die Pietät. Die Heiligsprechung nimmt zu im Verhältniß, daß die Begeisterungszeit ferner wird und wir den Objekten uns entrückt fühlen. "Was uns einmal so erhoben hat, muß die Wahrheit gewesen sein" "Jetzt stehen wir fern und können es nicht mehr prüfen: aber damals waren wir ganz darin zu Hause." Der Wahn, daß was erhebt, wahr ist und daß alles Wahre erheben muß, ist die Folge von der Verachtung des Irdischen Materiellen als des Unwirklichen und <der Verehrung> des Geistigen und des jenseits als der wahren Welt, von wo aus alle Regungen kommen, die erheben.

Wenn die Geschichte von Christus in diesem Jahrhundert sich ereignet hätte, so würde der für verrückt gelten, der das glaubte, was jetzt noch viele davon glauben.

4 [301]

Alle Griechen (v. Gorgias Plato's) glaubten, der Besitz der Macht als Tyrann sei das beneidenswertheste Glück: die Ruchlosigkeit desselben vorausgesetzt. Alle waren bemüht, das Entstehen dieses Allerglücklichsten zu verhindern und, wenn er existirte, ihn zu hindern oder zu vernichten. Das höchste Glück, an das jeder glaubte, wurde ganz in das Gefühl der Macht gelegt: dieser Zustand aber als das absolut Unsittliche (Sittenfeindliche d. h. Individuelle Egoistische) behandelt. Man verabscheute und fürchtete den Glücklichen: in seinem Übermuth schont er niemanden. Allmacht wäre in ihren Augen vollendete Rücksichtslosigkeit und Teufelei, nicht zwar Lust zu schaden, sondern Opferung Aller für die Lust des Tyrannen. Ganz so verfährt nun auch der Tyrann des Geistes, er ist der Glücklichste und Gewissenloseste. Gerecht sein ein fortwährendes Opfer, nur zu ertragen in Hinsicht auf den Ruhm bei der Gesellschaft (d. h. auf ein Gefühl der Macht): ohne diesen Erfolg gerecht sein wäre das entsetzlichste Loos. Das ist griechisch gedacht. Aber ohne gerecht zu sein (ohne diese Mühen und Aufopferungen) den Lohn der Gerechtigkeit, den Ruhm haben erschien als das größte Glück. Der praktische Ausweg (da der zum Tyrannen gewöhnlich verschlossen war) war: der Schein der Gerechtigkeit: so wie Napoleon in Worten und Handlungen den edleren Trieben seinen Beifall, ja Lohn zollte und so ihren Glanz für sich gewann. Die Gleichheit der Bürger ist das Mittel zur Verhinderung der Tyrannei, ihre gegenseitige Bewachung und Niederhaltung. Hätte man den Ring des Gyges, so wäre ein jeder ungerecht. – Offenbar haben diese Gleichen über das Glück des Tyrannen wild phantasirt, es war die Begehrlichkeit ihrer Phantasie; noch in der Tragödie ist es des großen Paradoxons, "König sein und unglücklich", "nicht einmal den Perserkönig beneiden" Ausdruck. Das Gefühl der Macht reiche aus, alle Mühsal des Regierens, alle Furcht usw. weit aufzuwiegen (Xenophon's Hiero ist die sokratische Paradoxie, daß nicht viel am Glück des Tyrannen ist!) Der Tugendhafte sei der glückliche – das klang wie verrückt : die Enthaltung war ja so lästig! Zuletzt blieb aber der Tugend stolz des Stoikers übrig, der König und Weise ist: das neue Gefühl der Macht: man kann ihn mit nichts unterwerfen, er regiert. – Jede Philosophie hatte ihre herrische Seite: die Epicureer triumphirten, den Acheron besiegt zu haben und die Todesfurcht, die Furcht vor der Natur: also Herren der Natur zu sein.

4 [302]

Der Hauptvorwurf Plato's geht nicht gegen die Sophisten sondern gegen die Dichter : sie lenken die Jünglinge, welche für Höheres angelegt sind, auf die Bahn des politischen Ehrgeizes – während er sie auf die des philosophischen Ehrgeizes bringen möchte. Die gewöhnliche Art der Befriedigung des Machtgefühls ist der tiefe Schatten, welchen Plato sieht: er will eine andere zeigen. Jetzt könnte man den Vorwurf wiederholen, aber umgekehrt. Die Philosophen befriedigen den Stolz der Jünglinge, wie die Dichter – sie bringen sie ab von der Wissenschaft.

4 [303]

Für mich erdacht und für jene aufgeschrieben, welche einer herzlichen und feinen Antheilnahme an menschlichen Dingen ebenso fähig sind, als sie sich vom zudringlichen Gelüst des Reformators und Sittenpredigers frei wissen – so mögen diese Gedanken – – –

4 [304]

Mill über den platon<ischen> Philos<ophen> der, gleich den Göttern, über die Erde erhaben ist und im Anschauen der wahren Dinge lebt, p. 67.

4 [305]

Die Rangordnung der denkenden Geister ist erst noch zu machen. Bisher hat man die Philosophen zu sehr als Künstler behandelt, ihre Gabe der Darstellung, ihre Phantasie, ihr Colorit-gebenkönnen als Argumente ihrer Genialität behandelt: aber den Grad ihrer Gerechtigkeit, Selbstbändigung außer Acht gelassen: eigentlich sie außerhalb der Moral beurtheilt. Ihre Wirkung entschied, und wer auf die empfänglichsten Menschen, solche welchen ihr Dank rhytmisch über die Lippen quoll, wirkte, galt als der größte: also der Begeisterer der Jugend!

4 [306]

Ach diese Erbärmlichen, welche glauben, die Menschheit möchte in Kürze zu klug werden, und es möchte um ihren Einfluß, ihren Ruhm geschehen sein!

4 [307]

Alle jene Wesen, die ihre Leidenschaft verschlingt Werther Tasso Tristan Isolde rufen uns zu: sei ein Mann und folge mir nicht nach! – und das rufen auch die Menschen der philosophischen Leidenschaft, welche individuell höchste Macht durch Erkennen begehren, Alchymisten sowohl wie Platoniker usw.

4 [308]

Der Impuls, sich zu opfern, gilt für gut. Er ist es an sich nicht : wie sollte Schaden thun irgend jemand anderem (in diesem Falle sich selber) an sich gut sein? Und noch dazu ist dieser Schaden ein so überflüssiger! nichts als ein Gelüst der Herrschsucht und des Trotzes gegen sich, welches sich nicht vernünftig zu befriedigen weiß.

4 [309]

"Wille zum Uriniren" d. h. es giebt einmal einen Druck und Zwang, zweitens ein Mittel, sich davon zu befreien, drittens eine Gewöhnung, es anzuwenden, nachdem es von dem Verstande an die Hand gegeben ist. An sich hat jener Zwang und Druck nichts zu thun mit jener Entladung der Harnblase: er sagt nicht "ich will" sondern nur "ich leide".

4 [310]

Schopenhauer's Lehre ist eine verkappte Teleologie, aber die eines bösen und blinden Wesens, welches Zwecke erstrebt, die nicht zu bewundern und nicht zu lieben sind. Schien es bei der früheren Teleologie, als ob der Kopf des Universums und die hellste gerechteste Einsicht in ihm die Welt und die Menschen gemacht habe – wo man nicht begreifen konnte, warum beide nicht um etwas vernünftiger und gerechter ausgefallen sind -, so scheint bei Schopenhauer der Unterleib des Universums die Wurzel der Dinge zu sein: und die Begierden desselben erfinden sich erst einen Intellekt, um sich mit seiner Hülfe bessere Nester zu bauen. Eins ist so falsch wie das Andere: aber das Letztere ist unklarer, weil es vom Wollen redet ohne von vornherein einen Intellekt anzunehmen, der sich vorstellen konnte was er will: einen solchen Willen in's Blaue (oder in's Dasein!) giebt es nicht, es ist ein leeres Wort.

4 [311]

Vita contemplativa.

Fingerzeige und Wegweiser

dahin.

4 [312]

Vom Leben der Denker.

Moralische Fragen.

4 [313]

Vademecum Vadetecum

Gedanken über die individuelle Sittlichkeit.

4 [314]

Die moralischen Vorurtheile.

Das Gefühl der Macht.

4 [315]

Die Erlösung.

Was zu verlernen ist.

4 [316]

Wie sich Räuber und große Fausthelden zu Soldaten verhalten, so Philosophen zu wissenschaftlichen Menschen. Freilich: die ersteren machte man zu Heroen, diese zu Genies!

4 [317]

In den wissenschaftlichen Menschen leben die Tugenden der Soldaten und ihre Art Heiterkeit – es fehlt ihnen die letzte Verantwortlichkeit. Sie sind streng gegen sich, gegen einander und erwarten für das Gute nicht, gelobt zu werden. Sie sind männlicher und haben eine Vorliebe für Gefahr, sie müssen sich tüchtig machen, das Leben für die Erkenntniß aufs Spiel zu setzen: sie hassen die großen Worte und sind harmlos, und etwas geckenhaft.

4 [318]

Ich werde von der größten Krankheit der M<enschen> sprechen und will zeigen, daß sie aus der Bekämpfung anderer Krankheiten entstanden ist: daß das anscheinende Heilmittel auf die Dauer Schlimmeres erzeugt hat, als das ist, was durch dasselbe beseitigt werden sollte.

Werden sich meine Leser einen einzigen Gedanken und diesen in hundert und aberhundert Wendungen und Beleuchtungen gefallen lassen? Aber es ist ein Erforderniß der allgemeinen Gesundheit, und man hat Härteres in ihrem Dienste gethan als ein Buch zu lesen, das nicht zu den unterhaltenden gehört.

4 [319]

schwärmerische mädchenhafte Empfindungen von sogenannter Seligkeit, Träume von bekehrten und geretteten Wüstlingen, Treue bis zum Sprung ins Wasser, und der Geliebte selber etwas Furchtbares Unheimliches, ein Mann unbekannter Unthaten, aber ein Übelthäter ohne Schuld, der zugleich ein verkappter Gott und Prinz ist, und alles in sehr reizvoller Natur – das sind jetzt die Erholungen des eisernen Deutschlands. – Böse Harmonien, wüthende Rhythmen und unsägliches chromatisches jammern, der Wechsel aller Tonarten als Sinnbild der Unbeständigkeit aller Dinge unter dem Monde – so wird die Wirklichkeit beschrieben.

4 [320]

Ungarische Rhapsodie II – eine so gute und zugleich so ausgelassene Musik, als ob Gott des Teufels geworden sei.

4 [321]

Die "Erkenntnisse mit Einem Schlage", die "Intuitionen" sind keine Erkenntnisse, sondern Vorstellungen von hoher Lebhaftigkeit: so wenig eine Hallucination Wahr<heit> is<t.>

4 [322]

Der Dünkel, das Gefühl der Macht ist oft ganz unschuldig und gebärdet sich wie ein Kind, ohne von gut und böse zu wissen.

4 [323]

Ehemals meinte einer Wunder wie weiter von sich aus gekommen sei, heute unterschätzt mancher umgekehrt sein eigenes Zuthun und sieht nur auf sich Gewirktes.

 

[Dokument: Mappe mit losen Blättern]

[Sommer 1880]

5 [1]

Er hat nöthig Feindseligkeiten zu säen, damit er berühmt bleibe und es noch mehr werde. Glaubt ihm nicht, er weiß ganz genau, daß er betrügt. Er braucht den Fanatism der Freunde und Feinde, um sich zu belügen.

5 [2]

Das Festhalten tiefer furchtbarer entzückender Empfindungen, das Ausschöpfen derselben aus dem Grunde –

5 [3]

Deutsche Schauspielkunst kommt nicht in Betracht, genug daß sie den Deutschen genügt. Anders steht es in Wien, wo man nie verschmäht hat, von den Italiänern und Franzosen zu lernen: ebenso wie es die österreichischen Musiker gethan haben.

5 [4]

Da ist ein großer Künstler: aber er will größer erscheinen als er ist. Und so sagt man bei jedem fünften Augenblick seiner Kunst: er ist anmaaßend, er maaßt sich etwas an, das Höheren zukommt als er ist: er ist an ihnen ein Räuber, und in Bezug auf sich selber ist er nicht ehrlich – ihm fehlt nicht die Größe, aber die Naivetät, darum wird ihm so selten wohl: die Spannung ist zu groß.

5 [5]

Begierde! Das ist nichts Einfaches, Elementares! Vielmehr ist eine Noth (Druck Drängen usw.) zu unterscheiden und ein aus Erfahrung bekanntes Mittel, dieser Noth abzuhelfen. Es entsteht so eine Verbindung von Noth und Ziel, als ob die Noth von vornherein zu jenem Ziele hinwolle. Ein solches Wollen giebt es gar nicht. "Mich verlangt zu uriniren", ist ebenso irrthümlich als "es giebt einen Willen zum Nachttopf ".

5 [6]

Es ist sehr schwer, ein hohes Selbstbewußtsein aufrecht zu erhalten, wenn man auf eigenen und neuen Pfaden geht. Wir können nicht wissen, was wir werth sind, das müssen wir den Anderen glauben; und wenn diese uns nicht richtig beurtheilen können, ebenso weil wir auf unbekannten Wegen gehen, so werden wir uns selber bedenklich: wir brauchen des frohen ermuthigenden Zurufs. Die Einsamen werden sonst düster und verlieren die Hälfte ihrer Tüchtigkeit, und ihre Werke mit ihnen.

5 [7]

O ich kenne euch, ihr geheimen Lügner, ich sehe euch stehen vor den zwei Wegen und euch für den entscheiden, der zu Entzückungen Hoffnungen Überschwänglichkeiten Betäubungen führt: ich sehe euch jene Miene annehmen als ob ihr euch selbst betrügen wollt, indem ihr euch vorredet, es sei der schwerere härtere Weg, es sei der demüthigere schmalere Weg, es sei der einsamere verrufenere Weg – ihr wißt es im Grunde eures Herzens besser, ihr seid nicht wahrhaftig genug, um so zu handeln wie ihr euch vorredet, aber immer noch wahrhaftig genug, um einen Biß in euch zu spüren. Die Frommen und die Enthusiasten sind gerade die Menschen der Gewissensbisse.

5 [8]

Und wenn es die Entscheidung über euer Leben gilt, wie könnt ihr euch jemand anvertrauen sei es ein Christus oder Plato oder Goethe! Aber euer Glauben muß so blind, so unbedingt, so fanatisch sein, damit ihr das Lied eures schlechten Gewissens übertönt, damit ihr euch vor euch selber Muth macht mit der Energie eurer Töne und Bewegungen. O ihr Schauspieler vor euch selber!

5 [9]

Gut, wir lassen uns durch die Musik traurig machen und seufzen wie eine Weide im Winde – dann aber plötzlich mit freudigem Lachen schütteln wir das alles von uns und rufen: das vermochte die Musik, Kummer und Thränen ohne Grund! Im Gefühl leben ohne Anlässe des Gehörs zu missen! Und nun hinein in die wirkliche Welt und unsere Seele ist freier und hat ihre Krankheit schon abgebüßt.

5 [10]

Gefühle zu erregen – das vermag auch die schlechte Musik. Aber daß sie solche bei Dir erzeugt, der du leicht die Musik als geistlos oder überspannt oder lügnerisch oder schauspielerisch empfindest – das macht ihren Werth aus.

5 [11]

Wir sind so dankbar für das Gute und so wenig verwöhnt, wir rechnen einen Musiker, der lauter schlechte Musik und hundert einzelne Takte ersten und schönsten Ranges gemacht hat, unter die großen Musiker.

5 [12]

Vor dem Fatum in uns stehenbleiben, wie Schopenhauer, aber deshalb nicht seine "Erkenntnisse" modeln: wir müssen mit unserem Intellekt uns über unseren Charakter in die Weite und Höhe schwingen.

5 [13]

Die Menschen hätten in sich schon die Norm, nach der sie zu handeln hätten – die ungeheure Albernheit ist bis auf heutigen Tag noch geglaubt! Das Gewissen! Es ist eine Summe von Empfindungen der Zu- und Abneigung in Bezug auf Handlungen und Meinungen, nachgeahmte Empfindungen, die wir bei Eltern und Lehrern antrafen!

5 [14]

Die Fälschung der Wahrheit zu Gunsten der Dinge, die wir lieben (z. B. auch Gott) – fluchwürdigste Unart bei erleuchteten Geistern, denen die Menschheit zu vertrauen pflegt und die so dieselbe verderben, im Wahne festhalten. Und oft war es ein so schweres Opfer für euch, sacrificium intellectus propter amorem! Ach ich selber habe es gelobt! W<agner> i<n> B<ayreuth>

5 [15]

Wenn die Musik uns eine Empfindung bringt, so muß die Vernunft doch sagen: es ist kein Grund zu diesen Empfindungen, wir werden getäuscht. Es ist wie beim Gähnen, wir gähnen mit, ohne Grund.

5 [16]

Kampf nicht gegen die Dummheiten, sondern gegen die Einbildungen: Beseitigung der eingebildeten Dinge aus den Köpfen: Don Quixote Cervantes

5 [17]

Das allgemeine Merkmal der Zeit: wir wissen, was nie eine Zeit wußte, es gab und giebt eine Unzahl verschiedener Werthschätzungen derselben Dinge, und vielleicht mehrt sich die Zahl, je mehr die selbständigen Menschen an Zahl zunehmen (ihnen entsprachen ehemals selbständige Cultur-Völker) Je verschiedener aber die Werthschätzungen, um so mehr können die Menschen gegen einander austauschen, der geistige und seelische Verkehr nimmt zu. Man lernt die Anderen verstehen, um zu wissen, was man ihnen anbieten, was man von ihnen verlangen kann. – Sorge zu tragen, daß keine maginären Dinge eingeschmuggelt werden, wodurch der Werth aller wahren gefälscht wird. Dies ist das allgemeine Interesse.

5 [18]

Empfindungen die sich auf unwirkliche Dinge beziehen, sind unberechtigt, ohne Recht zur Existenz: weil nur wirkliche Dinge ein Recht haben auf Empfindungen und durch Einmischung erdichteter, ihnen ihr Recht verkürzt wird.

5 [19]

Die Gefährlichkeit der Kunst besteht darin, uns an die eingebildeten Dinge zu gewöhnen, ja ihnen eine höhere Schätzung zuzusprechen: die Halbwahrheiten, die blendenden Einfälle vorzuziehen, kurz den Glanz und den Effekt der Dinge als Beweis ihrer Güte, ja ihrer Realität gelten zu lassen. "Zur Vollkommenheit gehört die Realität" dieser Denkfehler ist sehr oft gemacht worden. "Was wir stark bewundern, muß wahr sein"

5 [20]

Mich interessirt nichts mehr als wenn einer einen Umweg über ferne Völker und Sterne macht, um schließlich so etwas von sich zu erzählen.

5 [21]

Der Mensch kann die fürchterlichste Verachtung aushalten (wie die Juden), aber er muß das Gefühl der M<acht> irgendworin haben (so diese das Geld)

5 [22]

Der Werth der Kunst ist, daß wir hier einmal die verkehrte Welt gerade sein lassen, unwahres wahr, zur Erholung (das Unwahre wie wahr, das Ungegründete wie gegründet usw.)

5 [23]

Für K<öselitz>: Ihrer Jugend hat die Anerkennung und der Erfolg gefehlt wie das Durchmachen eines regelmäßigen Cursus von Halbjahr zu Halbjahr (?) usw. Darüber haben Sie gegen sich eine Verstreuung überhandnehmen lassen, wie als ob dieses Ich Ihnen nicht genug geboten habe. Die vornehmen jungen Leute messen hieran einen gesellschaftlichen Erfolg: dieser wird die Grundlage ihrer weiteren Unternehmungen, gleichsam das heitere Gefühl. – Sie sind vom gewöhnlichen Wege abgewichen, um auf dem rechten zu gehen: aber dabei giebt es immer Gewissensbisse – G. Sand

5 [24]

Das Christenthum gab jedem das Recht, sich unsäglich wichtig zu nehmen: er ist ein "ewiges Wesen"! ein "Genius", eine "Persönlichkeit"

5 [25]

Unsere Aufgabe ist, die richtige Empfindung d. h. die welche wahren Dingen und richtigen Urtheilen entspricht zu pflanzen. Nicht die natürlichen wiederherstellen: denn sie haben nie existirt. Man lasse sich durch das Wort "natürlich" oder "wirklich" nicht täuschen! Das bedeutet "volksthümlich" "uralt" "allgemein" – mit der Wahrheit hat es nichts zu thun. Nur auf der Grundlage richtiger Empfindungen können die Menschen sich auf die Dauer und auf alle Entfernungen hin verstehen. Dazu bedarf es neuer Werthschätzungen. Zunächst eine Kritik und Beseitigung der Alten. Das zu Verlernende ist jetzt die nächste Masse die Arbeit giebt.

5 [26]

Die Werthschätzungen auf unrichtiger Grundlage führen einen Vernichtungskrieg gegen einander, aber vielleicht arbeiten alle zusammen doch daran, gewisse Grundimaginationen zu stärken. Deshalb darf man sie sich nicht selber überlassen, sondern muß sie angreifen. NB – Die Aktion, in welche sie den Menschen ziehen, hilft dazu, falsche Maaßstäbe immer

wieder zu erzeugen – es wird der Teufel an die Wand gemalt und zuletzt wird man von den gleichen Empfindungen beherrscht, wie die, welche man bekämpft. Also: man soll nicht viel gegen sie kämpfen!

5 [27]

Schopenhauer's Lehre enthält als Kern im Innern den Satz: wir werden durch unsere Begierden gelenkt: nicht durch unsere nützlichen und vernünftigen Interessen, geschweige durch unsere Tugend und Weisheit. Die Welt ist die Begierde.

5 [28]

Das Martyrium beweist für die Wahrhaftigkeit und den Hochmuth.

5 [29]

Das Gefühl des Glückes hat die zwei Formen: das Gefühl der Macht und das Gefühl der Ergebung: letzteres ist da wie Müdigkeit und Abspannung.

5 [30]

Das Chaos unrichtiger Empfindungen, die Anarchie zeitweilig sind Übergangsstufen: für gewisse Gruppen herbeizuführen.

5 [31]

Richtige Empfindungen werden noch höchst verschieden sein: und gemeinsam ist, daß sie keine imaginären Faktoren in sich enthalten, d.h. das was gewogen wird, ist wirklich verschieden sind die Wagen, nicht das Gewogene.

5 [32]

In vielen Dingen wird man lange nicht empfinden dürfen, weil hier noch nichts Gewisses gesagt ist. Todte Punkte sich hier zu schaffen nothwendig!

5 [33]

Um von den Sünden zu erlösen, empfahl man früher den Glauben an Jesus Christus. Jetzt aber sage ich: das Mittel ist: glaubt nicht an die Sünde! Diese Kur ist radikaler. Die frühere wollte einen Wahn durch einen andern erträglich machen.

5 [34]

Nur ist es nicht so leicht, nicht zu glauben – denn wir selber haben einmal daran geglaubt und alle Welt glaubt oder scheint doch daran zu glauben. Wir müssen nicht nur umlernen, sondern unsere Schätzungen umgewöhnen – es bedarf der Übung.

5 [35]

"Nehmt meine Kunst an: denn dann habt ihr Deutschen eine Kunst, die sich neben der der anderen Nationen sehen lassen kann, "die deutsche Kunst", – zunächst zwar nur "eine d<eutsche> K<unst"> aber nun soll bewiesen werden, wie gerade diese Kunst dem Wesen der Deutschen entspricht, aus ihm gewachsen ist, Stoffe Gedanken Musik usw." – Dies ist Wagner's Art für seinen Ruhm zu sorgen: er will, eine Nation solle für ihn eintreten und ihn in sich und ihren "Ruhm" aufnehmen. Dies Spiel ist noch nie so offen gespielt worden – Grund, warum es bis jetzt nicht gelungen ist. Später, wenn Wagner todt und seine Schriften vergessen sind, ist so etwas möglich. Inzwischen bemächtigen sich die Musiker aller Völker seiner Musik und in Kürze wird es nicht mehr wie deutsche sondern wie "Musik" klingen. – Es <ist> die Musik der großen Oper.

5 [36]

Wagner bewirbt sich darum, der deutsche Künstler zu heißen, aber ach, weder die große Oper, noch sein Charakter, sind spezifisch deutsch: weshalb er bis jetzt dem Volke nicht lieb wurde, sondern einer Klasse von Vornehmen und Überbildeten – dem Kreise, dem im vorigen Jahrhundert etwa Rousseau zusagte.

5 [37]

Das Christenthum hat in Frankreich seine vollkommensten Typen erlangt: die Quietisten (Franz von Sales): sie stehen höher als Paulus. Fénelon ein vollkommener Christ auf einer antiken Grundlage. Pascal – – –

5 [38]

Man soll die Befriedigung des Triebes nicht zu einer Praxis machen, bei der die Rasse leidet d. h. gar keine Auswahl mehr stattfindet, sondern alles sich paart und Kinder zeugt. Das Aussterben vieler Arten von Menschen ist ebenso wünschenswerth als irgend eine Fortpflanzung. – Und man sollte sich durch diese enge Verbindung mit einer Frau seine ganze Entwicklung durchkreuzen und stören lassen – um jenes Triebes willen!! Wenn man nicht einmal so enge Freundschaften nützlich (im höchsten Sinne) fände! Die "Ergänzung" des M<annes> durch das Weib zum vollen Menschen ist Unsinn: daraus läßt sich also auch nichts ableiten. – Vielmehr: nur heirathen 1) zum Zwecke höherer Entwicklung 2) um Früchte eines solchen Menschenthums zu hinterlassen. – Für alle übrigen genügt Concubinat, mit Verhinderung der Empfängniß. – Wir müssen dieser plumpen Leichtfertigkeit ein Ende machen. Diese Gänse sollen nicht heirathen! Die Ehen sollen viel seltener werden! Geht durch die großen Städte und fragt euch, ob dies Volk sich fortpflanzen soll! Mögen sie zu ihren Huren gehen! – Die Prostitution nicht sentimental! Es soll nicht das Opfer sein, das den Damen oder dem jüdischen Geldbeutel gebracht wird – sondern der Verbesserung der Rasse. Und überdies soll man diese Opferung nicht falsch beurtheilen: die Huren sind ehrlich und thun, was ihnen lieb ist und ruiniren nicht den Mann durch das "Band der Ehe" – diese Erdrosselung!

5 [39]

Die italiänischen Maler haben die "heilige Geschichte" so schön zurückübersetzt, alle rührenden Scenen der Familie entdeckt, alle jene Augenblicke, wo ein bedeutender Mensch einen Augenblick für mehrere unvergeßlich macht: bei jedem ihrer Bilder kann man Thränen vergießen. Nur wo die heilige Misere beginnt, da empfindet man nicht mehr mit – das Wissen um die Folgen derselben hält das Gegengewicht.

5 [40]

[+ + +] werthvoller, nach den so selten ausgerundeten Menschen zu sehnen, die nicht Monstra mit Höckern und Anmaaßungen sind.

5 [41]

Nur nicht unberufen seine Meinungen aufdringen! Man sage sie und schicke ein klares Gelächter hinterdrein, es hat noch kein Genie gegeben, dessen Meinungen nicht entbehrlich gewesen wären.

5 [42]

Über die Genies müssen wir umlernen. Ich wüßte nicht, warum fruchtbare Menschen sich nicht still und anspruchslos benehmen sollten (Moltke) oder vielmehr – es ist gegen alle Fruchtbarkeit, seine Person so in das Getümmel der Meinungen zu werfen und selber voller Begehrungen zu sein, die uns unruhig, ungeduldig machen und die Weihe der Schwangerschaft nehmen. Ich höre immer noch jedem Takte an, was für Gebrechen der Musiker hat: sein Mehr-bedeuten-wollen, sein Abweisen der Regel, sein Unterstreichen dessen, was er besser macht als Andere, alle Kleinlichkeiten sind fortwährend mit produktiv, wenn erst der Genie-Unsinn in ihm wüthet. Dagegen M<änner> wie Moltke.

5 [43]

[+ + +] versprechen können: und wenn der Eintritt einer Erscheinung nur so sicher ist, wie dieser, so thut es nichts, ob wir sagen "ich will" "ich werde thun" statt "es geschieht", "es wird gethan". Ehemals versprachen die Medizinmänner ebenso Naturereignisse mit dem " ich will daß die Sonne scheine, daß es regne" und einstmals wird man einsehen, daß das Wollen in Bezug auf uns selbst ebenso ein Vorurtheil ist. – So beruht die Pflicht auf einem Vorurtheil? Auf einem unberechtigten Stolze?

5 [44]

Sind Vorstellungen wirklich Motive unserer Handlungen? Sind sie nicht vielleicht nur Formen, unter denen wir unsere Handlungen verstehen, ein Nebenher, welches der Intellekt bei solchen Handlungen, die überhaupt von uns bemerkt werden, erzeugt? Die meisten Handlungen werden nicht bemerkt und gehen ohne intellektuelle Reizung vorüber. Ich meine selber: die intellektuelle Handlung, der eigentliche Gehirnprozeß eines Gedankens sei etwas wesentlich Verschiedenes von dem, was uns als Gedanke bemerkbar wird: unsere Vorstellungen, von denen wir wissen, sind der kleinste und schlechteste Theil derer, die wir haben. Die Motive unserer Handlungen liegen im Dunkel und was wir als Motive glauben, würde nicht ausreichen, einen Finger zu bewegen.

5 [45]

Die Sprache trägt große Vorurtheile in sich und unterhält sie z. B. daß, was mit Einem Wort bezeichnet wird, auch Ein Vorgang sei: Wollen, Begehren, Trieb – complicirte Dinge! Der Schmerz bei allen Dreien (in Folge eines Druckes Nothstand<es> wird in den Prozeß "wohin?" verlegt: damit hat er gar nichts zu thun, es ist ein gewohnter Irrthum aus Association. "Ich habe solches Bedürfniß nach dir" Nein! Ich habe eine Noth, und ich meine, du kannst sie stillen (ein Glauben ist eingeschoben) "ich liebe dich" nein! es ist in mir ein verliebter Zustand und ich meine, du werdest ihn lindern. Diese Objektaccusative! ein Glauben ist bei all diesen Empfindungsworten enthalten z.B. wollen hassen usw. Ein Schmerz und eine Meinung in Betreff seiner Linderung – das ist die Thatsache. Ebenso wo von Zwecken geredet wird. – Eine heftige Liebe ist die fanatische hartnäckige Meinung, daß nur die und die Person meine Noth lindern kann, es ist Glaube der selig und unselig macht, mitunter selbst im Besitze noch stark genug gegen jede Enttäuschung d. h. Wahrheit.

5 [46]

Man muß also die Nothstände der Menschheit studiren, aber ihre Meinungen, wie dieselben zu lösen sind, noch mit hineinrechnen: –

Wenn man die Meinung<en> über die Mittel der Linderung verändert, so verändert man die Bedürfnisse den "Willen" das "Begehren" der Menschheit. Also: Veränderung der Werthschätzung ist Veränderung des Willens. – Sollte es sich ergeben, daß die Menschheit am meisten an der Unerfüllbarkeit ihres Willens leidet, so ist zu untersuchen, ob der essentielle Schmerz, mit anderen Mitteln gelindert, vielleicht gar nicht zu einem unerfüllbaren Willen es kommen läßt: daß also die Ideale der Menschheit erfüllbar sind und eine andere Werthschätzung über alles Unerfüllbare aufkommen muß.

5 [47]

Wenn einer immer von seinen eigenen Handlungen überrascht wird (wie die wild Leidenschaftlichen) also er keine Vorausberechnung über sich machen kann, dann zweifelt er an seiner Freiheit, und oft redet man da von dämonischen Einflüssen. Also die Regelmäßigkeit, mit der gewisse Vorstellungen und Handlungen in uns folgen, bringt uns auf den Glauben, hier frei zu sein: berechnen zu können, vorherzuwissen! d. h. man leitet aus der Allwissenheit Gottes die Allmacht ab – ein gewöhnlicher Denkfehler. Das Gefühl der Macht im Intellekt<uellen> welches sich beim Vorherwissen einstellt, verknüpft sich unlogisch mit dem, was vorhergewußt wird: als Propheten bilden wir uns ein, Wunderthäter zu sein. Die Thatsache ist: "in dem und dem Falle pflegen wir das zu thun". Der Schein ist "es ist der und der Fall: ich will jetzt dies thun". Wollen ist ein Vorurtheil. Es geschieht etwas immer und durch uns, und ich weiß vorher, was daraus wird und schätze es hoch, daß dies geschieht. Es begiebt sich trotz alledem ohne unsere Freiheit und häufig wider unser oberflächliches Wissen: wir sagen dann erstaunt "ich kann nicht, was ich will". Wir sehen unserm Wesen nur zu, auch unserm intellektuellen Wesen: alles Bewußtsein streift nur die Oberflächen.

5 [48]

"Du suchst nach schlechtem Gewissen?" Du findest es bei den Leuten der feigen Sentimentalität, welche die Wahrheit verläugnen um der Liebe willen.

5 [49]

Das Häufigste, was geschieht, ist das Sich-selbst-Belügen. Das intellekt<uelle> Gewissen ist schwach, und das andere G<ewissen> stärker. Reinigung und Kräftigung, nicht Vernichtung von beiden thut noth.

 

[Dokument: Notizbuch]

[Herbst 1880]

6 [1]

Verglichen mit den Bramanen kennen wir die Menschheit nur in einer ungeheuren Ermattung ihres Kraftgefühls und ihres Glaubens an sich: selbst bei unsern stolzesten Philosophen.

6 [2]

Menschen deren Trieb durch längere Enthaltung nur unmäßig geworden ist, so daß sie dann eben so sehr die Herrschaft darüber verlieren; z. B. Lord Byron im Essen.

6 [3]

Die Geschichte der Wissenschaft zeigt den Sieg der edleren Triebe: es ist sehr viel Moralität in Umlauf in der Praxis der Wissenschaft.

6 [4]

Welche Triebe constituiren das Individuum? Bei einem Grade von Dummheit gehen die I<ndividuen> an einander zu Grunde. Ebenso bei einem Schwinden der fundamentalen Triebe und Ersetzung derselben durch Altruism. Bei gewissen Eigenschaften der anderen I<ndividuen> muß man den Gegensatz oder Fremdheit fühlen oder sie gar nicht fühlen: oder harmonische Nebenklänge oder grundlegende Bewegungen, an denen unsere Bewegungen erst ein Maaß bekommen. Die "Musik der Individuen" die "Contrapunktik". Reizvoll kann sein: das Pärallellaufen, das Zulaufen zweier Linien in einen Winkel usw. die Arabeske der Linie, die öfter wie neckend die andere gerade Linie berührt und sofort verläßt. Mit W<agner> habe ich mich gekreuzt: wir liefen mit großer Inbrunst auf einander zu, es gab ein Aufleuchten, und darauf mit der gleichen Schnelligkeit wieder auseinander, immer mehr.

6 [5]

Man erreicht einen Höhepunkt seiner Unredlichkeit: und da werden wir uns verhaßt und wenden den Spiegel gegen uns und haben nun Vergnügen auch bei dem Anblick des Häßlichen, denn wir rächen uns dabei, oder haben Ekel an der Sättigung der Berauschung durch Illusionen. – Wahrheitstrieb

6 [6]

Die Griechen litten am meisten beim Anblick der Häßlichkeit, die Juden bei <dem> der Sünde, die Franzosen beim Anblick des ungeschickten geistarmen brutalen Selbst – deshalb idealisirten sie das Gegentheil – und dieses Ideal bildete sie selber um. Rache für das Leid – Motiv für die Bildung der Götter und künstlerischen Vorbilder. Der Mangel an berückender Sinnlichkeit macht die deutschen Maler zu Enthusiasten des Sinnlichen. Das Leiden an der Gluth der Leidenschaft hat die Italiäner zu Verehrern des kalten künstlichen Formalism gemacht: und zu Verehrern der Jungfrau M<aria> und des Christus. Schopenhauer idealisirte das Mitleiden und die Keuschheit, weil er am meisten von dem Gegentheil litt. "Der unabhängige Mensch" ist das Ideal des abhängigsten, impressionabelsten. – Dies sind die unerfüllbaren Ideale, wirklich falsche Phantasmen: ihr Anblick entzückt und demüthigt: dieser Zwitterzustand ist bezeichnend für die Menschen des unerfüllten Ideals. Es ist ihr Höhepunkt: sie ruhen dann über ihrem Wehe, mit einem verächtlichen Blick nach unten.

6 [7]

Oft wird ein Trieb mißverstanden, falsch gedeutet z. B. der Geschlechtstrieb, der Hunger, die Ruhmsucht. Vielleicht ist die ganze Moral eine Ausdeutung physischer Triebe.

6 [8]

In jener Stunde wo wir nicht wissen, wie bös und wie gut wir uns sind und uns Beides unredlich scheint –

6 [9]

mehr Lügner als falsch.

hart in Worten, furchtsam im Grunde.

tyrannisch und feige zugleich, wie Nap<oleon>

6 [10]

Ah, welche Gewalt, welchen Zauber übt die Wissenschaft auf leidenschaftliche Geister aus! Gewiß sehen sie in ihr eine wunderbare Magie und werden hier zu Phantasten.

Welch schönes Kopfkissen ist der Zweifel für einen wohlgeformten Kopf!

6 [11]

die Kluft, welche uns von dem, der Geld erwerben will Arbeiter Handwerker Künstler trennt, nicht abzuleugnen: von alters her vererbt.

6 [12]

"man muß Zeit haben, um sich lieben zu machen: und selbst wenn ich nichts zu thun hatte, hatte ich das unbestimmte Gefühl, daß ich daran nichts zu verlieren habe" Napoleon.

6 [13]

Napoleon hat Romane gemacht und seine Träumereien hinterher "am Compaß seines Raisonnements gemessen" "Durch den Gedanken warf ich mich in eine ideale Welt"

6 [14]

"ich habe immer die Analyse geliebt, und wenn ich ernstlich verliebt war, zerlegte ich meine Liebe Stück für Stück"

6 [15]

die Zeit und die Umstände waren seinen guten Seiten ungünstig, sie brachten sie nicht zur Entwicklung.

6 [16]

"Der Mensch, den man beständig bestechen muß " sagte Napoleon von Savary, er traute ihm unbedingt, weil er ihn so von allen anständigen Leuten isolirt hatte und ihn in seine Hände gegeben wußte.

vom Intellekt

der vollkommene Diener seines Herrn, Duroc (Duc de Frioul): kalt schweigsam undurchdringlich, er dachte nie außerhalb seiner Aufgabe, er schmeichelte nicht, vollendete Genauigkeit, ein treuer Spiegel der Umgebung für seinen Herrn und des Herrn für seine Umgebung; keine Freunde, kein Bedürfniß der Unterhaltung, kein Vergnügen zu prüfen, ob sein Herr ein großer Mann sei oder nicht, gleichgültig über alles, keine Langeweile, kein Enthusiasmus. Trocken kalt, ganz persönlich, ohne eine Leidenschaft in Bezug auf Andere, geistreich und geschickt in bestimmten Kreisen.

6 [17]

"Nur der Jugend kommt es zu, Geduld zu haben: denn sie hat die Zukunft vor sich" sagt Napoleon. "Alles war in dieser (ital<ienischen>) Armee zu machen, Menschen und Dinge"

6 [18]

Das Nützliche kann kein letztes Ziel sein, kein Princip der Moralität, das Angenehme auch nicht (welche Art des Angenehmen ist vorzuziehen?) die letzten Ziele sind gar nicht auf einmal durch Begriffe zu erreichen: wir können immer nur Ziele so weit sehen, als wir Triebe vorher haben. Wie weit unsre Triebe wachsen können, weiß niemand.

6 [19]

der trockene und eisige Ton des Unzufriedenen

6 [20]

die unverschämte Form der Marktschreierei, wodurch unsere Zeit alle anderen übertrifft. Nie hat ein athenischer Künstler –

6 [21]

"In Frankreich weiß man niemals Interesse an den Dingen zu nehmen, wenn man Interesse an den Personen nimmt" Napoleon. Die Gewohnheit einer alten Monarchie hat euch gewöhnt alles zu personificiren. Ihr wißt nichts ernst zu nehmen, "Vielleicht ausgenommen die Gleichheit. Und man würde noch gerne darauf verzichten, wenn jeder sich schmeicheln könnte der Erste zu sein. Man muß allen die Hoffnung geben, sich zu erheben"

6 [22]

Napoleon sagte, die Zeit in Aegypten sei die schönste seines Lebens gewesen, denn sie war die idealste. Alles was er träumte, konnte er ausführen. Die Civilisation genirte ihn nicht.

6 [23]

Haupt-Unterschied: den Einen schwebt ein Musterzustand der Dinge außer ihnen vor, wo diese auf das angenehmste für sie auf ihnen gleichsam spielen (die Politiker Socialisten usw.) Den Anderen ein Musterzustand ihrer selber, wo sie auf den äußeren Dingen und Menschen auf das angenehmste für sie spielen: letzteres das Ideal der produktiven Nat<uren> ersteres das der lästig Arbeitenden: sie wollen lieber Passiva sein! Die einen die Herrschsüchtigen und die anderen die Sklaven. Die ersteren zweifeln nicht, wenn sie so und so sein werden, daß sie dem Weltinstrument die herrlichsten Töne entlocken werden: und die letzteren zweifeln nicht, daß, wenn alles fest geordnet und frei vom Individuum (dem Herrscher) gemacht wird, alles vorherzusehen ist und sie lauter angenehme Eindrücke vom Leben haben werden. "Ausdrückliche und eindrüchkliche Menschen"

6 [24]

"Was hat die Revolution gemacht? Die Eitelkeit. Was wird sie beenden? Wiederum die Eitelkeit. Die Freiheit ist ein Vorwand."

6 [25]

Er endete plötzlich seine Rolle als bonhomme und fügte mit der Trockenheit eines Herrn einen Befehl hinzu, der keine Gelegenheit verliert, zu befehlen.

6 [26]

Napoleons schwache Seite: er konnte nicht den Gedanken der Niederlage irgendworin ertragen. Weil seine Seele ohne Adel war und er die großen Gefühle nicht kannte, welche über ein schlechtes Geschick hinaus gehen, wendete er seinen Gedanken von dieser schwachen Partie von sich ab: er heftete dagegen seinen Geist auf seine bewunderungsw<ürdige> Anlage, mit dem Erfolg sich zu vergrößern. Sein Glück war sein persönlicher Aberglaube (Je réussirai!) und der Cult, zu dem er sich gegen dasselbe verpflichtet glaubte, legitimirte in seinen Augen alle Opfer, welche er uns auflegen sollte.

6 [27]

"Der Widerstand gegen das Verbrechen ist derart uns angeboren, daß wir sehr leicht bei einem an die Nothwendigkeit glauben, in der er sich befand es zu begehen."

6 [28]

Die schwache Anhänglichkeit eintauschen gegen die wirkliche Furcht, welche er einflößte: man bewunderte die Kühnheit seines Spiels.

6 [29]

"Ihr habt andere Zeiten gesehen: ich, ich datire von der, wo ich anfing etwas zu sein" Napoleon

6 [30]

"Ich habe keinen Haß, ich bin nicht im Stande, etwas aus Rache zu thun: ich entferne einfach was mich genirt!" sagte Napoleon in Bezug auf die Hinrichtung des Herzogs von Enghien

6 [31]

Unsere Triebe toben sich in den Listen und Künsten der Metaphysiker aus, sie sind die Apologeten des menschlichen Stolzes: die Menschheit kann ihre verlorenen Götter nicht verschmerzen! Gesetzt, diese Leidenschaft rast sich aus: welcher Zustand der Ermattung, der Blässe, der erloschenen Blicke! Das höchste Mißtrauen gegen den Intellekt als Werkzeug der Triebe: die Nachgeburt des Stolzes ist die Skepsis. Die peinliche Inquisition gegen unsere Triebe und deren Lügnerei. Es ist eine letzte Rache, in dieser Selbstzermalmung ist der Mensch immer noch der Gott, der sich selber verloren hat. Was folgt auf diese gewaltsame Skepsis? Die Erschöpfung, die zweite Erschöpfung, ein Greisenthum: alle Vergangenheit wird matt empfunden, die Verzweiflung selber wird zur Historie, und zuletzt ist das Wissen um alle diese Dinge noch ein genügender Reiz für diese Greise. –

Diese ganze Geschichte spielt sich in immer wenigeren Köpfen ab. Aber der Verlust des Glaubens wird ruchbar unter allen Übrigen – und nun folgt nach: das Aufhören der Furcht, der Autorität, des Vertrauens, das Leben nach dem Augenblick, nach dem gröbsten Ziele, nach dem Sichtbarsten: eine umgekehrte Bewegung leitet sich ein. Das Vertrauen ist noch am größten für das, was dem früheren Ziele am entgegengesetzt<est>en ist! Ein Versuchen und Experimentiren, ein Gefühl der Unverantwortlichkeit, die Lust an der Anarchie! An die Stelle des Stolzes ist die Klugheit getreten. Die Wissenschaft tritt in ihren Dienst. Eine gemeinere Gattung von Menschen bekommt das Regiment (statt der noblesse oder der Priester): erst die Kaufleute, nachher die Arbeiter. Die Masse tritt auf als Herrscher: das Individuum muß sich zur Masse lügen. – Nun werden immer noch solche geboren, die in früheren Zeiten zu der herrschenden Klasse der Priester, Adels, Denker gehört hätten. Jetzt überschauen sie die Vernichtung der Religion und Metaphysik, Noblesse und Individual-Bedeutung. Es sind Nachgeborene. Sie müssen sich eine Bedeutung geben, ein Ziel setzen um sich nicht schlecht zu befinden. Lüge und heimliche Rückflucht zum Überwundenen, Dienst in nächtlichen Tempeltrümmern sei ferne! Dienst in den Markthallen ebenfalls! Sie ergreifen die Theile der Erkenntniß, welche durch das Interesse der Klugheit nicht gefördert werden! Ebenso die Künste, welchen der moderne Geist abhold ist! Sie sind die Beobachter der Zeit und leben hinter den Ereignissen. Sie üben sich, sich frei von der Zeit zu machen und sie nur zu verstehen, wie ein Adler, der darüber fliegt. Sie beschränken sich zur größten Unabhängigkeit und wollen nicht Bürger und Politiker und Besitzer sein. Sie reserviren hinter allen Vorgängen die Individuen, erziehen sie – die Menschheit wird sie vielleicht einst nöthig haben, wenn der gemeine Rausch der Anarchie vorüber ist. Pfui über die, welche sich jetzt zudringlich den Massen als ihre Heilande anbieten! Oder den Nationen! Wir sind Emigranten. – Wir wollen auch das böse Gewissen für die Wissenschaft im Dienste der Klugen sein! Wir wollen bereit sein! Wir wollen Todfeinde derer von den Unseren sein, welche zur Verlogenheit Zuflucht nehmen und Reaktion wollen! – Es ist wahr, wir stammen von Fürsten und Priestern ab: aber eben deshalb halten wir unsere Ahnen hoch, weil sie sich selber überwunden haben. Wir würden sie schänden, wenn wir ihr Größtes verleugneten! Was gehen uns also die Fürsten und Priester der Gegenwart an, welche durch den Selbstbetrug leben müssen und wollen!

6 [32]

Dieselbe Unsicherheit und Skepsis, die der Schiffer in Betreff seiner Fahrt hat, ob sie gelingt, zur rechten Zeit unternommen, müssen wir in Betreff aller Pflichten haben. Ich bin nicht absolut verpflichtet, so leicht ist es mir nicht gemacht. Wir experimentiren mit unseren Tugenden und guten Handlungen und wissen nicht sicher, daß es die nothwendigen sind, in Hinsicht auf das Ziel. Wir müssen den Zweifel aufrichten und alle moralischen Vorschriften anzweifeln. Überdies sind sie so grob, daß keine wirkliche Handlung einer solchen Vorschrift entspricht: das Wirkliche ist viel complicirter.

6 [33]

Napoleon war heiter, er genoß im Geheimen den kleinen Zwang, welchen das neue Ceremoniell unter uns allen schuf.

6 [34]

"Fremd zu sein jeder Intrigue: fast ein Fehler an Höfen Was Fürsten am wenigsten verzeihen: daß man in ihrem Dienste einige Mittel beobachtet ihrer Macht zu entschlüpfen"

6 [35]

"Es giebt da nicht genug Pomp: es würde nicht Staub in die Augen werfen" sagte Napoleon zu Herrn von Rémusat, als dieser einen Plan vorlegte wie das neue Kaiserthum zu schmücken sei

6 [36]

"Ich, für mich allein, bin die ganze Revolution" indem er seine Person erhielt, hütete er dazu alles das, was nützlich war, nicht zu zerstören. Er wollte die Franzosen blenden und betäuben, durch alle Mittel auf einmal. Er liebte den Pomp des alten Regimes, er meinte, daß so der Parvenu noch besser unsichtbar werde.

6 [37]

"Vengeons nous, par en médire" Montaigne

6 [38]

" Es ist immer nur eine sehr kleine Zahl Menschen die sich erlauben den Erfolg zu tadeln" Die Schmeicheleien tragen den Sieg über die Kritik davon.

6 [39]

Die Musik hat keinen Klang für die Entzückungen des Geistes; will sie den Zustand von Faust und Hamlet und Manfred wiedergeben, so läßt sie den Geist weg und malt Gemüthszustände, die höchst unangenehm sind ohne Geist und gar nicht zum Ansehen taugen; sie vergröbert und malt die Mißvergnügtheit und den Jammer, vielleicht mit musikalischem Geiste; aber wie schrecklich ist diese Kunst, wenn sie ohne Auswahl das Häßliche malt: welche Martern sind den Tönen zu eigen, den aufdringlichen Tönen! – Liegt es daran, daß unter den Musikern ein feiner und wohlgestalteter Geist überhaupt selten ist? Daß sie das Fühlen in sich nie isoliren und seine Strahlenbrechung und Farbigkeit im Blitz des Gedankens nicht kennen? Sie müssen alle Zustände vergröbern, gleichsam ins Unmenschliche zurückübersetzen: wie als ob die Gedanken und die Worte noch nicht erfunden seien. Dies ist übrigens ein großer Reiz: es ist Urnatur in der Musik: sie gehört in die Zeit, wo man die wilde Natur der Landschaft verehrt und die Hochgebirge entdeckt hat. Einer Gesellschaft, welche den geistigen Genüssen nicht gewachsen ist, welche selbst zu gedankenarm für Gemälde ist, und überhaupt ihre Kopf-Kraft schon verthan hat, wenn sie sich anschickt, sich zu ergötzen, bleibt der Appell an die Gefühle und Sinne: und in diesen bietet der Musiker die anständigste Ergötzung. Schon gemeiner ist der Theatergenuß, mit dem Conterfei menschlicher Vorgänge und dem groben Reize der direkten Nachahmung aufregender Scenen. Ein Schritt weiter: und wir haben, zur Erholung, die Erregung der Triebe durch Getränke, usw. – Der Dichter steht höher als der Musiker, er macht höhere Ansprüche, nämlich an den ganzen Menschen. und der Denker macht noch höhere Ansprüche: er will die ganze ges<ammelte> frische Kraft und fordert nicht zum Genießen sondern zum Ringkampf und zur tiefsten Entsagung aller persönlichen Triebe auf.

6 [40]

Ich habe den Mann geliebt, wie er wie auf einer Insel lebte, sich vor der Welt ohne Haß verschloß: so verstand ich es! Wie fern ist er mir geworden, so wie er jetzt, in der Strömung nationaler Gier und nationaler Gehäßigkeit schwimmend, dem Bedürfniß dieser jetzigen, durch Politik und Geldgier verdummten Völker nach Religion entgegenkommen möchte! Ich meinte ehemals, er habe nichts mit den jetzigen zu thun – ich war wohl ein Narr.

6 [41]

Wenn Napoleon heiter wurde, nahm er Garnisons-Gewohnheiten an und war ohne Maaß.

6 [42]

"Der Zufall bleibt immer ein Mysterium für die mittelmäßigen Geister und wird eine Realität für die höheren Menschen." Den Antheil des Zufalls mathematisch genau vorher feststellen: "eine Dezimale mehr oder weniger kann alles ändern" "Mittelmäßige Leute werden zu einer gewissen Evidenz gebracht durch Umstände, die sie nicht geschaffen haben"

6 [43]

"Pour être un veritable grand homme, il faut réellement avoir improvisé une partie de sa gloire et se montrer au-dessus de l'événement, qu' on a causé."

6 [44]

"Tacitus ein geschickter Schriftsteller, aber selten ein Staatsmann"

6 [45]

"Wenn Politiker wirklich geschickt sind, verstehen sie, sich zu Herrn ihrer Leidenschaften zu machen, denn sie gehen so weit, die Wirkungen davon zu berechnen

6 [46]

"der Staatsmann, eine vollkommen excentrische Persönlichkeit, immer allein von der einen Seite mit der Welt auf der anderen" Während er die Dinge beobachtet und die oft so ungleichen Fäden gleichmäßig in seiner Hand laufen läßt, mit der größten Aufmerksamkeit darauf – wie kann er sich damit amüsiren, gewisse Gefühls-Convenances zu schonen, die für den gewöhnlichen Menschen so wichtig sind! (Bande des Blutes, Affektion usw.)

6 [47]

Die Energie der Spannung (zwischen Liebe und Haß) nie größer als bei Chr<isten> ihr Haß odium generis humani mehr als alles M<itleid>

6 [48]

Das Gefühl und Glück der Hingebung – aus dem Ende der Furcht, Eintritt der Sicherheit zu erklären (nicht aus dem weibl<ichen> Trieb)

6 [49]

Macht :Widersprechen Grundlagen der Logik. A> <B

Ergebung :Zustimmen A = A

die Macht drängt, Verschiedenheit anzuerkennen

die Ergebung will Gleichheit setzen.

6 [50]

Mein Ziel ist nichts für jedermann, deshalb ist es doch mittheilbar, der Ähnlichen wegen sowohl als weil die Entgegengesetzten daraus Kraft und Lust gewinnen werden, sich ihr Wesen ebenfalls zu formuliren und in wirkenden Geist umzusetzen. Ich will allen, welche ihr Muster suchen, helfen, indem ich zeige, wie man ein Muster sucht: und meine größte Freude ist, den individuellen Mustern zu begegnen, welche nicht mir gleichen. Hol' der Teufel alle Nachahmer und Anhänger und Lobredner und Anstauner und Hingebenden!

6 [51]

"der militärische Ruhm, welcher so lang in der Geschichte lebt, ist der, welcher am schnellsten für die Mitgenossen erlischt" Napoleon nach dem größten Moment seiner Macht (Friede zu Tilsit)

6 [52]

Napoleon sah im Kriege, das Mittel uns zu betäuben oder wenigstens zum Stillschweigen zu bringen.

6 [53]

Der geschlechtliche Reiz im Aufsteigen unterhält eine Spannung, welche sich im Gefühle der Macht entladet: herrschen wollen – ein Zeichen der sinnlichsten Menschen. Der schwindende Hang des Geschlechtstriebes zeigt sich im Nachlassen des Durstes nach Macht: das Erhalten und Ernähren und oft die Lust am Essen tritt als Ersatz ein (Elterntrieb ist Erhalten Ordnen Ernähren, nicht Beherrschen, sondern Wohlbefinden sich und anderen schaffen) In der Macht ist das Gefühl, gern wehe zu thun – eine tiefe Gereiztheit des ganzen Organismus, welcher fortwährend Rache nehmen will. Die wollüstigen Thiere sind in diesem Zustand am bösesten und gewaltthätigsten, sich selber über ihren Trieb vergessend.

6 [54]

Liebe als Passion ist Verlangen nach absoluter Macht über eine Person: (z.B. wollen, daß man der einzige Gegenstand von Gedanken und Empfindungen sei) Der Liebende sieht die übrige Welt kaum und opfert alle anderen Interessen in diesem Machtdurste. An das Geliebtwerden glauben bringt eine tiefe Sättigung mit sich: "wir werden als absolute Macht empfunden"!

6 [55]

Man muß den aphrodisischen Reiz und die Folgen seiner Befriedigung für die Fortpflanzung des Geschlechtes trennen: der Ausdruck "Geschlechtstrieb" enthält ein Vorurtheil

6 [56]

Die Resorption des Samens durch das Blut ist die stärkste Ernährung und bringt vielleicht den Reiz der Macht, die Unruhe aller Kräfte nach Überwindung von Widerständen, den Durst nach Widerspruch und Widerstand am meisten hervor. Das Gefühl der Macht ist bis jetzt am höchsten bei enthaltsamen Priestern und Einsiedlern gestiegen (z. B. bei den Bramanen)

6 [57]

Das Gefühl der Lust der Ergebung ist vielleicht weiblich – und beider Gefühle sind beide Geschlechter fähig, aber ein Überschuß in jedem besonders. Gott weiß, mit welchen Eigenheiten der geschlechtlichen weiblichen Funktion es zu thun haben mag, daß ihre sinnliche Erregung nicht wesentlich als Wille der Macht sich äußert: beherrscht werden, dienen, sie fühlen sich schwächer durch die Liebe. Die Ernährung des Eierstockes fordert Kraft ab.

6 [58]

Wer tiefer Empfindungen fähig ist, muß auch den heftigen Kampf derselben gegen ihre Gegensätze leiden. Man kann, um ganz ruhig und leidlos in sich zu sein, sich eben nur die tiefen Empfindungen abgewöhnen, so daß sie in ihrer Schwäche eben auch nur schwache Gegenkräfte erregen: die, in ihrer sublimirten Dünne, dann wohl überhört werden und dem Menschen den Eindruck geben, er sei ganz mit sich im Einklange. – Ebenso im socialen Leben: soll alles altruistisch zugehn, so müssen die Gegensätze der Individuen auf ein sublimes Minimum reduzirt werden: so daß alle feindseligen Tendenzen und Spannungen, durch welche das Individuum sich als Individuum erhält, kaum mehr wahrgenommen werden können, das heißt: die Individuen müssen auf den blassesten Ton des Individuellen reduzirt werden! Also die Gleichheit weitaus vorherrschend Das ist die Euthanasie, völlig unproduktiv! Ebenso wie jene Menschen ohne tiefe Empfindungen, die liebenswürdigen ruhigen und sogenannten glücklichen, eben auch unproduktiv sind. Der Werth der Wissenschaft ist, eine ungeheure Gegenkraft zu sein: vielleicht entzündet sie, im Widerspruch zu ihr, wieder die Unlogik und Phantasterei immer von Neuem! – Vielleicht ist dies nöthig!

6 [59]

Die Menschheit hat kein Ziel, ebenso wenig wie die Saurier eins hatten, aber sie hat eine Entwicklung: d. h. ihr Ende ist nicht mehr bedeutend als irgend ein Punkt ihres Weges! NB. Folglich kann man das Gute nicht so bestimmen, daß es das Mittel zum "Ziel der Menschheit" wäre. Wäre es das, was die Entwicklung möglichst verlängerte? Oder was den Höhepunkt am höchsten brächte (zwischen auf- und absteigen, werden und vergehen)? Aber dies setzte schon wieder ein Maß für den Höhepunkt voraus! Und warum möglichst lang? Auch das setzt ein Gutes voraus z. B. die Lust des Daseins. – Möglichst viel Lust als Ziel? Aber damit kann man nicht einmal sein Einzelleben dirigiren, denn wir kennen die Quellen der Lust, die Triebe, nicht in Bezug auf ihre innersten Bedürfnisse z. B. ob möglichst viel Lust nicht auch eine ungeheure Unlust voraussetzt? – Oder möglichst wenig Unlust in der Entwicklung? – Darauf strebt jetzt alles hin – aber dies heißt auch eine möglichst unkräftige Entwicklung, eine allgemeine Selbstschwächung, ein blasses Abschiednehmen von der bisherigen Menschheit, bis an die Grenze, wo die Thiere wieder über uns Herr werden! Der matte Dusel ist über dies kein Ideal, welches große Opfer zu veranlassen vermöchte – und doch wäre ein ungeheures Verzichtleisten zu fordern, wenn die Menschheit auf dieses Niveau steigen sollte! Es könnte dies aber wohl, ohne ein Ziel des Strebens zu sein, doch einmal das Ende sein! Oder ein irregewordener Stern erbarmt sich der Menschheit dann!

6 [60]

der höchste Grad von Individualität wird erreicht, wenn jemand in der höchsten Anarchie sein Reich gründet als Einsiedler.

6 [61]

der Durst nach Macht ist bezeichnend für den aufsteigenden Gang der Entwicklung, der Durst nach Hingebung für den absteigenden. Die Freuden des Alters haben im Tiefsten alle diese Hingebung an Dinge, Gedanken, Personen: der Aufstrebende herrscht. – Der Kranke nimmt den Hang des Alters vorweg.

6 [62]

Wir empfinden die Außenwelt immer verschieden, weil sie sich gegen den jedesmal in uns überwiegenden Trieb abhebt: und da auch dieser als etwas Lebendiges wächst und schwindet und nichts Verharrendes ist, so ist im kleinsten Momente unsere Empfindung der Außenwelt immer werdend und vergehend, also wechselnd.

6 [63]

Das Urtheil ist etwas sehr Langsames im Vergleich zu der ewigen unendlich kleinen Thätigkeit der Triebe – die Triebe sind also immer viel schneller da, und das Urtheil ist immer nach einem fait accompli erst am Platze: entweder als Wirkung und Folge der Triebregung oder als Wirkung des miterregten ertgegengesetzten Triebes. Das Gedächtniß wird durch die Triebe erregt, seinen Stoff abzuliefern. – Durch jeden Trieb wird auch sein Gegentrieb erregt, und nicht nur dieser, sondern wie Obertonsaiten noch andere, deren Verhältniß nicht in einem so geläufigen Worte zu bezeichnen ist, wie "Gegensatz".

6 [64]

Wir empfinden peinlich, daß Jemand uns geringschätzt. In einem hohen Moment der Stimmung sehen wir auf diese peinliche Empfindung hin und zurück, wie auf etwas Fernes, das uns kaum noch angehört, die Empfindung z. B. wird fast zum Wissen darum: fast alle Dinge, von denen wir nur diese Empfindung des Wissens darum haben, scheinen uns ferner und außer uns, der leidende oder angenehme Trieb als Fundament darin ist uns kaum mehr bemerkbar. Aber er muß darin sein, das Gedächtniß merkt nur Thatsachen der Triebe: es lernt nur, was in einen Gegenstand eines Triebes verwandelt ist! – Unser Wissen ist die abgeschwächteste Form unseres Trieblebens; deshalb gegen die starken Triebe so ohnmächtig.

6 [65]

In Dingen des Geistes ist Jeder groß, der, als große Ausnahme, die Dinge des Wissens stark empfindet und gegen ferne Dinge sich so verhält wie gegen die nächsten, so daß sie ihm wehe thun. Leidenschaft erregen, große Erhebungen geben können, kurz daß sie mit den stärksten Trieben bei ihm verschmolzen sind. (Redlichkeit z. B. wäre wohl Neugierde Stolz Herrschsucht Milde Gtoßmuth Tapferkeit in Bezug auf Sachen, die für die Meisten ganz kalt und abstrakt bleiben) Passion für Abstrakta, und Unfähigkeit, ein Abstraktum sich fern und gleichgültig zu halten macht den Denker.

6 [66]

Menschen gemartert durch einen Bußredner, wie ein Reh, das in Schlingen sich verfängt und unter wüthendem Rasen stirbt.

6 [67]

Meine Aufgabe: alle Triebe so zu sublimiren, daß die Wahrnehmung für das Fremde sehr weit geht und doch noch mit Genuß verknüpft ist: der Trieb der Redlichkeit gegen mich, der Gerechtigkeit gegen die Dinge so stark, daß seine Freude den Werth der anderen Lustarten überwiegt, und jene ihm nöthigenfalls, ganz oder theilweise, geopfert werden. Zwar giebt es kein interesseloses Anschauen, es wäre die volle Langeweile. Aber es genügt die zarteste Emotion!

6 [68]

Napoleon haßte nichts mehr in der Welt, als daß jemand die Fähigkeit zu urtheilen in Bezug auf ihn übte, oder überhaupt nur hatte.

6 [69]

die Ruhe hat ihr gefehlt (Mad. de Staël): nach Rémusat "une privation sans remède pour le bonheur et même pour le talent".

6 [70]

das Ich ist nicht die Stellung Eines Wesens zu mehreren (Triebe, Gedanken usw.) sondern das ego ist eine Mehrheit von personenartigen Kräften, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht als ego und nach den anderen, wie ein Subjekt nach einer einflußreichen und bestimmenden Außenwelt, hinsieht. Das Subjekt springt herum, wahrscheinlich empfinden wir die Grade der Kräfte und Triebe, wie Nähe und Ferne und legen uns wie eine Landschaft und Ebene aus, was in Wahrheit eine Vielheit von Quantitätsgraden ist. Das Nächste heißt uns "ich" mehr als das Entferntere, und gewöhnt an die ungenaue Bezeichnung "ich und alles andere, tu", machen wir instinktiv das überwiegende momentan zum ganzen ego und alle schwächeren Triebe stellen wir perspektivisch ferner und machen daraus ein ganzes Du oder "Es". Wir behandeln uns als eine Mehrheit und tragen in diese "socialen Beziehungen" alle die socialen Gewohnheiten, die wir gegen Menschen Thiere Gegenden Dinge haben. Wir verstellen uns, setzen uns in Angst, machen Parteiungen, führen Gerichtsscenen auf, überfallen uns, martern uns, verherrlichen uns, machen aus dem und jenem in uns unseren Gott und unseren Teufel und sind so unredlich und so redlich als wir es in Gegenwart der Gesellschaft zu sein pflegen. – Alle socialen Beziehungen auf den Egoismus zurückzuführen? Gut: für mich ist aber auch wahr daß alle egoistischen inneren Erlebnisse auf unsere eingeübten angelernten Stellungen zu Anderen zurückzuführen sind. Welche Triebe hätten wir, die uns nicht von Anfang an in eine Stellung zu anderen Wesen brächten, Ernährung z. B., Geschlechtstrieb? Das, was Andere uns lehren, von uns wollen, uns fürchten und verfolgen heißen, ist das ursprüngliche Material unseres Geistes: fremde Urtheile über die Dinge. Jene geben uns unser Bild von uns selbst, nach dem wir uns messen, wohl und übel mit uns zufrieden sind! Unser eigenes Urtheil ist nur eine Fortzeugung der combinirten fremden! Unsere eigenen Triebe erscheinen uns unter der Interpretation der Anderen: während sie im Grunde alle angenehm sind, sind sie doch durch die angelernten Urtheile über ihren Werth so gemischt mit unangenehmen Beigefühlen, ja manche werden als schlechte Triebe jetzt empfunden: "es zieht hin, wohin es nicht sollte" – während schlechter Trieb eigentlich eine contradictio in adjecto ist. – Was will also Egoismus sagen! Wir können innerhalb unser selber wieder egoistisch oder altruistisch, hartherzig, großmüthig, gerecht milde verlogen sein, wehe thun oder Lust machen wollen: wie die Triebe im Kampfe sind, ist das Gefühl des Ich immer am stärksten dort, wo gerade das Übergewicht ist.

6 [71]

Unbeschreiblicher Ekel, wenn unsere Gebildeten von der Nothwendigkeit einer idealen Bildung und einer Erneuerung der Religion phantasiren! dieses verlogene Gesindel, das bei Musik und Schauspiel wieder religiös werden will und sich in den Kopf setzt, sobald es nur wieder im Herzen zu zittern beginnt, alle Redlichkeit des Kopfes fahren zu lassen und sich kopfüber in den mystischen Schlamm zu stürzen! Recht der Gedanke einer durch Politik und Geldgier verdummten und servil gewordenen Generation!

Denn ob man einem Napoleon oder dem Nationalitätsprincip dient, beides führt zur Sklaverei und zum schließlichen Ekel an sich: wohl dann der Religion! wohl den Künstlern, welche den Anstand einer freien geistigen Haltung nicht angeboren haben! Früher dachte ich: wir sind anderer Art, anderer Herkunft, nichts war mir fremder als mich diesen Strömungen der Nationalität und der Neigung zur Mystik anzubieten! Ich sah sie – mir ekelte damals und jetzt dafür. Allein sein! abseits leben! war immer meine Devise. Was geht es mich an, daß die, welche damals darin mir gleich gesinnt erschienen, jetzt alle sich dort anbieten! Hier die Gespensterfinger des Spiritisten, und der mathematisch-magische Taschenspieler, dort ein gehirnausbrennender Cultus der Musik, dort die wiedererweckten Gemeinheiten einer Judenverfolgung – seht die allgemeine Übung im Hassen

6 [72]

"Diejenigen welche kommen mich zu besuchen werden mir eine Ehre erweisen: diejenigen welche nicht kommen, werden mir ein Vergnügen erweisen" Augier.

6 [73]

Napoleon nach dem ersten italienischen Feldzuge, zu einem Journalisten: denken Sie daran, in den Erzählungen unserer Siege immer von mir, immer von mir zu sprechen, hören Sie?

6 [74]

Alle Moralisten sind einig in der allgemeinen Tendenz: wohin das Handeln streben müsse und was die Wohlfahrt der Menschheit sei – ich finde sie beherrscht von Einem Triebe und voll Vorurtheil darin. Die Herrschaft des Altruismus scheint mir die Menschheit zu Grunde zu richten – ein Absterbeprozeß Euthanasie: – vielleicht dienen also die Moralisten der allgemeinen Entwicklung: aber sie erwarten etwas Umgekehrtes! Ich will den Egoismus aufrichten und jene weise Einsicht, welche dem fremden Individuum nicht gerne in's Geschäft und Wesen greift: nur durch Noth sind wir altruistisch.

6 [75]

Alle Moralisten haben gemeinsame Censuren über gut und böse, je nach sympathischen und egoistischen Trieben. Ich finde Cut, was einem Ziele dient: aber das "gute Ziel" ist Unsinn.

Denn überall heißt es "gut wozu?" Gut ist immer nur ein Ausdruck für ein Mittel. Der "gute Zweck" ist ein gutes Mittel zu einem Zweck. Jedes Ziel – – –

6 [76]

Die Tugend der Reinlichkeit NB. Wurzel des Triebes der Schönheit

6 [77]

Ein System des Lebens das nur auf Neigungen ruhen soll – Altruism. Aber da müßte das Schicksal nur mit Akkorden auf uns spielen – es hieße die Unvernünftigkeit des Daseins beseitigen und es zur menschlichen Vernunft machen. Und damit jeder nur Harmonien hörte, müßte jeder andere ihm gleich sein und keine anderen Bedingungen haben – so aber würde die Neigung schwach und endlich unnöthig, weil alles schon ohne Erstreben sich anböte.

6 [78]

Geht die edle Unabhängigkeit verloren, so werden alle Talente matt – ob es unter der Tyrannei Napoleon's oder des Altruismus ist: Ende der Genies!

6 [79]

"mit dem alleinigen Geschmack für das Reale ist man zu nichts gut, weder in einer Farm noch in einem Palaste"

6 [80]

Unser Verhältniß zu uns selber! Mit Egoismus ist gar nichts gesagt. Wir wenden alle guten und schlechten gewöhnten Triebe gegen uns: das Denken über uns, das Empfinden für und gegen uns, der Kampf in uns – nie behandeln wir uns als Individuum, sondern als Zwei- und Mehrheit; alle socialen Übungen (Freundschaft Rache Neid) üben wir redlich an uns. Der naive Egoismus des Thieres ist durch unsere sociale Einübung ganz alterirt: wir können gar nicht mehr eine Einzigkeit des ego fühlen, wir sind immer unter einer Mehrheit. Wir haben uns zerspalten und spalten uns immer neu. Die socialen Triebe (wie Feindschaft Neid Haß) (die eine Mehrheit voraussetzen) haben uns umgewandelt: wir haben "die Gesellschaft" in uns verlegt, verkleinert und sich auf sich zurückziehen ist keine Flucht aus der Gesellschaft, sondern oft ein peinliches Fortträumen und Ausdeuten unserer Vorgänge nach dem Schema der früheren Erlebnisse. Nicht nur Gott, sondern alle Wesen, die wir anerkennen, nehmen wir, selbst ohne Namen, in uns hinein: wir sind der Kosmos, soweit wir ihn begriffen oder geträumt haben. Die Oliven und die Stürme sind ein Theil, von uns geworden: die Börse und die Zeitung ebenso.

6 [81]

Unser waches Leben ist ein Ausdeuten innerer Triebvorgänge mit Hülfe des Gedächtnisses an alles Empfundene und Gesehene: eine willkürliche Bildersprache davon, wie das Träumen von der Sensation im Schlafen.

6 [82]

Wie das Leben für Andere entsteht! bei einem Diener, der zuerst mit Zwang und Strafen an das Interesse seines Herrn denkt, allmählich fällt ihm das eher ein als sein eigenes, weil er gemerkt hat, daß sein Wohl von dem des Herrn und der guten Stimmung desselben abhängt: endlich sieht er darnach wie der Gärtner nach den Pflanzen, sie sind ihm fortwährend gegenwärtig, gewöhnt, leicht, erleichternd, Grund seiner Freuden und Leiden. So der Stallknecht für sein Pferd, der Gelehrte für sein Thema, der Vater für sein Kind, der Kaufmann für sein Geld. Wir vergessen motivirende Gedanken und leben nach den eingeübten Gefühlen des Angenehmen Gewöhnten – das soll moralisch sein! Gewiß <ist> es für Alle angenehm, Herren und Diener und somit wird es sehr gelobt, folglich viel Phantasterei der Gedanken darum gelegt, damit es als etwas Hohes erscheine!

6 [83]

Wenn unsere Triebe gleich stark sind und nach entgegengesetzten Zielen uns ziehen, entsteht jener Kampf und jene Noth, welche die Moralisten so hoch stellen. Eigentlich ist für Viele die Tugend nichts werth, wenn sie nicht einen solchen Kampf macht d. h. man will, daß die entgegengesetzten Triebe ebenso stark seien! Ein Laokoon, der seine Schlangen zerdrückt! Eine pathetische Attitüde!

6 [84]

Viel Wohlwollen bei denen, welche das Übel leicht vergessen, welche leicht zu erregen und zu beruhigen sind, unfähig einer langen Emotion, eines ernsten Nachdenkens, expansiv, etwas indiskret.

6 [85]

l'entraînement de ma destinée sagte Napoleon

6 [86]

Erhabenheit der Seele! meistens ist es Exaltirtheit!

6 [87]

"streng in ihren Principien oder in den Gefühlen welche ihre Einbildungskraft erzeugt hatte"

6 [88]

die wirksamen Schriftsteller beweisen, daß Worte nur Andeutungen sind, daß man nichts vollenden dürfe und daß die Schriftsteller darin Vortheile vor den Malern haben.

6 [89]

der Geometer Ampère: je crois que le monde extérieur a été créé tout simplement pour nous être une ocasion de penser.

6 [90]

Napoleon war Träumer, schweigsam, im Verkehr mit Frauen gezwungen, aber passionirt und hinreißend, obschon fremdartig in seiner ganzen Person, als er jung war. Seine Anfälle von düsterer und drohender Eifersucht.

6 [91]

Gleichheit im Humor, Milde und natürliche Heiterkeit machen das glückliche Privatleben. Der letzte Grund: von nichts tief bewegt werden. Man nennt es Philosophie, wenn <sich> diese Indifferenz nicht nur in Bezug auf das, was die Andern interessirt, sondern in der Tribulation des Persönlichen zeigt.

6 [92]

Ihre Einbildungskraft erhitzte sich bei den Pflichten, die ihr auferlegt seien, sie schrieb sich die peinlichsten Opfer vor, gerade weil sie das Unglück hatte den Gemahl nicht zu lieben. Sie war aufmerksam darauf, ihm zu gefallen, als wenn sie ihn geliebt hätte.

6 [93]

Non consilia a casu differo, das Schicksal treibt sie, die Absichten sind schwach.

6 [94]

Napoleon verstand es aus der tiefsten Ruhe in den höchsten Zorn überzugehen, wenn es ihm nützlich schien. "Mein Zorn ist niemals über das da hinausgegangen" sagte er zum Abbé de Pradt auf seinen Hals deutend (cou). "Er findet ein Mittel seine Leidenschaften zu erheucheln obgleich sie wirklich existiren" sagte Talleyrand.

6 [95]

Napoleon hatte Anfälle von Empfindung vergoß Thränen, aber es machte ihm hinterdrein einen schlechten Humor. "Wenn mein Blut nicht mit seiner beständigen Langsamkeit schlägt, laufe ich Gefahr, zum Narren zu werden." Nach Corvisart hatte er wenige Pulsschläge. Aber er klagte über intraitable Nerven. Er behauptete er verstünde absolut nicht, was es hieße "der Kopf dreht sich mir"

6 [96]

Er hatte ein geheimes Vergnügen Furcht zu erregen und zittern zu machen. Denn: „die Unruhe reizt den Eifer", er vermied, sich vor Personen und Menschen zufrieden zu zeigen: "une petite terreur de detail war immer im geheimsten Innern seines Palastes"

6 [97]

Er hatte die Miene, die Ruhe ohne Aufhören zu hassen, für sich und die Anderen.

6 [98]

Hatte die Gesellschaft einen ruhigen Gang des Gesprächs, so änderte er plötzlich den Ton durch ein herrisches Wort und stellte den Unterredner wieder auf den Platz vor ihm, nämlich in seine Furcht.

6 [99]

Der wahrhaft Glückliche ist der, welcher sich vor mir im Grund einer Provinz verbirgt und wenn ich sterbe, wird die Welt ein großes ouf! machen.

6 [100]

Wenn er einen Dienst bezahlte, ließ er merken, daß er einen neuen kaufte. Er wollte niemals die Schulden seiner Frau in Ordnung bringen, um Gelegenheiten sich zu erhalten, sie zu beunruhigen.

6 [101]

Napoleons Mutter war von sehr mittelmäßigem Geiste.

6 [102]

romantische Einbildungskraft mit völliger Trockenheit des Herzens verbunden bei Louis Bonaparte. "Seine erheuchelten Tugenden geben mir ebensoviel Hinderniß wie die Laster Luciens" sagte Napoleon von ihm.

6 [103]

Lafontaine: "Et la grâce plus belle encore que la beauté".

6 [104]

Die wilden Thiere sollen über sich weg sehen lernen, und in den Andern (oder Gott) zu leben suchen, sich möglichst vergessend! So geht es ihnen besser! Unsere Moraltendenz ist nur noch die der wilden Thiere! Sie sollen Werkzeuge großer Maschinerien außer ihnen werden und lieber das Rad drehen als mit sich zusammen sein. Moralität war bisher Aufforderung sich nicht mit sich zu beschäftigen, indem man sein Nachdenken verlegte und sich die Zeit raubte, Zeit und Kraft. Sich niederarbeiten, müde machen, Joch tragen unter dem Begriff der Pflicht oder der Höllenfurcht – große Sklavenarbeit war die Moralität: mit der Angst vor dem ego.

6 [105]

Es wäre eine Zeit zu denken, wo die Menschheit um die Gattung zu erhalten – und das soll ja eine Pflicht sein! – alle Arten höheren Lebens von sich werfen müßte, und sich auf immer niedrigere beschränken, weil jene zu kostspielig und unfruchtbar machend ausfallen: wie ein alter Mann seinen besten Thätigkeiten entsagen muß, um zu leben. Aber wie! ist denn Leben eine Pflicht! Unsinn! ihr Physiologen! die Menschen sind so erbärmlich geworden, daß auch die Philosophen gar nicht die tiefe Verachtung merken, mit der das Alterthum und das Mittelalter diesen "selbstverständlichen Werth der Werthe, das Leben" behandeln!

6 [106]

Der Haupterfolg der Arbeit ist die Verhinderung des Müssigganges der gemeinen Naturen, auch z. B. der Beamten, Kaufleute, Soldaten usw. Der Haupteinwand gegen den Socialismus ist, daß er den gemeinen Naturen den Müssiggang schaffen will. Der müssige Gemeine fällt sich und der Welt zur Last.

6 [107]

die Nachtfröste einer Geliebten

6 [108]

Ich schlage das Bild vor: reizt es euch, so werdet ihr es nachahmen müssen. Nicht die Ziele, sondern die Befriedigung des bereits vorhandenen Triebes zwingt zu dieser oder jener Moral. Nicht die Vernunft! wenn nicht im Dienste eines Triebes!

6 [109]

Aus welchen erbärmlichen Elementen der deutsche Socialismus besteht in seinen Führern, ist daraus zu ersehen, daß keiner die volle Enthaltung von geistigen Getränken gefordert hat – und doch ist diese Plage viel verhängnißvoller als irgend ein socialer Druck!

6 [110]

die bösen Triebe sind durchaus nicht unangenehm, sondern böse und gute sind angenehm. Sie werden unangenehm nur durch das 1) Übermaß und 2) in ihrem Gehemmtsein durch andere Triebe. Beherrscht uns z. B. die Meinung von der Schändlichkeit der Wollust (der Trieb der Ehe als Grundlage) oder die von den bösen Folgen im jenseits, so wird der Trieb uns unangenehm beigemischt, ja er kann wie etwas rein Ekelhaftes empfunden werden. Ebenso kann der Hang zum Mitleid als erbärmliche Schwäche und als unangenehm empfunden werden. Das Denken, maßlos, wirkt als Schmerz, selbst beim Enthusiasten des Denkens; das Übermaaß ist eine erzwungene Äußerung des Triebes, d.h. die Hemmung des vergehenwollenden (müden) Triebes – also auch Hemmung der Entwicklung. Alle Entwicklung lustvoll.

6 [111]

das Genie das Erzeugniß glücklicher Zufälle: seine Bedingungen weiß man nicht voraus. Die reine Begünstigung im Sinne der bisherigen Moralität macht durchaus kein Genie und keine Fruchtbarkeit; von der Erziehung und Verwendung der bösen Triebe und Zufälle weiß die Moral nichts, desto mehr die praxis. Es ist unmöglich, Genies absichtlich zu fördern – dann müßte man sie durch und durch kennen. Frauen, in ihrer Absicht der Förderung, richten sie gewöhnlich zu Grunde.

6 [112]

Welche entsetzliche Lage früher! Unsicherheit der Erkenntniß auch in der Moral, und ewige Gefahren! Das war eine ruhige unbefangene Art dem Gedanken und der Wahrheit nachzuhängen!! Unter der Peitsche der Furcht vor der Hölle! Oder in der Furcht vor der Sünde gegen die ewige Liebe, vor dem Zweifel an der Offenbarung!!

6 [113]

Die paradoxe Tugend z. B. Großmuth als ein Wunder angestaunt und sehr verehrt!

Anders jene, die den Zwang eines Triebes fühlen und deren Herrschsucht stolz sich gegen ihn wehrt, die deshalb ins Gegentheil umschlagen.

Anders, die welche mehr von der Befriedigung erwarteten und, enttäuscht, an dem Triebe sich rächen.

Anders: sich schwach feige gezwungen vor der Todesfurcht fühlen und in Verachtung seiner selbst das Gegentheil von dem thun, was die Todesfurcht räth.

6 [114]

die Motive der Moralgesetzgeber für ein Gesetz und deren Umwandlung in denen, welchen das Gesetz gegeben wird NB

6 [115]

Die angeblichen Wirkungen moralischer Gefühle, während deren Erscheinen selber schon eine Wirkung des beruhigten Nervensystems usw. ist, nicht die Quelle der Beruhigung NB.

6 [116]

Alle Menschen bemühen sich, ihrer Pflicht einen unbedingten Charakter zu geben: sie fühlen sich erniedrigt bei dem Gedanken, daß sie einem Menschen, Fürsten Staate Partei aus Furcht sich opfern und einem anderen Intell<ekt> ihren Int<ellekt> unterordnen: sie wünschen, daß eine nicht mehr beschämende Übergewalt existirt, die ihnen gebietet, sich so unter<zu>ordnen, eine absolute Pflicht, ein Wort Gottes (z. B. seid gehorsam der Obrigkeit) Auch jetzt noch suchen die Moralphilosophen die Ethik endgültig zu fundamentiren: ohne dies, fühlen sie, hat man kein Recht zum großen Pathos, zu schönen Attitüden als Politiker und Socialist. "Man muß ein Wesen haben, dem man unbedingt sich anvertraut" sagt Luther d. h. wir wollen uns selber unbedingt vertrauen dürfen und unsere Handlungen als indiskutabel und absolut erhaben der Welt gegenüber stellen. Eitelkeit!

6 [117]

Das was uns oft zwingt (und zwar mit dem Gefühl der Zustimmung, obschon es kein angenehmer Zwang ist!) nennen wir Pflicht. Durch häufige Übung entsteht daraus eine angenehme Gewöhnung: und dann ist es Lügnerei, noch von seiner Pflicht zu reden. Aber es geschieht fast immer. Fast jeder stellt seine Thätigkeit als eine unangenehme Sache vor, er will wegen seiner Selbstüberwindung d. h. wegen seiner Macht bewundert werden. Es giebt so viele erlogene Unannehmlichkeiten des Daseins! Ebenso viele erlogene Annehmlichkeiten, bei Fürsten Frauen Festen Müssiggängern Reisenden Christen Tugendhaften Völkern Parteien Philosophen Schriftstellern: man stellt sein "Glück" aus, meist um damit weh zu thun, Neid zu erregen.

6 [118]

Der Versud sämmtliche moralischen Triebe in den religiösen Tr<ieben> aufzulösen: Gott befiehlt und seinetwegen thut man etwas. Es ist nicht moralisch mehr. Daß man Gott fürchtet oder liebt, ist nicht eine Folge der Moralität, sondern eine Überlegung des Vortheils. Dies ist der christliche Standpunkt. Es soll nur religiöse Handlungen geben, alle Motive sind egoistisch, und die religiöse Handlung selber wird aus Egoismus gethan. Oder: jede Handlung ist böse. Also auch die religiöse. Deshalb Gnadenwahl! Dagegen sagen die Quietisten: ich handle nicht mehr um meinetwillen, sondern um Gottes willen. Welcher Tiefstand der Selbstkenntniß! Welche Unredlichkeit gehört dazu! Man ermesse es an der Frau, die sagt "ich thue alles um meines Geliebten willen!" Es ist nicht wahr! ja selbst dies "um des G<eliebten> willen" thut sie um ihrem Triebe zu folgen und nicht seinem. Denn da würde sie handeln wie er: was unmöglich ist. Sie kann nur nach dem Bilde des Geliebten handeln, das sie sich von ihm macht: ihr Erzeugniß wird gewiß nicht = dem Geliebten, sondern ein Stück von ihr.

6 [119]

In jedem kleinsten Augenblick giebt es in uns eine absolute Nothwendigkeit des Geschehens. Könnten wir diese einsehen, so könnten wir sie für jeden Fall mit dem Namen unbedingter Pflicht belegen, wenn wir durchaus uns frei lügen wollten! Wir sagen: ich will, wo wir <sagen> müßten: "ich muß": und sagten voraus, was eben geschehen wird, mit der Miene eines Wahrsagers und Pflichthelden. Dies wäre die Spitze aller Verlogenheit. Glücklicherweise weiß man jene Causalität nie : und "ich will" heißt immer "wenn ich kann". "Es ist meine Pflicht" heißt: "unter der Bedingung daß ich die Kraft habe, wird es gehen." Der Sonne befehlen aufzugehen, wenn sie gerade aufgeht, das ist die Freiheit unserer Tugendhaften. Wenn wir fühlen, daß ein belobtes und beliebtes Motiv in uns wirkt, dann zu sagen "ich will"! (soll heißen: "ich befehle mir") – – –

6 [120]

da alle unsere Handlungen absolute Nothwendigkeiten sind, und ebenso absolute Unbekannte für uns, so ist jedes "du sollst unbedingt" in den Wind geredet. Weder können wir anders als wir müssen, noch können wir im Einzelnen controliren, ob etwas geschehen ist, was wir sollten.

6 [121]

Die unangenehmen, an sich leidenden Individuen sollen die Tendenz zum Staate, zur Gesellschaft, zum Altruismus haben! Und die angenehmen, sich trauenden Individuen sollen den entgegengesetzten Trieb von jener Moralität weg, haben! NB NB

6 [122]

Die Skepsis hat ihre Parallele: "lieber hungern als etwas Ekelhaftes essen." Die Ansichten der Autoritäten sind uns ekelhaft geworden – lieber verhungern! Dies ist eine seltene Passion: die Skepsis ist eine Passion.

6 [123]

Zu wissen, "dies ist gesund, dies erhält am Leben, dies schädigt die Nachkommen" – ist durchaus noch kein Regulativ der Moral! Warum leben? Warum durchaus froh leben? Warum Nachkommen? – Gesetzt, es wäre dies alles angenehmer als das Gegentheil, sterben, krank sein, ohne Nachkommen isolirt sein: so wäre vielleicht irgend etwas angenehmer als diese Annehmlichkeiten z. B. das Gefühl seiner Ehre oder einer Erkenntniß oder einer Wollust, deretwegen wir das Sterben oder die Krankheit oder die Einsamkeit wählen müßten. Warum die Gattung erhalten? Man verweist uns an die Triebe: aber es giebt weder einen Trieb der Selbsterhaltung, noch einen Trieb der Gattungs-Erhaltung. Das Nicht sein könnte uns werthvoller scheinen als das Sein: dann hat die physiologische Ethik nichts zu sagen. Oder wir uns selber als der Staat die Gesellschaft, die Menschheit. Was bestimmt denn dies Wertherscheinen? Ein Trieb. Die Moral kann nur befehlen – d. h. durch Furchterregung sich durchsetzen (also mit Hülfe eines Triebes), oder sie kann mit Hülfe eines anderen Triebes sich legitimiren – sie setzt immer schon ihre unmittelbare Bewiesenheit und überzeugende Kraft voraus, sie kommt, wenn der Trieb und die Werthschätzung bestimmter Art schon da ist. Dies gilt von allen Ethiken. Auch ein Trieb, individuell zu leben, ist da: ich denke in seinen Diensten. Andere, die ihn nicht haben, werden zu nichts von mir verpflichtet werden können. "Pflicht" ist der Gedanke, durch den ein Trieb sich souverän über die anderen Triebe stellt – immer mit Benebelung des Verstandes! mit einem bestochenen Diener!

6 [124]

"Arrangire dich so, daß du das größtmögliche Glück von deinen Eigenschaften hast" das ist albern! Denn ohne allen Befehl: genau dies erreicht ein jeder, er mag leben, wie er will – nämlich muß! Daß er Vorschriften und Kenntnisse des Nützlichen erlangt, erwerben will, verlernt, abweist, das alles ist ein nothwendiges Wirken seiner Natur. Die Moral kann nichts thun als Bilder des Menschen aufzustellen wie die Kunst: vielleicht daß sie auf diesen und jenen wirken. Sie kann sie, streng genommen, nicht beweisen. "Höher" und "tiefer" – das sind schon Illusionen unter dem Eindruck eines moralischen Musters. Diese Bilder nämlich wirken als Reize, entzünden einen Trieb und verführen den Intellekt, ihm zu dienen. Nun ist unser Intellekt schon in einer bestimmten Höhe, ebenso unser Geschmack: also werden wir sehr viele Bilder abweisen, – sie ekeln uns an: in einem gegebenen Augenblicke unserer Kräfte können wir nicht anders als diese Bilder nachahmen. Dieser psychologische Zwang erscheint uns oft als "Pflicht": das Gefühl der unbedingten Nothwendigkeit, der Ausdruck der Causalität. Das innere Müssen". Z. B. in Hinsicht auf das Einmaleins, die Mechanik empfinden wir als Denker Pflicht, ebenso bei A = A : Menschen eines schlechten Intellekts fühlen hier den Zwang nicht. Natürlich ist dies subjektive Gefühl des Zwanges eben nur subjektiv. Viele Personen haben in nichts ein solches strenges Gefühl. Aber der Ekel, der uns befällt, beim Anblick von Maden, ist ein Zwang: einen solchen Zwang verschönern wir uns mit dem Worte Pflicht, wo wir genau wissen, daß gegenstrebende Zwange da sind.(??)

6 [125]

"Werde ein vernünftigerer freierer gefühlsvollerer, vollkommenerer Mensch, strebe nach der Vervollkommnung deiner Gattung"? Worauf dies Gesetz gründen? Auf den Nutzen des Individuums oder des Collectivums.

Manche sagen: alle Fähigkeiten entwickeln, indem man die welche Mittel und Organe sind denen unterordnet, die das eigentümliche Ziel der Menschen machen. Unsere Natur ist complex: man muß in ihr Thatsachen höherer und niederer Ordnung unterscheiden. Aber wodurch bin ich verpflichtet einem Ziele der Gattung zu folgen, wenn zufällig für mein Individuum die gewöhnliche Ordnung der Ziele und Mittel umgedreht ist? z. B. wenn ich mehr Hang zu den Freuden des Fleisches als denen des Geistes habe und einen eigenen Kopf, und das Bischen Geist eben das Mittel ist für meine Begierden? Hier hilft man mit metaphysischen Einfällen: die wahre Natur des Menschen, seine geistige Bestimmung und dergleichen.

"Du darfst ein Ziel wollen, wenn du es kannst." Ohne diese Bedingung: heißt es dem Menschen ein unbedingtes Vermögen geben, eine Kraft ohne Bedingung. Eine unbedingte Pflicht implicirt ein unbedingtes Vermögen sie zu erfüllen: sonst ist es eine Pflicht für ein anderes Wesen als ich, eine in der Luft aufgehängte Pflicht. – Wer von Pflicht und Freiheit redet, setzt metaphysische Principien voraus.

6 [126]

Es ist unwahr, daß die Religion die Moral gegeben hätte – umgekehrt! Wir beweisen die Religion mit der Moral als wahr oder unwahr.

6 [127]

Unsere moralischen Triebe drängen den Intellekt, sie zu vertheidigen und absolut zu nehmen, oder sie neu zu begründen. Unsere Selbsterhalt<ung>striebe treiben den Intellekt, die Moral

als relativ oder nichtig zu beweisen. Es ist ein Kampf der Triebe – im Intellekt abgespielt. Der Trieb der Redlichkeit tritt dazwischen – nebst den Trieben nach Aufopferung, Stolz, Verachtung: ich.

6 [128]

"der Erde Lust, der Erde Weh zu tragen"

6 [129]

Unser nervöses Zeitalter prätendirt, daß eine ewige Erregtheit und Ungleichheit der Stimmung die großen Menschen auszeichne: sie wissen nichts von dem gleichmäßigen tiefen mächtigen Strömen nach einem Ziele zu: sie plätschern und machen Getöse und fühlen nicht die Erbärmlichkeit dieser launischen Erregbarkeit.

6 [130]

Der Intellekt ist das Werkzeug unserer Triebe und nichts mehr, er wird nie frei. Er schärft sich im Kampf der verschiedenen Triebe, und verfeinert die Thätigkeit jedes einzelnen Triebes dadurch. In unserer größten Gerechtigkeit und Redlichkeit ist der Wille nach Macht, nach Unfehlbarkeit unserer Person: Skepsis ist nur in Hinsicht auf alle Autorität, wir wollen nicht düpirt sein, auch nicht von unseren Trieben! Aber was eigentlich will denn da nicht? Ein Trieb gewiß!

6 [131]

Wie ein Baum sich entfalten kann, ist nur durch ein Musterexemplar zu beweisen. Ohne solches hat man keinen Begriff, ihn über das herkömmliche Maaß hinaustreiben zu wollen, und ist zufrieden. Die ausgezeichneten Menschen machen die anderen mit sich unzufrieden: – – –

6 [132]

wie Sand zwischen den Zähnen

6 [133]

Ich höre den Ton eifersüchtiger Kater, in diesen neidischen Äußerungen

6 [134]

Der Moralist, der eine Moral gründen will, wird getrieben, einen letzten Zweck anzugeben. "Wenn ihr gesund sein wollt, so müßt ihr mäßig sein. Aber ihr müßt gesund sein wollen: denn es ist eine Bedingung, um glücklich zu sein oder um seine Ziele zu erfüllen oder usw." Ein neues Ziel zeigt sich hinter jedem Ziele: und der Moralist endet, den Zweck des Daseins angeben zu müssen. Ich könnte sagen: Zwecke des Daseins giebt es nicht, also ist eine Moralität um einen Zweck des Daseins zu erreichen nicht möglich. Aber man glaubte an solche Zwecke: und folglich konnte man eine Moral mit Forderungen gründen. Zuletzt entstehen nothwendig Arten und Gewohnheiten des Lebens und üben einen Zwang aus, weil es unangenehm ist, ihm zu widerstreben.

6 [135]

"Pflicht" heißt: ein Ziel wollen nicht um eines anderen willen, sondern um seiner selbst willen: also ein absolutes Ziel. Der kategorische Imperativ, ein Befehl ohne Bedingungen. Darauf gründete Kant eine Metaphysik: denn giebt es ein Ziel ohne Bedingung, so kann dies nur das Vollkommene oder das unendliche Gut sein: gäbe es noch etwas Vollkommeneres, oder ein höheres Gut, so wäre es nicht ein Ziel ohne Bedingung. Also: eine metaphysische Annahme zu machen, wie Kant!

6 [136]

"Was ist das Gute für ein Wesen? Die Vollendung seines Zieles. Was ist das Ziel eines Wesens? Die Entwicklung seiner Natur." Natur, Ziel, Gut eines Wesens – drei Fragen, die sich logisch nachziehen: so daß das Gut durch das Ziel, das Ziel durch die Natur bestimmt wird. Wenn man die menschliche Natur durch Beobachtung und Analyse kennt, kann man davon das Ziel, das Gut, das Gesetz des Menschen ableiten. Denn das Gute zieht den Gedanken der Verpflichtung nach sich. Vacherot.

Das heißt: das Ziel des Menschen ist die Entwicklung seiner Natur. "Mensch sein und nicht Pferd." Das ist nichts. Da hilft man sich mit der "wahren Natur" einer Natur wie sie ihm sein soll, nicht wie sie ist.

6 [137]

Ein Trieb ist stärker als der andere und bringt ihn sich zum Opfer z. B. wenn eine Mutter für ein Kind hungert und sorgt. Ganz falsch mit Spencer hierin, in der Pflege der Brut und schon in der Zeugung eine Äußerung des altruistischen Triebes zu sehen: nicht daß es ein Anderes ist, macht einen Unterschied. Man opfert seiner Rache z. B. sein eignes Kind. Oder man opfert seinem Kinde seine Rache – je nachdem ein Gefühl stärker ist. Das Opferbringen hat nichts Altruistisches.

6 [138]

Wer sehr abweichend denkt und empfindet, geht zu Grunde, er kann sich nicht fortpflanzen. Somit könnte es für den Grad der Individuation eine Grenze geben. In Zeiten, wo sie peinlich empfunden wird, wie in unserer (und wie in aller bisherigen moralischen Geschichte der Menschheit), vererbt sich der Trieb dazu schlecht. In Zeiten, wo sie lustvoll empfunden wird, übertreibt sie sich leicht und macht die äußerste Isolation (und verhindert dadurch die allgemeine Fruchtbarkeit der Menschheit) Je ähnlicher, desto mehr nimmt die Fruchtbarkeit zu, jeder trifft auf ein genügendes Weibchen: also Übervölkerung im Gefolge der Moral. Je unähnlicher, desto –

6 [139]

Unsere Musterbilder sind construirt nach dem, was uns an uns das meiste Vergnügen machen würde, wenn wir es erreichten, und was wir andererseits für möglich (im Bereich unserer Kräfte und unserer Lage) halten, zu erreichen. Ein Überblick über unsere Lustempfindungen, und über unsere Kraft und den Prozeß nebst Bedingungen ist die Voraussetzung – eine hohe Leistung des Intellekts: meistens wird es eine Verzeichnung sein müssen! Deshalb lassen sich die Meisten ein Musterbild geben : und den Zwang dazu, es nachzubilden ("Pflicht", eine Art geglaubter Kraft, anstatt einer erkannten) Das Verfehlen seines Bildes und die Verfehlung der Nachbildung macht viele schwere Unzufriedenheit – diese Malerei hat auch selten Meister. Man zeichnet sein Leben lang herum, um ein nachbildungsfähiges Muster zu erlangen: wir formen es nach dem, was wir erreicht haben und dekretiren es als das Muster – oft aus Verzweiflung.

6 [140]

Ehemals fragte man: ist der Gedanke wahr? jetzt: wie sind wir auf ihn gekommen? Welches war seine treibende Kraft? Entdecken wir – – –

6 [141]

Die Zeugung ist eine oft eintretende gelegentliche Folge einer Art der Befriedigung des geschlechtlichen Triebes: nicht dessen Absicht, nicht dessen nothwendige Wirkung. Der Geschlechtstrieb hat zur Zeugung kein nothwendiges Verhältniß: gelegentlich wird durch ihn jener Erfolg mit erreicht, wie die Ernährung durch die Lust des Essens.

6 [142]

Die Verfeinerung der Intelligenz verfeinert auch unsere Bosheit, und die Lust am Intellekt giebt uns zuletzt auch Lust an der verfeinerten Bosheit der Anderen. Der Fortschritt besteht in dem Grade, als der Mensch Bosheit vertragen kann, ohne zu leiden.

6 [143]

Christus trug nicht nur Gott, sondern auch den Satan in seinem Busen: das ist die Gegenrechnung bei diesem moralischen Hyperidealismus: die absolute Verdammung des Menschen, das odium generis humani. Um die Menschheit eines solchen Opfers eines Gottes werth zu fühlen, mußte man sie in's Tiefste verachten und vor sich herabwürdigen.

6 [144]

die Moralität ist eine Summe von Irrthümern, welche sich an die Triebe angeschmolzen haben, so daß wenn der Irrthum gesagt wird, der Trieb sich regt – übrigens wechselnd und ohne concordia. Diese Irrthümer beziehen sich auf das Handeln des Menschen vom Gesichtspunkt des Lobens- und Tadelnswerthen aus: und hinter Loben und Tadeln liegt die Voraussetzung, daß man den Zweck des Menschen kennt und ebenso daß man die Art des Handelns kennt und daß man an die Freiheit des H<andeln>s glaubt: ebenso daß man an die Identität der Menschen oder bestimmter Gruppen glaubt, also mit gleichwerthigen Pflichten und Handlungen: daß man wisse, was jenem letzten Zweck nützlich ist, was nicht. Es sind lauter Anmaaßungen des Intellekts. Aber die dadurch modificirten Triebe wollen ihre Befriedigung, und dies treibt Moralsysteme auch heraus, immer neue Versuche, diese Triebe nachträglich mit der Wahrheit im Einklang zu finden – während die naiven Menschen alle anderen Erkenntnisse nach den moralischen Trieben auf ihre Wahrheit hin messen. Das Grundvorurtheil ist: "das Moralische allein ist wahr".

6 [145]

NB NB. Es giebt keinen Selbsterhaltungstrieb – sondern das Angenehme suchen, dem Unangenehmen entgehen erklärt alles, was man jenem Trieb zuschreibt. Es giebt auch keinen Trieb als Gattung fortexistiren zu wollen. Das ist alles Mythologie (noch bei Spencer und Littré). Die Generation ist eine Sache der Lust: ihre Folge ist die Fortpflanzung d. h. ohne Fortpflanzung würde sich diese Art Lust und keine Art Lust erhalten haben. Die geschlechtliche Begierde hat nichts mit der Fortpflanzung der Gattung zu thun! Der Genuß der Nahrung hat nichts mit der Erhaltung zu thun!

6 [146]

Zu beweisen, daß egoistischer Herkunft sind a) die Liebe b) die Elternliebe c) der Wahrheitssinn d) die Gerechtigkeit. Allerdings ist die Voraussetzung, daß das Sinnenbild der Welt in allen Menschen nahe zu gleich ist, daß diese Art Irrthum mit höchster Gewalt sich vererbt hat.

6 [147]

Wir können aus allen unseren Kräften viele Gestalten formen, oder auch die Absenz der Gestalt. Es giebt eine gewisse künstlerische Freiheit in der Vorstellung unserer Muster, die wir erreichen können.

6 [148]

"Moralisches Gesetz, Pflicht, moralische Freiheit, Unverletzlichkeit, absoluter Respekt vor der Person" – alles uns verboten, damit darf man sich nicht nähren. Ebenso Zwecke der Menschheit, Zweck des Individuums – das ist nicht außer ihm zu bestimmen: es ist eine Annahme, ein mehr oder weniger willkürliches Programm – willkürlich in Bezug auf das Material, das zufällige Material seiner Kenntnisse von sich. –

6 [149]

Es giebt kein Gutes, kein Böses an sich. Die "allgemeinen Wahrheiten" der Moral wollten die Menschen einander identisch formen – durch tief mit den Trieben verbundene Irrthümer. Wie der patriotische Irrthum sie gleich macht in der Beschränktheit von Liebe und nationalem Haß.

6 [150]

"Die wahre Natur des Menschen" – verbotene Wendung!

6 [151]

Ich bin kein Mittel zu einem Zweck – es giebt in der Natur weder Mittel, noch Zwecke.

6 [152]

Es ist Unsinn, uns als Ursachen zu fassen – was wissen wir von Ursache und Wirkung!

6 [153]

Lust und Schmerz: ist es wahr, daß das individuellste Wesen von sich am meisten Lust hätte? Ja, und noch mehr, wenn es den Reiz von lauter individuellen Wesen um sich hat. "Wie aber verhindern, daß sie sich einander in die Sphäre greifen?" Aber warum verhindern! Es muß Feindseligkeit geben, damit das I<ndividuum> ganz herrlich herauskommt, alle bösen Affekte müssen da sein. Die Moralität fortgedacht! Aber die zunehmende Erkenntniß, die zunehmende Lust aneinander, die überlegene Miene bei allen schlimmen Erlebnissen, die Ressourcen der vollen Individuen in Nothfällen, im Kampfe mit dem Unveränderlichen! Zuletzt: es giebt eben nur eine Zeit für das Aufblühen der Individuation – und vielleicht muß die Menschheit an der – Moral zu Grunde gehen.

6 [154]

"Du sollst nicht tödten" – aber fortwährend tödten wir die Gedanken und Produkte Anderer, es ist nöthig, fortwährend lassen wir in uns etwas sterben, damit etwas anderes lebe. Wie das Leben des Menschen mit einem fortwährenden Absterbenlassen Hand in Hand geht: die Menschheit muß sich immer häuten.

6 [155]

Der Geschlechtstrieb macht die großen Schritte der Individuation: für meine Moral wichtig, denn er ist antisocial, und leugnet die allgemeine Gleichheit und den gleichen Werth von Mensch zu Mensch. Er ist der Typus individueller Leidenschaft, die große Erziehung dazu: der Verfall eines Volkes geschieht in dem Maaße als die individuelle Passion nachläßt, und die socialen Gründe bei der Verheiratung überwiegen. – Die Scheidung der Geschlechter ist nicht fundamental, die Zeugung ist nicht essentiell geschlechtlich, und gehört nicht zum Wesen des Lebendigen. Es ist ein sehr starker Ausdruck der individuellen Lust; je höher die Wesen sind, um so stärker wird das Individuelle daran.

"Generation ist die Wiederholung einer Zelle durch sich selber, eine Verlängerung und Reproduktion" eine Art Überfülle, wo ein Theil der vollkommenen und reichlich ernährten Masse sich trennt und oft folgt eine Fortsetzung der Ernährung auch nach der Abtrennung.

Die Generation ist eine Folge der Ernährung.

6 [156]

Die Wurzel des Verstandes ist A = A? nein! A = B, der Glaube, daß zwei gleiche Dinge da sind. Die höchste Entwicklung des Verstandes geht darauf hin, es zu leugnen und sich selber somit anzuzweifeln und zu beschränken.

6 [157]

Ist das letzte Ziel die Lust oder die Pflicht? so fassen jetzt alle das Problem. Einige sagen, es sei die logische Identität.

Keine Handlung, die überhaupt möglich ist, ist ungereimt unlogisch im Sinne der Mathem<atiker> Physiker und Mechaniker.

6 [158]

Sobald wir den Zweck des Menschen bestimmen wollen, stellen wir einen Begriff vom Menschen voran. Aber es giebt nur Individuen, aus den bisher bekannten kann der Begriff nur so gewonnen sein, daß man das Individuelle abstreift, – also den Zweck des Menschen aufstellen hieße die Individuen in ihrem Individuellwerden verhindern und sie heißen, allgemein zu werden. Sollte nicht umgekehrt jedes Individuum der Versuch sein, eine höhere Gattung als den Menschen zu erreichen, vermöge seiner individuellsten Dinge? Meine Moral wäre die, dem Menschen seinen Allgemeincharakter immer mehr zu nehmen und ihn zu spezialisiren, bis zu einem Grade unverständlicher für die Anderen zu machen (und damit zum Gegenstand der Erlebnisse, des Staunens, der Belehrung für sie)

6 [159]

Entwickle alle deine Kräfte – aber d. h. entwickle die Anarchie! Gehe zu Grunde!

6 [160]

Unsere Liebe zum Ideal ist die letzte Steigerung des Ernährungstriebes (ebenso Eigenliebe Eigenthumsliebe, das Bedürfniß der Macht, nach Mitteln für Leben und Gesundheit) L<ittre'>

6 [161]

Die Entwicklung des Geschlechtstriebes bis zur Höhe der Menschenliebe, des Mitleids, der Aufopferung – nicht ein feindliches, sondern das höchste Gefühl der Menschheit. Littré. Non! non!

6 [162]

Die Identität des einen Menschen mit dem anderen erkennen – soll Grundlage der Gerechtigkeit sein? Dies ist eine sehr oberflächliche Identität. Für die, welche Individuen erkennen, ist Gerechtigkeit unmöglich – ego.

6 [163]

Der Fortschritt der Moral bestünde in dem überwiegen altruistischer Triebe über egoistische und ebenso der allgemeinen Urtheile über die individuellen? Ist jetzt der locus communis. Ich sehe dagegen das Individuum wachsen, welches seine wohl verstandenen Interessen gegen andere Individuen vertritt (Gerechtigkeit unter Gleichen, insofern es das andere Individuum als solches anerkennt und fördert); ich sehe die Urtheile individueller werden und die allgemeinen Urtheile flacher und schablonenhafter werden. Ich sehe die altruistischen Triebe am stärksten beim groben Egoism der Thiere (es ist eine Gattung von Bejahung der eigenen Lust), der altruistische Trieb ist ein Hinderniß für die Anerkennung des Individuums, er will den Anderen als uns gleich haben und machen. Ich sehe in der staatlichen und gesellschaftlichen Tendenz eine Hemmung für die Individuation, ein Ausbilden des homo communis: aber der gemeine und gleiche Mensch wird nur deshalb so begehrt, weil die schwachen Menschen das starke Individuum fürchten und lieber die allgemeine Schwächung wollen, statt der Entwicklung zum Individuellen. Ich sehe in der jetzigen Moral die Beschönigung der allgemeinen Schwächung: wie das Christenthum die starken und geistigen Menschen schwächen und gleichmachen wollte. Die Tendenz der altruistischen Moral ist der sanfte Brei, der weiche Sand der Menschheit. Die Tendenz der allgemeinen Urtheile ist die Gemeinsamkeit der Gefühle, das ist ihre Armut und Mattigkeit. Es ist die Tendenz nach dem Ende der Menschheit. Die "absoluten Wahrheiten" sind das Werkzeug der Nivellirung, sie fressen die charaktervollen Formen hinweg.

6 [164]

der Geschlechtstrieb, drängt die Menschen von den anderen Menschen fort, er ist ein wüthender Egoism und keine Quelle socialer Gefühle – nicht altruistisch!!

6 [165]

Das Junge ist abhängig vom Erzeuger, ihm ähnlich, ihm verständlich, unterhaltend, sein Werk – mehr noch, es ist 1. nichts Feindliches, 2. nichts Fremdes, 3. nichts Todtes: diese letzteren negativen Gründe mögen erst den Reiz für das Junge geschaffen haben. Es gab so wenig oder nichts in der Welt, welches in diesen 3 Punkten ihm glich.

6 [166]

Die Redlichkeit in Betreff des Eigenthums nöthigt uns zu sagen, daß wir ganz zusammengestohlen sind, und daß wir allzustumpf und unfein hierin empfinden. Das Individuum hat einen falschen Stolz in Bezug auf Stoff und Farben: aber es kann ein neues Bild malen, zum Entzücken der Kenner – damit macht es sein Vergreifen an den Gütern der Welt wieder gut. Unsere Existenz so auffassen, daß wir etwas dafür zu leisten haben – nicht als "Schuld", aber als Vorschuß und Schulden! Wir nähren uns von Allem, es ist billig, daß wir etwas zur Nahrung Aller zurückgeben. (Christus war nicht fein in diesem Gefühle, er theilte als Eigenes mit, was Andere vor ihm erdacht hatten)

6 [167]

Man leidet und verunglimpft Dinge und Menschen!. Eine schöne Art Rache zu nehmen!, indem wir unser Urtheil schädigen! Wir sind es, die an uns selber die Rache üben, wenn wir Anderes verunglimpfen und ihm schaden. Wir trüben unsere Seele, gewöhnen sie an das Falschsehen – und endlich – –

6 [168]

Edel: bezeichnet, einer Auswahl angehören, Ausnahme sein. Für andere sich opfern ist ein Gelüst, mit dem man zur Ausnahme wird. In Hinsicht auf alle Anderen, welche dasselbe thun, ist man aber nicht edel, sondern gemein. Unter den "Guten" ist das Gute nicht als individuell taxirt, sondern als Regel, und wird deshalb nicht angestaunt, nicht gelobt. – Einige sehnen sich nach einer Gemeinschaft, wo ihr Individuellstes als Regel empfunden wird, wo es aufhört I<ndividuellstes> zu sein. Andere sind wüthend bei der Vorstellung solchen Gemeinwerdens. Die Ersten leiden an dem Fatum ihrer Einzigkeit, die Anderen genießen ihre Einzigkeit. Andere merken sie gar nicht.

6 [169]

Zwei Interessen für Sachen: 1. zu wissen, was sie sind 2: was daraus zu machen ist.

6 [170]

Im Ganzen habe ich, wie blind im Wasser schwimmend, mich der Reihe nach der mir nöthigen Nahrung genähert: Schärfung des Intellektes, nachher Aufschwung und Aufopferung des Selbst, nachher Gerechtigkeit und Selbstständigkeit, nachher umsichtige Milde gegen alles Selbständige usw. Nicht mit Urtheil: sondern das Übermaaß trieb mich immer wieder davon und der neue Geschmack that mir wohl. Der Schmerz lehrte mich, die verstreute Freude in dem Dasein würdigen, die Partei lehrte mich die Einsamkeit: der Gelehrte in mir trieb mich den Künstler zu verstehen usw.

6 [171]

Goethes vorsichtige Haltung zur Musik: sehr vortheilhaft, daß die deutsche Neigung zur Unklarheit nicht noch einen künstlerischen Rückhalt bekam.

6 [172]

der angenehme Schauder beim Glockenton

6 [173]

Diese handeln ganz egoistisch, aber ihr moralisches Urtheil ist erzogen, alles sofort unter dem Gesichtspunkt des Löblichen und Tugendhaften zu sehen: sie sind vollendet in ihrer Unredlichkeit gegen sich und präsentiren in der Gesellschaft das "gute Gewissen". Andere sind höher, aber ihr Urtheil ist pessimistischen Gewohnheiten hingegeben, sie legen sich alles egoistisch aus und sie verachten alles Egoistische. Ihre edelsten Handlungen hinterlassen in ihnen einen Bodensatz von Ekel. Es sind die, welche an eine Tugend glauben, die es nicht giebt und geben kann! Sie sind redlich, aber haben von ihrer Redlichkeit nur Qual, und Ekel an sich: weil ihr Lustgefühl auf Handlungen beschränkt ist, deren sie selber sich nicht fähig wissen: aber sie schließen, es müßten Anderen diese Handlungen möglich sein: was nicht wahr ist. Der welcher sagte "ich habe das Gesetz erfüllt" war gewiß nicht sehr anspruchsvoll in der Ausdeutung desselben und kein Grübler.

6 [174]

"Du sollst nicht stehlen!" Aber wo hört denn das Eigenthum auf? Ein Gedanke, ein Antrieb, ein Gesichtspunkt, der Ausdruck eines Bildes, eines Gebäudes, eines Menschen – ist es nicht alles Eigenthum? Und alles stehlen wir fortwährend. Wir stehlen alle Dinge und Sonnen in uns hinein, wir tragen alles für uns fort, was da ist, ja ehemals geschehen ist. Wir denken nicht an die Anderen dabei. Jeder individuelle Mensch sieht zu, was er alles für sich bei Seite schaffen kann.

6 [175]

Die höhere Natur ist unvernünftiger als die gemeine, und hat einige Lust- und Unlusttriebe so stark, wie jener sie kaum glaublich sind. In Bezug auf diese pausirt ihr Denken mitunter oder tritt ganz in den Dienst. Man spricht von Leidenschaft; ihre Befriedigung ist ihr wichtiger als das Leben. Aber so auch die Trinker die Wollüstigen die Rachsüchtigen. Es muß das Objekt der Leidenschaft sein, was sie adelt und zum Zeichen der höheren Natur macht. Nicht Essen Trinken Wollust: sondern Dinge, welche selten stark empfunden werden z. B. Gedanken, Erkenntniß, das Wohl einer Stadt, eines Staates, der Menschheit, das Heil der Seele, das Glück Anderer. Also etwas, das gewöhnlich kalt läßt, ist hier Objekt der Leidenschaft – das macht die höhere Natur: ihr Geschmack richtet sich auf Ausnahmen. Es ist der individuelle Geschmack, der hier hervortritt: zu begreifen ist so eine Leidenschaft nicht, so wenig das Individuum zu begreifen ist. Die höhere Natur hat eine Singularität der Passion: sie ist nicht gemein, folglich nicht berechenbar. Ihre Unvernunft ist hierin groß; sie bringt einer Sache die größten Opfer, für die sie allein ein Werthmaaß hat: sie kehrt sich nicht an das Werthmaaß Anderer. Also: ein singuläres Werthmaaß im Gefühle haben macht die höhere Natur: entweder andere Dinge schätzen als geschätzt werden oder Dinge anders schätzen als sie g<eschätzt> W<erden>. – Die gemeinen Naturen glauben nicht an die Verschiedenheit der Maaßstäbe d. h. sie glauben nicht an Individuen? "Ich glaube an Individuen" – so die höhere Natur? – Und sie betrügt sich oft, insofern sie individuelle Urtheile und Maaßstäbe bei Anderen voraussetzt und nicht jenen praktischen Kniff in der Hand hat, sie als Niveau-menschen zu verstehen (: wie Napoleon, der selber ein solcher war).

Eine Unterart: höhere Naturen, welche überall ihr eigenes Individuum, und ihren Maaßstab des Gefühls voraussetzen, ihre eigene Geschichte also – und nicht das Individuelle anerkennen, ebenso wenig als sie das Gemeine verstehen (z. B. Christus). Sie wissen sich selber nicht als individuell. – Die andere Art: sie wissen sich individuell, sie verstehen Individuen, aber sehen nur die Gemeinheit – diese müssen sie lernen. Vielleicht haben sie selbst die Gluth dafür, die Gemeinheit zu ergründen – es ist eine mögliche Passion (La Rochefoucauld?)

6 [176]

Fortwährend ist eine Bewegung da zur Bildung von Gattungen, von Menschen mit gemeinsamem Gepräge: Städte Staaten Culturen arbeiten darauf hin. Die Statistik ist der Beweis. Die abweichenden Übergangsnaturen (zwischen zwei Gattungen) oder die entartenden sind die individuellen oder die Versuche, innerhalb der Gattungen eine Species aufzustellen.

6 [177]

"Man ist nicht das, was man immer ist, man ist das, was man sehr oft ist" Rémusat.

6 [178]

Also: nicht das Aufopfern macht den Edlen, damit gehört er erst in die Kategorie des Leidenschaftlichen (wie z. B. der rasend Wollüstige sich aufopfert) es giebt niedrige Leidenschaften d. h. gemeinsame und höhere individuelle. Der Edle opfert hier eine individuelle Leidenschaft: nicht daß er für Andere sich opfert, macht ihn edel, sondern die Seltenheit dieses Triebes für Andere – eine individuelle Sonderheit, wie viele andere Sonderheiten, die auch edel machen.

6 [179]

Das Christenthum verlangte eigentlich nichts als ein intellektuelles Opfer: daß an Christus geglaubt werde. – Wer solchen Werth darauf legt, daß an ihn geglaubt werde, daß er den Himmel dafür garantirt – muß einen furchtbaren Zweifel gehabt haben? Oder?

6 [180]

Die geflügelte Göttin, die auf einen ehernen Schild deine That einschreibt und welche die Menschen anbeten

6 [181]

dieser kann die Verwandtschaftsgrade nicht fassen, geschweige daß er ein feines Gefühl der Verpflichtung für die verschiedenen hätte! ego

6 [182]

Das Peinlichste für mich ist, mich vertheidigen zu müssen. Dabei werde ich inne, daß ich erst meine Art zu sein mit der Anderer vergleichen müsse und daß ich ihr verständliche Motive unterschieben müsse: daran nicht gewöhnt, weiß ich, daß es mir mißlingt. Ja jede Präsentation meines Bildes durch Andere setzt mich in Verwirrung "das bin ich ganz gewiß nicht!" ist meine Empfindung; wenn ich mich bedanken wollte, erschien ich mir unredlich.

6 [183]

Die Lehre der Mäßigung ist eine Beobachtung der Natur, was hoch und stark werden soll, muß seine Kraft immer wie ein Capital vergrößern und darf selber davon nicht leben wollen.

6 [184]

Unsere Gedanken sind als Gebärden anzusehen, unseren Trieben entsprechend, wie alle Gebärden. Darwins Theorie ist heranzuführen.

6 [185]

Wie streng ist man gegen Calvin wegen Einer Hinrichtung! Und Christus verwies alle, die nicht an ihn glaubten, in die Hölle – und Menschen, noch furchtbarer als er, fügten hinzu: "mit rückwirkender Kraft".

6 [186]

Es giebt eine gierige und athemlose Art zu denken. Auch hier ist Moralität nöthig

6 [187]

Die Unabhängigkeit ist kein Genuß mehr, wenn ihr der Stachel fehlt. – Und bei der absoluten Unmöglichkeit eines Blicks auf die Unabhängigkeit verliert die Abhängigkeit ihr Unangenehmes. So bei der Unfreiheit des Willens – wir haben den Stachel der uralten Illusion abzubrechen! dann sind wir ganz froh und zufrieden.

6 [188]

"Das Bedürfniß über seinen Herrn Illusionen zu unterhalten, weil die menschliche Eitelkeit nicht liebt, zu erröthen über den, dem man sich unterworfen hat"

6 [189]

Ein Reich ganz unmenschlicher Necessität enthüllt sich immer mehr! Endlich lachen wir selber mit, zu sehen, wie wir ehemals mit unseren Trieben und Triebchen das zu ersetzen und verstehen meinten, mit Neigung und Haß, Wille oder Zweck usw. Die Welt als eine Menschen-Welt ist uns ein Gelächter geworden: wie die Astrologie. Unsere Stellung zu dieser Welt möglichst pathetisch einzunehmen war das Bestreben aller Philosophen: die Idealisten zuletzt wußten uns zur Hauptsache zu machen und die Welt zu einer Art Erzeugniß von uns: als ob der Spiegel sagte: „ohne mich ist nichts, ich bin der Urheber".

Zuletzt sind wir selber in das ungeheure System eingeflochten und bewegen uns in ihm: immer aber bleibt uns noch genug des Unerkannten an uns, und das bleibt der Tummelplatz unseres Hochmuthes. Ja, nachdem wir so viel von der Position des Menschen in der Welt preisgegeben, findet auf dieser letzten Stätte ein Kampf um die "höchsten Rechte der Menschheit", einer um Leben und Tod statt. Es ist der ganze Stolz, und alle Triebe dienen ihm dabei! Der höhere Werth der Moralität wird kühn dem ganzen Weltgesetz entgegengesetzt, und menschliche Ziele als Ziel der Welt gesetzt. Mit "gut" und "schön" und "wahr" meint man die Ausnahmestellung, seine Göttlichkeit bewiesen zu haben: die Wissenschaft im Dienste der alten Triebe kämpft und vertheidigt den Gott im Menschen, nachdem sie ihn sonst hat fahren lassen – den freien Gott.

6 [190]

Napoleons Streben gieng nach Macht: er hätte den Frieden vorgezogen, wenn der ihm Vergrößerung der Macht geben würde.

6 [191]

Niemals sich lieben lassen, sondern wo man nicht den Impuls der Gegenliebe fühlt, dann die Liebe des Anderen verhindern, und wenn es nöthig wäre, ihn zu verspotten, ja uns vor ihm zu erniedrigen! Künstler (und Weiber!) werden durch nichts gemeiner als durch das Sich-lieben-lassen. Wir sollen verhindern, daß wir das Ideal eines Anderen werden: so vergeudet er seine Kraft, sich selber sein ganz eigenes Ideal zu bilden, wir führen ihn irre und von sich ab – wir sollen alles thun, ihn aufzuklären oder wegzustoßen. – Eine Ehe eine Freundschaft sollte das Mittel sein, das seltene!! unser eigenes Ideal durch ein anderes Ideal zu stärken: wir sollten das Ideal des Anderen auch sehen und von ihm aus das unsrige!

6 [192]

Wo sind die großen Seelen hin? Was man jetzt so nennt – da sehe ich nicht mehr als Menschen, die mit einem ungeheuren Aufwand von Kraft vor sich selber Komödie spielen, vor sich selber Effekt machen wollen, und mit einer kaum erdenklichen Gier nach dem Publikum hinhorchen, weil dessen Applaus und Vergötterung ihnen selber den Glauben an sich geben soll. Ihre Wirkung auf Andere ist für diese durch allzugroße Anstrengung immer Erschöpften eine Kraftbrühe. Es ist eine Krankheitsgeschichte!

6 [193]

In Frankreich hat jede persönliche Beziehung (Liebe Freundschaft) eine Tagesgeschichte . "Beständig veränderlich" – sonst langweilig. Dies wäre für Italiener eine Marter, sie haben das ruhige Vertrauen, wie Kühe – die geringste Nuance, die sie wahrnehmen – die meisten würden sie nicht wahrnehmen – bringt sie fast um. St<endhal>

6 [194]

"Mist thut mehr Wunder als die Heiligen" – Sicilien.

6 [195]

In Deutschland fehlt alle moralische Erziehung.

6 [196]

Schweigen lernen und weggehen lernen. Überall wo ein bestimmter Widerspruch zum Leben gehört und unserem Wesen die Luft nimmt, soll man weggehen.

6 [197]

"das Gefühl der Wasserwage und des Perpendikels, das uns eigentlich zu Menschen macht und der Grund aller Eurythmie ist" Goethe

6 [198]

Es giebt nichts Alberneres als jemanden in dem zu verhöhnen, was die Tüchtigkeit seines Berufs z. B. des Gelehrten ausmacht: wie es die verwöhnten Kinder, die Künstler sich erlauben.

6 [199]

Wirkliche Größe des Charakters bei einem Musiker hat nur S. Bach.

6 [200]

der kaufmännische Geist hat die große Aufgabe, den Menschen, die der Erhebung unfähig sind, eine Leidenschaft einzupflanzen, die ihnen weite Ziele und eine vernünftige Verwendung des Tages giebt, zugleich aber auch sie so aufbraucht, daß sie alles Individuelle nivellirt und vor dem Geiste wie vor einer Ausschweifung schützt. Er bildet eine neue Gattung Menschen welche die Bedeutung haben wie die Sklaven im Alterthum. Daß sie reich werden, giebt ihnen so lange Einfluß, als die Geistmächtigen ihren Vortheil nicht kennen, und Politik machen wollen. Dieser Arbeiterstand zwingt auf die Dauer die höheren Nat<uren> sich auszuscheiden und eine Aristokratie zu bilden. Einstweilen gehören die Künstler und Gelehrten zu diesem Arbeiterstande, sie dienen ihm, weil sie viel Geld wollen. Die Unfähigkeit der Muße und der Leidenschaft ist Allen zu eigen (folglich eine große Affektation von beiden bei den Künstlern, weil diese durch etwas Ungewöhnliches unterhalten wollen) Das Geldinteresse zwingt ihnen ein politisches Interesse auf, und dies ein religiöses Interesse: sie müssen Theile von sich selber in Abhängigkeit und Respekt erhalten – deshalb die englische Bigotterie, als die des kaufmännischen Geistes.

6 [201]

Was sich – nicht vererbt, ist noch wichtiger für die Crystallisation des Charakters als was sich vererbt. Ein edler Charakter d. h. eine Anzahl Gewohnheiten Gesichtspunkte nicht zur Hand haben, die Anderen bequem sind.

6 [202]

Wenn wir essen spazierengehen gesellig oder einsam leben, es soll bis ins Kleinste die hohe Absicht unserer Leidenschaft uns dabei bestimmen, und zwar so daß sie die Vernunft und die Wissenschaft in ihren Dienst genommen <hat> und mit tiefer Gluth die gerade für sie passenden Weisungen von ihr abfragt. Nicht blind seinen wenn auch großen Trieben folgen: sondern die ganze bisherige Erkenntniß heranziehen: so allein denkt man hoch genug von sich: Alles, was bisher erkannt wurde, ist werth deiner Leidenschaft zu dienen. Wer sich leicht mit der Wissenschaft abfindet oder phantastisch wird bei ihrem Gebrauche, hat nicht die Tiefen untrüglicher Ehrfurcht vor seiner Leidenschaft, der kein Opfer zu groß ist. Unser Wesen auf die ganze Welt bisheriger Erfahrungen der Menschheit stützen! – Ihr macht Partei und übt Liebe und Haß – hättet ihr mehr Ehrfurcht vor eurem Werk, hieltet ihr es ernstlich für eine wichtige Angelegenheit, so würde<t> ihr Grauen empfinden, euer Urtheil so zu blenden, ihr müßtet mit Gluth die Erkenntniß befragen und über euch selber redlich werden. Die Leidenschaft treibt uns immer wieder aus unserer Ruhe hinaus: unser Ideal will immer höhere Bestätigungen und Opfer, und dadurch selber immer wachsen und sich reinigen. – Ihr seid in euch verliebt, aber es ist eine vorübergehende Laune, ein kleines Stückchen Geschlechtstrieb, ihr ahnt es auch, daß man Launen mit Launen befriedigen muß, ihr seid nur beliebig! Oder ihr seid ehrgeizig verliebt in euer Ideal und thut für dasselbe alles, was unter Menschen Aufsehen und Ansehen macht, es ist euch Öffentlichkeit eurer Leidenschaft nöthig, im Stillsten und Geheimsten langweilt ihr euch dabei. Ihr schafft euer Werk, aber das Spiegelbild eurer selbst in den Köpfen Anderer ist das Ziel, das hinter dem Werke steht, es ist ein Vergrößerungsglas, das ihr den Anderen vor die Augen haltet, wenn sie nach euch hinblicken! – Viele machen ihr Werk ordentlich, wie sie es gewöhnt worden sind bei strengen Lehrern, sie sprechen von Pflichtgefühl und fordern Pflicht – aber sie haben einen Gewissensbiß, denn sie sollten nur etwas Außerordentliches thun!

6 [203]

Nicht daß wir den Menschen helfen und nützen wollen: nein, daß wir Freude haben an den Menschen, das ist das Wesentliche am sogenannten guten Menschen und an der Moralität. Es ist das Neue, das Späterreichte. Unsere "guten Handlungen" verstehen sich bei dieser Freude von selber: wenn wir sie nicht fürchten und nicht anfeinden und doch zahllose Relationen zu ihnen haben, so können dies keine anderen sein als solche, welche unsere Freude an ihnen vermehren d. h. wir bemühen uns, sie im Streben nach stilisirter Individualität zu fördern, mindestens den Anblick des Häßlichen (Leidenden) zu beseitigen. Liebe zu den Menschen?? Aber ich sage: Freude an den Menschen! Und damit diese nicht unsinnig ist, muß man helfen, daß es das giebt, was uns erfreut. – Man sieht: die Redlichkeit über uns und die Anerkennung der fremden Natur, die Geschmacksentwicklung, welche den Anblick schöner freudiger Menschen nöthig hat, muß vorausgehen. Hier findet eine Selection statt: wir suchen die aus, die uns Freude machen und fördern sie und fliehen vor den Anderen – das ist die rechte Moralität! Absterbenmachen der Kläglichen Verbildeten Entarteten muß die Tendenz sein! Nicht aufrechterhalten um jeden Preis! So schön die Gesinnung der Gnade gegen die unser Unwürdigen ist, und das Helfen gegen die Schlechten und Schwachen – im Ganzen ist es eine Ausnahme, und es würde die Menschheit dabei im Ganzen gemein werden (wie z. B. durch das Christenthum) Immer ist auf die natürlichen Triebe zu bauen: "Freude zu machen dem, der uns erfreut, und Leid dem, der uns verdrießt." Wir vertilgen die wilden Thiere, und wir züchten die zahmen: dies ist ein großer Instinkt. Wir entarten selber beim Anblick des Häßlichen und der Berührung mit ihm; Schutzdämme aufwerfen! Es nivelliren zu einer Nutzbarkeit! und dergleichen.

Wenn man nur mit denen verkehrt, deren Berührung uns erfreut und erhebt, so werden sich Gruppen und Schichten bilden, die wiederum in einem solchen Verhältniß von näherer oder fernerer Entfremdung stehen. Dies ist sehr gut, ein nothwendiger Bau der Gesellschaft, aus Redlichkeit!

6 [204]

An sich sind die Triebe weder gut noch böse für die Empfindung. Aber es bildet sich doch eine Rangordnung, dadurch daß die Befriedigung einiger mit Furcht verbunden ist, und diese stehen im Gefühle niedriger als die welche lustvoll sind. Dieser Gradunterschied wird im moralischen Urtheil zu einem Gegensatz. Wenn ein Trieb immer mit dem Gefühl des Verbotenen und der Angst befriedigt wird, so entsteht eine Aversion vor ihm: wir halten ihn nun für böse. Wir haben eine Nebenempfindung untrennbar an ihn geknüpft, es ist eine Einheit entstanden. "Eine böse Handlung." Wer sich nichts verboten fühlt und alles thut, was er will, der weiß nichts von gut und böse. Wer sich vieles verboten fühlt und nichts davon thut, fühlt sich gut, gleichgültig wer verbietet, ob einer die Gewalt über uns hat oder wir selber! – der vollkommene Mensch verbietet sich sehr viel (unendlich mehr als Andere ahnen können!) und fühlt sich deshalb gut : es ist die kunstvoll gebändigte und umgedeutete Natur: denn sie ist werdend, und nicht um Einmal bauen oder Niederreißen handelt es sich – es ist ein schwebender Garten.

6 [205]

Man soll durchaus nicht in Verhältnissen bleiben, wo unsere kleinlichen Erregungen täglich geübt werden – es ist der stärkste Grund, eine Ehe, eine Partei, eine Freundschaft zu lösen, ein Amt aufzugeben. Wenn du in der Einsamkeit groß bist, so wisse, daß du dich anderwärts verdirbst. Machtvolle Milde – wo diese Stimmung dich ergreift, da bist du in dir – und dort gründe dein Haus!

6 [206]

Ich rede nicht zu den Schwachen: diese wollen gehorchen und stürzen überall auf die Sklaverei los. Wir fühlen uns Angesichts der unerbittlichen Natur immer noch selber als unerbittliche Natur! – Aber ich habe die Kraft gefunden, wo man sie nicht sucht, in einfachen milden und gefälligen M<enschen> ohne den geringsten Hang zum Herrschen – und umgekehrt ist mir der Hang zum Herrschen oft als ein inneres Merkmal von Schwäche erschienen: sie fürchten ihre Sklavenseele und werfen ihr einen Königsmantel um (sie werden zuletzt doch die Sklaven ihrer Anhänger, ihres Rufs usw.) Die mächtigen N<aturen> herrschen, es ist eine Nothwendigkeit, sie werden keinen Finger rühren. Und wenn sie bei Lebzeiten in einem Gartenhaus sich vergraben!

6 [207]

Fehler in der Sorrentiner Landschaft. – Oelbäume schöner als die Orangen.

6 [208]

Temperanz-Bewegung nöthig für Deutschland: die große Mehrzahl der Verbrechen stehen mit Alcohol in Verbindung und ebenso die, Selbstmorde!

6 [209]

Kein deutscher Künstler hat bisher genug Geist gehabt, um seine Praxis zu erklären: die klügsten haben nur verstanden, sie zu beschönigen, wie als ob sie ein schlechtes Gewissen hätten: thatsächlich haben sie ihre Wirkung verdorben, insofern sie ihre Beschränktheit in die Wagschale warfen, ihre Werke sanken dadurch etwas und übten Einfluß auf die geringeren Nachahmer. Begreift man nämlich die Tendenz einer Kunst als eine persönliche Verherrlichung oder Apologie oder Versteckspielerei, so greifen viele nach ihr, die es nöthig haben, ihre Natur zu verherrlichen oder zu verstecken.

6 [210]

Handlungen, die eine lange Zeit als Ausnahmen empfunden werden und Ehre bringen, werden endlich Übung und gelten dann als anständig. Ebenso könnte die Redlichkeit in Betreff alles Wirklichen einmal Anstandssache werden, und der Phantast einfach als unanständig außer Betracht kommen.

6 [211]

In diesem Jahrhundert haben sich die Franzosen einen Geschmack an der Malerei anerzogen (durch Zeichnen), der dem vorigen Jahrhundert fehlte. Die Italiäner haben ihr Ohr für den Gesang verloren, die Deutschen haben politische Leidenschaft gelernt, die Engländer haben sich an die Spitze der Wissenschaft gestellt.

6 [212]

Unsere Triebe widersprechen sich häufig, darüber ist nichts zu wundern! Vielmehr wenn sie harmonisch sich auslösten, das wäre seltsam. Die Außenwelt spielt auf unseren Saiten, was Wunder, daß diese oft dissoniren!

6 [213]

Nach Austerlitz war der Krieg mehr das Resultat seines Systems als der Zug seines Geschmacks: – – –

6 [214]

Junge Menschen, deren Leistungen ihrem Ehrgeize nicht gemäß sind, suchen sich einen Gegenstand zum Zerreißen aus Rache, meistens Personen, Stände, Rassen, welche nicht gut Wiedervergeltung üben können: die besseren Naturen machen direkten Krieg; auch die Sucht zu Duellen ist hierher gehörig. Das Bessere ist, wer einen Gegner wählt, der nicht unter seiner Kraft und der achtungswerth und stark ist. So ist der Kampf gegen die Juden immer ein Zeichen der schlechteren, neidischeren und feigeren Natur gewesen: und wer jetzt daran Theil nimmt, muß ein gutes Stück pöbelhafter Gesinnung in sich tragen.

6 [215]

Das Ende aller großen Denker und Künstler ist düster, bei denen die Redlichkeit gegen sich immer abgenommen hat. Das freudige Ausleben und Hineinströmen in die andere Welt fehlt ihnen.

6 [216]

Die Meinungen der Menschen ebenso nothwendig wie ihre Handlungen – aber deshalb nicht "für sie wahr"! Nur eine ungeheure Art, über sich hinaus zu gehen und andere Denkweisen in sich aufzunehmen, giebt uns die Möglichkeit, zwischen wahr <und> falsch zu unterscheiden. Das Ideal: eine Meinung, die unabhängig ist von jedem Persönlichen und deren Schranke eben nur noch "der Mensch" ist. Es sind die Meinungen, die "dem Menschen" am nützlichsten sein müssen, seine strenge Relation zu den Dingen (deren Narr er nicht mehr ist.)

Auf die Dauer muß die Menschheit jeden Irrthum furchtbar büßen – denn damit er aufrecht erhalten bleibe, muß eine hundertfache Fälschung anderer Dinge eintreten (Nicht-einsehen-wollen d. h. Verschlechterung der Redlichkeit, Abnahme des Intellekts, Zunahme der Gefährlichkeit des Lebens –

6 [217]

"zu dem kolossalen Schwulst der Pozzo und Bibiena hatte seit 1730 niemand mehr die erforderliche Leidenschaft und Phantasterei." J<acob> B<urckhardt>

6 [218]

Unter allen, die sich um Gründung und Verbreitung von Religionen verdient gemacht haben, hat es noch keinen ausgezeichneten Kopf und ebenso wenig einen redlichen Menschen gegeben. Diese großen Massen-Leidenschaften sind von den gröbsten Köpfen, solchen die blinden Glauben an sich haben, wie die Thiere, gemacht worden.

6 [219]

Die Kraft hat die Milde.

6 [220]

das Verlangen nach den Genies wie nach Kraftbrühen.

6 [221]

der kaufmännische Geist und sein Produkt

6 [222]

der Geschmack der englischen Gartenkunst – "die freie Natur mit ihren Zufälligkeiten nachahmen" J.B. – ist der ganze moderne Geschmack. Solche Menschen wollen die Dichter: während ein anderes Ziel ist, die Menschen "den Gesetzen der Kunst dienstbar machen". Gegen die elegische Natursentimentalität NB diese habe ich mir abzugewöhnen. "Der Contrast der freien Natur, welche von außen in die italiänischen Gärten hineinscheint" J.B. Grundbedingung des Eindrucks. Solche Menschen des Stils wirken am stärksten unter einer halbwilden Umgebung.

6 [223]

Bei der Liebesleidenschaft kann man sehen, wie weit die Redlichkeit vor uns selber fehlt: ja man setzt das voraus und gründet darauf die Ehe (mit Versprechen, wie sie kein Redlicher gegen sich geben kann!) So früher bei der Treue von Untergebenen gegen Fürsten oder gegen das Vaterland, oder die Kirche: man schwor die Redlichkeit gegen sich feierlich ab!

6 [224]

Wir sind geneigter, von den Dingen das zu glauben, was uns angenehm ist. Die Thiere, welche dazu weniger streng geneigt sind, die vorsichtigen, erhalten sich besser. Die Furchtsamkeit ein erster Schritt der Redlichkeit.

6 [225]

Man sagt "Fortschritt", meint aber Entwicklung d. h. Werden und Vergehen. Auch das V<ergehen> können wir nur als ein Fortschreiten empfinden: denn es ist mit Lust verknüpft, wie alle Entwicklung. Nur die Hemmung der Entwicklung macht Schmerz.

6 [226]

Jene spitzigen Geschöpfe welche selbst ihr Wohlwollen nicht ohne Stiche äußern können.

6 [227]

Es bedarf unendlicher Verstellung, um ein liebevoller Mensch zu werden.

6 [228]

Werth der Wissenschaft und Reiz derselben, gegen die Verstellung. Nimmt man sie halb, so versteht man ihren heroischen Zauber nicht.

6 [229]

Wenn in die Seele eines Kindes in einer abergläubischen Umgebung und Zeit der Gedanke fällt "du bist der Sohn Gottes" und es <von> früh an durch die Frömmigkeit seiner Mutter belehrt wird, daß dieser Gott heilig ist und Heiligkeit will: dazu ein sanftes Temperament und eine glühende visionäre Phantasie, ein durch Enthaltsamkeit und Einsamkeit erzogenes Vertrauen zu sich selber: so einer kann zum Glauben sündlos zu sein kommen, sobald er als Sohn Gottes sich glaubt und somit seinen eigenen Befehlen gehorcht – sublime Art des Stolzes. Als Gesetzgeber ist er dem Gesetz überlegen, er kann Höheres darüber hinaus zeigen, es vollenden: wie ungereimt für ihn, etwas zu thun, das wider seine fixe Idee geht! Von dieser Höhe aus sehnt er sich nach Liebe – die Menschen sollen an ihn glauben : dies ist das Einzige was ihm fehlt, und dafür will er ihnen alles geben, was er kann z. B. Gottes Gnade. Die: Kinder, die Armen, die Dummen, die Verachteten, die sich selber Verachtenden sind seine Lieblinge. Er dichtet sich seinen Gott nach seinem Bilde, so daß er Liebe erweisen kann als Gott: er eliminirt und schwächt Vorstellungen, aus denen ein anderer Gott sich ergiebt. Seine Redlichkeit gegen sich ist sehr gering, er hat weder in Bezug auf seinen Glauben als Gottessohn ein feines Gewissen, noch in Bezug auf seine Erkenntniß der Natur und des Menschen. Er belügt sich, ganz im Dienste seiner Leidenschaft: was er nicht kennt, schätzt er nicht, er behandelt sich als Maaß der Dinge, mit der Unerfahrenheit eines einsamen Schäfers, der nur Schafe um sich hat. Sein wunder Punkt ist, daß die Menschen ihm nicht glauben wollen, während er sich selber glaubt: und hierbei wird seine Phantasie grausam und düster, und er dichtet die Hölle für die, welche nicht an ihn gl<auben>. Sein Mangel an Bildung schützt ihn davor, sich die Entstehung einer Leidenschaft vorzustellen und sich selber einmal objektiv zu sehen: er steht nie über sich (wie z. B. Napoleon) Das Furchtbarste, ewig Unsühnbare der Menschen wurde das Verschmähen seiner Liebe – dies ist ein gemeiner Zug. Ebenso seine Verdächtigung der Reichen, des Geistes, des Fleisches – seine Milde und Nachsicht ist kurz und ganz egoistisch.

6 [230]

Bei Erzählern vermeiden die feineren, die Erlebnisse ihrer Helden selber in's Ungeheuerliche, Criminalistische Grobe zu steigern: vielmehr erniedrigen und glätten sie die Ereignisse und zeigen, was feinere Naturen schon an diesem Wenig zu leiden haben: oder daß hier erst ihre Erlebnisse anfangen: für grobe Naturen giebt es da keine Probleme. – Daß man seinem Helden gegenüber festhält, er sei nicht non plus ultra, sondern ein tüchtiger Mensch, zeichnet jeden guten Dichter aus. – Die Halbgötter-geschichten bedürfen wenig Talent, grobe Farben – sie werden der Masse erzählt. Es sind ideale Räuber- und Gespenster-Geschichten. – Wer sich in seine Helden und deren Erlebnisse verliebt, ist nicht ersten Ranges – denn er muß arm sein. – Mit prächtigen entzückenden Stoffen und Helden geben sich die Armen ab, welche nicht ohne Weiteres glauben, daß andere sie für reich halten.

6 [231]

Wir erreichen unser Maximum nicht: denn in der Periode des raschesten Wachsthums müssen alle anderen günstigen Bedingungen da sein. Wir sind kurzstämmig und knorrig.

6 [232]

Hüteten wir uns auch gegen Personen vor blinden Liebe- und Haß-Anfällen – wie viel weniger haben wir gut zu machen d. h. einen Irrweg zurückgehen! (wobei unser Weg Zeit verloren hat) Größere Redlichkeit gegen uns selber hält uns in Hut: gewöhnlich geben wir unseren zurückgehaltenen Trieben einmal plötzlich nach, in dieser Liebe und Haß zu Personen.

6 [233]

das Christenthum hat der geistigen Armut das Himmelreich verheißen: aber der erste gebildete und geistreiche Christ hat dem Christenthum seine Dialektik und Rhetorik gegeben, ohne diese wäre es an seiner geistigen Armut zu Grunde gegangen.

6 [234]

Die Triebe haben wir alle mit den Thieren gemein: das Wachsthum der Redlichkeit macht uns unabhängiger von der Inspiration dieser Triebe. Diese Redlichkeit selber ist das Ergebniß der intellektuellen Arbeit, namentlich wenn zwei entgegengesetzte Triebe den Intellekt in Bewegung setzen. Das Gedächtniß führt uns in Bezug auf ein Ding oder eine Person bei einem neuen Affekt die Vorstellungen zu, die dies Ding oder <diese> Person früher, bei einem anderen Affekt in uns erregte: und da zeigen sich verschiedene Eigenschaften, sie zusammen gelten lassen ist ein Schritt der Redlichkeit d. h. es dem, welchen wir jetzt hassen, nachtragen, daß wir ihn einst liebten und sein früheres Bild in uns mit dem jetzigen vergleichen, das jetzige mildern ausgleichen. Dies gebeut die Klugheit: denn ohne dies würden wir, als Hassende, zu weit gehen und uns in Gefahr bringen. Basis der Gerechtigkeit: wir gestehen den Bildern desselben Dinges in uns ein Recht zu!

6 [235]

Die Übung mehrere Eigenschaften an einem Dinge anzuerkennen, abseits von unserem Affekt, constituirt eine Reihe von festen Dingen, die immer größer wird, und immer feiner. Diese Übung bildet ein Bedürfniß: nach der Erkenntniß der Dinge in ihrer Vielheit: Basis des intellektuellen Triebes.

6 [236]

Die Redlichkeit gegen uns selber ist älter als die R<edlichkeit> gegen Andere. Das Thier merkt, daß es oft getäuscht wird, ebenso muß es sich oft verstellen. Dies leitet es zu unterscheiden zwischen Irren und Wahrsehen, zwischen Verstellung und Wirklichkeit. Die absichtliche Verstellung ruht auf dem ersten Sinne der Redlichkeit gegen sich.

6 [237]

Christus "fromm traurig und egoistisch"

6 [238]

Was heißt "einen Gedanken verstehen"? Er regt eine Vorstellung, diese regt Wahrnehmungen, diese regen Gefühle auf, so giebt endlich der Stein einen dumpfen Ton, wenn er unten im Grunde angelangt ist: diese Erschütterung des Grundes nennen wir "verstehen". Ursache und Wirkung finden hier nicht statt, nur Association: bei diesem Wort ist diese Vorstellung gewöhnt erregt zu werden: wie das möglich ist, weiß niemand. Unser "Verstehen" ist etwas Unverständliches, und jene letzte Resonanz in unseren Trieben ist doch nicht mehr als ein neues großes Unbekanntes. –

Lüge ist die Erregung jenes Grundes unseres Nächsten in der Art, daß ein Trieb bei ihm wach wird, zu dessen Befriedigung er nicht kommen kann, weil gerade die Natur der Dinge eine andere ist: also ein unerfüllbares Bedürfniß erregen ist lügen.

6 [239]

Die Menschen sehen allmählich einen Werth und eine Bedeutung in die Natur hinein, die sie an sich nicht hat. Der Landmann sieht seine Felder mit einer Emotion des Werthes, der Künstler seine Farben, der Wilde trägt seine Angst, wir unsere Sicherheit hinein, es ist ein fortwährendes feinstes Symbolisiren und Gleichsetzen, ohne Bewußtsein. Unser Auge sieht mit all unserer Moralität und Cultur und Gewohnheiten in die Landschaft. – Und ebenso sehen wir auf andere Charaktere: sie sind für mich etwas anderes als für dich: Relationen und Phantasmen, unsere Grenzen gegen einander sind darin. – Was heißt da Gerechtigkeit! Die Fülle der Relationen wächst fortwährend, alles was wir sehen und erleben, wird bedeutungstiefer. Beim Anblick der Sonne z. B. – aber eine Unzahl von alten Bedeutungen und Symbolen sterben auch fortwährend ab, es entleert sich zugleich – und wenn wir auf dem Wege der Gerechtigkeit sind, so sterben die willkürlichen phantastischen Auslegungen, womit wir den Dingen wehe und Gewalt thun: denn ihre wirklichen Eigenschaften haben ein Recht, und endlich müssen wir dies höher ehren als uns.

6 [240]

Lob der Philologie: als Studium der Redlichkeit. Das Alterthum gieng am Verfall derselben zu Grunde.

6 [241]

Der verhängnißvolle "zweite Sinn" hinter den Naturereignissen, den Erlebnissen, den Begierden, dem Unrecht! Arme Menschheit!

6 [242]

Die "moralische Weltordnung" – eine Art Astrologie.

6 [243]

Unsere größten Erhebungen Erschütterungen den reinsten Himmel verdanken wir uns selber: wir leihen davon an die Werke der Kunst und so werden sie größer, wir verbessern sie und mitunter verkennen wir sie zu ihren Gunsten.

6 [244]

Redlichkeit in der Kunst – nichts zu thun mit Realismus! Wesentlich Redlichkeit der Künstler gegen ihre Kräfte: sie wollen sich selber nicht belügen, noch berauschen – keinen Effekt auf sich machen, sondern das Erlebniß (den wirklichen Effekt) nachahmen.

6 [245]

Erwägt man, wer zu jeder Zeit den großen Ruhm macht: so wird es wahrscheinlich, daß die ausgezeichnetsten Geister im zweiten oder dritten Range stehen werden: und die besten Meister bleiben unbekannt.

6 [246]

Mein Pathos: das entsetzliche Leid des Sündengefühls nachempfinden NB.

6 [247]

Glaube nur niemand, daß wenn Plato jetzt lebte und platonische Ansichten hätte, er ein Philosoph wäre – er wäre ein religiös Verrückter.

6 [248]

Die schlechte Übung im Sehen und Sehen wollen des Wirklichen hat auch in den Beziehungen der Menschen, in ihrem Urtheil über einander und sich selber eine Mythologie entstehen lassen, die "moralische Welt".

6 [249]

Der Zweifel, was das Wirkliche ist, macht nicht gegen die Phantasmen geneigter: sondern zerstört allmählich den guten Willen, der zur Ausdichtung eines Phantasmas gehört.

6 [250]

Allgemein hält man keine Handlung für verständlich, außer der nach Zwecken: und überhaupt keine Bewegung in der Welt. Deshalb gieng das frühere Denken darauf aus, alle Bewegung in der Welt als zweckmäßig und zweckbewußt zu erklären (Gott) Es ist der größte Wendepunkt der Philosophie, daß man die Handlung nach Zwecken nicht mehr begreiflich fand; damit sind alle früheren Tendenzen entwerthet.

6 [251]

Wenn wir verantwortlich machen, so setzen wir gleiche Kraft bei den Anderen voraus, und das gleiche Wissen um diese Kraft – was doch Mythologie ist.

6 [252]

Die spontane Masse von Energie unterscheidet die Menschen, nicht ein Individual-Atom. Sodann die eingeübten Bewegungen dieser Masse, durch Vererbung mitgetheilt. Dieselbe Kraft ist es, die bald durch die Muskeln, bald durch die Nerven verbraucht wird.

6 [253]

Der Gedanke ist ebensowohl wie das Wort, nur ein Zeichen: von irgend einer Congruenz des Gedankens und des Wirklichen kann nicht die Rede sein. Das Wirkliche ist irgend eine Triebbewegung.

6 [254]

Jede Handlung ist von dem bleichen Bewußtseinsbild, das wir von ihr während ihrer Ausführung haben, etwas unendlich Verschiedenes. Ebenfalls ist sie von dem vor der That vorschwebenden Bewußtseinsbild (das Ende der Handlung = Zweck und der Weg dahin) verschieden, unzählige Stücke des Wegs, die schließlich gemacht werden, werden nicht gesehen und der Zweck selber ist ein kleines Theilchen von dem wirklichen Erfolg der Handlung. Zwecke sind Zeichen: nichts mehr! Signale! Während sonst die Copie hinter dem Vorbild nachfolgt, geht hier eine Art Copie dem Vorbild voraus. In Wahrh<eit> wissen wir nie ganz, was wir thun z. B. wenn wir einen Schritt thun wollen oder einen Laut von uns geben wollen. Vielleicht ist dies "Wollen" nur ein bleicher Schatten davon, was wirklich schon im Werden ist, ein nachkommendes Abbild von unserem Können und Thun: mitunter ein sehr falsches, wo wir nicht zu können scheinen, was wir wollen. Unser "Wollen" war hier ein irregeleitetes Phantasma unseres Kopfes, wir hatten irgend ein Zeichen falsch verstanden. – Wenn einer befiehlt, und wir wollen es thun, finden uns dann zu schwach -? so gab Furcht (oder Liebe) uns einen Impuls, bei dem sehr viel Kraft in Bewegung gerieth. – Das erste Gelingen auf den ersten Nerven- und Muskelbahnen giebt die verfrühte Vorstellung des Könnens, und daraus resultirt das verfrühte Bild des gewollten Zwecks: die Zweckvorstellung entsteht, nach dem schon die Handlung im Werden ist!

6 [255]

Der Glaube an uns ist die stärkste Fessel und der höchste Peitschenschlag – und der stärkste Flügel. Das Christenthum hätte die Unschuld des Menschen als Glaubensartikel aufstellen sollen – die Menschen wären Götter geworden: damals konnte man noch glauben.

6 [256]

„Um Härte Kälte Erschöpfung" flehen – Marter, wenn man seinem Lebensziele nicht mehr traut. "Erhabener Zorn, zuckende Vorwürfe" – schluchzend einschlafen – in Kälte und Grauen hineinblickend kalt erwachend – "enge Zelle ihres Elends" – nur ein Blick heraus auf das Leben eines Anderen, nicht mehr. "Die Fülle sympathischer Erfahrung stellte sich als eine Gegenmacht ein" – Gerechtigkeit seinen eigenen Schmerz verstoßen.

"Bedürfniß der Gerechtigkeit".

"Das Gute Anderer überschätzen" blind für die guten Wirkungen, die wir in Anderen hervorrufen.

6 [257]

Wir müssen es dahin bringen, das Unmögliche Unnatürliche Gänzlich-Phantastische in dem Ideale Gottes Christi und der christlichen Heiligen mit intellektuellem Ekel zu empfinden. Das Muster soll kein Phantasma sein!

6 [258]

Für jeden Abfall eines Freundes eine höhere Seele eintauschen.

6 [259]

Habt ihr euch geübt, an Andere zu denken und für sie etwas zu thun, so bleibt, wenn euch unmöglich ist, euer Ziel zu erreichen, sehr viel übrig: nämlich das der Anderen zu fördern. Es ist gut und klug, diese zwei Saiten zum Spielen zu haben. Den Anderen begreifen und auf uns von ihm aus hinzusehen ist unentbehrlich für den Denker.

6 [260]

Ich sehe es eurer Toleranz gegen die Wissenschaft 100 Schritte weit an: ihr meint, ihr habt sie nicht nöthig, ihr bildet euch etwas darauf ein, trotzdem ihre Fürsprecher zu sein, selbst wenn sie gegen eure Meinungen kämpft: – denn ihr habt kein so strenges Gefühl für das Wirkliche, daß es euch quält und martert, sie im Widerspruch zu euch zu finden: ebensowenig ihr gierig umschaut, was alles gegenwärtig erkannt wird und auf dem Wege ist, erkannt zu werden.

6 [261]

Die Übung im Erkennen hat zuletzt ein Bedürfniß der Wahrhaftigkeit erzeugt, welches jetzt eine neue große Macht ist, mit Gefahren und Vortheilen.

Titel vielleicht: "das Bedürfniß der Wahrhaftigkeit."

6 [262]

Allen moralischen Systemen, welche befehlen, wie der Mensch handeln soll, fehlte die Kenntniß und Untersuchung, wie der Mensch handelt. Aber man meinte diese Kenntniß zu haben.

6 [263]

Das Bedürfniß der Aktivität trennt uns von der indischen Weisheit.

6 [264]

Auch dem feinsten Gedanken entspricht eine Verhäkelung von Trieben. – Die Worte sind gleichsam eine Claviatur der Triebe, und Gedanken (in Worten) sind Akkorde darauf. Jedoch ist die anregende Kraft des Wortes für den Trieb nicht immer gleich, und mitunter ist das Wort fast nichts als ein Laut.

6 [265]

1. Zeit der Triebe ohne Gedanken 2. Zeit der Triebe mit Gedanken (Urtheile) Hier werden Triebe und Trieb-Verhäkelungen vorgestellt. Die häufige Wiederholung, das Zustimmen und Verwerfen solcher Vorstellungen, übt eine Rückwirkung auf die Triebe selbst, einige werden sehr geübt, andere außer Übung gesetzt und ausgedorrt. Allmählich entsteht durch ungeheure Übung des Intellekts die Lust an seiner Aktivität: und daraus endlich wieder die Lust an der Wahrhaftigkeit in seiner Aktivität. Urspr<ünglich> sind die intellektuellen Funktionen sehr schwer und mühselig. Nachmachen ist das Beste, Haß gegen das Neue. Spät endlich ist umgekehrt der Ekel am Nachmachen schnell da und die Lust am Neuen und am Wechsel sehr groß.

6 [266]

Die Menschen gehen an der Verfeinerung des Intellekts zu Grunde: physisch und vielleicht auch moralisch. – Wir Glücklichen! Wir sind in dem Reich der Mitte

6 [267]

Die Vollkommenheit eines Napoleon, eines Cagliostro entzückt: unser Verbrecherthum hat nicht Musterbilder vor sich, sie haben kein fröhliches Gewissen. Ein guter Räuber, ein guter Rächer, Ehebrecher – das zeichnete das italienische Mittelalter und <die> Renaissance aus, sie hatten den Sinn für Vollständigkeit. Bei uns fürchten sich die Tugenden und die Laster, die öffentliche Meinung ist die Macht der Halben und Mittelmäßigen, der schlechten Copien, der zusammengestohlenen Allerweltsmenschen.

6 [268]

Wir wollen keinen Gott aus uns machen, wir gelüsten nicht nach den Idealen früherer Völker. Gerade die Ungöttlichkeit, die Freude an den zahllosen Einzelnen mit höchster Verschiedenheit, die wohl Gegner sein werden, aber wie Griechen und Trojaner!

6 [269]

Der leidenschaftliche Hang, Anderen zu helfen, verleidet das eigene Behagen.

6 [270]

Vor Menschen mit großer Seele zeigen wir den großen Zusammenhang unser selbst und glauben vor ihnen an denselben mehr als allein. Deshalb sind sie uns nöthig. Unsäglich viel kleine verschobene Linien können wir preisgeben – das thut wohl! Andere können nur diese Kleinigkeiten sehen, vor ihnen müssen wir sie eingestehen oder läugnen, in beiden Fällen ohne Genugthuung.

6 [271]

Mit einem großen Ziele ist man nicht nur seiner Verleumdung, sondern auch einem großen Verbrechen überlegen und erhaben.

6 [272]

Einen Menschen vor niedrigen Erfahrungen zu hüten ist das Schönste – niedrig ohne Rücksicht auf uns, aber auf ihn.

6 [273]

Eine Gattin als Hemmung, ein Gatte als Entartungsmittel.

6 [274]

Unserem ganzen Organism ist das vorschnelle Zuneigen und Abneigen die Verstellung usw. eingeformt worden: allmählich kann ihm auch die Wahrhaftigkeit angebildet werden und immer tiefer einwurzeln, mit welchen Wirkungen? Einstweilen ist er ein bewegtes Netz von Lüge und Trug und deren Fangarmen: ganz thierisch-nützlich. Die Erziehung zur Wahrheit – ist sie eine Verbesserung des Thieres, eine höhere Anpassung an die Wirklichkeit? – Unser Wohlwollen Mitleid, unsere Aufopferung, unsere Moralität ruht auf demselben Unterbau von Lüge und Verstellung wie unser Böses und Selbstisches! Dies ist zu zeigen! Der unangenehme, ja tragische Eindruck dieser Entdeckung ist unvermeidlich zunächst. Aber alle unsere Triebe müssen zunächst ängstlicher mißtrauischer werden, allmählich mehr Vernunft und Redlichkeit in sich aufnehmen, hellsichtiger werden und immer mehr so den Grund zum Mißtrauen gegen einander verlieren: so kann einmal eine größere Freudigkeit entstehen, eine fundamentalere: einstweilen wäre diese Freudigkeit nur dem Unredlichen möglich. Resignation und jene heroische Lust am Trotz und am Siege sind die einzigen Formen unserer Freudigkeit: wenn wir Erkennende sind. NB NB NB!!! Wie kommt es nur, daß wir gegen die gründliche Verlogen- und Verstelltheit ankämpfen? Ein Gefühl der Macht, welche in der Entwicklung und im Wirken unseres Intellekts frei wird, treibt uns: es macht Appetit.

6 [275]

Das verfluchte Lehrer- und Reformatoren- und Bußprediger-Pathos "und unsere Pflicht gebeut, die Menschen unglücklich zu machen".

6 [276]

Die zunehmende Lügnerei der Pathetiker (Hr. Lipiner) oder der Toleranten (Frl. v<on> M<eysenbug>

6 [277]

Die wortkarge Leidenschaft mit düsteren Augen bei Calvin wird leicht verleumdet. Grazie und Geist in der Leidenschaft wird in Deutschland nicht geglaubt.

6 [278]

in Form einer Tragödie:

1 Der Pfad

2 die furchtbare Aussicht

3 das Ausruhen

6 [279]

Die Todesangst: "ich bin der Holzwurm"

Verlust des Kindes

Verlust der Ehre

Krankheit

6 [280]

In wiefern es nützlich ist zu versuchen den Feind zu lieben? Es bricht das unbefriedigte Gefühl und giebt einen Sieg über uns.

6 [281]

Das höchste Todesziel der Menschheit auszudenken – irgendwann wird sich die Aufgabe darauf concentriren. Nicht leben, um zu leben.

6 [282]

Die Alten trauten den Frauen in der Leidenschaft das eigentlich Unmenschliche und Unglaubliche zu – zur Zeit des Aeschylus.

6 [283]

Wenn jemand zu den Juden übergeht (nach Tacitus) muß er die Götter verachten, seinem Vaterland entsagen und Eltern Kinder Geschwister verleugnen. Die Seelen derer, die in der Schlacht oder durch Hinrichtung umkommen, sind unsterblich (Märtyrer-Gedanke des Christenthums) Verachtung des Todes daher. Als Kaligula befahl sein Bildniß im Tempel aufzustellen, griffen sie zu den Waffen.

6 [284]

"sie essen mit niemand, schlafen allein und enthalten sich, so geil sie sind, aller fremden Weibsbilder"

"jeder schlechteste Mensch schickte Abgaben und Almosen nach Jerusalem, mit Hintansetzung des Landes, in dem er lebte."

6 [285]

Tacitus spricht höhnisch davon, wie sehr die Juden (und Christen) dem Aberglauben ergeben seien. Rom gieng in sein Extrem über als es christlich wurde: es ist ein Zeichen der impotentia der damaligen Menschen, dieses schroffe Umspringen. Die Wuth des Hasses machte zuletzt die Juden (Christen) interessant.

6 [286]

Man nimmt verschiedene "beste Dinge" vom Urtheil Anderer an (die selber sehr verschieden sind) und entdeckt, daß sie sich widersprechen: d. h. man glaubt sein Gewissen in Unruhe.

6 [287]

Die guten Menschen haben in schweren Augenblicken keine Skrupel.

6 [288]

Eine Art Gerechtigkeit: "ich habe sein Glück mit ihm genossen. Nun auch die Zeit seiner Schmach und Schuld".

6 [289]

So zu leben, daß unsere Energie am größten und freudigsten ist – und dafür alles zu opfern. NB

6 [290]

das metaphysische Bedürfniß ist nicht die Quelle der Religionen, sondern die Nachwirkung nach ihrem Untergange. Man hat sich an die Vorstellung einer anderen Welt gewöhnt und vermißt sie (und aus diesem Triebe können neue Pflanzen aufwachsen "Nachreligionen") aber das, was zur Annahme einer anderen Welt trieb, waren Irrthümer in der Auslegung bestimmter Vorgänge, also falsche Urtheile des Intellekts. Das "Bedürfniß" ist das Resultat nicht Ursprung. Durch Mangel an Befriedigung kann es absterben! So giebt es ein Bedürfniß, das Glockenläuten zu hören, welches mit dem ursprünglichen Zweck des Glockenläutens gar nichts zu thun hat. – Man hat sich gewöhnt, die Bedürfnisse an den Anfang zu stellen.

6 [291]

Gegen das Christenthum: die vollkommene Moralität ist weder möglich, noch wünschenswerth. Ihr Werth ruht auf falschen Ansichten der Biologie.

6 [292]

Da seit uralters moralische Urtheile gefällt worden sind (als Irrthümer über Handlungen) so haben sich daraus jedenfalls moralische Empfindungen, Neigungen Abneigungen gebildet. Also diese sind wirklich. Aber wie verhalten sie sich zu der Wirklichkeit der Handlungen, über welche die moralischen Urtheile irrthümlich gefällt werden? – Die Handlungen, über welche bei den Menschen zuerst moralische Urtheile gebildet wurden, sind die, welche sich alle bei den Thieren finden: deren Motive somit nicht erst zu schaffen waren. Man wähnte, diese Handlungen zu verstehen, moralische Urtheile sind "Erklärungen derselben nach Zwecken", ein Ansatz der Wissenschaft. Indem man sie benannte (bös gut gerecht usw.) zweifelte man nicht, sie durch und durch zu verstehen. Socrates gerieht erst in das Mißtrauen, ob er sie verstünde. Aber er zweifelte nicht, daß den Worten gut böse usw. etwas Wesentliches entspräche!

6 [293]

"Wie soll der Mensch handeln?" Das ist nur nach einem Ideal zu messen, entweder was die Menschheit erreichen soll, oder was der Einzelne erreichen soll. Bisher gab es solche Muster, die vor Völkern herschwebten (theils lebendige, theils erdichtete) oder vor Religionsgemeinden. Oder vor Parteien (oder der vollkommene Kaufmann Soldat Beamte). Oder vor philosophischen Sekten. Aber immer bisher vor Mehrheiten. Das Ziel ist aber: daß jeder sein Musterbild entwerfe und es verwirkliche – das individuelle Muster. Im Entwerfen alle Zeugungskraft und Jugend und Männlichkeit nöthig, alle Einsicht in seine Kraft, Selbsterkenntniß. Jetzt ist es noch nicht möglich!

6 [294]

Wir müssen unsere Fehler und Triebe nicht abrechnen beim Entwerfen unserer Muster, sondern ihre sublime Form zu finden wissen.

6 [295]

Es kann Tragödie sein! Unsere Milde und Mitleid und – unser Sinn für Wahrhaftigkeit im Kampfe mit einander in Bezug auf die Meinungen Anderer.

6 [296]

Eine Frau, die begreift, daß sie den Flug ihres Mannes hemmt, soll sich trennen – warum hört man von diesem Akt der Liebe nicht?

6 [297]

Mit den Gedanken steht es wie mit den körperlichen Bewegungen: ich muß warten, ob sie sich ereignen, wenn ich sie auch will, es hängt davon ab, ob sie eingeübt sind. Das Wollen ist hier nicht das Vorstellen des Zieles, sondern die Vorstellung logischer Formen (Gegensatz eines Gedankens, parallel, ähnlich, Prämisse Schluß usw.) in der Form des Wunsches. Das Gedächtniß muß den Inhalt geben – Bei Gelegenheit eines Satzes versucht das Gedächtniß zu den einzelnen Worten etwas Zugehöriges anzuhängen, und unser Urtheil entscheidet, ob es dazu paßt und wie. So versucht der Fuß eine Menge Lagen im Augenblick des Stolperns. Wir wählen aus diesen plötzlich auftauchenden Gedanken-Embryonen aus: wie wir aus den zu Gebote stehenden Worten unsere Gedanken in Formel bringen. Das Wesentlichste des Prozesses geht unter unserem Bewußtsein vor sich. Unser Charakter entscheidet, ob zugehörige Gedanken wesentlich die des Widerspruchs der Beschränkung der Zustimmung sind: das Entstehen jedes Gedankens ist ein moralisches Ereigniß. – Die logischen Formen erscheinen so als der allgemeinste Ausdruck unserer Triebe, Zuneigung, Widerspruch usw. – Bis in die Zelle hinein giebt es keine Bewegungen als solche "moralischen" in diesem Sinne.

6 [298]

Wer nach 2 Tagen strengen Fastens einen Schluck Champagner trinkt, der empfindet etwas, das der Wollust ganz nahe kommt. Der Blick eines Menschen, der wochenlang in einer dunklen Höhle gelebt hat, in die Natur ist ein Rausch des Auges. Und nach Jahren wieder unsere Musik hören! – Die Asketen wissen allein, was Wollüste sind.

6 [299]

Die Christen, nach Tacitus nicht der Mordbrennerei, aber odio generis humani "des Hasses gegen die Menschheit" überwiesen. Das ist wahr! "So schuldig sie waren und ob sie schon die härtesten Strafen verdienten" – "in Rom, wo alles Unnatürliche und Schändliche zusammenfließt" "wegen Schandthaten flagitia verhaßte Menschen" (so werden die Christen definirt. Man traute ihnen alles zu – weshalb? Pessimisten

6 [300]

Immer so handeln, daß wir mit uns zufrieden sind – da kommt es auf die Feinheit der Wahrhaftigkeit gegen uns selber an. Zweitens auf den Maaßstab, mit dem wir messen. Ein gutes Gewissen kann also ein sehr starkes Anzeichen von Gemeinheit und intellektueller Grobheit sein: ein schlechtes Gewissen von intellektueller Delikatesse.

Wenn die Anderen mit uns nicht unzufrieden wären, und nicht Vieles schief abliefe, so wäre die Zufriedenheit mit sich selber die Regel. Die unerwarteten unangenehmen Nachwirkungen stören diese Zufriedenheit: beim Unangenehmen suchen wir nach einer Entladung unseres Rachegefühls und treffen damit zumeist uns selber. Das Mißgeschick ist es, das dem Menschen sein böses Gewissen giebt "es hätte anders sein können". Da tadeln wir uns und schätzen unseren Scharfsinn und unsere Absichten gering. Wären wir nicht M<enschen> der Rache, so wären wir viel zufriedener: wie es im allgemeinen die Frauen sind, da in diesen das Rachegefühl nicht so stark ist. – Das Gewissen wird also durch den Erfolg bestimmt: es verurtheilt nachträglich die Absichten, ja es verfälscht nachträglich die Absichten: die ganze Unmoralität und Unredlichkeit eines Menschen zeigt sich in dern Prozesse, den ihm sein Gewissen macht. Das schlechte Gewissen ist ebenso wie das gute Gewissen eines Menschen so dumm, verleumderisch oder lobrednerisch schmeichlerisch bequem – als der ganze Mensch ist. Man hat ein Gewissen nach seinem Niveau.

6 [301]

Manche sind glücklich mit dem Hintergedanken, daß die Anderen, die nach anderen Principien leben, sich an ihrem Glück ärgern sollen: sie wollen mit ihrem Glücke jene widerlegen. (Pique-bonheur)

6 [302]

Plötzliche christliche Strenge läßt auf tiefe innere Nothstände, also begangene Unthaten schließen. – –

6 [303]

Man kann seine Leidenschaften von einem Augenblick an mißverstehen und umtaufen – Wiedergeburt.

6 [304]

Man kann seine Gedanken nicht wiedergeben in Worten, sie sind zu schattenhaft schnell hinter den Empfindungen zu<rück>.

6 [305]

Wenn man noch so genau den Bewegungen siedenden Wassers mit den Augen folgt, man begreift damit das Motiv des Siedens um nichts mehr. So auch bei Handlungen, wenn man das heftig bewegte Netz von Vorstellungen sich klar macht, welche uns dabei überhaupt bewußt werden. Es sind alles Wirkungen, welche auf ein verborgenes Feuer rathen lassen: aber es ist lächerlich, es definiren zu wollen.

6 [306]

Die Bewunderung für die Person Jesu ist wenig bedeutend, wenn sie von der Basis ausgeht, auf welche Christus sich gestellt hat: die tiefe Sündhaftigkeit der Menschen. Was würde ein Grieche um Perikles darüber gedacht haben?

6 [307]

Für einen, der ein Musterbild erreichen will, besteht das Angenehme darin, Menschen zu sehen, die das ihre erreicht haben. Die unreinen unklaren hybriden Gebilde sind ihm peinlich! Das tritt dann an die Stelle von "guten" und "bösen" Menschen!

6 [308]

Die allgemeinen öffentlichen Musterbilder, nach denen bisher moralisches Lob und Tadel ertheilt wurde, machten einseitig und ließen eine Menge Eigenschaften unbelobt: man verlor die Anerkennung des Individuums und der schönen Proportion der Kräfte in ihm aus dem Auge. Es war barbarisch: aus jedem Material dasselbe Bild arbeiten wollen!

6 [309]

Die Vorstellung musterhafter Typen wäre ein Hauptverdienst der Künstler: den Sinn für das Einheitliche und Proportionirte zu entwickeln. Der Künstler wählt aus und lobt dadurch! Die Griechen waren groß in der Lust an Charakteristischem: Thukydides und Sophocles Blüthe des Geschmacks!

6 [310]

Kaum spricht man von den "nicht absoluten Wahrheiten", so begehren alle Schwärmer wieder Eintritt oder vielmehr: die gutmüthigen Seelen stellen sich an's Thor und glauben Allen aufmachen zu dürfen: als ob der Irrthum jetzt nicht mehr Irrthum sei! Was widerlegt ist, ist ausgeschlossen!!

6 [311]

Den Unterschied zwischen Juden und Römern drückt Tacitus so aus: "bei ihnen ist alles heilig, was bei uns unheilig ist, so wie gegentheils bei ihnen alles erlaubt ist, was bei uns verabscheut wird" Diese Paradoxie wurde von den Christen verbreitet, sie machten Propaganda, "sie sind sich unentwegbar treu und unterstützen sich in der Noth, so wie sie alle anderen Menschen als Feinde hassen."

6 [312]

die durch Verdruß und Sorge vergeudete Energie, bewußt geworden: das Kleinwerden dabei

6 [313]

die Frauen sehen in der Wissenschaft einen Vampyr bei einem Manne.

6 [314]

Den angenehmen Rausch geistiger Getränke, die Lust am Spiel sehe ich mit Geringschätzung an – aber die Griechen?

6 [315]

vor mir selber warnen

6 [316]

Schauer und Umwandlung beim Anblick einer schönen That: wie bei großen Felsen und plötzlich entzückenden Ausblicken auf eine blühende Vegetation.

6 [317]

Nicht die Handlung sondern unser Urtheil über die Handlung (sei es auch ein Irrthum) macht unser Gewissen, die private Geschichte unser selbst

6 [318]

Es ist beschränkt, die Pharisäer als Heuchler aufzufassen, sie leben immer in dem festen Zutrauen zu ihren Handlungen, sie sehen sie nicht tiefer und wahrhaftiger an und kennen durch Gewohnheit bei sich nur gute Motive: die anderen sehen sie nicht, ihr Auge ist dafür blind. – Gesetzt, man setzte ihnen ein neues Auge ein und machte sie mit sich unzufrieden: nun, so mehrte man den allgemeinen Jammer. Die Handlungen blieben dieselben in ihren Wirkungen für Andere, und somit wäre es eine überflüssige Menschenquälerei. Diese will das Christenthum.

6 [319]

Gesetzt, wir empfinden eine Handlung als gut, so spielt sich der ganze Vorgang ab. Was eine Handlung an sich ist, ob nützlich oder schädlich, hat damit nichts zu thun. Deshalb ist es so wichtig, daß die guten Handlungen wirklich ausführbar sind und häufig: sonst die moralische Hölle, und das Moralische als Fernblick auf die Heiligen – auch bewunderungswürdige Beleuchtungen und Färbungen hervorrufend!

6 [320]

Deine Moralität ist Sache deines Glücks. Dein gutes Gewissen ist Sache deines Glücks! Bei manchen Dingen überrascht und in die Öffentlichkeit gebracht, wärst du tief zerstört. Daß dein Charakter sich verbessert, ist Sache des Glücks! Die kleinen Schritte und die zahllosen kleinen Unzufriedenheiten sind am mächtigsten! |Nicht nur Mitleid thut noth, sondern wir müssen Weltbetrachtungen für die Bösen und Unglücklichen machen oder dulden! | An Stelle der Beichtiger müssen wir Philosophen stellen wie Sonnen für jede Art von Menschen, während bis jetzt die höchsten Exemplare am meisten für sich Moralen gemacht haben. |

6 [321]

Was andere von uns denken und wissen, kann plötzlich über uns herstürzen. Was wir von uns wissen (im Gedächtniß haben) ist nicht entscheidend!

6 [322]

Die welche an ihrem Leben und Charakter keine Freude haben, suchen sie vielleicht in ihrem Geiste : wie Sch<openhauer>. Aber wer vollständig ist, sollte doch auch an allen zusammen erst froh werden können! Und wie froh! Wir steigen alle zusammen unseren Berg und wollen nicht einzeln auf dem Gipfel ankommen! Mancher ersteigt ihn als Charakter aber sein Geist ist der Situation nicht angemessen (z. B. Bismarck).

6 [323]

Sein Erlebniß so streng und wahrhaftig ansehen, wie ein wissenschaftliches Experiment – da darf man nicht von Wundern und "Engeln um uns" und der Hand des Herrn fabeln: das erscheint einem unredlich.

6 [324]

Die That ist durch die Absolution nicht ausgelöscht. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, unsere Thaten sind unser Sein und ebenso gehört das zukünftige Thun bereits zu uns. Das Gedächtniß entscheidet nichts.

6 [325]

"Narrenstreiche machen aus einer tiefen und leidenschaftlichen Träumerei" wie Stendhal sagt. Ist dies das "Werk des Genie's"?

6 [326]

"Die Alten haben nichts gethan, um zu schmücken, und das Schöne ist bei ihnen nur la saillie de l'utile."

6 [327]

Tiefe und Energie des Gefühls, nicht vergessen; Verzeihen ist ein Opfer (nicht ein lässiges gutmüthiges Fahrenlassen eines Gedankens, mit Lust daran daß man ihn nicht mehr zu tragen hat.) Italiänische Einfachheit, fast Kälte als Mantel dieser leidenschaftlichen Naturen.

6 [328]

In Frankreich möchte sich der esprit gern Genie geben. In Deutschland möchte das Genie sich gern esprit geben.

6 [329]

"der gespannte Stil"!

6 [330]

Novella d' Andrea lehrte in Bologna (14. Jhr.) Hinter einem Vorhange lehrend wegen ihrer Schönheit.

6 [331]

Das Schöne scheint uns zuletzt nur ein Zustand, den das allseitig Nützliche hervorbringt: ein tiefes Wohlergehen, welches aus allen Linien und Bewegungen unserer Handlungen Worte hervorbricht: eine Harmonie vieler Nützlichkeiten, die zum Klingen kommt.

6 [332]

Das Problem der Wahrhaftigkeit hat noch niemand erfaßt. Das, was gegen die Lüge gesagt wird, sind Naivetäten eines Schulmeisters, und zumal das Gebot "du sollst nicht lügen"!

6 [333]

Jeder ausblühende Gedanke treibt zuletzt seine Art Luxus hervor, es ist seine letzte Erscheinung. In Künsten wie in der Kunst des Verkehrs. Jede reife Cultur hat ihren Luxus. – Aber zeigt mir einen Erfinder einer Idee, der nicht Einfachheit und Dürftigkeit auch äußerlich, auch in Worten hatte. – der luxuriirende Gedanke schreibt sich auf jedes Gefäß, zeichnet sich in jede Gebärde hinein (z. B. Größe und Schlichtheit und Anmuth im alten Athen)

6 [334]

Den Deutschen fehlt es an esprit, weil sie keinen Überschuß von Geist besitzen: haben sie den ihren angewendet, so sind sie arm und sitzen da. Sie hassen ihn, und doch fühlen sie, daß ohne ihn die Geselligkeit eine langweilige Flegelei ist: – daher "Gemüth".

6 [335]

Das Effekt-machen-wollen ist eine deutsche Krankheit.

6 [336]

Ein Mann mit Geist erhebt sich in Deutschland zu hoch über seine Mitbürger und wird zum Narren; der Nebel umhüllt seinen Kopf. – Er entartet so leicht, weil nichts neben ihm ihn in Schranken hält, er schießt aus nach allen Seiten und ist von einer häßlichen Fruchtbarkeit.

6 [337]

Das Lächerliche ist in Deutschland nicht furchtbar für den, der Geist hat. Denn es ist nicht das Lachen der geistreichen Leute sondern der jungen Esel, welches hier den Begriff des Lächerlichen macht. – Diese Zucht fehlt.

6 [338]

Von einem Gedanken glühen, von ihm verbrannt werden – das ist französisch. Der Deutsche bewundert sich und stellt sich mit seiner Passion vor den Spiegel, und ruft andere hinzu.

6 [339]

Unsere Meinungen: die Haut, die wir uns umlegen, in der wir gesehen werden wollen, oder in der wir uns sehen wollen; das Äußerlichste, der Schuppenpanzer um die Gedanken eines

Menschen. So scheint es. Andererseits ist die Haut ein Erzeugniß wir wissen nicht welcher Kräfte und Triebe, eine Art Ablagerung, fortwährend sich stückweise lösend und neubildend. – Lautbilder und Sehbilder als Hieroglyphen für bestimmte Eindrücke und Gefühle sind das Material der Meinungen, Verfeinerungen des Ohr- und Gesichtssinnes und eine Relation zwischen beiden.

6 [340]

Unser Bewußtsein hinkt nach und beobachtet wenig auf einmal und während dem pausirt es für Anderes. Diese Unvollkommenheit ist wohl die Quelle, daß wir Dinge glauben und im Werden etwas Bleibendes annehmen: ebenso daß wir an ein Ich glauben. Liefe das Wissen so schnell wie die Entwicklung und so stätig, so würde an kein "Ich" gedacht.

6 [341]

Es ist eine Beschränktheit, aber so empfinde ich. Das Bedürfniß <nach> Luxus scheint mir immer auf eine tiefe innerliche Geistlosigkeit hinzudeuten: wie als ob jemand sich selber mit Koulissen umstellt, weil er nichts Volles Wirkliches ist, sondern nur etwas, das ein Ding vorstellen soll, vor ihm und vor Anderen. Ich meine, wer Geist habe, könne viel Schmerzen und Entbehrung aushalten und dabei noch glücklich sein, ja er müsse sich im Verhältniß zu einem, der Ehren und Luxus und Kameradschaft nöthig hat, schämen, weil er bei der Vertheilung der Güter zu gut weggekommen ist. Ich habe eine tiefe Verachtung gegen einen Banquier. Wer Luxus um sich hat, nun, mitunter muß er sich so stellen, daß er Anderer wegen hineinpaßt, aber dann soll er auch die Ansichten dieser Anderen haben und ertragen. Freisinnige kühne neue Ansichten halte ich für Schwindel oder eine widerliche Art Luxus, wenn sie nicht zur Armut und zur Niedrigkeit drängen. Mit einer Art von weißer Wäsche hat sich z. B. Las<s>alle für mich widerlegt. Leute mit solchen Bedürfnissen sollten fromm werden und als Magistratspersonen Ansehen erstreben, es giebt so viel Gutes zu erhalten und zu repräsentiren. Aber den Geist sollen sie nicht repräsentiren wollen! Wer geistig reich und unabhängig ist, ist so wie so auch der mächtigste Mensch, es ist, wenigstens für so humane Zeiten, schimpflich, wenn er noch mehr haben will: es sind die Unersättlichen. Einfachheit in Speise und Trank, Haß gegen geistige Getränke – es gehört zu ihm, wie die Getränke zu jenen gehören, welche sagen könnten "das Leben wäre völlig reizlos" usw. – Es drängt mich zu einer idealen Unabhängigkeit.- Ort Gesellschaft Gegend Bücher können nicht hoch genug gewählt werden, und anstatt sich zu akkommodiren und gemein zu werden muß man entbehren können, ohne Dulderfalten.

6 [342]

Auch im Intellektuellen z. B. in der Abschätzung von Meinungen führen wir nicht immer Gründe ins Feld, sondern sehr häufig einen intellektuellen Ekel, weil wir sehen, aus kleinen Anzeichen, wie stumpf und kurz und genügsam einer ist, oder wie weit das Selbstvertrauen des Unwissenden und des Neulings geht. D. h. wir beurtheilen die Methode des Erkennens als: schleimig verwest übelriechend Unrath ausgespieen, wiedergekäut, madenzerfressen, schaal, abgestanden, dumpf usw.

6 [343]

"Ich will dies": man unterscheidet "Gegenstand, Schätzung des Gegenstatds und Übung", aber im Grunde ist es nicht ein Gegenstand, den man will, sondern einen angenehmen Zustand von uns, der uns in irgend einer Verbindung mit dem Gegenstand vorgekommen ist: und die Schätzung des Gegenstands ist ein Versuch, die thatsächlich angenehme Empfindung zu erklären, dadurch daß wir das Angenehme als Folge einer Einsicht darstellen (z. B. Essen als Stillung des Hungers, als Erhaltung usw.): während die angenehme Empfindung meistens nicht die Folge der Einsicht in die Zweckmäßigkeit ist. "Ich will" heißt "ich mache etwas mir Angenehmes, soweit ich es machen kann" Uns schwebt ein Zustand von uns vor (z. B. als Schlagenden Essenden) dies Bild ahmen wir nach.

6 [344]

Gedächtniß hat Ursachen der Moralität – und wir haben es nicht in der Hand! NB.

6 [345]

Neugierde, etwas Nachtheiliges herauszufinden, ebenfalls in Bezug auf die Dinge möglich und schämenswerth. NB

6 [346]

Hauptvergnügen, Andere zu kränken – warum unmoralisch? Necken ist nur ein Grad. Hier ist die Unterscheidung von moralisch und unmoralisch nicht auch ein Gegensatz.

6 [347]

Aber muß denn Moralität, wenn sie nothwendig auf Freiheit ruht nach Kant, überhaupt existirt haben? Genügt nicht die Einbildung der Freiheit? Und wenn diese Einbildung nicht mehr möglich ist, ist dann es absolut nöthig, die Moralität aufrecht zu erhalten? Könnte sie nicht ihre Rolle gespielt haben? (gegen

6 [348]

Ich weiß, wie armselig ihr euch neben dem Schwunge dieses Idealism ausnehmt (der den Materialismus und die Skepsis auf seinen Rücken nimmt und gegen die Sonne trägt) aber ich gehe mit euch um und stelle mich euch gleich, mehr noch, ich mache mich schlecht.

6 [349]

Das Subjektgefühl wächst in dem Maaße, als wir mit dem Gedächtniß und der Phantasie die Welt der gleichen Dinge bauen. Wir dichten uns selber als Einheit in dieser selbstgeschaffenen Bilderwelt, das Bleibende in dem Wechsel. Aber es ist ein Irrthum: wir setzen Zeichen und Zeichen als gleich und Zustände als Zustände.

6 [350]

Nur was wir von Anderen denken und was wir von uns denken, bestimmt unser Verhalten, so weit es bewußt ist. Also die Vorstellung von Anderen und von uns: diese sind aber wieder das Resultat von dem, was die Anderen uns gelehrt und beigebracht haben. Die Interpretation unserer Zustände ist das Werk der Anderen uns angelehrt. Darin bleibt das Moralische hängen, es ist Schatten.

6 [351]

Ich sprach eine halbe Stunde eitel und war zuletzt etwas beschämt und müde – aber ich hatte mich erniedrigen wollen um Jemandem Gelegenheit zu geben von sich weniger erbärmlich zu denken, durch den Ausruf: ach die erbärmliche Welt! – denn er dachte von mir augenblicklich so; daß er sich nicht mehr vor mir schämte, es erleichterte ihn sichtlich.

6 [352]

das "doppelte Gelächter" (Epictet) wenn er eine erhabenere Position als er ertragen konnte einnimmt und wieder verläßt. Ach, auch dies wollen wir ertragen, ja wir wollen zum Schein zurückkehren und unseren Mitmenschen zu ihrem Leben Muth machen, dadurch daß wir ihnen Gelegenheit geben, doppelt über uns zu lachen. – Wir wollen unser Ziel auf Umwegen erreichen und, indem wir uns den Anderen nähern, sie täuschen, um ihretwillen. – Die geradlinigen Wege z. B. Christus Napoleon setzen Verachtung der Menschen voraus, wie weit auch die Liebe Ch<risti> zu den Menschen gieng (denn die gnädige Liebe Chr<isti> ist doch fern davon, ein Sünder sein zu wollen um der Sünder willen)

6 [353]

Eine Umgebung, vor der man sich gehen läßt, ist das Letzte, was man sich wünschen sollte, eine Art Krone für den Überwinder seiner selbst, der sich selber vollendet hat und Vollendung ausströmen möchte. Andere werden zu Scheusälern. Vorsicht in der Ehe. Der Mangel an Pathos und Form in der Familie, in der Freundschaft ist ein Grund der allgemeinen Erscheinung von Schlumperei und Gemeinheit (Eigenschaften des Gebahrens nicht nur sondern auch der modernen Charaktere) – man läßt sich gehen und läßt gehen.

6 [354]

Die eigentliche Unverschämtheit der Güte habe ich am besten bei Juden beobachtet. Man denke an die Anfänge des Christenthums.

6 [355]

Mit den Fürsten der Unterwelt selber habe ich Würfel gespielt.

6 [356]

Skepticismus! ja, aber ein Scepticismus der Experimente! nicht die Trägheit der Verzweiflung

6 [357]

Die Spannung zwischen dem immer reiner und ferner gedachten Gott und dem immer sündiger gedachten Menschen – einer der größten Kraftversuche der Menschheit. Die Liebe Gottes zum Sünder ist wundervoll. Warum haben die Griechen nicht eine solche Spannung von göttlicher Schönheit und menschlicher Häßlichkeit gehabt? Oder göttlicher Erkenntniß und Menschlicher Unwissenheit? Die vermittelnden Brücken zwischen zwei solchen Klüften wären Neuschöpfungen, die nicht da sind (Engel? Offenbarung? Gottessohn?)

6 [358]

Jeden Augenblick kann eine moralische Empfindung so stark werden, daß sie partielle Unfruchtbarkeit erzeugt z. B. der Trieb nach Wahrheit könnte die Kunst tödten und den geselligen feinen Verkehr, ebenso die Beredsamkeit. Die Keuschheit. Die Freigebigkeit. Der Fleiß. Die Reinlichkeit. (Puritaner gegen das Theater. Xenophon gegen die Agone. Plato

6 [359]

Gesetzt, unsere Cultur müßte die Frömmigkeit entbehren. Sie könnte sie aus sich nicht erzeugen. Eine gewisse letzte innere Entschlossenheit und Beschwichtigung wird fehlen. Mehr als je kriegerische und abenteurerische Geister! Die Dichter haben die Möglichkeiten des Lebens noch zu entdecken, der Sternkreis steht dafür offen, nicht ein Arkadien oder Campanerthal: ein unendlich kühneres Phantasiren an der Hand der Kenntnisse über Thierentwicklung ist möglich. Alle unsere Dichtung ist so kleinbürgerlich-erdenhaft, die große Möglichkeit höherer Menschen fehlt noch. Erst nach dem Tode der Religion kann die Erfindung im Göttlichen wieder luxuriiren.

6 [360]

Eins thut noth: die Isolation der begabten Menschen, ihre Selbsternährung, ihre Abstinenz von Ruf und Amt, die Geringschätzung aller aus großen Menschen-Haufen resultirenden Menschen und Vorgänge. Eine Großstadt-Emeute und -Zeitung ist durch und durch "Schauspiel", "unecht".

6 [361]

Unser System angenehmer und unangenehmer Empfindungen verzweigt und verfeinert sich, und unser Gedankenleben auch. Letzteres glaubt lange Zeit das Bewußtsein ganz zu sein und den Grund aller angenehmen und unangenehmen Dinge zu wissen. Naive Leute glauben es noch, daß wir wissen, warum wir wollen. Wir haben auch vor einer Handlung eigentlich nur Möglichkeiten vorzustellen, welche unsere Handlung erklären können, je nach dem Grade unserer Kenntniß von uns: aber was uns bewegt, das wissen wir auch durch die That selber noch nicht, ja nie! Wir interpretiren unsere Handlung vor und nach der That nach dem Kanon unserer Annahmen über menschliche Motive. Diese Interpretation kann das Rechte treffen, aber in der Interpretation selber liegt nichts, was die That wirklich bewegt oder thut. Sich einen Zweck setzen: d. h. einem Triebe ein Gedankenbild entgegenhalten, welches ihn denken soll. Dies ist vollständig nie der Fall! Das Gedankenbild besteht aus Worten, ist etwas höchst Ungenaues, es hat gar keine Hebel, um Bewegungen zu veranlassen – an sich. Nur durch Association, durch eine logisch unzugängliche und absurde Beziehung zwischen einem Gedanken und dem Mechanism eines Triebes (sie begegnen sich vielleicht in einem Bilde z. B. dem eines streng Befehlenden) kann ein Gedanke (z. B. beim Commandowort) eine Handlung "hervorbringen". Eigentlich ist es ein Nebeneinander. Es ist nichts von Ursache und Wirkung zwischen Zweckbegriff und Handlung, sondern dies ist die große Täuschung, als ob es so wäre!

6 [362]

Wir denken in Worten! Weiß man, was Worte sind, wie kann man glauben, daß Denken Bewegungen direkt hervorbringen kann! Es sind lauter kleine Irrthümer, aber unsere Triebe sind so nahe an dieser Region des Irrthums angelegt, und jedem Triebe entspricht eine Anzahl dieser bunten willkürlichen Dinge genannt "Worte", daß ein Wort oft ein Signal ist, keine Ursache, zur Bewegung (wie ein Hornton die Lokomotive stehen macht) Je strenger wir erkennen, je fester wir die Worte begrenzen, es sind Bilder auf dem Spiegel, ja Abbilder dieser Bilder! Der Übergang zur Erkenntniß von Ursache und Wirkung ist nie zu machen. Unser Erkennen ist Beschreiben, mehr oder weniger ungenau, das genaue Nacheinander und Nebeneinander, ein Gedächtniß zu einer Art von Bild (einer zeitlosen Einheit) scheinbar vereinigt: – – –

6 [363]

Da hinten im Holze, wo die Bäume noch nichts von der Stadt gehört haben, da fängt der Knabe an, über die Stadt hinweg zu denken.

6 [364]

Unendlichkeit! Schön ist's "in diesem Meer zu scheitern. "

6 [365]

Alle Triebe ursprünglich relativ zweckmäßig in ihrer Wirkung ("gut" und "böse"). Moral ensteht a) wenn ein Trieb über andere dominirt z. B. Furcht vor einem Gewaltigen oder Trieb zum geselligen Leben. Da müssen schwächere Triebe gespürt, aber nicht befriedigt werden. Die Antworten auf das hier entstehende Warum? sind so roh und falsch wie möglich, aber sie sind Anfang moralischer Urtheile, einen Werthunterschied der Handlungen zwischen nöthig zulässig unzulässig festsetzend. Einen Trieb haben und vor seiner Befriedigung Abscheu empfinden ist das "sittliche" Phänomen. Oder z. B. die Liebe zu den Jungen zum Eigenthum, derentwegen man selber hungert, sich Gefahren aussetzt. Junge und Eigenthum sind etwas so Angenehmes: aber wenn man Gründe wollte, so genügte dies nicht zu sagen "sie sind angenehm" – die Vernunft der Moral ist das Bemühen, die Instinkte zu übersehen und uns den Schein zu geben als ob wir nach Zwecken handelten, also unser Bestes wollten. Thatsächlich ist das Angenehme meistens unser Bestes, aber dies Beste vermochte man nicht zu erfassen, dazu hatte man die Kenntnisse der Natur und des Menschen nicht. Man construirte ein Bestes nach seiner Annahme über Natur und Mensch. Dazu gehört z. B. das Heil der Seele. Oder die Ehre. Oder die Gebote eines Gottes. Der Mensch affektirt überall nach Zwecken zu handeln – diese große Komödie geht durch, er thut „verantwortlich". Aber zu den Motiven der Instinkte kommen die Zweckbegriffe hinzu und hinterdrein und treffen fast nie den bewegenden Punkt. Die menschliche Maschine würde fast stille stehen, falls sie einmal nur von den vermeintlichen Motiven geleitet werden sollte. Auch jetzt noch ist die Täuschung sehr groß.

6 [366]

Nicht die vergessenen Motive und die Gewöhnung an bestimmte Bewegungen ist das Wesentliche – wie ich früher annahm. Sondern die zwecklosen Triebe von Lust und Unlust, man will das Angenehme und nicht wegen des damit zu erlangenden Vortheils, sondern weil die Handlung selber angenehm ist. Der Zweck wird erreicht, aber nicht gewollt. Die Arten von lustvollen Bewegungen, welche dem Zweck der Erhaltung dienen, sind durch Selektion erhalten.

6 [367]

Wenn er mich sehr bäte oder ich erriethe, daß er meiner sehr bedürfte, ich würde, trotz allem besseren Wissen, auf seine Seite treten. Dies wäre meine Schwäche. Lieber uns im Stiche lassen und die, die unser bedürfen! Und wir sind vieler Verstellung fähig: und folglich auch vieler Umbildung und zweiter Ehrlichkeit.

6 [368]

Empfindet ihr nichts von der Noth, gegen einen Menschen Recht zu haben und es öffentlich zu bezeugen? Wird euch Kritik so leicht? Ist es nur, daß ihr euch aufstellt, nachdem jener sich aufstellte? Merkt ihr nicht, daß er euch sein Bestes geben wollte und daß ihr es annehmen solltet, selbst wenn es euch nicht werthvoll, ja schädlich schiene? Aber ihr thut, als solche die in der Nothwehr leben, ihr habt auch Recht. Mit Mühe haltet ihr euch aufrecht, und jener will euch etwas auflegen, das ihr nicht tragen könntet. Er sagt: ein Geschenk!, ihr sagt: eine Aufgabe

6 [369]

Das Leben von euch Beamten und Politikern hat etwas Rauschendes, ein Bad und Mühlenräder tönen um euch, sie machen mit ihrem Lärm euer Denken kraftlos: wie wollt ihr noch eurer Seele Melodien hören! Ihr werdet hohl und hart: und oberflächlich! Und eure "Pflicht" wird zum Schrecken für Andere und führt sie irre, es scheint ein edles Selbstopfern, aber es ist nur eine Selbstvergeßlichkeit; von dem Augenblick an, wo das bischen "Selbst" eben sichtbar werden wollte: mehr Nachlässigkeit als Opfer.

6 [370]

In Anbetracht, daß jagen die Hauptbeschäftigung war, viele Jahrtausende: so ist auch unser wissenschaftlicher Trieb nichts anderes. Wie Knaben immer auf der Jagd sind.

6 [371]

Wenn ich von Bosheiten Anderer gegen mich höre, so ist eine meiner nächsten Empfindungen eine Art Genugthuung: es scheint mir billig, daß Leute, mit denen ich so wenig übereinstimme, und gegen die ich so viel Recht auf meiner Seite habe, ihrerseits sich einen guten Tag machen. Auch glaube ich es nie an Handlungen und Gedanken fehlen zu lassen, welche diesen Anderen das Gefühl ihrer eigenen Überlegenheit und ein gutes Recht auf dies Gefühl geben. Denn so ist die Natur der Dinge: wir machen mit unseren Fehlern und Versehen viel Freude und vielleicht mehr.

6 [372]

Vor diesem Menschen und beim Denken an ihn fühlen wir Produktivität ebenso bei dieser Landschaft usw., nach dieser Nahrung.

6 [373]

Wenn wir einen Zweck verfolgen, so würden wir nie mit voller Energie die Mittel handhaben; aber unsere Instinkte geben uns die nöthige Blindheit. Alle Männer des Glaubens sind solche Instinktive, ihr Glaubensartikel ist nicht aus Gründen entstanden: sondern sie haben innerliche unberechenbare Freude an ihm. Die Neigung zu Gedanken wird vererbt und angezogen d. h. zu Gedankentrieben.

6 [374]

Der Mensch handelt immer nach der ihm verhältnißmäßig angenehmsten Vorstellung. Aber diese Rechnung ist oft sehr schwer, und die Übung im Unterscheiden der zahllosen Grade zu gering, namentlich da die Phantasie die Kraft haben müßte, zukünftige Freuden und Leiden als voll anzusetzen, gleich dem gegenwärtigen Genuß, der vielleicht schon in Aktivität ist.

6 [375]

Wenn ich über Motive bestimmter Personen rede, so ist es eine Ehrensache für mich. NB.

6 [376]

Ich will den Leuten keine neue große Last auflegen, sondern ihnen eine Last abnehmen NB

6 [377]

So wenig als möglich Staat! Ich bedarf des Staates nicht, ich hätte mir, ohne jenen herkömmlichen Zwang, eine bessere Erziehung gegeben, nämlich eine auf meinen Leib passende, und die Kraft gespart, welche im Sichlosringen vergeudet wurde. Sollten die Dinge um uns etwas unsicherer werden, um so besser! ich wünsche, daß wir etwas vorsichtig und kriegerisch leben. Die Kaufleute sind es, die uns diesen Ohne-Sorgenstuhl Staat so einladend machen möchten, sie beherrschen mit ihrer Philosophie jetzt alle Welt. Der "industrielle" Staat ist nicht meine Wahl, wie er die Wahl Spencer's ist. Ich selber will so viel als möglich Staat sein, ich habe so viele Aus- und Einnahmen, so viele Bedürfnisse, so viel mitzutheilen. Dabei arm und ohne Absicht auf Ehrenstellen, auch ohne Bewunderung für kriegerische Lorbeeren. Ich weiß, woran diese Staaten zu Grunde gehen werden, an dem Nonplusultra-Staat der Socialisten: dessen Gegner bin ich, und schon im jetzigen Staate hasse ich ihn. Ich will versuchen, auch im Gefängniß noch heiter und menschenwürdig zu leben. Die großen Jammerreden über menschliches Elend bewegen mich nicht, mitzujammern, sondern zu sagen: das fehlt euch, ihr versteht nicht als Person zu leben und habt der Entbehrung keinen Reichthum und keine Lust an der Herrschaft entgegenzustellen. Die Statistik beweist, daß die M<enschen> zunehmen im Gleichwerden d.h. daß –

6 [378]

Um den Menschen umzubilden: müssen wir einmal davon ausgehen, daß unsere Werthschätzung von guten und bösen Handlungen falsch und willkürlich ist, alles muß neu untersucht werden, Jahrhunderte lang, wie es zur Heilung des Körpers noth that, alle Theorien der Medizin gleichmäßig zu verwerfen! Die Instinkte auf diesem Gebiete sind zu entwurzeln, zunächst ist Achtung für den zu pflanzen, welcher hier auf Versuch lebt – es ist die wichtigste Gattung von Menschen, wie für den Arzt das Versuchsthier die wichtigste Gattung von Thier ist.

6 [379]

1) Es ist so schwer den Menschen wehe zu thun! O daß es nöthig ist! Was nützt es mir, mich zu verbergen, wenn ich nicht für mich behalten will, was den Menschen Ärgerniß giebt?

6 [380]

An unseren größten Qualen und Sorgen andere theilnehmen lassen, die dieselben nicht haben, sondern nur leiden machen – ist das nicht grausam? Ist es nicht aus jenem Gefühle entsprungen, welches bei allem Schlimmen was uns trifft, etwas leidend sehen will, eine feine Emanation der Rache? Und ist also nicht die Ehe und die Freundschaft voller Gefahr, weil sie solche Grausamkeit der Übertragung von Leid fördert? Es ist schwer, ein Leid nicht mitzutheilen – also sollten wir uns die Gelegenheit dazu nehmen und in der Einsamkeit leben.

6 [381]

Ich finde Schopenhauer etwas oberflächlich in seelischen Dingen, er hat sich wenig gefreut und wenig gelitten; ein Denker sollte sich hüten, hart zu werden : woher soll er dann sein Material bekommen? Seine Leidenschaft für die Erkenntniß war nicht groß genug, um ihrethalben leiden zu wollen: er verschanzte sich. Auch sein Stolz war größer als der Durst nach Erkenntniß, er fürchtete für seinen Ruf, im Widerrufen.

6 [382]

Bisher gab es Verherrlicher des Menschen und Verunglimpfer desselben, beide aber vom moral<ischen> Standpunkte aus. La Rochefoucauld und die Christen fanden den Anblick des Menschen häßlich: dies ist aber ein moralisches Urtheil und ein anderes kannte man nicht! Wir rechnen ihn zur Natur, die weder böse noch gut ist und finden ihn dort nicht immer häßlich, wo ihn jene verabscheuten, und da nicht immer schön, wo ihn jene verherrlichten. Was ist hier schön und häßlich? Das Complicirt-Zweckmäßige, was den Verstand irrt und überlistet, das Taschenspielerhafte daran; dann die Ausdrucksfähigkeit und die Macht des Ausdrucks selber: der große Bogen seiner Pläne und Ideale. Seine Geschichte . Seine Art sich zu berauschen. Es ist ein Studium ohne Ende, dieses Thier! Es ist kein Schmutzfleck in der Natur, das haben wir erst hinein gelegt. Wir haben diesen "Schmutz" zu oberflächlich behandelt. Es gehören Niederländer-Augen dazu, auch hier die Schönheit zu entdecken.

6 [383]

Antike Merkmale: die Freundschaft, die Orakel, die Sklaven, otium, keine Sündengötter und keine gesellschaftliche Scham. Thukydides ist mir der Typus, der mir am nächsten steht: er hat die Freude an den Typen, findet, daß zu jedem Typus ein Quantum von guter Vernunft gehört, und sucht dies zu entdecken: das ist seine praktische Gerechtigkeit.

6 [384]

Auch wenn ich mir Wort für Wort überlege, was ich sagen will und es nachher mit vollem Bewußtsein thue, so ist doch das Gesprochene hundertfältig reicher und anders (z. B. im Tone, in den Pausen, in den begleitenden Gebärden), und das Überlegte daran ist ein kleiner Theil davon. Was ist denn nun das Unüberlegte davon, das Improvisirte?

6 [385]

Großer Unterschied: einem Anderen gefallen wollen, um jenes willen oder um unsertwegen. Etwas um seinetwillen lieben – warum moralisch?

6 [386]

Der Selbstmord als Maßstab der Cultur: deutsch. Der Verbrauch der Seife: englisch.

6 [387]

Manche mögen sagen und schreiben, was sie wollen – es ist immer etwas darin von guter Musik. Und bei anderen etwas von schlechter. Bei den Meisten fehlt alle Musik.

6 [388]

Die feinsten Farben in Litteratur und Musik sind nur beruhigten Menschen sichtbar und voller Lust – was wollen sie in unserer Zeit!

6 [389]

Das Widerwärtige wird jetzt sehr genau gemalt – warum? – Dahin gehört auch der Pessimismus. Nicht Entartung der Sitten, sondern Überbeschäftigung ist der Grund.

6 [390]

Man leidet an der Schande, nicht am Verbrechen. Wenige sind so fein, hierzu unterscheiden.

6 [391]

Das Bedürfniß zu beten, auch das des Bußredens, Lobpreisens, Segnens, Fluchens, alle religiösen Gewohnheiten brechen heraus, sobald ein Mensch pathetisch wird: zum Beweis, daß pathetisch werden heißt eine Stufe zurück treten. Wann sind wir davon am entferntesten? Wenn wir spielen, Geist zeigen, und austauschen, freudig-heiter sind und schalkhaft dabei, im Scherz über alles Emphatische in Wort, Ton, Trieb – vielleicht erreichen wir hier einen Vorsprung über unsere Zeit. Der heroische Mensch, der vom Kampf und den Strapatzen und dem Hasse ausruht und sich des Pathos schämt – und dort der Priester!

6 [392]

Der moralische Fanatism der antiken Philosophen hat dem Christenthum vorgearbeitet, es ist viel zu viel Werth auf das Heil der Seele gelegt worden. Wir sind tief unmoralisch im Verhältniß zum Alterthum, und das ist unser Vorzug. Und tief unreligiös gegen das Christenthum.

6 [393]

Die Naturen, welche überhaupt nicht über sich denken, namentlich aber gewisse Dinge an sich nicht ins Auge fassen mögen (Frauen z. B. schon die Thätigkeit des Magens nicht, geschweige den Geschlechtstrieb) – diese deuten sich alle Phänomene anders und wollen den einfachen Grund nicht sehen und nicht zugeben. So erlangt ihre Passion etwas Träumerisches und für sie selber Mystisches, sie unterliegen ihr viel eher und heftiger, weil sie idealistisch von sich denken. Was wissen unvermählte Frauen von dem abartenden Geschlechtstrieb, in ihrer Leidenschaft für die Kunst und gewisse Richtungen derselben, oder im Mitleid oder in der Art von blinder Hingebung an einen Gedanken!

6 [394]

Die Liebe Gottes zum Menschen ist die Ausschweifung des Gedankens von ungeschlechtlich lebenden Menschen, dem Alterthum konnte so etwas nicht einfallen.

6 [395]

Die vollkommene Zufriedenheit (Epiktets, und Christus ebenso!) mit allem, was geschieht – denn alles kann er benutzen. Der Weise benutzt es als Werkzeug, nur für die Unweisen giebt es Übel. Die Consequenz wäre freilich, daß die Welt dem Weisen keine Milderung des Übels, keine Beseitig<ung> verdankt. Er begreift das Übel als Übel nicht – das die Folgen der Lehre vom freien Willen! von der absol<uten> Seele!

6 [396]

Das Alterthum schließt mit einem moralischen und religiösen Quietismus – das müde Alterthum und das Individuum allmächtig und einzig sich wichtig haltend, es legt die Ereignisse aller Welt zu seinem Heil aus, alles was geschieht, hat für es Sinn. Es ist die Astrologie, auf Staaten, Naturereignisse, Umgang und den Ziegel auf dem Dach bezogen: alles hat nur für das Individuum einen Sinn, den dies finden kann, davon abgesehen ist es der Aufmerksam<keit> des Weisen unwürdig. Die moralisch-religiöse Benutzung und Ausdeutung des Geschehens – alles andere wurde gleichgültig und verächtlich. Der wissenschaftliche Sinn unterlag

6 [397]

Erhebt euch und geht, Freunde, schon viel zu lange habt ihr mich reden lassen. Der Wind wird kühler und lebhafter, das Gras auch – diese stille Höhe zittert, und es geht gen Abend. Geht und thut sofort, ich bitte euch, wenn ihr in das Thal kommt, eine kleine Thorheit, damit alle Welt sehe, wessen ihr hier von mir belehrt seid.

6 [398]

Man wird von seinen Meinungen über die Leidenschaften mehr gequält als von den Leidenschaften selber. – Wo die Menschen nicht den Zweck eines Triebes als nothwendig zur Erhaltung mit Händen greifen, wie beim Koth- und Urinlassen, Nahrungnehmen usw., da glauben sie ihn als überflüssig beseitigen zu können z. B. den Trieb zu neiden, zu hassen, zu fürchten. Und das Nicht-loswerden-können betrachten sie als ein Unrecht, mindestens Unglück: während man so bei Hunger und Durst nicht denkt. Er soll uns nicht beherrschen, aber wir wollen ihn als nothwendig begreifen und seine Kraft zu unserem Nutzen beherrschen. Dazu ist nöthig, daß wir ihn nicht in seiner ganzen vollen Kraft erhalten, wie einen Bach, der Mühlen treiben soll. Wer ihn nicht ganz kennt, über den fällt er her, wie nach den Winterzeiten ein Gebirgsbach zerstörend herunterkommt.

6 [399]

Wir können unseren Leidenschaften ein höheres Leben geben, wenn wir ihre direkten Entladungen verhindern. Aber mitunter ist es ekelhaft z. B. beim Geschlechtstrieb.

6 [400]

Die Thatsache war, daß im griechisch-römischen Alterthum der Mensch an seinen Leidenschaften wie an seinen unrechten Handlungen nicht intensiv genug litt, es war zumeist das Leiden von der Art, wie man sagt "wie dumm war ich, dies zu thun!" Etwas dem Sündengefühle Ähnliches konnte nur bei Philosophen entstehen, auf Grund von der reinen göttlichen Seele und deren Verunreinigungen: nicht nur eine Dummheit und ein wirklicher Nachtheil, sondern ein Gefühl der Erniedrigung und Beschmutzung, eine Beleidigung einer erhabenen Vorstellung von uns. Seine Meinung über die Leidenschaften und das Böse verstörte den Philosophen, nicht so sehr die üblen Folgen. Aber alles ging auf Einem Gleise vorwärts in dieser Richtung, das Christenthum brachte den stärksten Ausdruck, indem es die wirklichen Folgen ganz außer Acht ließ und beinahe als indifferent behandelte. Also die Wirkung des Handelns selber für das Organ des Handelns. Das Ideal Epiktets: sich selber wie einen Feind und Nachsteller immer im Auge haben: der kriegerische Einsiedler, der ein kostbares Gut zu vertheidigen und vor Verderbniß zu wahren hat, nachdem er es errungen hat. Nicht auf die Menschen giebt er Acht, er glaubt sie zu kennen, er hat von dem Interesse des Individuellen keine Ahnung: sie sind die Schatten, das Wahre in ihnen sind ihre Gedanken und Triebe, welche er philosophisch rubrizirt hat. In dieser Geisterwelt lebt er und kämpft seinen Kampf. Er hat nur Freude als Krieger. Ebenso hat das Christenthum keinen Genuß am Menschen. Wir aber rechnen ihn wieder zur Natur und genießen die Natur: wir sind nicht nur gerecht gegen alle Natur, wir finden sie reich, erstaunlich, unerkannt, forschungswürdig. Der Roman und die psychologische Beobachtung aus Lust am Menschen ist unser! Wir verzeihen uns viel mehr, wir verachten uns viel weniger, wir wünschen vieles nicht weg, wenn wir gleich gelegentlich daran leiden. Wir mögen die entsetzliche Simplifikation des tugendhaften Menschen nicht: so wenig wir nur fruchtbare Felder wollen.

6 [401]

Wir können nur die Charaktere begreifen, die wir aus uns bilden können, und nur soviel von ihnen. Wie unser Auge nur sehen kann, wozu es sich geübt hat.

6 [402]

Ich sehe einen Baum und halte es für ein Kind. Ich sehe Gesichtszüge ganz deutlich im Gespräch, aber ich imaginire sie in dieser Schärfe.

6 [403]

Eine Trivialität, die diesem Jahrhundert eigen ist: Gott ist nicht damit zu beweisen, daß einer die Guten belohnen, die Bösen bestrafen muß. Daran, daß dies nöthig sei, glaubt niemand (wie noch Kant) Über Gerechtigkeit denken wir anders.

6 [404]

seinen guten Glauben heirathen

6 [405]

Wer sein höheres Selbst nicht angehört hat, sondern der Gesellschaft dient oder einem Amte oder seiner Familie, der spricht immer von "Pflichterfüllung" – damit sucht er sich zu beschwichtigen. Namentlich aber fordert er von den Anderen den Gehorsam gegen die bestehende Ordnung: er rechtfertigt sich, indem er Gewalt vermöge seiner Handlungsart ausübt.

6 [406]

Der neue Gedanke entzückt mich, ich verlerne immer mehr zu empfinden, daß er von mir oder einem anderen ist. Wie albern hierin eifersüchtig zu sein! Und doch welche furchtbare Geschichte für die Verdunkelung des Wahren hat diese Eifersucht!

6 [407]

Die Menschen mit der Maske, die sogenannten Charaktere, die sich nicht schämen, ihre Maske zu zeigen.

6 [408]

2) Durch nachgiebiges Wohlwollen vor sich wieder gut machen, daß man ein großes anmaaßliches Ziel verfolgt: und eitel mit den Eiteln, verliebt mit den Verliebten, häuslich mit den Häuslichen und schwärmerisch mit den Schwärmern sein. An den Einzelnen es sühnen, was wir an Allen sündigen, durch Abweichen, Wehe thun usw. Ja es gern sehen, wenn die Menschen an uns ihre Rache nehmen – es ist billig bei einem solchen übermüthigen Grade von Abweichung.

6 [409]

Ehemals bewies man die Unfreiheit des Willens durch den Hinweis auf die Wahrsager. Dies hat die Lehre in Mißkredit gebracht, als die W<ahrsager> in M<ißkredit> kamen.

6 [410]

Wir verstehen von einem uns fremdartigen Wesen eben nur die Eindrücke, die seine Form auf uns hinterläßt: also wir erleben eine Formveränderung an uns und dieses Negativum verstehen wir als Positiv: wir nennen z. B. den, welcher uns schädlich ist, böse.

6 [411]

Wie grausam wir unsere paar Tugenden den anderen Menschen anrechnen und sie auf diesem Punkte zwicken und plagen! Ich will's auch mit dem Sinn für Wahrheit menschlich treiben NB. Sobald wir es mit ihm übertreiben und ihn wie im Treibhaus schnell wachsen lassen, so verdirbt uns das Leben, und die Menschen werden uns ekelhaft, ja wir uns selber!

6 [412]

Ursache und Wirkung sind für uns unbegreiflich, weil beide nur als negative Abbilder uns bewußt werden und zwischen denen giebt es nur Succession. Aus solchen Successionen besteht der "Körper" "das Ding". Wir nehmen keine Bewegung wahr, sondern mehrere gleiche Dinge in einer gedachten Linie, wir nehmen auch keine Zeitdauerlinie wahr, sondern unsere Empfindung hat bewußte Momente (getrennt von einander) und diese fügen wir aneinander, legen sie an sich und bauen so einen bestehenden dauernden Körper aus einzelnen Empfindungen. Aber wie das gleiche Ding in der Bewegung eine Illusion ist, also die Bewegung, welche wir construiren, jedenfalls etwas anderes ist als die "Wirklichkeit" so ist auch dies Gebilde aus mehreren negativen Eindrücken auf uns construirt und zurechtphantasirt, jedenfalls etwas anderes als die Wirklichkeit. Es kann nicht vollständig sein, denn es besteht nur aus Relationen zu uns, und das an uns, wozu es keine Relationen haben kann, verhindert einen vollen Abdruck Selbst als Abbild ist es nicht vollständig. Sodann hat es zur Voraussetzung, daß das Ding in diesem Augenblick, wo es einen Eindruck auf uns macht, dasselbe Ding ist, welches in einem anderen Augenblick (im "nächsten" – sagen wir, und täuschen uns) wieder einen neuen Eindruck d. h. eine zweite Relation auf uns macht. Ein Baum der lang, dann rund, dann grün usw. erscheint.

6 [413]

Der Raum von drei Dimensionen gehört in die Vorstellung, ebenso wie die Bewegung, die dritte Dimension "vollendet sich nur in der Zeit". Wir verbinden Flächen zu einer Einheit, die uns nach einander sichtbar werden. Wir selber als erkennende Wesen sind eine immer neue rotirende Kraft und bringen so ein Nacheinander hervor, auch bei festen Objekten.

Wir sind die Bewegten, welche sich um die Dinge bewegen: wir stehen nicht still, das Umgekehrte ist wahr von dem, was der Augenschein ist.

6 [414]

"Seien wir nur natürlich! Die Natur ist böse – um so mehr macht sie Effekt" – so denken die Großen, die alle unverschämt sind!

6 [415]

Wie schwach ist die Verantwortlichkeit bei indirekten oder entfernten Wirkungen! Dagegen fällt die nahe Wirkung furchtbar über uns her, und was um uns geschieht, das macht uns ein Gefühl des Schuldtragens, auch wenn wir nichts dazu können. Optik!

6 [416]

Sobald wir die Gerechtigkeit zu weit treiben und den Felsen unserer Individ<ualität> zerbröckeln, unsern festen ungerechten Ausgangspunkt ganz aufgeben, so geben wir die Möglichkeit der Erkenntniß auf: es fehlt dann das Ding, wozu alles Relation hat (, auch gerechte Relation) Es sei denn, daß wir alles nach einem anderen Individ<uum> messen, und die Ungerechtigkeit auf diese Weise erneuern – auch wird sie größer sein (aber die Empfindung vielleicht reiner, weil wir sympathisch geworden sind und im Vergessen von uns schon freier)

6 [417]

sie verstecken sich ins Innere und ihr Äußeres wird maskenhaft und wie gelähmt. Ah der Blick – ganz Oberfläche, kalt.

6 [418]

Wir erkennen nur die negative Seite aller wirkenden Dinge, gleichsam wie den Abdruck und Eindruck derselben auf uns: nicht das Wesen dieser Dinge, sondern unsere Natur allein in einer bestimmten Hemmung und Begrenzung.

6 [419]

Ein anderer Mensch wird von uns nicht anders verstanden als durch die Hemmung und Beschränkung, die er auf uns ausübt d. h. als Abdruck in das Wachs unseres Wesens. Wir erkennen immer nur uns selber, in einer bestimmten Möglichkeit der Veränderung; manche Menschen wirken nicht auf uns, weil hier unser Wachs zu hart ist oder zu weich. Und zuletzt erkennen wir die Möglichkeiten unserer Strukturverschiebung, nichts mehr.

Ebenso steht der "Mensch an sich" zu allen eterogenen Dingen: sie drücken ihre Form an ihm ab, so weit er sie annehmen kann, und er weiß nichts von ihnen, als durch die Veränderung seiner Form.

6 [420]

Die Zeitdauerempfindung wie die Raumempfindung des Menschen ist gewiß von der jedes Thiers verschieden, ja hierin wird jeder Mensch von jedem Menschen verschieden sein. Eine Stunde ist nie gleich einer anderen Stunde in einem anderen Kopfe: ja auch nie für uns selber wieder. Aber auch die Durchschnittsempfindung einer Stunde ist für jeden Menschen anders! und für alle Menschen zusammen anders als für eine Ameise.

6 [421]

Der gute Gedanke ist nur eine Ausnahme, die meisten originellen Gedanken sind Narrheiten. Die gewohnten Gedanken sind deshalb so hoch geachtet, ja zur Pflicht gemacht, weil sie eine Art Bewährung haben, mit ihnen ist der Mensch nicht zu Grunde gegangen. Dies "nicht zu Grunde gehen" gilt als der Beweis für die Wahrheit eines Gedankens. Wahr heißt "für die Existenz des Menschen zweckmäßig". Da wir aber die Existenzbedingungen des Menschen sehr ungenau kennen, so ist, streng genommen, auch die Entscheidung über wahr und unwahr nur auf den Erfolg zu gründen. Woran ich zu Grunde gehe, das ist für mich nicht wahr d. h. es ist eine falsche Relation meines Wesens zu anderen Dingen. Denn es giebt nur individuelle Wahrheiten – eine absolute Relation ist Unsinn. Die Art zu denken, die Anspannung und Häufigkeit, die Gegenstände, das Nichtsehenkönnen, Nichtfühlen vieler Dinge alles ist eigentlich eine Bedingung unserer Existenz. Jeder Fehler ist ihr schädlich. Meistens also machen wir Fehler, meistens sind wir fortwährend irgendwie krank durch unser Denker, wir können ja nur experimentiren, und das ganz individuell uns Nothwendige im Erkennen ist die Ausnahme.

6 [422]

Das Wahre an einem historischen Ereigniß: alles geht in Köpfen vor sich, die sich gegenseitig falsch und unvollständig sehen.

6 [423]

Niemals jemandes Sünden mittheilen! Aber unseren Verkehr abbrechen!

6 [424]

Was an uns bemerkbar ist, das wächst oder verwelkt unter dem Einflusse des Lichtes das von den anderen Menschen auf uns strahlt: gleichsam als ob die Augen der Menschen für uns nothwendige Wärme- und Lichtquellen wären. Als bemerkbar und bemerkt, regulirt sich das Wachsthum nach den Anderen z. B. unsere Haltung Miene. – Dann was wir bemerken, aber andere nicht wissen können! – und endlich das, was auch wir nicht bemerken! Die Grenzen sind verschieden, vieles ist mir im Licht, was anderen im Dunkel ist und entwickelt sich folglich anders, z. B. Religiosität, Sinn für Wahrheit, Sympathie, Laster.

6 [425]

Während einer Sonnenfinsterniß fallen die Tagthiere rasch in Schlaf.

6 [426]

Die Nachtthiere werden erst beim Eintreten der Dunkelheit munter. Sie, haben so gut entwickelte Augen wie die Tagthiere. Warum fliegen sie nur in der Nacht herum? Die Thiere hängen vom Lichte ab durch Vermittlung der Augen.

6 [427]

"Es war Mode, daß die jungen Frauen, wenn sie Voltaire begegnen, erbleichen, sich aufregen, gerührt und selbst unwohl werden, sich ihm in die Arme werfen, stammeln, weinen, kurz in einen Zustand gerathen, der der leidenschaftlichsten Liebe ähnelt." Huldigen!

6 [428]

Die Aneignung der Vergangenheit – wie viel Sympathie, Leidenschaft, Selbstvergessen, ja Selbstverachtung ist nöthig, um die Seele der Vergangenheit wieder entstehen zu lassen! Es ist ein Anfang, es ist eine Schwärmerei dabei, viel Trotz und Fanatism. Voran die Deutschen – worauf weist es! – Zu vergleichen die Reformation Luthers (ebenfalls Historie!): Widerwille gegen die Vernunft, die Helligkeit, das Pietätlose, Traditionslose, gegen den Mangel an festem Halt.

Aber die Historie, aus dem genannten Motiv betrieben, bringt eine ungewollte Wirkung! Die Vergangenheit bewies nicht, was man suchte!

6 [429]

Alle die Relationen, welche uns so wichtig sind, sind die der Figuren auf dem Spiegel, nicht die wahren. Die Abstände sind die optischen auf dem Spiegel, nicht die wahren. "Es giebt keine Welt wenn es keinen Spiegel giebt" ist Unsinn. Aber alle unsere Relationen, mögen sie noch so exakt sein, sind Beschreibungen des Menschen, nicht der Welt: es sind die Gesetze dieser höchsten Optik, von der uns keine Möglichkeit weiter führt. Es ist nicht Schein, nicht Täuschung, sondern eine Chiffreschrift, in der eine unbekannte Sache sich ausdrückt, – für uns ganz deutlich, für uns gemacht, unsere menschliche Stellung zu den Dingen. Damit sind uns die Dinge verborgen.

6 [430]

Die Fliege die nicht durch das Glas kann

6 [431]

Wir sehen den Spiegel nicht anders als die darauf sich spiegelnde Welt.

6 [432]

Der Mensch verhüllt uns die Dinge.

6 [433]

Auf diesem Spiegel geht es regelmäßig zu, ein Ding folgt immer wieder auf das andere – wir nennen's Ursache und Wirkung, aber begreifen können wir nichts, weil wir die Bilder der Ursache und der Wirkung allein sehen.

Wir reden, als ob es seiende Dinge gebe, und unsere Wissenschaft redet nur von solchen Dingen. Aber ein seiendes Ding giebt es nur nach der menschlichen Optik: von ihr können wir nicht los. Etwas Werdendes, eine Bewegung an sich ist uns vollen<d>s unbegreiflich. Wir bewegen nur seiende Dinge – daraus besteht unser Weltbild auf dem Spiegel. Denken wir uns die Dinge fort, so auch die Bewegung. Eine bewegte Kraft ist Unsinn – für uns.

Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir nichts als Dinge. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen wir zuletzt wieder auf nichts als den Spiegel.

Unser Denken ist wirklich nichts als ein sehr verfeinertes zusammengeflochtenes Spiel des Sehens Hörens Fühlens, die logischen Formen sind physiologische Gesetze der Sinneswahrnehmungen. Unsere Sinne sind entwickelte Empfindungscentra mit starken Resonanzen und Spiegeln.

6 [434]

Wenn wir beachten, zu welchen Irrungen uns die Sinne am liebsten verführen, können wir errathen, welcher Art ihre Grundirrthümer sein werden (z. B. der Glaube an Körper

6 [435]

Ein Spiegel, auf dem die Dinge nicht als Flächen sondern als Körper sich zeigen.

6 [436]

Der Enthusiasmus nimmt sich bei denen ganz anders aus, welche sich vergessen müssen, um glücklich zu sein – Selbstentäußerung. Die Übung des Bewußtseins ist bei ihnen dem Glücksgefühl entgegengesetzt und sie nehmen an, daß der Verstand und die Gluth der Empfindung sich ausschließen. Mit scharfen Adlersaugen sich aufschwingen – das können sie nicht, sie wollen Blindheit, Überwältigtsein!

6 [437]

Wir wähnen, allmählich stelle sich die Wahrheit fest – aber nur der Mensch in seiner Relation zu anderen Kräften stellt sich fest. Er bildet sich die Fülle der Relationen aus: d. h. die Fülle von Beschränktheiten und Irrthümern. Es sind keine absoluten Irrthümer, sondern von der Art der optischen. Wir fördern die Wissenschaft? nein, den Menschen! er wird fester dauerhafter dadurch.

6 [438]

Wäre nach irgend einem Moralsystem streng gelebt worden, so wäre die Menschheit zu Grunde gegangen. Ebenso am Christenthum. Wir leben auch durch die Unmoralität.

6 [439]

Wir thun nicht mehr mit der Erkenntniß als die Spinne mit Netz und Jagd und Aussaugen: wir stellen unsere Bedürfnisse und deren Befriedigung fest, dazu gehören Sonne Sterne und Atome, es sind Umwege zu uns, ebenso die Ablehnung eines Gottes. Auf die Dauer leiden wir Schaden an jeder fehlerhaften Relation (Annahme einer Relation) Deshalb hat an sich unsere Erkenntniß keinen Werth: es sind lauter optische Gesetze (gleichnißweise) Der Mensch selber, in seinem Raum von 5 Fuß Länge, ist eine willkürliche Annahme, auf Schwäche der Sinnesorgane hin construirt.

6 [440]

Das Nachbilden (Phantasiren) wird uns leichter als das Wahrnehmen, Nur-percipiren: weshalb überall wo wir meinen, bloß wahrzunehmen (z. B. Bewegung) schon unsere Phantasie mithilft, ausdichtet und uns die Anstrengung der vielen Einzelwahrnehmungen erspart. Diese Thätigkeit wird gewöhnlich übersehen, wir sind nicht leidend bei den Einwirkungen anderer Dinge auf uns, sondern sofort stellen wir unsere Kraft dagegen. Die Dinge rühren unsere Saiten an, wir aber machen die Melodie daraus.

6 [441]

Unser Erkennen und Empfinden ist wie Ein Punkt im Systeme: wie Ein Auge, dessen Sehkraft und Sehfeld langsam wächst und mehr umfaßt. Damit ändert sich nichts in der wirklichen Welt, aber diese beständige Thätigkeit des Auges versetzt alles in eine beständige wachsende herzuströmende Thätigkeit

Wir sehen unsere Gesetze in die Welt hinein und wiederum können wir diese Gesetze nicht anders fassen als die Folge dieser Welt auf uns. Der Ausgangspunkt ist die Täuschung des Spiegels, wir sind lebendige Spiegelbilder.

Was ist also Erkenntniß? Ihre Voraussetzung ist eine irrthümliche Beschränkung, als ob es eine Maaßeinheit der Empfindung gebe; überall wo Spiegel und Tastorgane vorkommen, entsteht eine Sphäre. Denkt man sich diese Beschränktheit weg, so ist Erkenntniß auch weggedacht – ein Auffassen von "absoluten Relationen" ist Unsinn. Der Irrthum ist also die Basis der Erkenntniß, der Schein. Nur durch die Vergleichung vieler Scheine entsteht Wahrscheinlichkeit, also Grade des Scheins. – Ebenso ist die Sprache eine angebliche und geglaubte Basis von Wahrheiten: der Mensch und das Thier bauen zunächst eine neue Welt von Irrthümern auf und verfeinern diese Irrthümer immer mehr, so daß zahllose Widersprüche entdeckt werden und dadurch die Menge der möglichen Irrthümer verringert wird, oder der Irrthum weiter getrieben wird. "Wahrheit" giebt es eigentlich nur in den Dingen, die der Mensch erfindet z. B. Zahl. Er legt etwas hinein und findet es nachher wieder – das ist die Art menschlicher Wahrheit. Sodann sind die meisten Wahrheiten thatsächlich nur negative Wahrheiten "dies und das ist jenes nicht" (obschon meist positiv ausgedrückt.) Letzteres ist die Quelle alles Fortschrittes der Erkenntniß. Die Welt ist also für uns die Summe der Relationen zu einer beschränkten Sphäre irriger Grundannahmen. Die Gesetze der Optik sind sämtlich Irrthümer, ebenso die des Ohrs. Gesetzt, es giebt zahllose empfindende Punkte in dem Dasein: jeder hat eine Sphäre, wie weit und wie stark er Relationen wahrnimmt, d. h. eine Sphäre der Beschränktheit und des Irrthums. Ebenso hat jede Kraft ihre Sphäre, sie wirkt so weit und so stark und nur auf das und jenes, auf anderes nicht, eine Sphäre der Beschränktheit. Ein eigentliches Wissen um alle diese Sphären und Beschränktheiten ist ein unsinniger Gedanke, weil hier ein Empfinden ohne ein "wie weit" "wie stark" "auf dies und jenes" gedacht werden soll: und ebenso eine Kraft ohne Grenzen, und zugleich mit allen Grenzen, die alle Relationen schafft – das wäre eine Kraft ohne bestimmte Kraft, ein Unsinn. – Also die Beschränktheit der Kraft, und das immer weiter in Verhältniß Setzen dieser Kraft zu andern ist "Erkenntniß". Nicht Subjekt zu Objekt: sondern etwas Anderes. Eine optische Täuschung von Ringen um uns, die gar nicht existiren, ist die Voraussetzung. Erkenntniß, ist wesentlich Schein.

6 [442]

Unsere Handlungen sind, da wir Skeptiker sind, Experimente, Rechnungen mit einigen unbekannten Größen – also sehr interessant, weil es nicht alberne Äußerungen unserer Macht sind, die, wenn sie mißrathen, uns ärgern, sondern Versuche, irgend worüber einen Aufschluß zu erhalten, durch den Erfolg. Wir lassen uns weder durch unsere Handlungen noch durch unsere Erfolge tyrannisiren.

6 [443]

Bei dem nimmt sein wohlwollender Trieb zu, wenn sein Gefühl der Macht zunimmt: seine Freudigkeit und seine größere Verantwortung machen ihn ausspähend nach guten Handlungen.

6 [444]

Wir glauben Alle, in der Empfindung des Neides, Hasses usw. zu wissen, was Neid Haß usw. ist – ein Irrthum! ebenso im Denken: wir glauben zu wissen, was Denken ist. Aber wir erleben einige Symptome einer uns wesentlich unbekannten Krankheit und meinen, hierin eben bestehe die Krankheit. Alle moralischen Zustände bemessen und nennen wir nach dem, was wir dabei bewußt empfinden – und auch dies nicht fein, sondern ganz grob. – Nun haben wir gelernt, daß wir das Wollen nach Zwecken fundamental mißverstehen. Es ist also auch möglich, daß wir alle moralischen Affekte mißverstehen; daß wir die Symptome schon falsch auslegen, nämlich nach den Vorurtheilen der Gesellschaft, welche ihren Nutzen und Schaden im Auge hat.

6 [445]

Moralische Zustände sind physiologische Zustände – deutlich z. B. bei der Liebe. Fast alle wesentlich angenehm, wesentlich nöthig für den Organismus des Einzelnen.

6 [446]

Die Liebe, die auf Einen ablegt, was Vielen zukommt, ist trotzdem verherrlicht, als antiegoistische Macht: als was sie gröblich angesehen erscheint und weil sie wohlthun will. Indessen: sie entzieht allen übrigen Menschen und Dingen beinahe alles Interesse, und häuft dies auf Einen; ihre Folge ist also nicht-wohlthuend, im Ganzen betrachtet.

6 [447]

Die Musiker und Schriftsteller, die immer etwas vorstellen, was sie nicht sind, die Rhetoriker und Schauspieler

6 [448]

Diese Dinge kennt ihr als Gedanken, aber eure Gedanken sind nicht eure Erlebnisse, sondern das Nachklingen von denen Anderer: wie wenn euer Zimmer zittert, wenn ein Wagen vorüberfährt. Ich aber sitze im Wagen, und oft bin ich der Wagen selber.

6 [449]

Die Sünden-Betonung hat den egoistischen Gedanken an die persönlichen Folgen jeder Handlung hundertfach verschärft, und davon abgelenkt, die Folgen für Andere auszudenken. Das Unrecht gegen Gott – dadurch ist die Gedankenlosigkeit über Handlungen und allgemeine Nachwirkung<en> derselben für <die> Menschheit groß geworden. Die Reue der Gewissensbiß! Der Christ denkt nicht an den Nächsten, er ist ungeheuer mit sich beschäftigt.

6 [450]

Wenn wir ein Buch nicht um des Anderen Willen zu lesen wissen, wie arm wird es sein! Wir müssen es empfinden wie der Autor – ist das moralisch? – Die ganze Küste mit Gebirge Meer und Oelbäumen und bezaubernden einsamen Pinien, alles müssen wir entdecken. Und so aus uns herausgehend können wir auch mit den Menschen umgehen, als ihre Bereiser und Entdecker, Gutes und Böses ihnen erweisen, damit sie die ihnen eigene Schönheit zeigen, sonnenhaft oder gewitterhaft.

Bleiben wir in uns hängen, woran sollten wir wachsen und reicher werden! Zur Nahrung haben wir die Lust am Fremden, eben an der Nahrung nöthig. Die Lust am Menschen ist unserer Nahrung wegen nöthig –

6 [451]

Die Freundschaft höher herauf heben. NB E<merson> 149

6 [452]

NB. Die brüderliche Empfindung mit den großen Geistern aufnehmen und die Rivalität ablehnen! Keine Isolation!

6 [453]

Das Herz wird zusammengeschnürt, wenn man ansieht, wie die Menschen sich ihrer Antipathie gegen etwas gar nicht schämen. Wer sich selber haßt, den haben wir zu fürchten, wir sind die Opfer seiner Rache. Wir müssen ihn zur Liebe zu sich verführen.

6 [454]

Der unverschämte Egoism der Liebe, das allein Besitzenwollen das allein Geschätzt-werden-wollen – es hätte nicht diesen Ruf, wenn es nicht so angenehm wäre!

6 [455]

Handlungen werden als sittlich erst dann empfunden, wo ihre Nützlichkeit nicht mehr eingesehen wird: also befohlene, vererbte, geheiligte Nützlichkeit. Wohl wird mit Strafe und Lohn gewinkt: aber nicht um der Strafe und des Lohnes willen werden sie gefordert, sondern weil eine Autorität sie fordert, aus unbekannten Gründen!

6 [456]

Es ist nicht wahr, daß gut und schlecht die Ansammlung von Erfahrung über zweckmäßig und unzweckmäßig ist. Alle bösen Triebe sind in eben so hohem Grade zweckmäßig und arterhaltend als die guten! NB gegen Spencer. Auch das, was der Gemeinschaft zweckmäßig ist, ist nicht der einzige Gesichtspunkt. Das wichtigste: blindes Gehorchen, wo befohlen wird, und Übergang der Furcht in Verehrung. Heiligung des Verehrten!

6 [457]

Zur Geschichte der

Redlichkeit.

6 [458]

Vertraulichkeiten

mit dem nächsten Freund und dem

nächsten Feinde.

6 [459]

Die Leidenschaft der

Redlichkeit.

6 [460]

Die Emigranten.

6 [461]

Passio nova

oder

Von der Leidenschaft der Redlichkeit.

 

[Dokument: Notizbuch]

[Ende 1880]

 

7 [1]

Das Christenthum hat gelehrt 1) ein ungeheures Mißtrauen gegen uns 2) und Menschenkenntniß – diese Vorsprünge haben wir vor dem Alterthum.

7 [2]

Nur in der tiefen Dunkelheit sind wir ganz wir selber: das Berühmtwerden umstellt uns mit Menschen und ihrem Verlangen an uns. Man muß seinen Ruhm ins Meer werfen.

7 [3]

Das Christenthum hat das Niedrigkeitsgefühl (Demuth) gut genannt: eine Leidenschaft daraus gemacht! Dadurch sich gehoben!

7 [4]

" Mit 40 Jahren ist man ein Kamel, mit 70 ein Affe" Spanier

7 [5]

Auch wir dürfen unseren Geschmack haben: aber es ist nicht mehr der ewige der nothwendige Geschmack! Und jede Zeit glaubt es von dem ihren! Und wir dürfen es nicht! Ein ganz neuer Zustand!

7 [6]

„Auf die Dauer sieht man nur die Anblicke der Natur, welche unserer Art, das Glück zu suchen, analog sind: der Eine nur Erhabenes, der andere die feinen und seltenen Gesichtspunkte. Der ganze Rest ist ihm langweilig." St<endhal>

7 [7]

Die Unächtheit ist mitunter nur ein harter Ausdruck für jene Passivität, vermöge <deren> ein M<ann> wie ein Weib immer Kinder zu Tage bringt, die ihrem Vater ähnlich sehen, und nicht ihm selber! Passive Künstler wie Liszt. Auch Denker welchen alle Arten von Wirklichkeit männlich imponiren und ebenso Liebe einflößen. Der Kampf gegen diese Passivität wird häufig von der Eitelkeit geführt. Dann aber auch von dem Gewissen der Treue, die sie uns oft gebrochen. Es giebt eine listige Gattung superiorer Naturen, welche über dieser Passivität stehen, sie gewähren lassen wie eine Leidenschaft, aber ihr Gelegenheiten machen: so eignen sie sich Erfahrungen an, denen andere Denker fremd bleiben.

7 [8]

Die Plage durch die Begierde ist an sich nicht so groß, wenn man sie für nichts Böses hält. So wenig als der Stuhldrang uns tiefe Seelennoth macht.

7 [9]

Diesen Gedanken muß ich nachfolgen, Tag und Nacht: sie überfallen mich in meinen Träumen. Ich bin nicht unter den wirksamsten Schmerzen vor ihnen sicher gewesen. Es giebt kein Band der Sympathie, welches nicht zerrisse, sobald diese Unerbittlichen ihre Hand daran legen. Es ist ein trauriges, erhebendes und süßes Ding um dieses Verstricktsein – ich zweifle, ob vielen Menschen das Leben so bejahungswerth wie mir erschienen ist, umhüllt von diesem melancholischen Feuer und Rauche.

7 [10]

Die Abneigung der griechischen Kunst gegen das Schreckliche: man hatte wirkliche Übel genug.

7 [11]

M<ichel> Angelo nahm seinem Gotte die Güte und Gerechtigkeit und machte einen Gott des Schreckens und der Rache daraus – er machte ihn logisch.

7 [12]

Ein Amt ist gut: man legt es zwischen sich und die Menschen, und so hat man sein ruhiges und listiges Versteck und kann thun und sagen, was Jedermann von uns zu erwarten für sein Recht hält. Auch ein frühzeitiger Ruhm kann so benutzt werden: vorausgesetzt, daß hinter ihm, unhörbar, unser eigenes Selbst wieder mit sich frei spielen und über sich lachen kann.

7 [13]

Die Unabhängigkeit ist die Entsagung des Herrschsüchtigen, dem nichts zu beherrschen gegeben ist als sich selber. Es ist die Brutstätte der größten Herrschbegier, denn wir können uns zu einem Unendlichen ausweiten und auf dies Unendliche wieder unsere Herrscherkraft ausdehnen. Seine Leidenschaft für das Unendliche hervorschießen lassen, so daß wir deren Sieger werden!

7 [14]

Die Deutschen wechseln ab mit Hingebung an das Ausländische und einem rachesüchtigen Verlangen nach Originalität, (Rache für ihre Scham beim Rückblick) – und die ganz unbedenklich guten Deutschen, welche produktiv sind, sind Vermittler gewesen und haben europäisch gearbeitet (wie Mozart und die Historiker usw.) – Die Deutschen, zum Beweise, daß ihre Originalität nicht Sache der Natur, sondern des Ehrgeizes ist, meinen, sie liege in der völligen und faustdicken Verschiedenheit: aber so dachten Griechen nicht gegen den Orient, noch Römer gegen Griechen, noch Franzosen gegen Römer und Renaissance – und wurden original (man ist es nämlich zuerst nicht! sondern man ist roh!)

7 [15]

Diese ganze Philosophie – ist sie mehr als ein Trieb zu beweisen, daß reife Früchte, ungesäuertes Brod, Wasser, Einsamkeit, Ordnung in allen Dingen mir am besten schmecken und am zuträglichsten sind? Also ein Instinkt nach einer richtigen Diät in Allem? Nur eine milde Sonne! Da nähere ich mich meiner Art Erhabenheit, welche keine düstere und anspruchsvolle ist, sondern ein förmliches und einsames Schwärmen eines Schmetterlings hoch an den Felsenufern eines Sees, wo viele gute Pflanzen und Blumen wachsen? Unbekümmert darum, daß es vielleicht das Leben Eines Tages ist, und daß die Nacht zu kalt für meine geflügelte Gebrechlichkeit ist?

7 [16]

"Klima oder Temperament machen die Kraft der Sprungfeder: Sitte und Erziehung geben ihr den Sinn." Richtig!

7 [17]

Euer Cultus der Kraft ist alles Andere, nur kein Beweis von Kraft, wie bei M<ichel> Angelo! Ihr gebt euch hin, ihr wollt Kraft dabei trinken, ihr seid müde eurer Schwäche –

7 [18]

Wie die Italiäner sich eine Musik aneignen, dadurch daß sie dieselbe in ihre Leidenschaft hineinziehen – ja diese Musik wartet darauf, so persönlich interpretirt zu werden, und hat davon mehr als von aller Kunst der Harmonie – so lese ich die Denker und ihre Melodien singe ich nach: ich weiß, hinter allen den kalten Worten bewegt sich eine begehrende Seele, ich höre sie singen, denn meine eigene Seele singt, wenn sie bewegt ist.

7 [19]

Plan.

1. Cap. Wir glauben, es sei der Gegensatz einer Leidenschaft: aber es thut wohl, und deshalb beginnen wir den Kampf gegen die Leidenschaften zu Gunsten der Vernunft und Gerechtigkeit. Wir Arglosen!

2. Cap. Wir entdecken plötzlich, daß es alle Merkmale der Leidenschaft selber trägt. Wir leiden bei dieser Erkenntniß, wir trachten nach dem ungetrübten morgenstillen Lichte des Weisen. Aber wir errathen: auch dieses Licht ist leidenschaftliche Bewegung, aber sublimirt, für Grobe unerkennbar.

3 Cap. Wir suchen uns der Knechtschaft zu entziehen, wir beugen uns anderen Leidenschaften (Kunst) Wir suchen sie durch Zerlegung zu tödten, durch Ableitung ihres Ursprungs. Wir entdecken dabei, wie überhaupt Leidenschaften entstehen, wie sie veredelt werden und wirken.

4 C<ap.> Die Rückwirkung von außen beginnt. alles, was wir selber dagegen eingewendet haben, um uns los zu machen, alle unsere Irrthümer kehren von außen her auf uns los, als Zerfall mit Freunden usw. Es ist eine neue und unbekannte Leidenschaft. Ihre düstere Seligkeit! sie läßt uns tragen! sie wirkt Einsamkeit, sie enthüllt uns die Denker!

7 [20]

Einer der M<enschen> den ich am höchsten verehrte, ist mir von dem Augenblick an verächtlich erschienen, wo er, der von den Forderungen Erlebnissen Tragödien der Erkenntniß einen Begriff haben konnte, wegen gewisser ihm unangenehmer Wirkungen der Erkenntniß die Wissenschaft vorzog zu verunglimpfen. Und wir, die wir so Unendliches durch sie leiden, lieben sie immer noch! – Was ist das doch für eine verfluchte Weichlichkeit gegen sich und Mangel an Ernst! Nicht zu hassen, nur zu verachten!

7 [21]

Kant: der Mensch ist ein moralisches Wesen: folglich ist er 1) frei 2) unsterblich 3) giebt es eine belohnende und strafende Gerechtigkeit: Gott. – Aber das moralische Wesen ist eine Einbildung, also: – – –

7 [22]

Man soll das Erhabene nicht zu theuer kaufen (wie die Heiligkeit Gottes)

7 [23]

In Frankreich wurde die Originalität gefährlich und verächtlich und langweilig (unter L<ouis> 14) daher (nicht aus Bequemlichkeit wie die D<eutschen> das Modell.

7 [24]

1) Unterschiede anerzogener Urtheile, die aus einer Art zweiter Natur stammen und der ersten fremd oder widerstrebend sind: meistens sind sie etwas linkisch und befangen, aber insofern sie einen Sieg ausdrücken, lieben wir sie fast mehr als die mühelosen Früchte unseres Gartens (und taxiren ihren Werth im Allgemeinen höher, es ist das was unser Klima gerade noch hat ertragen können, südlichere Vegetation scheint es dem Einen, nördlichere dem Anderen) Die hier verwendete Kraft geht freilich der Pflege unserer ersten Natur ab! Und das ist oft gut, wo diese selber schon üppig treibt! "Gerechtigkeit" ist eine Sache für überreichlich angelegte Menschen! Also für die Kraft, die in Gefahr ist, sich nicht bändigen zu können! Andere möchten gerne als solche übervolle Nat<uren> gelten und zeigen sich gern ungebändigt: es giebt für Hypokriten dieser Art eine zweite feinere Feinheit! – durch Bändigungs-Versuche zu verrathen, daß etwas zu bändigen ist.

7 [25]

Damit ein Künstler oder Denker seine Art zur Vollendung bringe, muß er wohl den Glauben haben, der eine Ungerechtigkeit und Beschränktheit gegen den Glauben Anderer ist. Denn er muß mehr darin sehen und etwas Größeres als es ist: sonst wendet er, seine ganze Kraft nicht auf. Es wird durch die lange Reibung der Ausführung unendlich viel von dem Entzückenden abgerieben, das der erste Gedanke hat: darum muß die Entzückung viel größer sein als billig ist – sonst reicht sie nicht bis zu Ende!

7 [26]

Woher kommt es, daß das Christenthum die Grausamkeit gegen die Thiere in Europa verbreitet hat, trotz seiner Religion des Mitleidens? Weil es viel mehr als dies auch eine Religion der Grausamkeit gegen Menschen ist.

7 [27]

Damit einer aufrichtig sich der Gerechtigkeit im Großen, gegen Menschen und Dinge, hingiebt, muß in ihm ein prototypischer Vorgang da sein: er muß zwei Gewalten oder mehrere im Kampfe fühlen, den Untergang keiner, ebenso wenig wie den Fortgang des Kampfes wünschen. So erfährt er in sich die Nöthigung zu einem Vertrag, mit Rechten der verschiedenen Gewalten gegen einander: und auch eine durch Gewöhnung an die Achtung dieser Rechte begründete Lust an dem Gerechtsein. Sein inneres Erlebniß strahlt nach außen. Vielleicht daß einer auch von außen her nach innen zu solchem gerechten Sinn kommt. Schonung ist die Praxis der Gerechtigkeit: vieles sehen, aber nicht bemerken wollen, vieles ertragen, aber, um des allgemeinen Friedens willen, freudig dazu sehen – es kann ein Stoicism werden, der wie ein Epicureism aussieht.

7 [28]

Die griechische Anmuth war so streng, daß sie uns heute als Würde erscheinen möchte. Und die antike gravitas eines Philosophen oder Staatsmannes würden wir kaum aushalten. Unsere Künstler, welche sich wunder was auf das schöne Sich-gehen-lassen einbilden, würden im Auge des Stoikers wie ungezogene Knaben erscheinen.

7 [29]

Pascal's Gespräch mit Jesus ist schöner als irgend etwas im neuen Testament! Es ist die schwermüthigste Holdseligkeit, die je zu Worte gekommen ist. An diesem Jesus ist seitdem nicht mehr fortgedichtet worden, deshalb ist nach Port-Royal das Christenthum überall im Verfall.

7 [30]

Ich kann mich ganz so behandeln wie ein Gärtner seine Pflanzen: ich kann Motive von mir entfernen, dadurch daß ich mich von einem Orte einer Gesellsch<aft> entferne, ich kann Motive in meine Nähe stellen. Ich kann den Hang, so gärtnerhaft gegen mich zu verfahren, künstlich pflegen oder verdorren machen.

7 [31]

Die Unglückl<ichen> die mit Einem Male die Tugend, durch eine Umwandlung erreichen wollen! Und verzweifeln, bei einem Rückfall! Während Übung den Meister macht.

7 [32]

Sympathie und Mitgefühl waren schwer in wilden kriegerischen Zeiten zu erregen – damals hatte der Dramatiker eine Aufgabe! Aber in unserem allzusensibeln Zeitalter ist wirklich der Cultus des Mitempfindens der kläglichste aller Culte – als ob nicht viel zu viel mitempfunden würde! Als ob nicht selbst die Handlung viel mehr durch Mitempfindung als durch Empfindung geleitet würde!

7 [33]

eigene "Seele" will ich sagen für Individualit<ät>

M<enschen> ohne eigene Seele

M<enschen> ohne Seele

Die eigene Seele.

7 [34]

Auch Kant, so dürftig sich seine Seele neben der Pascal's ausnimmt, hat einen ähnlichen Hintergedanken bei allen Bewegungen seines Kopfes: den Intellekt zu entthronen, das Wissen zu köpfen – zu Gunsten des christlichen Glaubens. Und nun muß es der christliche Glaube sein! als ob nicht wenn das Wissen geköpft wäre, alle Arten Glauben zugänglich würden!

7 [35]

Schopenhauer begriff nicht die Passion, sondern nur den allgemeinen Geschlechtstrieb und dessen Schrullen (aber die Passion ist die Leistung des Individuums, unter Italiänern folglich häufig, unter Deutschen schwach). In der Liebe ist der Deutsche gemein.

7 [36]

Die Anmuth ist das Ausruhen starker Seelen – die schwachen wollen umstrickt gefesselt verführt sein, sie finden die Anmuth wirkungslos und fade und begehren nach Excitantien (Emotionen)

7 [37]

Es giebt so viele Art<en> angenehmer Empfindung, daß ich verzweifle, das höchste Gut zu bestimmen. Neulich schien es mir das Schweben und Fliegen.

7 [38]

Das "Ding" eine Simplification. Nun will der Mensch sich selber begreifen, da hat er vor allem Worte nöthig: wenn er so und soviel Dinge am Menschen nennt, meint er zuletzt den Menschen als Summme dieser Dinge zu haben, zu begreifen.

7 [39]

Täglich erstaune ich: ich kenne mich selber nicht!

7 [40]

Ich meine nicht, daß die Redlichkeit gegen sich etwas so absolut Hohes und Reines sei: aber mir ist dabei wie bei einem Erforderniß der Reinlichkeit. Es mag einer sein, was er will, Genie oder Schauspieler – nur reinlich! (H. Heine hat etwas Reines.)

7 [41]

Die prachtvollen Leiber der antiken Statuen erscheinen schön, weil angenehm, weil nützlich (immer der Gedanke an Krieg!)

7 [42]

Der kleinstädtische "Geist"

7 [43]

Die Erhebung des Mitleidens zu etwas Gutem, christlich-buddhistisch.

7 [44]

Die Sachen ohne den Effekt der Sachen wären viel höher.

7 [45]

"Was liegt an mir!" ist der Ausdruck der wahren Leidenschaft, es ist der äußerste Grad, etwas außer sich zu sehen.

7 [46]

Der Realism in der Kunst eine Täuschung. Ihr gebt wieder, was euch am Dinge entzückt, anzieht – diese Empfindungen aber werden ganz gewiß nicht durch die realia geweckt! Ihr wißt es nur nicht, was die Ursache der Empf<indungen> ist! jede gute Kunst hat gewähnt, realistisch zu sein!

7 [47]

In Bezug auf den stärksten Trieb, der zuletzt unsere Moralität regulirt, müssen wir die Frage: warum? lassen (z. B. wer Stolz in seinem Fundamente hat)

7 [48]

Das "du mußt" in ein "du sollst" umzuempfinden – ist das Kunststück! Umgekehrt als für den gewöhnlichen Menschen, der das "du mußt" nicht begreift.

7 [49]

Vom Thiere und von der Pflanze müssen wir lernen was Blühen ist: und darnach in Betreff des Menschen umlernen. Jene bleichen ausgemergelten zeugungsunfähigen, an ihren Gedanken leidenden Menschen können nicht mehr Ideale sein. Es muß eine Entartung in uns gewesen sein, die einen so schlechten Geschmack hervortrieb. Ich bekämpfe diesen schlechten Geschmack.

7 [50]

Ist denn kein Ausweg! Nirgends ein Gesetz, welches wir nicht nur erkennen, sondern auch über uns erkennen!

7 [51]

Der Reiz der bekämpften Schwierigkeit (Wagner) und der Reiz der überwundenen Schwierigkeit (durch künstliche Figuren hindurch ein Gefühl z. B. die Liebe noch zum Ausdruck bringen z. B. Petrarca)

7 [52]

Es kommt in der Wirklichkeit nichts vor, was der Logik streng entspräche.

7 [53]

Ich bin nicht im Stande, irgend eine Größe anzuerkennen, welche nicht mit Redlichkeit gegen sich verbunden ist: die Schauspielerei gegen sich flößt mir Ekel ein: entdecke ich so etwas, so gelten mir alle großen Leistungen nichts; ich weiß, sie haben überall, und im tiefsten Grunde, diese Schauspielerei. – Dagegen ist die Schauspielerei nach außen (z. B. Napoleon's) mir begreiflich: wahrscheinlich ist sie vielen Leuten nöthig – Dies ist eine Beschränktheit.

7 [54]

Manche Menschen sind einfacher, aber meistens ist wohl das Individuum unerkennbar und ineffabile. Folglich ist das Muster nothwendig eine Täuschung! Wenn ich das Material des Baues in Masse und Art nicht kenne, was sind Baupläne! Und wie beschränkt macht uns dieses ewige Nachdenken über das ego! Man hätte für die Kenntniß der Welt nicht Zeit! Und wäre gar diese Kenntniß erst ein Mittel zur Erkenntniß des ego, so kämen wir nie zur Aufgabe selber! Und zuletzt diese Verliebtheit in unser eigenes Muster ist eine Unfreiheit mehr!

7 [55]

der heilige Zorn (Juden als Dramatiker), der heilige Neid (Griechen agwn)-Affek<te> als gut empfunden (auch bei Hesiod)

7 [56]

Was nach wissenschaftlichen strengen Causalbegriffen uns wirklich gut ist (z. B. unbedingter Glaube usw.) das ist vielleicht eben durch die Strenge des wissenschaftlichen Geistes uns nicht mehr möglich! (Gegen Spencer's harmlose Gläubigkeit an die Harmonie von Wissen und Nutzen)

7 [57]

Ohne es zu merken, genießen wir die vertrauensvol<lste> Ruhe in der Welt, wie als ob sie eine Vorsehung wäre: mitten in unserem kalten Fatalism empfinden wir eine warme Luft von älteren, religiösen Empfindungen. Unsere erschreckende Mündigkeit! In die Welt hinein gestoßen!

7 [58]

Die Unterscheidung von höher und niedrig< er> in Bezug auf den Körper und die Organe ist nicht die Unterscheidung der Wissenschaft! Sondern je weniger wir etwas von der Thätigkeit eines Organs sehen, um so höher stellen wir es. Oder riechen! Oder fühlen! Der Ekel entscheidet über hoch und niedrig! Nicht der Werth! Hier ist ein Anfang der moral<ischen> Unterscheidung gefunden! NB

7 [59]

Der Gelehrte unter dem Joche 1) der Kirche 2) der Höfe 3) der galanten Gesellschaft 4) der Jugenderziehung 5) der kaufmännisch-industriellen Interessen 6) der Nationen – dies ist seine Geschichte! Dann die Vereinzelten! Montaigne Stendhal usw.

7 [60]

Die Vorstellung: "dieser Gedanke könnte nicht wahr sein!" erschüttert mich. "Er wird als nicht wahr gelten" – läßt mich kalt, ich setze es voraus: denn sie haben nicht so viel Zeit und Leidenschaft zuzusetzen wie ich.

7 [61]

Der moral<ische> Jargon in unserem Munde würde uns beleidigen oder lächerlich stimmen. Es bleiben uns nur Handlungen zum Ausdruck. Und falls Schriften diese Handlungen sind, –

7 [62]

Wie verhält sich das Muster zu unserer Entwicklung? zu dem, was wir nothwendig erreichen müssen? Ist das Muster günstigsten Falls ein Vorwegnehmen? Aber wozu dann nöthig?

Es ist eine sicher und lange ausgeführte Vorstellung vom "Ich", die uns am lustvollsten ist und als Motiv wirkt zu thun und zu lassen (die Meisten haben keines!) Wenn es nicht ausführbar ist, ja wenn es nicht ausgeführt wird, so ist es fehlerhaft entworfen, aus Unkenntniß von uns. Jedenfalls ist es ein nothwendiges Produkt aller unserer Fähigkeiten: bei dem einen eine leere Phantasterei, bei dem anderen eine schöne Dichtung, bei dem dritten ein architektonischer Entwurf – und hier giebt es wieder alle Arten von Geschmack der Architektur. Ein Versuch, unser unendlich complicirtes Wesen in einer Simplification zu sehen und zu begreifen. Ein Bild für ein "Ding".

7 [63]

Arbeit, jetzt gut, sonst böse. Die 2 heroischen Zeitalter bei Hesiod, deren Rückseite, gut und böse.

7 [64]

Christenthum und Judenthum: das Ideal außer uns gesetzt, mit höchster Macht und befehlend! und belohnend und strafend! – Wie hoch muß ein jeder stehen, um dies sich selber zu leisten! Und wie wenig willkürlich wird ihm das Bild von sich erscheinen müssen! Darf er sich als dessen Schöpfer fühlen?! Kaum!

7 [65]

Ist es möglich, das Gewissen in die Sprache unseres Musters mit uns zu verwandeln? Dann gienge es. Sehr selten! Aber dies ist kein Einwand!

7 [66]

Der autonome Mensch ist sehr selten. "Der M< ensch> unter Satzungen" die "N<atur> selbst unt<er> Gesetzen."

7 [67]

Heiterkeit empfinden, wenn wir uns unter unserem eigenen Ceremoniell genirt fühlen.

7 [68]

da die M<enschen> sich ändern, ändert sich das Bild der Geschichte fortwährend NB.

7 [69]

Man lobt und tadelt nach einem Muster (nennt moralisch oder unmoralisch) Vorher geht die Unterwerfung unter ein Muster. Gew<öhnlich> ist der, welcher Gewalt über uns hat, und nach seinem Willen lobt und tadelt, das Muster, es kostet am wenigsten Erfindung und Geist. Also: die sich als Ziel aufstellenden Individuen haben zuerst die Muster aufgestellt. Moral d. h. "ein Muster außerhalb" gab es nur für die Schwächeren.

7 [70]

Ich will nur mit Menschen umgehen, welche ihr eigenes Muster haben und nicht in mir es sehen. Denn dies machte mich für sie verantwortlich und zum Sklaven.

7 [71]

Keine falsche Nothwendigkeit annehmen – das hieße sich unnützer Weise unterwerfen und wäre sklavisch – daher Erkenntniß der Natur! – Aber dann nichts gegen die Nothwendigkeit wollen! Es hieße Kraft vergeuden und unserem Ideal entziehen, über dies die Enttäuschung statt des Erfolges wollen – NB.

7 [72]

Ich habe die M<uster> durchsucht und mein Ideal nicht unter ihnen gefunden.

7 [73]

Moralisch sein d. h. ein Ziel setzen und daraus alle unsere Handlungen logisch deduziren. Aber unsere Natur hat weder dies Ziel, noch hat sie diese selbe Logik! Deshalb läuft die Moral darauf hinaus, uns über die Natur zu täuschen d. h. uns von ihr führen zu lassen und uns etwas dabei vorzureden als ob wir sie führten.

7 [74]

"Die Nothwendigkeit des Ungewissen für uns: das Herz soll schlagen, die Muskeln zittern vor erwartender Thätigkeit. Alle Fragen gelöst außer Einer, alle würden wie die Wespen sich an diesen Einen Punkt hängen"

7 [75]

Wie ein Trieb, je nachdem man ihn lobt und tadelt, als gut oder böse empfunden wird, an der Liebe zu zeigen (bei Griechen, bei asketischen Christen, in der christlichen Ehe usw.)

Alle Idealisirung eines Triebes beginnt damit, daß man ihn unter die lobenswerthen Dinge rechnet. Wink für die Zukunft?? NB

Den Neid, den Haß, dabei zu verbessern. Zu beachten, wie verschieden das Mitleid geworden ist.

7 [76]

Die Thiere haben Gefühl der Macht d. h. Grausamkeit, und Glück der Ergebung d. h. Ruhe Trägheit NB.

7 [77]

Die Römer haben die Eitelkeit honestas gut genannt und hoch gehoben!

7 [78]

Scheinbar ist alles jetzt viel sicherer, die Welt viel fester (wegen der vielen streng bewiesenen Wahrheiten) Aber ehemals glaubte man mehr an den Irrthum als jetzt an die Wahrheit: wir sind unendlich vorsichtiger, skeptischer und folglich unter Umständen phantastischer als ehemals. Wir können ganz andere Träume träumen als die früheren!

7 [79]

Einfluß des Fliegens! – nicht mehr in den Ebenen! Auf den Stil selbst!

7 [80]

Allseitig geübte Verachtung der Welt: alle Befriedigung hier abgewiesen oder bitterböse empfunden – so drängt sich alle Begierde der Befriedigung in Einen Kanal: Leben jenseits der Welt!

7 [81]

Ich werde des Gil Blas nicht müde: ich athme auf, keine Sentimentalität, keine Rhetorik wie bei Shakespeare.

7 [82]

Wenn wir uns von der unlösbaren Aufgabe der sittlichen Autonomie und der unhaltbaren Aufgabe der Sittlichkeit als allgem<einem> Gesetz, voll Ekel wegwenden, zur Erkenntniß der Natur: sofort empfängt uns das Problem der Pflicht wieder: unsere Stellung zu den Dingen ist eine moralische, wenn wir sie wirklich erkennen wollen: also eine unhaltbare auf die Dauer! aber wir können uns lange Zeit darüber täuschen. Wir werden instinktiv uns von den höchsten Problemen abwenden, und uns dort aufhalten, wo die Täuschung einer morallosen Erkenntniß leicht ist (wir verwenden hier eine uns natürlich gewordene Moralität, als ob diese etwas Natürliches und Außermoralisches wäre!)

7 [83]

das Princip "das Wohl der Mehrzahl geht über das Wohl der Einzelnen" genügt um die Menschheit alle Schritte bis zur niedersten Thierheit zurück machen zu lassen. Denn das Umgekehrte ("die Einzelnen mehr werth als die Masse") hat sie erhoben

7 [84]

Die moral<ischen> Urtheile über die Handlungen entscheiden über deren Moralität: diese ist etwas relativ Äußerliches. Von innen gesehen sind die Handlungen anders als gut oder böse. Wohl aber können die m<oralischen> Urth<eile> uns zu Handlungen bestimmen und in ihrer Ausführung beeinflussen, wie eine allgegenwärtige Polizei, die auch die Handlungen nicht thut, über welche sie wacht. Ganze Gattungen von Handlungen können dabei aussterben: das mor<alische> Urth<eil> gehört unter die Frage nach dem Zweckmäßigen – sind die moral<ischen> Urtheile bisher im Interesse der menschlichen Entwicklung gewesen? Welche nicht? Ist das Ablehnen des mor<alischen> Urth<eils> nicht ein Nachtheil der Menschheit? Aber bisher war der Glaube an mor<alische> Urth<eile> dafür da!

7 [85]

Das Leben für Andere eine unendlich angenehme Erholung für die stark egoistischen Menschen (dazu gehören auch die moral<ischen> Selbstquäler)

7 [86]

passionner les détails NB.

7 [87]

Stendhal: der "gute Geschmack", wie man stirbt, einen Rivalen tödtet, Banquerott macht usw. zur Zeit der Mad. d'Épinay.

7 [88]

Das Alterthum wirkte als reizvoller Zwang auf die überschäumende Kraft der Renaissancemenschen. Man unterwarf sich dem Stile, man empfand die besiegte Schwierigkeit, nicht natürlich zu sein, es war die Handlungsweise von starken M<enschen> welche gegen sich stolz und herrschsüchtig sind. Nicht zu verwechseln mit dem feigen Sklavensinn ängstlicher Gelehrter!

7 [89]

"il faut être comme un autre" ehemals verehrt und produktiv, jetzt verachtet und erniedrigend für den, der danach empfindet.

7 [90]

Etwas zu schreiben, das in ein paar Jahren alle Bedeutung verloren hat – das wird mir unmöglich, mir vorzustellen. Es ist wohl ein Zeichen von Beschränktheit. Denn alles, was ich selber überlebe, gilt mir immer noch wichtig als Denkmal eines Zustandes, der mir werthvoll war. Ich wünsche mein Alter umringt von solchen Denkmälern.

7 [91]

Ich bin passionirt für die Unabhängigkeit, ich opfere ihr alles – wahrscheinlich weil ich die abhängigste Seele habe und an allen kleinsten Stricken mehr gequält werde als andere an Ketten.

7 [92]

Die Aversion gegen Kraft, tiefen Ernst, und Anschein der Güte ist modern. Folglich sind wir Deutschen und ich antik. So 278 St<endhal> Peint<ure>

7 [93]

Ein König, der seinem Thron entsagte und in voller Armut als Weiser lebte; ein Volksführer, der sein Reich opferte usw.

7 [94]

Die Deutschen sind bequem und nehmen daher gerne ein Muster, es erspart das Denken.

7 [95]

Die Veredelung der alltäglichen Gewohnheiten. Früher beim Priester theilweise, sein Gang, sein Handerheben, seine Stimme. Dann am Hofe: die Lust sich zu beherrschen und seine Empfindungen nicht merken zu lassen (oder in ein seidenes Gewebe eingehüllt) wurde groß. – Aber was heißt jetzt veredeln, dem Ideal dienen! Welchem Ideal? Sofort müssen wir ein Ideal haben! Und woher nehmen und nicht stehlen! – Das meine ist: eine nicht das Auge beleidigende Unabhängigkeit, ein gemilderter und verkleideter Stolz, ein Stolz, welcher sich abzahlt an die Anderen, dadurch daß er nicht um ihre Ehren und Vergnügen conkurrirt und den Spott aushält. Dies soll meine Gewohnheiten veredeln: nie gemein und stets leutselig, nicht begehrlich aber stets ruhig strebend und aufwärts fliegend; einfach, ja karg gegen mich, aber milde gegen Andere. Ein leichter Schlaf, ein freier ruhiger Gang, kein Alkohol, keine Fürsten, noch andere Berühmtheiten, keine Weiber und Zeitungen, keine Ehren, kein Umgang außer dem der höchsten Geister und ab und zu des niederen Volkes – dies ist unentbehrlich, wie der Anblick von mächtiger und gesunder Vegetation – die bereitesten Speisen, welche uns nicht in das Gedränge begehrlichen und schmatzenden Gesindels bringen, womöglich selbst bereitete oder der Bereitung nicht entbehrende.

Ideale der Art sind die vorwegnehmenden Hoffnungen unserer Triebe, nichts weiter. So gewiß wir Triebe haben, verbreiten diese auch in unserer Phantasie eine Art Schema von uns selber, wie wir sein sollen, um unsere Triebe recht zu befriedigen – dies ist idealisiren. Auch der Schurke hat sein Ideal nicht gerade für uns erbaulich Es hebt ihn! auch!

7 [96]

Wie sich alles verschoben hat! Dieser Epiktet dachte nur an sich – jetzt würde man ihm fast das Prädikat "moralisch" absprechen, in der üblichen Verherrlichung des Denkens an Andere. Aber es ist wahr: habt ihr an euch einen so häßlichen oder langweiligen Gegenstand, so denkt doch ja an Andere! Der Altruism ist dann sehr angenehm. – Hingebung, Loswerden vom "ich". Es scheint, daß die Menschen wenig Freude an sich haben, wenn sie so außer sich wegsehen und das als das Beste schätzen. Ob man mehr nützt, indem man den Anderen hilft (doch immer sehr oberflächlich oder tyrannisch-umbildend) oder indem man aus sich etwas formt, was die Anderen gern sehen, einen schönen ruhigen in sich abgeschlossenen Garten – ich weiß es nicht. – Aber man will dem Leben alle Gefährlichkeit nehmen, daran soll jeder helfen!

7 [97]

Den Arbeitern zu sagen, sie sollen sparen usw., ist albern. Man sollte ihnen lehren, das Leben zu genießen, wenig zu brauchen, vergnügt zu sein, sich so gering wie möglich zu belasten (mit Weib und Kind), nicht zu trinken, kurz philosophisch zu sein und die Arbeit so weit reduziren als sie unterhält, über alles zu spotten, cynisch und epikurisch zu sein. Die Philosophie gehört in diese Kreise.

7 [98]

Für die Künste ist ein Zustand der Wildheit und der kämpfenden Individuen besser als die allzugroße Sicherheit –

7 [99]

Das Lächerliche hat keine Dauer. Die Zeitgenossen Molière's lachten ihr bitteres Lachen, wenn sie einen sich verfehlen sahen in der Nachahmung des Modells.

7 [100]

Die staunenerregende Häßlichkeit des amerikanischen Lebens (in allen Novellen Bret Harte's), aber lachen können sie und es giebt in allem Naivetät und Sich-gehen-lassen. Selbst die Schurkerei bekommt eine so ganze Form und die Nähe von Wildheit und Revolverschüssen und Marine giebt kräftigen Athem.

7 [101]

Die griechischen Tugenden sind Ideale solcher Menschen die zuviel vom Gegentheil haben – sie phantasiren und übertreiben vom Werth der Besonnenheit Klugheit Gerechtigkeit Tapferkeit. Die Menschen welche dieses Ideal verwirklichen (Epictet) sind nicht in ihren Göttern vorgebildet, vielmehr deren Gegensatz!

Die griechische Tugend wurde eine Sache des agwn‘s, man war neidisch auf einander. Die Unbeweglichkeit als Ideal: in der Zeit, wo man schon zu empfindsam geworden war und die Leiden und Umschwünge zu groß (Zeit des Thukydides) Zur Statue werden: während die Tragiker die Statue (des Gottes oder Heros) hatten zu Menschen werden lassen.

7 [102]

Es ist mein Fleiß und mein Müssiggang, meine Überwindung und mein Nachhängen, meine Tapferkeit und mein Zittern, es ist mein Sonnenlicht und mein Blitz aus dunklem Wolkenhimmel, es ist meine Seele und auch mein Geist, mein schweres ernstes granitenes Ich, das aber wieder zu sich sprechen kann "was liegt an mir! "

7 [103]

Ein Interesse an den Dingen ("Die Wittwe ihres Sohns") und nicht an dem Reiz der Dinge macht den Denker ersten Ranges d.h. allerdings Reiz der Dinge für andere Dinge = Relation, aber nicht die zum Menschen oder gar zum Individuum.

7 [104]

Das vornehme Aussehen entsteht dadurch, daß der Körper, mehrere Geschlechter hindurch, Muße hatte, um allen Anforderungen des Stolzes gemäß sich zu bewegen: nicht also durch die Bewegungen eines Handwerks oder um gemeinen Gesellen zu befehlen, gezwungen und gewöhnt wurde, gemeine und erniedrigende Gesten oder Töne hervorzubringen: gemein d. h. nicht unserem Individ<uum> und seinem Stolze angemessen. Wenn der Stolz sehr hoch gieng, ins Geistigste, so entsteht englische Majestät, Güte und Größe gemischt: denn der höchste Stolz beugt sich väterlich und gütig zu den Anderer und versteht sich nicht anders als herrschend und fürsorgend. – An unseren politischen parvenus fehlt eben dies: man glaubt nicht an ihr natürliches eingeborenes Herrschen und Fürsorgen für Andere.

7 [105]

Seltsam! Ich werde in jedem Augenblick von dem Gedanken beherrscht, daß meine Geschichte nicht nur eine persönliche ist, daß ich für Viele etwas thue, wenn ich so lebe und mich forme und verzeichne: es ist immer als ob ich eine Mehrheit wäre, und ich rede zu ihr traulich-ernst-tröstend.

7 [106]

Alle diese Heiligen sind Egoisten und wie sollte es einer nicht sein, dem mit der Hölle gedroht wird! Es geht über alle Kraft und alle Vernunft hinaus, an Andere zu denken in solcher Lage! Bei Pascal ist der tiefste Egoismus: auch alle Verzückungen sind es.

7 [107]

Diese Partei hat den guten Willen zur Exaltation und Expansion noch mehr als die Kraft: denn sonst würde sie umgekehrt sich bemühen, diesen furchtbaren Drang zu bändigen und an ihm leiden.

7 [108]

Die Handeltreibende Klasse – sie versteht alles zu taxiren, ohne es zu machen d. h. sie versteht sich auf die Bedürfnisse des Consumenten, also nicht ihrer selber – hat darin ein Schema für ihre Art Cultur: überall Nachfrage und Angebot und demnach der Werth aus Sachen und Menschen! Dies macht sie mir widerlich!

7 [109]

Das Bewußtsein eines Kranken über seine Krankheit (und über die öffentliche Meinung, die sie erregt) hat sich ganz geändert (namentlich bei dem Geisteskranken) und folglich auch viele Wirkungen der Krankheit.

7 [110]

Nicht an das Mitleiden der Götter wandten sich die Griechen, sondern an ihre Dankbarkeit oder sie versprachen etwas. Die erbärmliche Rolle des Bettlers vor den Göttern war nicht anständig.

7 [111]

Zeichen des nächsten Jahrhunderts: 1) das Eintreten der Russen in die Cultur. Ein grandioses Ziel. Nähe der Barbarei, Erwachen der Künste. Großherzigkeit der Jugend und phantastischer Wahnsinn und wirkliche Willenskraft. 2) die Socialisten.

Ebenfalls wirkliche Triebe und Willenskraft. Association. Unerhörter Einfluß Einzelner. Das Ideal des armen Weisen ist hier möglich. Feurige Verschwörer und Phantasten ebenso wie die großen Seelen finden ihres Gleichen. – Es kommt eine Zeit der Wildheit und Kraftverjüngung. 3) die religiösen Kräfte könnten immer noch stark genug sein zu einer atheistischen Religion á la Buddha, welche über die Unterschiede der Confession hinweg striche, und die Wissenschaft hätte nichts gegen ein neues Ideal. Aber allgemeine Menschenliebe wird es nicht sein! Ein neuer Mensch muß sich zeigen. – Ich selber bin ferne davon und wünsche es gar nicht! es ist aber wahrscheinlich.

die individuelle Opferung zu massenhaft bei Socialisten und Anderen erzeugt einen zusammenfassenden Ausdruck: Großmuth! und die kaufmännische kalte Klugheit wird ihre Reaktion haben in einer absoluten Verachtung der Klugheit und des Respektabeln: folglich sehr viel Narrheit.

7 [112]

"Bossuet, ein Hypokrit voller Talent, der in Gegenwart Louis XIV ein geheimes Entzücken hatte, alle Arten Geister, auf die er so eitel war ravaler." Bei Stendhal.

7 [113]

Eindruck der Engländer auf die schwärmerischen Deutschen!!

7 [114]

"Die Zeit, welche der kalte Mensch braucht, solche Wahrheiten zu sehen (das Auszeichnende am Anderen Rivalen usw.) verwendet das Genie seine Erfolge vorzubereiten." NB.

7 [115]

Ah ich bin es müde Meinungen über Meinungen zu haben oder gar zu hören! Ich will selber vor den Dingen Recht und Unrecht haben.

7 [116]

Verstehen, so weit es einem jeden möglich ist – d. h. eine Sache so bestimmt als möglich sich auf uns abgrenzen lassen, so daß unsere Form an der Grenze bestimmt und wir uns ganz genau bewußt werden, wie angenehm oder unangenehm uns bei dieser Bestimmung zu Muthe wird. Also unsere Triebe fragen, was sie zu einer Sache sagen! Dagegen uns trieblos und ohne Lust und Unlust verhalten, mit einer künstlichen Anaesthesie – das kann kein Verstehen geben, sondern dann fassen wir eben mit dem Rest von Trieben, der noch nicht todt ist, die Erscheinung auf d. h. so matt und flach wie möglich, wohl aber können wir mitunter unsere Triebe der Reihe nach hintereinander über dieselbe Sache befragen: die Urtheile vergleichen – z. B. über ein Weib, einen Freund.

7 [117]

Ich finde an nichts genug Freude – da fange ich an, mir selber ein Buch nach dem Herzen zu schreiben.

7 [118]

(zu Seite vorher) die allgemeine Militärtüchtigkeit, die höhere Schätzung der Kraft.

7 [119]

Den civilen Muth ersticken, war die Aufgabe Richelieu's und L<ouis> 14's (Stendhal)

7 [120]

Die furia francese bricht aus, von der Eitelkeit einmal überwunden und von der Hitze des Blutes: erhabene Tollheiten. Stendhal.

7 [121]

Vereiterung, Gährung und Ausscheidung – ekelhaft und abstoßend – die Empfindungen haben durch eine Symbolik auch Menschen und Handlungen erregt. So entstand der Begriff "niedrig" d. h. ekelhaft – moralischer Grundstock!

Dann wird das Leichte verachtet – wiederum ein Anlaß, höher und nieder zu unterscheiden! Das Starke und Schwache sodann – das Plötzliche und das Alltägliche usw. Das Thierische usw. Bei allen diesen Unterscheidungen der Empfindung in Bezug auf Handlungen ist die wirkliche Relevanz auf Erhaltung des Lebens, die strenge Causalität ganz außer Acht geblieben: also die wirkliche Bedeutung einer Handlung! Sondern nach nebensächlichen Gesichtspunkten ("angenehm" in verschiedenen Arten) NB.

7 [122]

Nicht um eines Zieles willen leben wir der Erkenntniß, sondern der erstaunlichen und häufigen Annehmlichkeiten im Suchen und Finden derselben.

7 [123]

Ich glaube, ich stelle mir die Freude der Weisheit und Gerechtigkeit zu hoch vor – wie die Griechen. Ich bin bezaubert bei allem, was dorthin winkt – wahrscheinlich weil ich sehr leidenschaftlich bin! – Ich bin äußerst mißtrauisch gegen die beredten Verehrer der Leidenschaftlichkeit – ich muthmaaße, sie möchten gern etwas vorstellen. – Die Griechen lebten nur in der Gefahr: sie verehrten in der Kraft, der Ruhe der Gerechtigkeit ihre Erholung, ihr Aufathmen, ihr Fest. Sie wollten nicht die Emotion noch – nur in der Tragödie, die des Mitleids (weil sie für gewöhnlich hart waren).

7 [124]

Eine Gesundheit voll unbegreiflicher plötzlicher Umdrehungen und Fallthüren – ein tiefes Mißtrauen unterhaltend, und jede glückliche Stunde mit einem absichtlichen Leichtsinn und Augenverschließen vor der Zukunft – sonst ist Glück nicht möglich

7 [125]

Faust und Hamlet sind Denker, mit denen sich die deutschen Philosophen auseinandersetzen!!

7 [126]

Dieser Gang ist so gefährlich! Ich darf mich selber nicht anrufen, wie ein Nachtwandler, der auf den Dächern lustwandelt, ein heiliges Anrecht hat, nicht bei Namen genannt zu werden. "Was liegt an mir!" dies ist die einzige tröstende Stimme, die ich hören will.

7 [127]

Zur Vorrede. Was habe ich gethan? Für mein Alter gesorgt: für die Zeit, wo die Seele nichts Neues mehr unternimmt, die Geschichte ihrer Abenteuer und Seefahrten verzeichnet. So wie ich die Musik mir aufspare für die Zeit, wo ich blind bin.

7 [128]

Ich mag nicht mit Menschen verkehren, weil ich ihr Gesicht nicht sehen kann, und ohne das ist ihr Reden mir verdächtig oder unverständlich, oder – ich rede allein, was mir hinterdrein Scham einflößt.

7 [129]

Der Christ (namentlich der müssige!) auf der Jagd nach seinen Sünden – um dann das große Drama der Verzweiflung und der Gnade wieder zu durchleben. Eine schwerlich schöne Art, sich zu unterhalten und dabei mag aus der Welt werden, was die wolle – das "ewige Heil" geht über alles.

7 [130]

Die Anbetung der poliz: man kannte sich zu gut, um zu wissen, wie wild und tyrannisch man sei, sobald die poliz; aufhört: die Enthüllung der korkyräischen Seele. Man betet das Stäte die Gerechtigkeit das Gute an, der Genuß als Resultat des bürgerlichen Friedens. Die Nähe des Vulkans machte die Altengerade hier so hochgestimmt und empfindsam.

7 [131]

Thukydides und Sophocles Vertreter der sophistischen Cultur.

7 [132]

Der Heißhunger darnach, sein Leben an etwas zu setzen, wird erwachen, sobald Dinge da sind, die diesem Durste entsprechen.

7 [133]

Nie etwas zurückhalten, was gegen dich gesagt werden kann! Gelobe es dir! NB

7 [134]

"Kein Ding ist würdig der Anstrengung, welche man daran setzt, es zu erlangen." Stendhal

7 [135]

Ein Weib mit einer großen Seele und einem ihr nicht unebenbürtigen Geiste, stark genug um zu fliegen und fein genug, um durch ein Nadelöhr zu kriechen –

7 [136]

Wer hielte jetzt noch Lessings ebenso altkluge als abergläubische Erziehung des Menschengeschl<echtes> aus!

7 [137]

Bäurisch, sehnsüchtig nach M<enschen>, rachsüchtig gegen die Geselligkeit und deren Gesetze, bald tiefe Verzweiflung, bald plötzliche Trunkenheit [–], versteckt, gegen seines Gleichen tyrannisch und überstreng, karg mit seiner Aufmerksamkeit, immer getrieben, ohne Zeit zur Muße, ohne Wissen um seine Liebenswürdigkeit, ohne Liebe und Erbarmen für sich, glühend in seinen Werken und mit dem Hammer wie ein Feind auf seinen Marmor zuschlagend, niemals Schauspieler und so redlich in seinen guten wie in seinen bösen Blicken.

7 [138]

Das Unpersönlich-nehmen des Denkens ist überschätzt! Ja es ist bei den stärksten Naturen das Gegentheil wahr! So aber hat man eine Brücke zur Moral gemacht!!

7 [139]

Ihr werdet nicht zu Don Juans der Erkenntniß, weil ihr nicht Consequenz genug und Charakter habt.

7 [140]

"Es hilft nichts: um die vollkommene Ruhe der antiken Skulptur zu empfinden, muß man keusch sein. Man muß die Leidenschaft in all ihrer Heftigkeit malen können, um jene Ruhe darzustellen." Stendhal

7 [141]

Ich hasse den Ruhm, der nur die Liebe der Frauen, Ansehen Reichthum Glück bringt. Ich will nicht klug, mäßig, weise sein! Einsam, wild – – –

7 [142]

"Soll man das Leben nach der Länge alberner Tage abschätzen? Oder nach der Zahl starker Freuden?"

7 [143]

"Wie die Leidenschaften malen, wenn man sie <nicht> kennt! Und wie Zeit für das Talent finden, wenn man sie im Herzklopfen fühlt!"

7 [144]

Et odoratus est deus suavitatem.

7 [145]

"In den Andern können wir nur uns selber schätzen. Die Urtheile großer Künstler über die Werke ihrer Nebenbuhler sind nur Commentare ihres eigenen Stils." Stendhal

7 [146]

Man muß verstehen, die Hand von seinem Werke zu thun.

7 [147]

Hat die Menschheit dasselbe Verfahren, wie die griechischen Künstler, welche um einen Gott auszudrücken ihren Statuen das Allzumenschliche der Muskeln usw. nahmen? die sämmtlichen Details wegnahmen? Ist der große Mensch ein Mensch, dessen Details hinweggedacht werden, vermöge der zwingenden vergötternden Gewalt seines Ganzen? Ist so die Tugend entstanden daß man das Mikroskop des Blickes abwandte, also unredlicher sah? Ist so die Gottheit vom Menschen gebildet, daß er immer mehr Menschliches übersah?

7 [148]

"Die vier Linien, der Riß der Zeichnung ist das Erste in der Erfindung der Großen; die guten Arbeiter dagegen machen sofort die Minutien." Stendhal

7 [149]

"Der antike Schmerz war schwächer als der unsere" Stendhal

7 [150]

So lange ihr die Schönheit im Apollo findet, müßt ihr die dazu gehörige Moral suchen: jene Schönheit paßt nicht zur christlichen!

7 [151]

Lord Byron Rousseau Richard Wagner waren das einzige Objekt ihrer eigenen Aufmerksamkeit – "diese schlechte Gewohnheit ist der Aussatz der Civilisation" sagt Stendhal.

"In Folge dessen übertrieb er seine Leiden."

"Immer ocupirt von sich und von dem Eindruck, den er auf andere hervorbrachte." "Er verstand sich nicht in einen Anderen umzuformen, der wenigst dramatische Autor."

7 [152]

Die Gewissensbisse Byrons waren eine Affektation mehr, sie machten Mode.

7 [153]

Sich nicht vor sich selber schämen, wie die Figuren W. Scott's. Stendhal. Dies ist christlich und sehr stark vererbt!

7 [154]

Es ist nicht möglich, außer der Moral zu leben – aber für den Erkennenden ist die Moral unmöglich. Moral als ein Regulativ im Verhalten der Triebe zu einander. Aber woher soll das kommen! Es kann zuletzt doch nur von einem Triebe inspirirt sein, der die Oberhand hat! Und wer kann dies entdecken! (Stolz usw.) Aus der erkannten Natur können wir keinen Antrieb nehmen. NB.

7 [155]

Das Kleine Nächste streng nehmen und den Menschen im Leiblichen sehr fördern – sehen, was für eine Ethik ihm dann wächst – abwarten! die ethischen Bedürfnisse müssen uns auf den Leib passen! – Aber die Athleten!

7 [156]

Ich erinnere mich kaum noch der Zeit, wo ich Gewissensbisse hatte. Zwischen meinem Träumen und meinem Wachen ist fast Gleichgewicht: nur daß meine Narrheiten in den Handlungen des Traumes und mehr in den Gedanken des Tages hervortreten – doch in gleicher Art. Auch denke ich viel in den Träumen, und nicht viel vernünftiger als jetzt.

7 [157]

"Die Zeit heilt jeden Kummer": die Zeit thut gar nichts. Vielmehr sind es die Befriedigungen vieler Triebe, die allmählich eintreten und Vergessenheit bringen – es ist das Mittel Epikurs gegen die großen Schmerzen: sich den Vergnügungen ergeben (die Schweinejagd bei Pascal nach dem Tode eines Sohnes) Auch die "Tröstungen der Religion und Philosophie" gehören unter diese abziehenden Vergnügungen: ihr Werth besteht vor allem in den Beschäftigungen mit ihnen und dem Nachdenken usw.

7 [158]

Die Vorstellung, daß etwas Fürchterliches an uns gekettet ist, färbt alle Empfindungen um. Oder: ein verbannter Gott zu sein, oder Schulden früherer Zeiten abzubüßen. Alle diese schrecklichen Geheimnisse um uns – machten uns vor uns sehr interessant! aber ganz egoistisch! Man konnte und durfte nicht von sich weg sehen! Das leidenschaftliche Interesse für uns verlieren und die Leidenschaft außer uns wenden, gegen die Dinge (Wissenschaft) ist jetzt möglich. Was liegt an mir! Das hätte Pascal nicht sagen können.

7 [159]

Ich will es dahin bringen, daß es der heroischen Stimmung bedarf, um sich der Wissenschaft zu ergeben! NB

7 [160]

"de l'amour" symbolice!

7 [161]

Die Mitempfindung erzwingen können – ist das die Strafe des Machtlüsternen? des Grausamen? Stendhal. Oder ist umgekehrt die Begierde nach Mitempfindung ein Verlangen der Machtlüsternheit? –

7 [162]

Ihr gewöhnt euch an die große Unruhe des Lebens, an den kopf- und seelenfressenden Fleiß, an die Betäubtheit. Ihr meint zuletzt, es sei nicht anders möglich zu leben ihr seid es eben gewohnt und tragt euer Joch! Es ist anders möglich.

7 [163]

Einsamkeit, viel freie Natur

Einfachheit und Billigkeit

Gesundheit

Seltene und gewähltere Versuche im Lesen und in der Freundschaft

Kein unsinniger Fleiß

Zeit und Stimmung für Erhebungen des Herzens

7 [164]

Eurem Besten euer Bestes an Kraft und Zeit widmen! Nichts Besseres läßt sich erzwingen!

7 [165]

Man hat mir etwas vom ruhigen Glück der Erkenntniß vorgeflötet – aber ich fand es nicht, ja ich verachte es, jetzt wo ich die Seligkeit des Unglücks der Erkenntniß kenne. Bin ich je gelangweilt? Immer in Sorge, immer ein Herzklopfen der Erwartung oder der Enttäuschung! Ich segne dieses Elend, die Welt ist reich dadurch! Ich gehe dabei den langsamsten Schritt und schlürfe diese bitteren Süßigkeiten.

Ich will keine Erkenntniß mehr ohne Gefahr: immer sei das tückische Meer, oder das erbarmungslose Hochgebirge um den Forschenden.

7 [166]

Ich will nie zum Widersprechen herausfordern: vielmehr: helft, mit mir das Problem zu gestalten! Sobald ihr gegen mich empfindet, versteht ihr meinen Zustand und folglich meine Argumente nicht! Ihr müßt das Opfer der selben Leidenschaft sein!

7 [167]

Gesundheit meldet sich an 1) durch einen Gedanken mit weitem Horizont 2) durch versöhnliche tröstliche vergebende Empfindungen 3) durch ein schwermüthiges Lachen über den Alp, mit dem wir gerungen.

7 [168]

- das allzu-persönlich-Nehmen aller Probleme, Finsterniß, schlechter Weg, üble Herberge für den Wanderer und das ganze ewige Wanderer-Elend Menschen!!!

7 [169]

Unsere Leidenschaften sind die Vegetation die den Felsen nackter Thatsachen sofort wieder zu umkleiden beginnt. Das ewige Spiel!

7 [170]

Weder gut noch böse!!!

7 [171]

Ja, wir gehen an dieser Leidenschaft zu Grunde! Aber es ist kein Argument gegen sie. Sonst wäre ja der Tod ein Argument gegen das Leben des Individuums. Wir müssen zu Grunde gehen, als Mensch wie als Menschheit! Das Christenthum zeigte die Eine Art, durch Aussterben und Verzicht auf alle rohen Triebe. Wir kommen durch Verzicht auf das Handeln, das Hassen das Lieben ebendahin, auf dem Wege der Leidenschaft der Erkenntniß. Friedliche Zuschauer – bis nichts mehr zu sehen ist! Verachtet uns deshalb, ihr Handelnden! Wir werden eure Verachtung anschauen -: los von uns, von der Menschheit, von der Dingheit, vom Werden –

7 [172]

Ich meinte, das Wissen tödte die Kraft, den Instinkt, es lasse kein Handeln aus sich wachsen. Wahr ist nur, daß einem neuen Wissen zunächst kein eingeübter Mechanism zu Gebote steht, noch weniger eine angenehme leidenschaftliche Gewöhnung! Aber alles das kann wachsen! ob es gleich heißt auf Bäume warten, die eine spätere Generation abpflücken wird – nicht wir! Das ist die Resignation des Wissenden! Er ist ärmer und kraftloser geworden, ungeschickter zum Handeln, gleichsam seiner Glieder beraubt – er ist Seher und blind und taub geworden!

7 [173]

Auch die Genießenden wollen noch ihre Moralität (ihren Muth ihren Fleiß) dabei bewundern: deshalb haben die schweren Autoren, die künstlichen Dichter und Musiker so viel Studium so viel Bewundern! Marini. Mit dem naiven Stil, das Höchste in der Kunst, darf man diese Prätension nicht machen, Jeder wähnt, es sei leicht Rafael zu verstehen, und deshalb wird auch der, welcher weiß, daß dem nicht so ist, doch nicht mit solchem Heldeneifer darangehen: es fehlen die dankbaren Zuschauer zu seinem Schauspiel!

7 [174]

Eure Seele ist nicht stark genug, so viele Kleinheiten der Erkenntniß, so viel Geringes und Niedriges mit in die Höhe hinaufzutragen! So müßt ihr euch über die Dinge belügen, damit ihr eures Kraft- und Größengefühls nicht verlustig geht! Anders Pascal und ich. – Ich brauche mich der kleinen erbärmlichen Details nicht zu entäußern – ich will ja keinen Gott aus mir machen.

7 [175]

Jüdisch – eine Religion des Schreckens, der Verachtung und gelegentlich der Gnade (wie alte Patriarchen)

Griechisch – eine Religion der Freude an der Kraft, an der eigenen Vollkommenheit, gelegentlich eine Religion des Neides gegen die Allzuhochhinauswollenden (Agamemnon Achill)

7 [176]

"Irrsinnig" eine so ungewisse Grenze, wie gut und schön! oder "lächerlich" und "schamhaft"

7 [177]

Die Ehrlichkeit der großen Männer des Glaubens an sich beweist sich nur durch die furchtbare Trübsal ihres Zweifelns an sich: wo dies nicht sichtbar ist, sind es Verrückte oder Schauspieler.

7 [178]

Vertrauen wir den Trieben, sie werden schon wieder Ideale schaffen! wie es die Liebe immerfort thut. Und dann: von Zeit zu Zeit durch Stolz einen Trieb unterdrücken – sofort bekommen alle anderen eine neue Färbung. Das Spiel kann lange fortgesetzt werden, wie Sonnenschein und Nacht.

7 [179]

Die Wissenschaft kann durchaus nur zeigen, nicht befehlen (aber wenn der allgemeine Befehl gegeben ist "in welche Richtung?" dann kann sie die Mittel angeben) den allgemeinen Befehl der Richtung kann sie nicht geben! Es ist Photographie. Aber es bedarf der schaffenden Künstler: das sind die Triebe!

7 [180]

Ich gebe meinem Hange zur Einsamkeit nach, ich kann nicht anders: "ob<gleich> ich es nicht nöthig hätte" – wie die Leute sagen. Aber ich habe es nöthig. Ich verbanne mich selber.

7 [181]

Jener plötzliche Haß gegen das, was ich liebte. Jene Schüchternheit und jenes "was liegt an mir"!

7 [182]

Ich habe Mozart für heiter gehalten – wie tief muß ich melancholisch sein! Daher meine Begierde!! nach Helle Reinlichkeit Heiterkeit Schmuckheit Nüchternheit, meine Hoffnung, daß alles dies mir die Wissenschaft geben werde! sie!

7 [183]

Jetzt machen Franzosen und Italiäner den Deutschen das Gewaltthätige und die bewußte Häßlichkeit in der Musik nach – es sind diese die nöthigen Gegenfarben, um die sublimirtesten himmlischen Reize und Eröffnungen paradiesischer Zauber in Tönen errathen zu lassen: da muß die physische Marter des Ohrs vorher nicht gering gewesen sein und – für den Himmel hat man erst den rechten Geschmack nach dem Fegefeuer. Das wußten die Älteren nicht! Sie verlangten, daß einer, der Musik hören wollte, verliebt oder noch besser passionirt sei! jetzt gilt als der beste vorbereitende Zustand: die Verzweiflung, der Weltüberdruß. Gefühllos geworden durch das ewige Elend und für alles Elend, lassen wir die Marter über uns ergehen – und sind unsäglich dankbar, nachher uns gerührt und erschüttert zu finden! Mitleiden mit uns und allen Leidenden ist das Glück, welches diese Musik verspricht.

7 [184]

Der Selbstbetrug Pascals: er geht schon von christlicher Prädisposition aus. Die "bösen Lüste"! Die Bedeutung des Todes! Denken wir doch so an den Tod, wie an den Tod bei Thieren – so ist die Sache nicht so furchtbar. Zum Tode verurtheilt – das ist nichts so Schlimmes an sich: nur beim Verbrecher macht es uns so schreckliche Empfindungen, wegen der Schande. Pascal war nicht vorsichtig genug, er wollte beweisen! – die Verführungskunst des Christenthums.

7 [185]

Das Christenthum hat die Übel der menschlichen Lage übertrieben d. h. sie erst geschaffen. Pascal thut noch das Äußerste.

7 [186]

Der Stolze und Unabhängige fühlt sich tief erbittert beim Mitleiden „lieber gehaßt als bemitleidet".

7 [187]

Man denke ja nicht, daß etwa Gesundheit ein festes Ziel sei: was hat das Christenthum die Krankheit vorgezogen und mit guten Gründen! Gesund ist fast ein Begriff wie "Schön" "gut" – höchst wandelbar! Denn das Sich-wohl-fühlen tritt in Folge langer Gewohnheit bei entgegengesetzten Zuständen des Leibes ein!

7 [188]

Alcohol: die Deutschen, die jetzt auf unverschämte Weise geldgierig geworden sind, Politik lieber als Arbeit wollen, und Sklaven des nationalen Dünkels <sind> – drei Quellen der Verdummung

7 [189]

Ich habe keine Personen kennengelernt, welche eine solche Ehrfurcht einflößen, wie die griechischen Philosophen.

7 [190]

Pascal's Passion will sich als nothwendig für jedermann, als das einzig Nöthige beweisen.

7 [191]

Ich habe die Verachtung Pascals und den Fluch Schopenhauer's auf mir! Und kann man anhänglicher gegen sie gesinnt sein als ich! Freilich mit jener Anhänglichkeit eines Freundes, welcher aufrichtig bleibt, um Freund zu bleiben und nicht Liebhaber und Narr zu werden!

7 [192]

Es sind Aphorismen! Sind es Aphorismen? – mögen die welche mir daraus einen Vorwurf machen, ein wenig nachdenken und dann sich vor sich selber entschuldigen – ich brauche kein Wort für mich

7 [193]

Freude bei schönen Gärten und Häusern, daß es Leute giebt, welche für diese Art Liebe Dauer haben und daß ich diese Gärten und Häuser nicht habe – doppelte Freude!

7 [194]

Das Schöne – darunter verstehen die Amerikaner jetzt das Ruhig-Rührende. Es ist dem geschäftlichen Ernste und der praktischen Erwägung der Folgen, der Trockenheit und der Leidenschaft des Jagens Gewinnens und Sich-Besinnens entgegen

7 [195]

Die Deutschen meinen, daß die Kraft sich in Härte und Grausamkeit offenbaren müsse, sie unterwerfen sich dann gerne und mit Bewunderung: sie sind ihre mitleidige Schwäche ihre Empfindlichkeit für alle Nichtse auf einmal los und genießen andächtig den Schrecken. Daß es Kraft giebt in der Milde und Stille, das glauben sie nicht leicht. Sie vermissen an Goethe Kraft und meinen, Beethoven habe mehr: und darin irren sie!!

7 [196]

Die Anhänger Wagner's wollen an ihre Befähigung der Exaltation und Expansion glauben machen – in einem nüchternen Zeitalter kein geringer Ehrgeiz! Aber es ist kein nüchternes: so müssen sie excediren!

7 [197]

Der Trieb der Erkenntniß ist noch jung und roh und folglich gegen die älteren und reicher entwickelten Triebe gehalten, häßlich und beleidigend: alle sind es einmal gewesen! Aber ich will ihn als Passion behandeln und als etwas, womit die einzelne Seele bei Seite gehen kann, um hülfreich und versöhnlich auf die Welt zurückzublicken: einstweilen thut Weltentsagung wieder noth, aber keine asketische!

7 [198]

Zeitalter Louis XIV: der Zauber einer Unterwürfigkeit unter eine künstliche Form empfunden von starken Seelen, wie sie damals waren (sie waren voller Haß und Neid untereinander und durften es nicht zeigen. Sie hatten eine Lust der Rache bei diesem Zwang des Dichters und seiner Helden, ihre Gefühle schwer ausdrücken zu dürfen. Das "Natürliche" hätte sie empört: was gelte sonst ihre Unnatur! Nur nicht peuple!): das ist schwer jetzt zu genießen! Anders bei den Griechen! welche sehr anhänglich an die Sitte waren und höchst vorsichtig gegen die Neuerung (dafür auch den feinsten Gaumen für jeden kleinen neuernden Zug hatten!)

7 [199]

Was nennen die Anhänger Wagner's einen "musikalischen Menschen"? Und was Andere und ehemals! Fast Gegensätze! Also Vorsicht!

7 [200]

Was ich an mir vermisse: jenes tiefe Interesse für mich selber. Ich stelle mich zu gerne außer mir heraus und gebe allem zu leicht Recht, was mich umgiebt. Ich werde schnell müde, beim Versuch, mich pathetisch zu nehmen. Ich habe nie tief über mich nachgedacht.

7 [201]

Die Deutschen haben das Wort "Leidenschaft" kaum hundert Jahre – sie haben es dem Griechischen nachgemacht, ein Übersetzer hat es gefunden. –

7 [202]

Tiefes Gelb der Gebäude und das schwarze Grün der Cypressen darüber – ein Kloster, und invalide Soldaten darin.

7 [203]

Wir suchen die Situationen, welche unsere Kraft auf das Höchste anspannen: aber dies sind oft entgegengesetzte: dieser sucht Einsamkeit und bemüht sich aus dem Munde der Menschen zu entschlüpfen. Und jener präsentirt sich einer Nation und fühlt sich am meisten durch die Vorstellung getrieben, daß diese in ihm sich selber verehren wolle – er kann es nicht hoch genug treiben. Ein dritter will seiner Geliebten gefallen, und da er sie für etwas Unvergleichliches hält, thut er sich nie genug. – Andere suchen die Situationen, welche ihnen erlauben träge zu sein.

7 [204]

Ich hasse jene unfeinen Menschen, welche kaum daß wir uns ihnen genähert haben, mit ihrer tölpelhaften Herrschsucht auf uns ihre Hand legen, wie als ob wir Geräthschaft und Werkzeug für sie seien. Schon der Anspruch, daß sie nunmehr meinen, uns zu kennen um ein Urtheil fällen zu dürfen, ist eine Unverschämtheit des schlechtesten Geschmacks. Es ist die Art der geistigen Parvenus; die adelige Natur ist nicht in ihrem Grunde.

sie haben keinen Begriff von der Herablassung, welche nöthig ist, um ihnen von uns aus Ehre und Auszeichnung zu erweisen, mögen sie nun sein, wer sie wollen

7 [205]

Zum Plan.

Ein Bild des Griechenthums als der Zeit, die die meisten Individualitäten hervorgebracht hat. Das Fortleben in der Renaissance!

Polemik gegen mittelalterlich, höfisch, liberal-parlamentarisch, socialistisch. Ich sehe die socialistischen Körper sich bilden, unvermeidlich! Sorgen wir, daß auch die Köpfe für diese Körper anfangen zu keimen! jene Organisationen bilden den zukünftigen Sklavenstand, mit allen ihren Führern – aber darüber erhebt sich eine Aristokratie vielleicht von Einsiedlern! Es ist die Zeit des Gelehrten vorbei, der wie alle Anderen lebt und glaubt (als Werkzeug der Kirchen, der Höfe, der kaufmännischen Parteien usw.)! Der große Heroism thut wieder noth!

Die einzige erobernde Macht großen Stils ist Rußland (ohne dies Erobern-wollen sind die Staaten kastrirt! Es gehört dazu, überschüssige Kraft nach außen zu wenden!) Folglich wird es Europa nöthigen sich zu einigen. Aber den Socialismus ergreift der endliche Ekel dieses Kriegszustands ohne Ende und überbrückt den Völker- und Dynastienhader! Wir gehen wilderen Zeiten entgegen! Das ist ein Vorzug, denn diese übernervöse Gegenwart ist nichts mehr werth, eine Reinigung von Hyperchristlich-Moralischen thut noth, ein Zu-Grunde-gehen und Ohnmächtig-werden der Eleganten Unkräftigen Verzärtelten, usw.!

7 [206]

Vom Willen zur Macht wird kaum mehr gewagt zu sprechen: anders zu Athen!

7 [207]

Was trieb die Alten, Stoiker zu werden (da keine Höllenstrafen, keine Verachtung des Menschen, keine göttliche Heiligkeit ihnen die Entsagung nothwendig machte)? Die furchtbare Möglichkeit großer plötzlicher Leiden, und die furchtbare Kraft ihrer Leidenschaften – sie litten an sich und an der Welt der Unsicherheit (Sklave und Cäsar!) Dann der Ehrgeiz, in der Tugend die Ersten zu sein – Neid. Es war ein Mittel, bis an die Höfe hinauf beachtet und angerufen zu werden als Tröster.

7 [208]

Pascal verspricht, im geheimen Blatt, Gott "sogar seine Rache zu opfern".

7 [209]

Unwissende Menschen, die nichts anderes gesehen haben, machen aus ihren Gewohnheiten für ihre Umgebung einen Zwang, ein Gesetz – so wachsen die Jungen auf in Verehrung dagegen – und es ist das Neue: so wird die Sitte "Sittlich".

7 [210]

Jede Leidenschaft (im historischen Verlaufe) so hoch pflegen, bis sie ihre individuelle Blüthe zeigt. NB.

7 [211]

Wir haben es in der Hand, unser Temperament wie einen Garten auszubilden. Erlebnisse hineinpflanzen, andere wegstreichen: eine schöne stille Allee der Freundschaft gründen, verschwiegener Ausblicke auf den Ruhm sich bewußt sein, – Zugänge zu allen diesen guten Winkeln seines Gartens bereit halten, daß er uns nicht fehle, wenn wir ihn nöthig haben!

7 [212]

Die intellektuelle Großmuth besteht darin, den Durst nach absoluter Gültigkeit und nach ewigen Dingen zu brechen durch die Einsicht in die Relativität und Liebe zum Kurzleben und Wechselnden (statt Verachtung dafür). Ein Stück Grausamkeit.

7 [213]

Es ist Mythologie zu glauben, daß wir unser eigentliches Selbst finden werden, nachdem wir dies und jenes, gelassen oder vergessen haben. So dröseln wir uns auf bis ins Unendliche zurück: sondern uns selber machen, aus allen Elementen eine Form gestalten – ist die Aufgabe! Immer die eines Bildhauers! Eines produktiven Menschen! Nicht durch Erkenntniß, sondern durch Übung und ein Vorbild werden wir selber! Die Erkenntniß hat bestenfalls den Werth eines Mittels!

7 [214]

Apollo und die Moral der Mäßigkeit gehören zusammen: wer Wagner's ideale Schönheit fände, würde sie gedunsen riesenhaft und nervös machen müssen.

7 [215]

Die sittliche Delikatesse und der hohe Geschmack in den Erzählungen von Jesus wird vielleicht von uns nicht abzuschätzen sein, weil wir damit geimpft worden sind, daß hier der höchste Geschmack des Guten sei. Was würde Aristoteles empfinden! Was Buddha!

7 [216]

Die Deutschen geben sich den Eindrücken ohne Kampf hin, aus Schwäche – deshalb hat gerade bei ihnen eine Religion des Mitleids so wenig Werth, weil sie der allgemeinen Schwäche schmeichelt, statt ihr zu widerstreben. Kant war es, der mit seinem kategorischen Imperativ dem Deutschen nützlich war. Jene Schwäche hat jetzt in der Musik ihren frappantesten Ausdruck bekommen – das unendlich Herumschweifen der Seele nach Emotionen, die äußerste Nervosität als Folge. Wir leiden daran, hinterdrein. Und was für Würzen braucht eine so empfindliche Rasse! die gröbsten! es ist die Rasse der Trunkenbolde! Vielleicht hat dies Trinken sie so schwach und sentimental gemacht. – Lob des Soldatenthums, entgegengesetzt dem Künstlerthum und seiner Schmeichelgier.

7 [217]

Den M<enschen> auf Ein ewiges Ideal beschränken – Stoiker Christenthum Kant Comte – das ist der noch nicht verstorbene Classicismus. Absolute Moral!

7 [218]

eine angenehme Handlung thue ich nicht, weil ihr Zweck, ihr Ende eine angenehme Empfindung mit sich bringt: sie ist nicht Mittel zu diesem Ende. Sondern das Angenehme ist so in sie gedrungen, daß sie sofort, nicht erst am Ende, angenehm ist. Mit den Zwecken machen wir Menschen uns vernünftiger als wir sind! "Warum schmeckt uns diese Speise? Quem in finem?" Keine Antwort! – Überall wo unsere Triebe reden, ist der "Zweck" eine Großthuerei!

7 [219]

Habt ihr es nicht erlebt? man thut sein Äußerstes an Selbstüberwindung und kommt wie ein halber Leichnam aber siegesfroh aus seinem Grabe – und die guten Freunde meinen, wir seien recht lustiger und absonderlicher Laune, merken nichts, aber meinen ein Recht zu haben, mit uns ihren Scherz zu treiben? Ich glaube, die Jünger in Gethsemane schliefen nicht, aber sie lagen im Grase und spielten Karten und lachten

7 [220]

Warum haben wir gerade bei der schwersten und schmerzhaftesten Art von Schaffen und Kunstform unsere Freude? Warum schämen wir uns bei jeder flachen und leichteren? Es ist Stolz, besiegte Schwierigkeit, der Wille, vor uns selber zum Helden zu werden!

7 [221]

Es giebt einen christlichen Zug im alten Testament – man begreift die Entstehung des Gottes der Liebe!

7 [222]

Socrates' Skepsis in Betreff alles Wissens um die Moral ist immer noch das größte Ereigniß – man hat es sich aus dem Sinne geschlagen.

7 [223]

Was ist denn nun der wirkliche Unterschied des Guten und Schlechten in Bezug auf ihre gemeinsamen Triebe? Der Schlechte fühlt sein Urtheil über gut und böse als dasselbe wie das seiner Umgebung und thut das Böse, indem er Scham vor dem Urtheil Anderer und vor sich selber hat – Widerspruch im Wissen und Thun. Oder er stellt sich gut, um diese Vortheile zu haben und im Geheimen die Vortheile des Bösen. – Dies ist alles nichts! was macht sein Nervensystem anders, daß er diesen Widerspruch erträgt oder aufsucht?

7 [224]

Die Liebe zur Brut nichts Einfaches! wie man glaubt! sondern Produkt, Besitz, Unterhaltung, etwas Ungefährliches, etwas Unterwürfiges, worüber man herrscht, etwas Warmes – viel Gründe zur Annehmlichkeit!

7 [225]

Unsere Sicherstellung des Nächsten durch sociale Maßregeln beweist nicht mehr Mitleiden, aber mehr Vorsicht und Kälte.

7 [226]

Der Anblick der Welt wird erst erträglich, wenn wir sie durch den sanften Rauch des Feuers angenehmer Leidenschaften hindurch sehen, bald verborgen als einen Gegenstand des Errathens, bald verkleinert und verkürzt bald undeutlich, aber immer veredelt. Ohne unsere Leidenschaften ist die Welt Zahl und Linie und Gesetz und Unsinn in alledem das widerlichste und anmaaßlichste Paradoxum.

7 [227]

"Wir kommen nie zum Kern der Dinge": ich sage, wir kommen nie zum letzten Zipfel unserer Leidenschaften und sehen höchstens vermittelst der Einen über die andere hinaus.

7 [228]

Für Racine war den Leidenschaften edel nachhängen schon eine Ausschweifung, man muß ihn mit Port Royal im Hintergrunde lesen.

7 [229]

Mir thut das amerikanische Lachen wohl, diese Art von derben Seeleuten wie Marc Twain. Ich habe über nichts Deutsches mehr lachen können.

7 [230]

"Classicism der Moral" herrscht noch. Seinem Gefühl hier folgen: das thaten auch die Anhänger der 3 Einheiten.

7 [231]

Die moralischen Phänomene machen die Geschichte der Krankheiten durch: erst etwas von außen her, Wirkungen übernatürlicher Mächte. Dann ganz menschlich, aber etwas für sich, das "Moralische". Endlich erkennt man, daß es ebenso ungenau bezeichnete Vorgänge sind, wie die Krankheiten (über welche jeder seine Meinung hat, und der Verständigste sich dadurch auszeichnet zu schweigen) – daß die Zeit der großen Skepsis da ist! Es giebt nichts "Moralisches an sich": es sind Meinungen von Trieben erzeugt und diese Triebe wieder beeinflussend.

7 [232]

"aufgezogen in angeblichen philosophischen Systemen, welche etwas wie dunkle und schlecht geschriebene Poesie sind, aber in moralischer Hinsicht von der höchsten und heiligsten Sublimität. Sie haben vom Mittelalter nicht den Republikanismus, das Mißtrauen und den Dolchstoß geerbt, sondern einen starken Hang zum Enthusiasmus und zum guten Glauben. Dafür bedürfen sie alle 10 Jahre einen neuen großen Mann, der alle anderen auslösche, nicht."

7 [233]

Der Hauptfehler Pascals: er meint zu beweisen daß das Christenthum wahr ist, weil es nöthig ist – das setzt voraus, daß eine gute und wahre Vorsehung existirt, welche alles Nöthige auch wahr schafft: es könnte aber nöthige Irrthümer geben! Und endlich! Die Nöthigkeit könnte nur so erscheinen, weil man sich an den Irrthum schon so gewöhnt hat, daß er wie eine 2te Natur gebieterisch geworden ist.

7 [234]

Der Zustand Pascal's ist eine Passion, und hat ganz die Anzeichen und Folgen von Glück Elend und tiefstem dauerndem Ernste. Deshalb ist es eigentlich zum Lachen, ihn so gegen die Passion stolz zu sehen – es ist eine Art von Liebe, welche alle anderen verachtet und die Menschen bemitleidet, ihrer zu entbehren.

7 [235]

Was sind mir Freunde, welche nicht wissen, wo unser Schweres und wo unser Leichtes liegt! Es giebt Stunden, in denen wir unsere Freundschaften wiegen.

7 [236]

Man wird älter, es ist mir schwer mich von einer Gegend, und führe sie die berühmtesten Namen, zu überzeugen. Ich habe fehlerhafte Linien bei Sorrent gesehen. Die bleichsüchtige Schönheit des lago maggiore im Spätherbst, welche alle Linien vergeistigt und die Gegend halb zur Vision macht, entzückt mich nicht, aber redet traulich-traurig zu mir – ich kenne dergleichen nicht nur aus der Natur.

7 [237]

Ich muß zu den: Dingen reden, ich bin zu lange allein und ohne Zwiegespräch gewesen; ich will ihnen schmeicheln und ihnen Gutes nachsagen.

7 [238]

Charakterzüge der Deutschen 1) sie exaltiren sich durch die Meditation, statt sich zu beruhigen 2) sie sterben vor Begierde, einen Charakter zu haben. Stendhal

7 [239]

Die Hoffnung hatte für die Alten ein anderes Aussehen als für uns – Hesiod. Ebenso der Neid. Bei andern Völkern hat die Lüge ein Ansehen (z. B. noch bei Napoleon) Die Fähigkeit zu trinken ist unter Deutschen oft ehrenvoll.

7 [240]

Für Aeschylus war das Weib in der Leidenschaft etwas Abscheuliches und Schauerliches, wie die Thiere des Meeres – etwas Unzeigbares.

7 [241]

Die Urtheile über Mozart verschieben sich, nach der Entwicklung der Musik, d.h. sie treffen seinen Charakter und sein Temperament – dieses scheint sich zu wandeln in Folge der neuen Beleuchtung und der Gegensätze, die er immer wieder erhält. Ein Wink für Künstler und Denker aller Art! Am urtheilfähigsten sind einzelne Zeitgenossen, die alles miterkämpft und <sich über alles> mitgefreut haben, was der große Schöpfer gegeben hat.

7 [242]

Plato hat den Erkenntnißtrieb als idealisirten aphrodisischen Trieb geschildert: immer dem Schönen nach! Das höchste Schöne offenbart sich dem Denker! Dies ist doch ein psychologisches Faktum: er muß beim Anblick und Denken seiner Allgemeinheiten einen sinnlichen Genuß gehabt haben, der ihn an den aphrodisischen erinnerte. –

7 [243]

Die Worte bleiben und machen uns zu Narren, so daß wir Verschiedenes gleich benennen und hinterher meinen, es sei dasselbe (z. B. ridiculum)

7 [244]

Die Entstehung der Abgrenzung moralischer Handlungen von allen übrigen Handlungen. Wichtig! Essen Gehen ist nicht moralisch. Wo hört die Indifferenz auf?

7 [245]

Die Verachtung und die Achtung hat die Dinge in den Augen der Menschen geformt, bald so, bald so. Die erste macht erbleichen verkümmern, folglich den Hang darnach absterben und die Phantasie auf diesem Gebiete müde oder giftig werden. Die Andere umgekehrt.

7 [246]

Diese Naivetät aller Moralisten jetzt! sie glauben, die Empfindungen für Andere, die sympathischen seien an sich moralisch! sie merken nichts, daß es nur eine Stufe der Cultur ist, welche diese Empfindungen in der Schätzung voranstellt: andere haben andere, ja die entgegengesetzten vorangestellt! "An sich" moralisch! – Man lobt die Mitleidigen, man tadelt die Hartherzigen – just! Schon die Worte werden mit diesem Beigeschmack empfunden. Und doch hätten die Stoiker den unbeugsamen erbarmungslosen Menschen, auf den kein Anblick Eindruck macht, gelobt und den Mitleidigen getadelt! Und das war wohl auch eine Moral! die etwas Größeres geleistet hat als die unsere!

7 [247]

In England meint man Wunder, wie freisinnig die höchste Nüchternheit in Sachen der Moral mache: Spencer, Stuart Mill. Aber schließlich thut man nichts als seine moralischen Empfindungen zu formuliren. Es erfordert etwas ganz anderes: wirklich anders einmal empfinden zu können und Besonnenheit hinterher zu haben, um dies zu analysiren! Also neue innere Erlebnisse, meine werthen Moralisten!

7 [248]

Ich sage zu oft "ihr"? Aber die Dinge reden zu mir und ich antworte ihnen, sie haben mich verwöhnt.

7 [249]

Der Mangel am Edelmüthigen in den Voraussetzungen des Christenthums 1) wozu mußte die Gerechtigkeit Gottes ein Opfer haben? Der Martertod Chr<isti> war nicht nöthig außer bei einem Gott der Rache (der sich überdieß den Stellvertreter gefallen läßt: ohne Generosität!) 2) wozu ist der Glaube an Chr<istus> nöthig, wenn es sein Wille ist, den Menschen zu helfen! 3) wozu der deus absconditus!

7 [250]

der servile Idealismus Gellert's, der schwärmerische Schillers, der lebens- und thatenlüsterne des jungen Deutschlands, der malerisch-mystische Wagners, der Idealismus der Unterwelts-Schatten: der meine!

7 [251]

Die Sünde erfinden und dann den erlösenden Zustand ist die unvergleichlichste Leistung der Menschheit. Diese Tragödie macht die anderen sehr blaß!

7 [252]

Euer Leben sei durch eine hohe Gartenmauer von der Landstraße getrennt: und wenn der Rosenduft aus euren Gärten hinüber weht, so mag jemandem das Herz einmal sehnsüchtig werden.

7 [253]

Seid ihr nie erröthet, wenn es euch durch den Kopf flog, jenes Ding, dem ihr euer Herz geschenkt habt, sei eures Herzens nicht würdig? Und schämtet ihr euch nicht gleich hinterher über euer Erröthen und batet dem geliebten Dinge euren unverschämten Stolz ab?

7 [254]

Pascal hat keine nützliche Liebe vor Augen, sondern lauter vergeudete, es ist alles egoistische Privatsache. Daß aus dieser Summe von Thätigkeiten sich eine neue Generation erzeugt, mit ihren Leidenschaften Gewohnheiten und Mitteln (oder Nicht-Mitteln) sie zu befriedigen – das sieht er nicht. Immer nur den Einzelnen, nicht das Werdende.

7 [255]

Für viele Maler war schön der Ausdruck der Frömmigkeit. Und da eine gewisse Armut an Fleisch, eine peinliche Haltung an den Frommen zu sehen war, übertrug<en> diese die Empfindungen des Schönen auch gerade auf diese Formen. Eine sehr lange und strenge Gewohnheit würde zuletzt sogar den Geschlechtssinn irre führen: der sehr fern davon ist, unbewußte Zweckmäßigkeit zu Gunsten des zu Erzeugenden zu verfolgen.

7 [256]

Zum Plan.

Wodurch ist das Bedürfniß nach einem festen Halt so groß geworden? Weil wir angelehrt worden sind, uns zu Mißtrauen: d. h. weil wir keine Leidenschaft mehr haben dürfen, ohne schlechtes Gewissen! Durch diese Verlästerung unseres Wesens ist der Trieb nach Gewißheit außer uns so groß geworden: 1) religiöser Weg 2) wissenschaftlicher Weg 3) Hingebung an Geld Fürsten Parteien christliche Sekten usw.: welche wir fanatisch nehmen müssen, also falsch verstehen müssen, damit sie uns das Begehrte leisten. Die Juden hatten diese Verachtung von sich und vom Menschen überhaupt!

Ziel: 1) die noch so sehr sichergestellte Welt ist zuletzt einer individuellen Messung unterworfen: so lange wir forschen, können wir das Indiv<iduum> oft ausschließen: zu dem was wir zuletzt finden, giebt es immer eine subjektive Stellung! 2) wir müssen stolz genug von uns denken, um eine subjektive Stellung nur zu wirklichen Dingen einzunehmen, nicht zu Schemen! und lieber den Zweifel und die Meerfahrt ertragen als zu schnell Gewißheit wollen! 3) die Ehre der eigenen Seele wieder herstellen!

7 [257]

Sobald ihr den christlichen Glauben oder eine Metaphysik zu Hülfe nehmt, dort wo eine Wissenschaft aufhört, so nehmt ihr euch die Kraft des Heroismus: und eure Wissenschaftlichkeit ist tief erniedrigt! Ihr höchster Accent steht nicht mehr euch zu! Ihr seid kalt und nicht mehr bewegt, ihr opfert nichts! Daher der abscheuliche Anblick des „Gelehrten" – er war ohne Großartigkeit der letzten Absichten, er gieng nicht ans Ende, sondern knickte dort um und warf sich der Kirche oder dem Regimente oder der öffentlichen Meinung in die Hände, oder der Dichtkunst und der Musik. Er bedarf jener Entsagung –

7 [258]

Man lernt zu sprechen, aber man verlernt zu schwätzen, wenn man ein Jahr lang schweigt.

7 [259]

Bist du denn ruhmbegierig? Ich habe es nie geglaubt. Aber das fällt mir auf, daß ich es unerträglich finde, nicht mit dem beschäftigt und verwachsen zu sein, was mir das Wichtigste auf der Welt scheint. – Als ich dies von der Kunst nicht mehr glaubte, trat ich sehr abgekühlt bei Seite, mit einer Art von Haß – sie schien mir eine Betrügerin, die mich dem Wichtigsten entziehen wollte.

7 [260]

Pascal glaubte, daß die kleine Périer durch die wirkliche Stimme Christi geheilt worden sei cette voix sainte et terrible, qui étonne la nature et qui console l'église.

7 [261]

„der Demosthenes der passionirten Logik"

7 [262]

Vergleich mit Pascal: haben wir nicht auch unsere Stärke in der Selbstbezwingung, wie er? Er zu Gunsten Gottes, wir zu Gunsten der Redlichkeit? Freilich: ein Ideal, die Menschen der Welt und sich selber entreißen, macht die unerhörtesten Spannungen, ist ein fortgesetztes Sichwidersprechen im Tiefsten, ein seliges Ausruhen über sich, in der Verachtung alles dessen, was "ich" heißt. Wir sind weniger erbittert und auch weniger gegen die Welt voller Rache, unsere Kraft auf einmal ist geringer, dafür brennen wir auch nicht gleich Kerzen zu schnell ab, sondern haben die Kraft der Dauer.

7 [263]

Ihr Stolz war durch ihre Schüchternheit verbittert.

7 [264]

Die große Frage, ob es in der M<ensch>h<eit>s-Cultur eine Kreisbewegung giebt, klein und größer? Wir im ersten?

7 [265]

Der Zauber der Dialektik für eine poetisch-ungestüme und springende Seele wie Plato's. Der Zauber des Halbdunkels im Christenthum für Pascal's helle logische Seele – das ist schwer nachzufühlen

7 [266]

Die großen moralischen Naturen entstehen in Zeiten der Auflösung, als Selbstbeschränker. Zeichen des Stolzes, es sind die regierenden Naturen (Heraclit Plato usw.) in einer veränderten Welt, wo sie nur sich zu regieren haben. Ganz anders die Moralität der Unterwerfung.

7 [267]

Das Vergnügen der Gesellschaft Molière's, wenn einer sich enthüllt und nicht mehr täuscht, wenn der Charakter sich verräth – die Verachtung zugleich gegen den, der seine Rolle nicht festzuhalten versteht – das tiefe Verständniß alles Komödienspielens im Leben, ja der Glaube daß es die Aufgabe sei Komödiant zu sein und daß alles Lächerliche darin bestehe daß ein Komödiant sich verräth!

7 [268]

Die Naivetät ist keine deutsche Eigenschaft. Aber eine altfranzösische!

7 [269]

Aristoteles: „im Allgemeinen thun die Menschen das Böse, wenn sie es können."

7 [270]

In Inquisitionsländern wagt der Gewohnheitssünder nicht sich dem Abendmahle zu entziehen, aus Furcht denunzirt zu werden, excommunicirt, am Ende eines Jahres der Häresie verdächtigt und von der Justiz verfolgt zu werden – deshalb sind da die laxesten Casuisten entstanden.

War man zu streng, so wurde die Lauterkeit des Bekenntnisses beseitigt und das Bekenntniß selbst zu Null gemacht – das mächtige Mittel zur Erhaltung der Kirche. (Auch gegen sich sind die rigorösesten Menschen am verlogensten)

Der Ostracismus der Tugend (des Jansenismus)

7 [271]

Zu sagen: „es ist Gott, der dies in uns thut" wie Pascal, ist nicht den Menschen zu nichte machen und Gott an seine Stelle setzen: sondern die Gnade die er anruft, ist die höchste Anstrengung der menschlichen Natur. Gott nennt er was er Exaltirtes und Reineres an sich fühlt.

7 [272]

„Die Seele zu entziehen von der Welt, um sie sich selber sterben zu machen, um sie einzig und unveränderlich an Gott zu knüpfen – das ist nur einer allmächtigen Hand möglich." Pascal

7 [273]

Der große Condé Richelieu Pascal Bossuet nennt La Bruyère – – –

7 [274]

Auch in den Siegen über uns selbst gehört ein gutes Theil dem Zufall an: deshalb sehen wir mit scharfer Kritik auf die siegreichen Tugendhaften und finden mitunter den Geist derselben in der moralischen Taktik nicht auf der Höhe ihres Glücks.

7 [275]

Napoleon der Machtlüsterne giebt den Typus des Stoikers, nach innen gesehen; durchzuführen NB. die Theile seines Wesens, die er durch Verführung unterworfen, behandelt er hinterdrein kalt und gleichgültig despotisch.

7 [276]

„Und alle diese Freiheit des Blicks ist zu nichts nütze?"

Wie? Ist ein Teleskop zu nichts nütze?

7 [277]

Die großen Unthiere der Eitelkeit, welche die Kraft haben uns anzugreifen, doch nicht uns zu halten.

7 [278]

Pascal gegen die Jesuiten: das ist Demosthenes gegen Philipp: da sieht man die Abirrung vom allgemeinen Interesse der Menschheit!

7 [279]

Ich halte es nicht in Deutschland aus, der Geist der Kleinheit und der Knechtschaft durchdringt alles, bis in die kleinsten Stadt- und Dorfblätter herab und ebenso hinauf bis zum achtenswerthesten Künstler und Gelehrten – nebst einer gedankenarmen Unverschämtheit gegen alle selbständigen Menschen und Völker. Dazu ist man eilig und ängstlich für die Gegenwart, mißtrauisch für das Kommende und gegen einander so vorwurfsvoll, und schlägt sich mit einem pomphaften Scheingenuß die Sorgen scheinbar aus dem Kopfe.

7 [280]

Es giebt wirklich Menschen welche eine Sache damit geehrt zu haben glauben, daß sie dieselbe deutsch nennen. Es ist der Gipfel der nationalen Verdummung und Frechheit.

7 [281]

Unsere Maaßstäbe nach dem Christenthum: nach jenem unerhörten Sich-ausspannen aller Muskeln und Kräfte unter dem höchsten Stolze sind wir alle verurtheilt, die Schwächeren Geschwächteren darzustellen: es sei denn, daß wir eine unerhörte Art von Männlichkeit gewinnen, welche diesen Zustand der menschlichen Erniedrigung noch stolzer als das Christenthum zu tragen wüßte. Kann hierzu uns nicht die Wissenschaft dienen? Wir müssen dem Phantasie-Effekt des Christenthums für die edelmüthigen Naturen etwas Überbietendes entgegenstellen – eine Entsagung und Strenge!

7 [282]

Das Verlangen nach Ruhe nicht falsch zu deuten mit Pascal! und das nach Bewegung!

7 [283]

Glückliches Zeitalter der Russen! Energie des Willens und Übergang zu den Künsten!

7 [284]

Wenn ich den Anblick eines fremden Nothstandes oder Glücksstandes nicht mehr ertrage und handle, um dem abzuhelfen, sei es daß ich mich entferne, sei es daß ich das fremde Loos abändere (wenn schon der Gedanke daran mich quält): so ist ein gleichartiger Vorgang da. Daß mir fremdes Glück weht thut, während einem Anderen sein Anblick wohl thut: dies wäre ein Unterschied (ebenso der Anblick fremder Unabhängigkeit). Wehethun: ein Ausdruck, daß wir unsere Entwicklung gehemmt fühlen. Wir fühlen uns einer Kraft geraubt: ebenso andere Menschen beim Anblick des fremden Unglücks. Das Mitgefühl macht uns leidend, der Neid ebenso: beide sind uns nachtheilig. Freude an fremdem Unglück und fremdem Glück ist uns vorteilhaft, eine Quelle stärkerer Entwicklung (N<apoleon> wurde heiter, als er seinen Hof durch ein neues Ceremoniell genirt fand) Der Leidende Andere wird erbittert über unsere Freude an seinem Leide und verunglimpft einen solchen: er als die Quelle des Urtheils, des tadelnden und lobenden, er verlangt Gleichgefühl, aber er selber übt es nicht, sonst würde er den Sich-freuenden an seinem Leide nicht tadeln, sondern sich mit ihm freuen (wie die, welche mit über sich lachen) d. h. er gesteht durch seine Praxis zu, daß der Andere ein Recht hat, zu sein, wie er ist, so wie er ein Recht habe, sich über ihn zu ärgern. Es ist unangenehm für die Anderen, "aber an sich nicht verwerflich"! wie alles Bittere und Schmerzhafte in der Natur.

Der welcher sich im Glück fühlt und sieht, daß der Andere darüber leidet (als Neidischer) verlangt nicht, daß dies sich ändre; er genießt es, aber er genießt es auch, wenn der Andere sich mitfreut, d. h. sein Glück macht ihn bereitwillig, sich das Verhalten des Anderen zu einer Vermehrung seines Glücks auszulegen. Sein Unglück, im Verhalten des Anderen eine Erleichterung zu suchen: indem man es ihm mitzutragen giebt oder indem man sich durch Tadel über ihn erhebt. Der Haß gegen die Nicht-Mitleidigen ist wesentlich Rache: also die Forderung des Mitleidens ebenfalls, es ist der nothwendig hervorgerufene Gefühls-Gegensatz zu jenem Haß.

7 [285]

Zur Ableitung des Mitleids.

Sobald das Mitleiden gefordert und gelobt wird, so bekommt es einen moralischen Charakter als gut. Man giebt sich ihm hin, man scheut nicht seine Kundgebung – unter anderen Verhältnissen gilt es als Schwäche. Die Philosophen sehen im Mitleide wie in jedem Sich-verlieren an einen schädigenden Affekt eine Schwäche. Es vermehrt das Leid in der Welt: mag <es> indirekt das Leiden vermindern, diese Folge darf es nicht im Wesen rechtfertigen! Gesetzt, es herrschte: so gienge sofort die Menschheit zu Grunde.

Dagegen vermehrt die Mitfreude die Kraft der Welt. Die Freude an dem Individuum, welches selber, was ihm auch geschehe, die Freude an sich oben erhält, ist ein sehr hoher Gedanke! Man muß helfen, um sich wieder mitfreuen zu können – aber seine Seele so lang im Zaume haben und kalt stellen, daß sie nicht vom Jammer angesteckt werde: wie der rechte Arzt.

Es giebt ein auszeichnendes Mitleiden, welches außerordentlich entlegene Arten des Leidens erfaßt: es ist zu ehren als Zeichen eines höheren Intellektes, nicht an sich!

Daß wir dem gut sind, der uns Mitleiden bezeugt, ist eine Erbärmlichkeit: wir sollten sagen: seid tapfer, daß mein Leid euch nicht eure freudige Art nimmt: wir sollten wünschen, den Ausblick auf das freudige Element um uns nicht zu verlieren! Aber wir sind Tyrannen!

7 [286]

Die Freude unserer Feinde an unserem Unglück mitgenießen ist möglich.

7 [287]

Vielen Erkenntnissen wissen die Menschen nichts Kräftigendes abzugewinnen, es sind verbotene Speisen z. B. mein Buch.

7 [288]

Es ist eine Feinheit, seine Beispiele der Geschichte und der Wissenschaft gemäß der allgemeinen Unkenntniß und Mangelhaftigkeit am Wissen zu wählen – sonst beweist man nichts und erweckt Haß, weil man beschämt. Man muß niedersteigen zu den Armen an Geiste, nicht in den Gedanken und Zielen, aber im Material. Mit lauter ungeheuer bekannten Dingen argumentiren: es ist überdies Stolz, denn die großen Wahrheiten sollen nicht mit Thatsachen aus dem Winkel und der gelehrten Grübelei bewiesen werden.

7 [289]

Ich höre euren Sirenengesang, ihr Weisen! Ach, nichts bewegt mich so! Aber ich sage euch: ihr selber habt ihn euch vorgesungen, ihr waret wie ich! Ihr waret die Narren dieser schönen Paradiese „Gerechtigkeit, Mäßigung": in Wahrheit sind es Utopien.

7 [290]

Um in der Kunst ein Mittel der Macht zu sehen: wie muß man da die Dinge verdrehen oder den Umsturz des Bestehenden erstreben! Wie viel Enttäuschung!

7 [291]

wie ein Drama sein Inneres leiden sehen ist ein höherer Grad als nur leiden.

7 [292]

Compensation des Dichters, seine Leiden und die Lust des Ausdrucks derselben

7 [293]

Das Zusammenbrechen der Berechnungen eines Greises ist mitleidswürdiger als – den Vorwand seines Lebens und Wirkens verlieren, z. B. seine Kinder

7 [294]

1) O über das Sündengefühl! Wie hat es das Leid vermehrt! 2) wie hat es von der natürl<ichen> Folge der Schuld den Blick abgewandt, also die Vernunft in der Anwendung auf das Leben stillgestellt! 3) wie hat es egoistisch gemacht und die Folgen für Andre (auch durch Vererbung) sich aus dem Sinne schlagen heißen!

7 [295]

Ihr glaubt nicht mehr Leidenschaft für etwas empfinden zu können, weil es nur kurz lebt oder weil es relativ werthvoll ist! Denkt doch an die Liebe zu einem Weibe! Zu Geld! Zu Ehrenstellen! Wenn es auch keinen ewigen Geschmack, keine ewige Schönheit und Tugend giebt, so kann das kurz Geltende erst recht Entzücken erregen, um es <zu> umarmen, es so gut es geht, dem Strom zu entreißen! Es mischt sich von nun an die Zärtlichkeit für das Hinfällige hinein!! NB.

7 [296]

Wir werden leicht trocken, weil wir nur für die Feinheiten der seelischen Bewegung ein Auge haben. Der große train!

7 [297]

Warum für Dinge Gesetze diktiren wollen, die wir nur aus zweiter Hand kennen! "Wollt ihr denn durchaus universal sein? Überlaßt doch diese bizarre Prätension den armen Teufeln, welche nicht selber etwas Eigenes sind." Stendhal

7 [298]

Wenn die Menschen über die Heftigkeit ihrer inneren verkleideten Triebe erröthen, da ändert sich die Kunst. Die Kundgebung tiefer Gefühle gilt als plump und roh. Zuerst ceremoniöse Manieren. Dann heitere Manieren, noch freier von jedem Gefühl (Louis XV): aller Enthusiasmus und alle Energie verschwunden!

7 [299]

Den Menschen des Mittelalters unsere Sensibilität und Sympathie leihen.

7 [300]

Das Gefühl der Macht, das jemand aus dem Staube erhebt, Findelkinder zu Erben macht usw. ist ganz gleichwerthig mit der Grausamkeit, und ich kann thun, was ich will, namentlich in Hinsicht auf die, welche es ärgert.

7 [301]

Die D<eutschen> haben die Bewunderung für das Fremdartige – aus Langeweile; die Franzosen die Eitelkeit – aus Langeweile – die Italiäner Liebe Haß usw. – aus Langeweile.

Der Franzose höhnt das Fremdartige, Gegenstand des Lächerlichen.

7 [302]

Die Leidenschaft der Erkenntniß kann ein tragisches Ende nehmen: fürchtet ihr Euch? Wie bei jeder Leidenschaft! – Gewöhnlich aber habt ihr Gelehrten gar keine Leidenschaft, sondern eine Gewohnheit gegen eure Langeweile! – Die Stellung der verschiedenen Völker dazu! –

7 [303]

Die Wissenschaft kann weder beweisen, daß alle M<enschen> gleich sind, noch daß ein Verfahren nach diesem Grundsatz auf die Dauer nützlich ist.

7 [304]

„Wissenschaft!" Was ist sie! Alle Kräfte in ihren Dienst! Die Erfahrung der Menschheit aus ihren Trieben, und ein Trieb, von den Trieben zu wissen.

7 [305]

Die Sitten spiegeln die Ereignisse von 100 Jahren wieder – nicht die der Gegenwart.

7 [306]

Die (nord)deutsche Cultur stammt nicht von einem Adel wie die französische, sondern von Lehrern (Professoren Organisten usw.) und Predigern. Ganz andere Unterwerfung, immer mit dem Hintergedanken, daß es etwas Höheres giebt als Fürsten (Luther). Bewunderung für das Fremdartige eines Fürsten, einer Staatsleitung, des Heeres: naiv. Man läßt sich drücken, aber nimmt Rache in Gedanken über die Dinge. – Wie unfruchtbar ist der Adel! das deutsche Rasse-Element

7 [307]

Das schnelle Tempo in der Musik und im Leben schleift viele Charaktere und Handlungen aus: wenn sie nicht unerträglich werden sollen: nämlich der Wechsel der Affekte – das schnelle Tempo ist die Sache der dauernden Stimmungen, des hJ oz.

7 [308]

Der deutsche Adel: selbst im Luxus, im Pomp, Gartenkunst Baukunst Mauerei unproduktiv

7 [309]

Und wenn wir uns auch für die schwierigsten Fälle der moralischen Rechnung und Vorrechnung nicht trauten, so meinten wir doch alle das moralische Einmaleins zu kennen und hielten uns hierin für sicher

7 [310]

Meine Gedanken sind meine Ereignisse geworden: das Andere ist die Krankheits-Geschichte jedes Tags.

7 [311]

Ein Sturm: ich empfinde ihn gegen 4 Stunden vorher, bei dem heitersten Himmel. Ist er da, so verbessert sich mein Zustand.

7 [312]

Das augenblickliche politische Übergewicht Deutschland's ist nicht aufrecht zu erhalten: es verdankt es der Willenskraft eines Einzelnen, der außerdem von dem schwachen Charakter aller Deutschen so überzeugt war daß er weder Parteien noch Fürsten fürchtete. Sie mögen die beste Organisation und den trefflichsten Gehorsam haben – aber die Befehlenden werden in diesem Lande so selten geboren, und noch seltener, die welche befehlen und Geist haben. – Deshalb ist die Überlegenheit eine große Gefahr – sie erzieht in der Anmaaßung und in den Ansprüchen. – Mit Parteien kann man machen, was man will, wenn man nämlich will: aber velle non discitur. Und wahrhaftig, es gehört nicht einmal der Wille eines Richelieu dazu, sondern der eines Bismarck – das will sagen, ein viel launischeres und leidenschaftlicheres Ding.

7 [313]

Der friedliebende Deutsche, man kann auf seine Unterwerfung vor dem Regimente und der Religion rechnen – weil er die wirkliche Unruhe und Gefahr haßt: um so mehr bedarf er leichter gefährlich scheinender Schwärmereien, um sich als Held vorzukommen. Er wechselt damit sehr oft, weil er nicht die That will!

 

 

[Dokument: Notizbuch]

[Winter 1880-81]

8 [1]

Religion der Tapferkeit

1. Die Leidenschaft der Redlichkeit.

2. Die grösste Frage.

3. Tapferkeit und nichts mehr.

8 [2]

1) das verschiedene Wachsthum der Triebe unter dem Klima der verschiedenen moralischen Grundurtheile

2) Gründe der Verschiedenheit des moralischen Urtheils

3) Irrthümlichkeit und Wahn aller moralischen Urtheile

4) Kann die Wissenschaft Ziele geben? Nein

5) Die individuelle Moral: unsere Triebe nach unserem Ideal formirt und mit Hülfe der Wissenschaft. (Als Künstler unser Ideal schaffen.

6) die günstigen politischen und socialen Verhältnisse für diese Einsiedler!

8 [3]

Mitleiden Grausamkeit.

Liebe Wollust

Neid Ehrgeiz Wetteifer.

Rache Gerechtigkeit.

Lächerlich original

Feigheit Demuth

Verstellung Schauspieler.

Mord Krieg

Raub Betrug Kaufmann

Sklave Soldat Beamter.

Verrückt Dichter Heiliger

Weisheit "Klugheit"

8 [4]

Wachsthum gegen das verwerfende Urtheil kann geleitet sein:

a) durch Furcht (deren Wirkungen bei Darwin NB.)

b) durch Stolz und Trotz (Rache und Grausamkeit)

darnach verschieden: es ist Sache des Temperaments

8 [5]

Aufzählung der moralischen Vorurtheile.

8 [6]

NB Einleitung: Alle meinen, die gegenwärtigen moralischen Gefühle seien die moralischen Gefühle überhaupt. Aber es sind die jüdischen.

8 [7]

NB wenn die jetzige Moralität sich fortentwickelt, geht die Menschheit daran zu Grunde. Aber das Gegentheil ist die Behauptung, ja der Anlaß, sie weiter zu entwickeln. Hier stelle ich das große Fragezeichen hin! Ist die Civilisation der Weg zum Glück, zur höchsten Leidenschaft und Fruchtbarkeit?

8 [8]

Wir bedürfen einer heroischen Erkenntniß! um die große praktische Frage vorzubereiten: ob noch mehr Gleichheit zu pflanzen!

8 [9]

Ob man nun an das Mitleid als Wunder und Quelle der Erkenntniß glaubt oder an das Blut des heiligen Januarius: ich meine dann immer noch in einem halb wahnsinnigen Zeitalter zu leben.

8 [10]

Aus Mitleid mit den Anderen uns religiös stellen? Pfui! Wir müssen sie zu unserer Tapferkeit erheben! Und dies ist möglich! Sei es selbst durch den Fatalism!

8 [11]

Allmählich wächst die Einsicht und man läßt die Hand davon, die menschliche Cultur zu fördern und zu regieren: man müßte zu viel Böses thun. NB. NB.

8 [12]

Das Glück wird auf entgegengesetzten Wegen erreicht, daher läßt sich keine Ethik bestimmen (gegen Spencer)

8 [13]

Die Empfindungen welche wir für gewisse Sitten und Sittlichkeiten haben, die Gründe dafür, welche im Umlauf sind, haben gar nichts mit dem Ursprunge, den Entstehungsgründen derselben zu thun NB.

8 [14]

der Klassicism und die Forderung der Gleichheit, die Lust der Unterwerfung unter eine absolute Norm: zur Zeit des Augustus: Rückkehr zu den griechischen alten Mustern. (Moralischer Klassicism: Rückkehr zu Socrates und Stoa.) Christus als absolute Norm. Der Hof. Alles auf die Ewigkeit gebaut. Vergil – Homer. Alle gleich unter Einem Herrn. Das neue ridiculum: "anders als Alle sein!" Letzter Grund: die Individuen haben sich ausgetobt und der Hochmuth wendet sich gegen sich innerlich. (Pascal) (auch Goethe)

8 [15]

Ich bin glücklich, keine moralische Erziehung gehabt zu haben (außer der durch Vorbilder)

8 [16]

Keine Erziehung, wirkliche Bedürfnisse erhalten Energie. Was soll aus der civilisirten Welt werden! Sand und Schleim!

8 [17]

"alle großen Interessen mit Ironie behandeln" weil man keine Zeit hat, sie tief zu nehmen – jetzt europäisch

8 [18]

so kindlich wie Pascal und unsere Theologen, welche bei Wissen und Glauben unwillkürlich meinen, bei Glauben handle es sich immer und allein um den christlichen Glauben

8 [19]

Nur zu solchen über Moral zu sprechen, welche sich mit der Lebensweise vieler Thiere vertraut gemacht haben.

8 [20]

Wir gehen häßlichen schmerzhaften Scenen aus dem Wege, wir wollen nicht mitleiden. Das sind die feineren Naturen. Die gröbere geht allem nach, was aufregt und die Langeweile vertreibt; um jeden Zank, jede Prügelei sammelt sich ein Kreis. – Wo der Trieb zu helfen da ist, da wird das unangenehme Gefühl des Mitleidens überwunden: und weil dabei regelmäßig das angenehme Gefühl, seinen Trieb befriedigen zu können, entsteht, meint man selber, das Mitleiden sei angenehm. Das Helfen kann auch nur ein Trösten sein. Der Glaser bei einem Hagel!

8 [21]

Gegen das Schreien und Hülfeflehen war man verächtlich gestimmt (Aeschylus Septem)

Aber Prometheus!

8 [22]

Manfred: niemandem das Recht geben ihn zu strafen, zu begnadigen, zu bemitleiden ("es <ist> nicht so schwer zu sterben, alter Mann").

8 [23]

Schlau und fröhlich, wie eine Eidechse in der Sonne

8 [24]

Z<acharias> Werner, Kleist und Brentano

8 [25]

der Sitte folgen und endlich sich an sie gewöhnen – das heißt doch unredlich sein! NB, feige sein! faul sein! Quelle der Moralität!!!

8 [26]

Natürlich-unnatürlich – ist nichts! Die Griechen haben die Liebe innerhalb desselben Geschlechtes zu dem höchsten Grade von Idealität gehoben, sie hießen die Knabenliebe eben gut.

8 [27]

Welche Gemeinheit! Gott will Liebe von den Menschen – und hat für die, welche sie versagen, die Hölle in Bereitschaft! Wie Tiberius und Nero! Ist es nicht achtbar, einem solchen Tyrannen sich zu weigern?

Gott als der Gerechte und der Richter ist kein Gegenstand der Liebe! Es ist undelikat! Er hätte sich des Richtens begeben müssen! Christus empfand nicht fein genug! In diesen Dingen sind wir reifer! Wenn Gott der Gegenstand der Liebe sein wollte, so – – –

8 [28]

Wie kommt es, daß die Deutschen keinen Geist haben? Sie empfinden langsam, und lassen ihre Empfindungen nicht reif werden, sie kreuzen sie durch Beruf oder alltägliche Dinge: so machen sie sich mittelmäßig, sie bleiben immer wie unreife Früchte.

1) sie verstehen nicht Muße zu haben

2) sie nehmen ihre Erlebnisse nicht ernst, als wichtig genug des allgemeinen Nachdenkens

3) sie lesen zu viel und sind eifrig servil gegen eine herrschende Partei oder Hof

4) sie machen Musik, nicht um eine Passion zu ertragen und sich zu erleichtern, sondern um sich aufzuregen!!! Deshalb brauchen sie die leidenschaftlichste Musik.

8 [29]

Die Deutschen möchten gar zu gern große Leidenschaften haben – nun, es thut nichts, wenn sie dieselben ohne Grimassen nicht darzustellen wissen, auf die Dauer werden sie sie haben! Dann werden sie auch erkennen, daß zwar Kraft das Erste ist, daß es aber Arten der Kraft giebt, welche ohne Grimassen sind.

8 [30]

Je weniger sie etwas durchdacht und sich selber zur Klarheit gebracht haben, um so unverschämter streichen sie die Farben des Gefühls auf, im Vertrauen, daß der Deutsche zuletzt immer an einen Gott glaubt, weil er jemanden unverständlich und erhaben sich gebärden sieht.

8 [31]

Pascal rieth, sich an das Christenthum zu gewöhnen, man werde spüren, daß die Leidenschaften schwinden. Dies heißt: seine Unredlichkeit sich bezahlt machen und sich ihrer freuen.

8 [32]

Mitleiden predigen – das wäre etwas für Künstler in einem harten streng persönlichen, vom dunklen Ernst der Leidenschaft beherrschten M<enschenthum>! so wirkte die Musik in Neapel ehemals! – Aber auf diese allzubeweglichen Seelen! Pfui!

8 [33]

Mein früherer Stil: weite Perspektiven, viel Verhülltes, Geheimnißvolles Wunderbares. Die Thatsachen aufblitzend, wie scheinbare Erhellungen dieser Geheimnisse. Grundglaube: das Wesen nicht mittheilbar, eine gehobene ahnungsvolle Stimmung macht Offenbarungen. Die Nüchternheit schadet diesem Verständniß. Die contemplative Ruhe und die Erinnerung an Furchtbares und Sehnsüchtiges wechseln ab.

8 [34]

Mein Zweifel an der Civilisation: sie nimmt die Gefahren, die große Passion, die Nothwendigkeit großer Menschen – man sollte eine Schutzwehr haben und Städte an den Vesuv gebaut: so ist die Fruchtbarkeit und der Genuß am größten!

8 [35]

Der Werth des Altruism ist nicht das Ergebniß der Wissenschaft; sondern die Menschen der Wissenschaft lassen sich durch den jetzt vorherrschenden Trieb verleiten, zu glauben, daß die Wissenschaft den Wunsch ihres Triebes bestätige! cf. Spencer.

8 [36]

Gesetzt die Wissenschaft kräftigt ihr Ansehen und herrscht: ihr sollt eine Schätzung der Lüge und der Fähigkeit zu erdichten erleben, wie noch nie! Ebenso wie das Christenthum vielleicht jetzt mehr gilt, als irgendwann! selbst bei seinen Gegnern!

8 [37]

Vielleicht weiß das schon alle Welt: aber ich weiß es erst seit gestern, da fiel es mir ein! Und nun lebe ich so fort, jeden Tag nur meine gestrige Entdeckung auf der Seele und bereit, sie an die Wand zu schreiben, damit alle Welt sich mit mir ihrer erfreue. – Welche Narrheit!

8 [38]

Eines Tags fand ich die Musik arm und unverschämt, sie wollte mir meine Gedanken rauben und mir vormachen, sie sei – – –

8 [39]

Die Veränderung der Bedeutung der Worte in Korkyra tritt im Großen immer ein? Der bürgerliche Frieden zieht ganz andere Geschmäcke groß, anderes ist da angenehm und nützlich und folglich gelobt.

8 [40]

Aber wenn wir unsere Leidenschaften wachsen lassen, so damit auch, wie wir wissen, die "Cristallisation": ich meine, wir werden unredlich und begeben uns freiwillig in den Irrthum?

8 [41]

Wenn wir nicht mehr moralisch loben und tadeln wollen, so werden die Triebe nicht weiter entwickelt?

8 [42]

immer melancholisch – aber ein Princip der Tapferkeit von Kindheit an macht, daß ich viele kleine Siege habe und in Folge dessen heiterer bin als es meiner Mel<anchiolie> geziemt.

8 [43]

Ich habe mein Ziel und meine Leidenschaft: ich will von der Kunst nichts als daß sie mir dasselbe verklärt zeige oder mich ergötze, ermuntere, zeitweilig abziehe. Das erste ist meine Art von Religion: ich sehe mein Ideal von anderen geliebt und verklärt und in die Wolken aufgetragen: ich bete mit ihnen!

Nicht soll die Kunst mich mir selber entführen, nicht mich vor dem Ekel retten.

8 [44]

Die Liebe bei R<ichard> W<agner> vampyrisch geschildert, mit dem Trumpf, die ganze Welt im Glück auszustechen – und gleichsam arm zu machen, alles mögliche Glück für sich in Besitz zu nehmen und gleichsam sich an allem, was ist, zu rächen (wofür? dafür daß es uns nicht ebenso liebt wie diese Senta Brünnhilde usw.)

8 [45]

Die verfluchten Neigungen zum Behaglichen und Gemüthlichen verurtheilen die Deutschen zur Mittelmäßigkeit des Geistes und machen sie unfähig, in allen großen Dingen mitreden zu dürfen: z. B. über die Frage des Glücks. Stört man sie auf, so sind sie das verstimmteste und kleinlichste Volk, mit jener kurzathmigen Rachgier der Mittelmäßigen, jeden Augenblick wehe thun zu müssen.

8 [46]

Die "Liebe zum Menschengeschlecht" mit Hülfe einer vernünftigen Erziehung – Stuart Mill, zum todtlachen!

8 [47]

Nach der Civilisation verlangen die, welche sehr in Angst sind. In der Civilisation zufrieden sind die Schwachen, die Feigen, die Faulen, die Geachteten, die Gewöhnlichen: Gleichheit als Ziel, endlich als Zustand. Der Sand. Die Moralität (christlich-jüdisch) ist jetzt die der Civilisation. Napoleon und das französische Volk nach der Revolution. Wer war mit der Organisation zufrieden?

8 [48]

Wo Heroismus ist, da giebt es kein Verbrechen mehr. Denn der Glaube, daß etwas gut ist, ist beim Heroismus.

8 [49]

mit jener Festigkeit, welche der hat, der auf seinem Platze steht, und der Leutseligkeit, welche er gegen Alle empfindet

8 [50]

Die Deutschen haben Mißtrauen, daß man ihnen Leidenschaften zutraue – deshalb machen sie sofort Grimassen und Excesse, nicht aus der Stärke des Affektes, sondern um sich Glauben zu verschaffen. Derart sind selbst die Leidenschaften bei R<ichard> W<agner>: so, daß man im Leben Jeden für toll halten müßte, der dergestalt seinen Empfindungen nachläuft (Ekel genügt, um jemand zu tödten) Es fehlt ganz der Genuß, den man ehedem moralisch nannte: daß einer sein Pferd zu reiten verstehe, daß es schön kühn leidenschaftlich sei wie sein Reiter, letzterer aber die Schönheit Kühnheit Leidenschaft durch seine Vernunft hindurch leuchten lasse, welche alles mäßigt und zum Ansehen erträglich macht. Bei dem wahnsinnigen Jagen jener Rosse hat man Schwindel und Erschöpfung.

8 [51]

Klassicism: der Genuß, so viele Andere sich unterwerfen zu sehen und den innerlichen Kampf sich dazu zu denken macht die Unterwerfung leicht, man nimmt es scheinbar frivol, um den Genuß zu haben, die Ernstesten und Hochmüthigsten zu Kreuze kriechen zu sehen! nämlich auf ihre Individualität Verzicht leisten!

8 [52]

Der Reiz aller Bußprediger, die große Macht öffentlich zu verachten! der Reiz aller Hochmächtigen zur tiefsten Erniedrigung und Hingebung und Abstinenz – dämonischer Zauber!

8 [53]

Neue Tapferkeit: zur Verachtung der Ehre! des Ruhms! des Namens! – wir bezahlen uns selber und verachten das, was Andere uns an Ruhm geben könnten!

8 [54]

die völlige Unfähigkeit des Gesang<s> hat den Sinn für Melodie vernichtet – jetzt das Dramatische und der Naturlaut!

8 [55]

Denken macht Fehler. Es ist nämlich der umgekehrte Weg der Gewöhnung, vom Schwächsten hinauf. Die Veränderung der Moral sehr wohl möglich, wie die des Geschmacks: nur Übung!

8 [56]

Naivetät des Moralischen gieng durch das Christenthum (und vorher durch Socrates) verloren, wie die französische Naivetät unter L<ouis> 14. – aus gleichen Gründen.

8 [57]

Die Grausamkeit und ihre Lust bei dem Starken, der sich selber bricht und einem Gesetz (Fürst Christenthum) unterwirft. Vorher ließ er sie an Anderen aus, indem er ihr Schicksal gestaltete (gut oder schlimm – es ist Grausamkeit, Freude den Thon zu kneten.)

8 [58]

Heiligkeit: man kann das Bewußtsein daran gewöhnen, das was in den Eingeweiden, im Blute vor sich geht nicht mehr zu merken oder anders (himmlisch) auszulegen.

8 [59]

Eine Handlung wird getadelt, weil sie uns (oder dem Ganzen, zu dem wir uns rechnen) schädlich oder ehrverletzend scheint: im umgekehrten Falle lobt man sie. Folglich ist sie nicht an sich gut oder böse.

8 [60]

Ich habe keinen Begriff von mir aus von einem M<enschen> welcher so sein will, wie es der gute Ton verlangt: der nicht zu lieben zu hassen zu urtheilen wagt, bevor er nicht weiß, wie hier der gute Ton befiehlt. Ich habe also gewiß keinen guten Ton! Ja ich verachte jeden, der sein will wie ein Andrer! der hinblickt, um zu sehen, was die Andren zu seinem Thun sagen! der immer an die Anderen denkt, nicht um ihnen zu nützen, sondern um vor ihnen nicht lächerlich zu sein – wäre er lächerlich, so würde er ihnen Vergnügen machen! entsetzlich! – Aber warum sollten wir nicht zu lachen geben! Wir selber haben den Vortheil davon, wenn unsere Mitmenschen guter Dinge sind! – "Aber sie achten nicht mehr, wenn sie lachen!" – Aber warum sollen sie euch fürchten? Und wehe mir, wenn etwas Lächerliches an mir genügt, um mir meine eigene Achtung vor mir zu nehmen! Dies aber geschieht bei den Eiteln, die sich vernichten möchten, nach einem Etikettefehler.

8 [61]

NB Ein Zeitalter der Barbarei beginnt, die Wissenschaften werden ihm dienen! – Sehen wir zu, wie wir das Höhere, den Extrakt unseres jetzigen Erkennens, doch erhalten: durch eine Gemeinschaft freier Einzelner welche sagen

1) es giebt keinen Gott

2) keinen Lohn und Strafe für Gutes und Böses (sittliche Welt)

3) gut und böse gilt je nach dem Ideal und der Richtung, in der wir leben: der beste Theil davon ist uns vererbt, zu dem ist es möglich, daß diese Urtheile selbst im Bezug auf die Förderung des jeweiligen Ideals falsch sein können. Das Ideal ist die Vorwegnahme der Hoffnungen unserer Triebe (der herrschenden Triebe)

um sich in der Barbarei trotzdem zu erhalten, wird diese Gemeinde rauh und tapfer sein müssen – asketische Vorbereitung

8 [62]

„Gesundheit" nicht zu definiren als fest. Ein Ideal von dem Zustand, in dem jeder am besten thun kann, was er am liebsten thut: aber der Wilde ein Salonheld oder der Gelehrte werden einen ganz verschiedenen Zustand wünschen! – Wir leiden immer noch an den "klassischen" Begriffen, die wir kaum für die Poesie losgeworden sind. Man sagt der Apoll ist "schöner" als ein Fresko in Athen!

8 [63]

Der Zustand der Menschheit ist immer noch ein sehr früher, und einige der für sie wichtigsten Fragen sind noch nicht einmal aufgeworfen worden. – Unsere jetzige Wissenschaft hantiert mit einigen Vorurtheilen, wie als ob die Menschheit darüber immer einig sein werde: z. B. über den Werth der sympathischen Handlung, über irdisches Wohlergehen in Bezug auf Gesundheit usw. Aber, wenn ein anderes Ideal entsteht, ein anderer Trieb zur Herrschaft kommt, so hat die Wissenschaft wieder diesem sich unterzuordnen! Ich versuche die Grundvorurtheile der jetzigen Wissenschaft zu errathen! Es ist das Europäerthum!

8 [64]

Sie nennen es meinen Muth, Andere werden es meine Schamlosigkeit nennen. Das Loben und Tadeln trifft nicht die Sache, sondern ein Verhältniß des Lobenden und Tadelnden zu dieser Sache.

8 [65]

Mit den schönen Stimmen und deren Ausbildung und Genuß gieng der Genuß der Melodie verloren: und diese selber! Die Klaviervirtuosen kamen und führten die Harmonie ein. Jetzt ahmt das Orchester deren Leistungen nach: und daneben stellt sich die Barbarei des theatralischen Effekts auf die Leidenschaften und inspirirt die Componisten. Dies ist gröber als der Zauber des Virtuosen.

8 [66]

Dieselben Eigenschaften der Passionen können für oder gegen sie gewendet werden, je nach unserem allgemeinen Hang, z. B. ihr tiefer Ernst, ihre Bezauberung über die Realität, ihr absolutes Vertrauen-verlangen usw.

8 [67]

Ich habe oft geglaubt daß ich die Menschen belehren könne – und eine aus Stolz und Liebe gemischte Empfindung gegen sie gehabt. Jetzt, am Schlusse, sehe ich ein, daß ich nichts zu lehren habe, aber daß ich von Herzen bitte, es möchte solche geben, welche mich würdigten von ihnen zu lernen: denn die Fragen, die ich mir aufgeworfen habe, sind mächtig und – – –

8 [68]

Häckel: die Disposition, die Descendenz-Theorie und die unitarische Philosophie anzunehmen bilde den besten Maaßstab für den Grad der geistigen Superiorität unter den Menschen. er nennt die Engländer und die Deutschen: er läßt die Franzosen weg (Lamarck und Comte!

8 [69]

Das Leben der Frauen hat eine sehr anreizende Paradoxie: es läuft auf einen Akt hinaus, der das gerade Gegentheil aller Schamhaftigkeit und ihres ganzen durch Erziehung angestrebten Denkens ist. Was Wunder, daß für sie alles Mirakel wird, und mit dieser Paradoxie zusammenhängt!

8 [70]

Die Sprachen als das Werk Einzelner oder von Priesterschaften – wie die Religionen.

8 [71]

Wie ist das außerordentliche Vergnügen zu erklären, das Comte bei altruistischen Empfindungen hatte? Amour?

8 [72]

Der Genuß in Ceremonien und Formalitäten groß bei jungen Civilisationen: für die Künste zu beachten!

8 [73]

Für Menschen gesagt, die nicht gedacht haben: man überläßt sich dem Mitleid, nicht damit es angenehme Empfindungen errege (dies wäre nicht wahr, außer bei ganz einzelnen Menschen) sondern weil es immer angenehme Empfindungen erregt hat: so wie das Thier die Brut liebt usw. man bejaht es, wenn es bereits da ist!

8 [74]

"Le long espoir et les vastes pensées" Lafontaine.

8 [75]

Was gehen mich die an, welche eine alberne Gereiztheit zeigen, wenn überhaupt das Mitleiden nicht ohne Weiteres angebetet wird!

8 [76]

So lange alle menschlichen socialen moralischen Bande abstreifen, bis wir tanzen und springen können wie die Kinder

8 [77]

Ich habe den Geist Europas in mich genommen – nun will ich den Gegenschlag thun!

8 [78]

Die Edlen esJ li die Wahrhaften die sich nicht zu verstellen brauchen! Als Mächtige und Individuen!

8 [79]

die Existenz der Kirche giebt den Freigeistern noch Freiheit vor der Wissenschaft NB jetzt noch!

8 [80]

In Deutschland hat man fast das Bedürfniß und daher auch den Sinn der unschuldigen Musik verloren man denkt der Zeiten, wo auch die guten Frauen sich nicht genügend für die Nacht vorbereitet zu haben glaubten, wenn nicht der Schlaftrunk, ein schwerer heißer überwürzter Wein vor ihnen stand.

8 [81]

Gegen Schopenhauer: er hat die Miene eines M<enschen> der zufrieden mit sich ist, so gut zu reden wie die Personen Racines und Schillers (nach Stendhal) Gut, er ist voll von Leidenschaft, aber zunächst ist er zufrieden damit, schön zu sprechen.

8 [82]

Wie kommt man darauf, jemanden zu ehren, weil er eines tiefen und mannichfaltigen Mitleids fähig ist und leicht dazu erregt wird? Er muß unglücklicher sein als die Anderen und immer darauf aus, die Anderen zu trösten, aufzuhelfen usw. also sein Unglücklichsein ist angenehm 1) weil es eine Wirkung unserer Leiden zeigt 2) weil es die Aussicht auf Abhülfe des Leidens, auf Milderung zeigt. Wir ehren ihn, weil er anders ist als wir erwarten? – aber warum verachten wir ihn nicht? Weil, wenn wir ihn nicht ehrenswerth empfinden, unsere Wirkung auf ihn nichts Lustvolles für uns hat. Es ekelt uns, Eindruck auf erbärmliche Seelen zu machen. Es geht also unsere geheime Neigung dahin, ihn uns als tüchtigen guten achtungswerthen Menschen zu denken. Außerdem wollen wir nicht von schlechten Gesellen bemitleidet sein: es setzt uns vor uns herab! Also: wann demüthigt das Bemitleidetwerden nicht? Wenn es erhebt! Das thut es, wenn ein hochansehnlicher Mensch (durch Herz Geist Stellung usw.) oder ein Gott mit uns empfindet – also wenn eine Gleichsetzung stattfindet, die uns zu Ehren gereicht (wodurch wir uns höher gehoben fühlen!!) Also: wir ehren gern den Mitleidenden, damit wir den Genuß an unserer eigenen Erhebung haben können! oder weil!

8 [83]

Die Begeisterung, welche in Deutschland sofort zur Verdummung und zur Servilität führt

8 [84]

Das Ergebniß aller absoluten Moral wäre die äußerste Verkümmerung des Menschen ja Vernichtung. Sie wird nicht durch das Glück bewiesen!

8 [85]

Bei unseren größten Männern muß man immer noch sagen: möchten sie etwas mehr Genie haben und etwas weniger Schauspieler sein!

8 [86]

Wie deutsche Maler jetzt malen, deutsche Musiker componiren, deutsche Dichter dichten: man hört die Anmaaßung, die Schauspielerei der Größe heraus.

8 [87]

Was heißt "wollen"? die Frauen können nach Willen weinen. Die Männer können auch weinen wollen, aber der Effekt bleibt aus. Was macht den Unterschied? Es fehlt die Übung des Mechanismus. – Man kann deutlich sprechen wollen, aber niemand versteht uns. – Also der Erfolg oder Nicht-Erfolg gehört nicht zum Begriff "Wille" – restirt also: begehren d. h. Vorstellung und Werthschätzung haben.

8 [88]

Sehr gute Zeit für die Freigeister – und nicht benutzt!

8 [89]

Zeitalter der nachgemachten Originalität (als Reizmittel)

8 [90]

Vortheil der Einsamkeit: wir lassen unsere ganze Natur, auch ihre Verstimmungen gegen unser Hauptobjekt los und nicht an anderen Dingen und Menschen: so leben wir es durch!

8 [91]

Warum ich der Leidenschaft ins Wort falle?

Ich könnte volltönend und heftig und hinreißend meine Sache vorbringen, wie ich sie empfinde – aber hinterher bin ich halbtodt und leidend, auch voller Verdruß, über Übertreibungen Auslassungen usw. Andere haben in der Leidenschaft erst ihren Geist ganz: ich in der unterdrückten und bekämpften Leidenschaft. Es thut mir alles wohl, was mich an diesen meinen Zustand erinnert!!

8 [92]

der Glaube an die Verwerflichkeit des Egoism hat die Menschen geschwächt. Die griechischen Philosophen lehrten den Glauben an die Dummheit der Nichtphilosophen als Ursache ihres Unglücks.

8 [93]

Es fehlen nur noch die großen überzeugenden Menschen – sonst ist alles zu einer völligen Veränderung vorbereitet, Principien, Mißtrauen, Auflösung aller Verträge, die Gewöhnung, ja das Bedürfniß der Erschütterung, die Unzufriedenheit.

8 [94]

Religion nouvelle

1) für seltene Momente aufgespart

2) Verehrung der Aufopferungslust

3) kein Gott, kein jenseits, keine Belohnung und Bestrafung

4) kein Beschuldigen mehr, keine Gewissensbisse, aber Vernunftsbisse

5) das ich restituirt.

6) das Schöne empfunden als das sich opfernde Ich

7) keine allgemeine Menschenliebe, sondern Herrschaft der Triebe

8) die höchste Klugheit als Norm genommen, als gemein und nicht verehrt deshalb, weil gewöhnlich

9) die Unklugheit der Großmuth bewundert. Das Mitleiden eine Schwäche und Erholung – concedirt

10) nicht als Opferung für Andre verehrt, sondern als der volle Sieg des einen Affektes über die anderen, so daß wir das Leben, die Ehre usw. ihm weihen: also die Fülle der Passion ist das Wesentliche.

8 [95]

Als ich mich analysirte nach Fundamenten religiöser Empfindung, fand ich Tapferkeit als das erhebendste Gefühl.

8 [96]

W<agner> dessen Fehler ist, nicht stolz genug zu sein, um die Schmeichler zu verabscheuen.

8 [97]

Nie hat sich der Zorn zu so düsterer Majestät und solchem Reichthum erhabener Nuancen entfaltet als bei den Juden. Was ist ein zürnender Zeus gegen einen zürnenden Jehova! Sie haben es von ihren Propheten auf ihn übertragen. Der Zorn wurde heilig und gut dadurch. Und mitunter brach durch diese Gewitterwolken ein Strahl väterlicher Güte – in einer solchen Landschaft hat Christus seinen Regenbogen, seine Himmelsleiter des Gottes zum Menschen geträumt: nirgends wo anders hätte man dies gekonnt als unter dem Volk der Propheten!

8 [98]

Die Wissenschaft hat viel Nutzen gebracht, jetzt möchte man, im Mißtrauen gegen die Religion und Verwandtes, <sich> ihr ganz unterwerfen. Aber Irrthum! Sie kann nicht befehlen, Weg weisen: sondern erst wenn man weiß wohin?, kann sie nützen. Im Allgemeinen ist es Mythologie zu glauben, daß die Erkenntniß immer das was der Menschheit am nützlichsten und unentbehrlichsten sei, erkennen werde – sie wird eben so sehr schaden können als nützen – die höchsten Formen der Moralität sind vielleicht unmöglich bei voller Helle.

8 [99]

Mitleid empfinden und nicht helfen können ist äußerst bitter. Sublimirung der Grausamkeit: Mitleid erregen. Gott leidend zu machen Bestreben des Christen

8 [100]

Schön: jeder nennt das schön, was entweder der sichtbare Ausdruck dessen ist, was ihm angenehm (nützlich) ist oder die Erinnerung daran erweckt oder gewöhnlich mit ihm verbunden erscheint.

8 [101]

Derselbe Trieb entwickelt sich als Feigheit, unter dem Eindruck des Tadels, der dieser Handlung folgt: und als Demuth unter dem Eindruck des Lobes. NB. Vielleicht sollte ich nicht von Sublimirung reden, es giebt zwei Arten der Entwicklung, eine verkümmernde mit Widersprüchen des Gefühls sich vollziehende und eine blähende, sich selber des Guten bewußte. (Das Böse als Melancholie

8 [102]

Feuer im Leibe, Schnee auf dem Haupte und den Mund voll schwarzer Dämpfe wie der Aetna – Savonarola

8 [103]

Die langen Nachschatten des Christenthums (auch die Philosophen wie Socrates haben mitgeholfen): sie haben die Menschen überzeugt vom Altruism als der Quelle des Glücks und ihre Sprungfedern matt gemacht (die persönliche Passion) indem sie das gute Zutrauen dazu genommen haben. Alle Moral ist seitdem auf Sympathie aus: das Christenthum überbieten mit allgemeiner Menschenliebe – das bringt Sand und Brei hervor! Sein Fundament zertrümmern – Aufgabe der Wissenschaft! D. h. freilich, nach jetzigem Begriff: die Menschen böse machen, egoistisch usw.

8 [104]

Erstaunt über den Trieb, der ihn zu beherrschen scheinen wollte, ärgerte er sich, brüskirte seinen Trieb so sehr als möglich, und, sofort zerstreut, wenn er ihn erlegt hatte, machte er sich frei davon, indem er das Bekenntniß seines Erfolges publizirte.

8 [105]

Eine einzige Idee bringt bei ihm 1000 andere hervor, das geringste Wort trieb seine Unterhaltung in hohe Regionen, wo die gesunde Logik ihm nicht immer folgte, aber der Geist unaufhörlich sich bemerkbar machte. Er hatte nicht das Bedürfniß des Zweiten, um sich zu erhitzen. Er gieng sofort sehr weit, aber aufmerksam, ob man ihm gefolgt wäre.

8 [106]

cette civilisation, die immer ein wenig "seine persönliche Feindin" war, nach Talleyrand. –

8 [107]

"Es giebt nichts Edles und nichts Niederes in der Welt". Je suis lâche, moi, essentiellement lâche. Napoleon war über honneur erhaben!

8 [108]

"ich gebe mein Wort, es giebt in mir kein Widerstreben, etwas zu thun, was die Welt eine entehrende Handlung nennt."

8 [109]

Meine geheimen Neigungen, après tout die der Natur, gewisser Affektation von Größe entgegengesetzt, mit der ich mich dekoriren muß, geben mir unendliche Hülfsquellen, um mit dem Glauben aller Welt ein Spiel zu treiben (zu täuschen die, welche prätendiren, mich zu kennen)

8 [110]

Die Musik hat noch keinen zürnenden Gott dargestellt. –W<agner>s Wotan leidet an der Schwäche des deutschen Charakters, er will zu vielerlei und nichts völlig bestimmt. Sein Zorn ist gar nicht zu nennen neben dem des Michel Angelo'schen Gottes – dafür hatte dieser auch nur diesen Einen Gedanken im Kopfe.

8 [111]

"Soldaten, ganz von Siegen erregt, stellen sich in eine so stolze Region, von wo man sie mit Mühe herabsteigen lassen kann."

8 [112]

Die Furcht um alle Despoten ist, einen Vorwurf zu empfangen, wenn man im Geringsten etwas versieht: man bringt weder Gefühle noch Geist mehr hervor, denn man findet nicht mehr Gelegenheit, ein Gefühl oder die geringste Reflexion auszutauschen. So werden die verschiedensten Personen gleichgestellt und endlich gleich. Der Despot mit Plänen nach außen, dedaignirt die kleinen Erfolge, die er auf seine Umgebung hätte erringen können; wenn er noch so viel Verführungskunst verwendet hat, sie sich zu unterwerfen: ist es geschehen, so denkt er nicht daran, sein Joch und sich angenehm zu machen.

8 [113]

die Herrschaft der Frauen habe die Könige von Frankreich geschwächt: an Napoleon's Hofe sollten sie nur Zierath sein.

8 [114]

Napoleon war überzeugt, daß die Frauen in Frankreich mehr Geist hätten als die Männer – er sagte es oft. Die Erziehung, die man ihnen gebe, disponire sie zu einer gewissen Geschicklichkeit, gegen die man sich vertheidigen müsse.

8 [115]

Napoleon nannte dévouement: den, der seine ganze Person, alle seine Gefühle alle seine Meinungen gebe: er wiederholte, es sei nöthig, uns hinzugeben bis zu der kleinsten unserer alten Gewohnheiten, um nicht mehr als Einen Gedanken zu haben: den seines Interesses und seines Willens.

8 [116]

"Ich habe das Recht, auf alle Ihre Klagen durch ein unsterbliches moi zu antworten. Ich bin abseits von aller Welt, ich nehme Bedingungen von niemand an" "Sie müssen sich allen meinen Phantasien unterwerfen und es ganz einfach finden, wenn ich mir ähnliche Zerstreuungen gebe"

8 [117]

"das Metier des Kriegs macht eine Aufrichtigkeit der Generale, daß sie selbst ihre neidischeste Affektion zeigen: die Gewohnheit, den Feind offen zu bekämpfen, giebt ihnen die Gewohnheit nichts zu verschleiern, sie sehen in aller Opposition eine Feindschaft"

8 [118]

Ein gigantischer Plan: bereit ihn zu entwerfen, bereit ihn auszuführen: von Zeit zu Zeit die Basen für ihn legend. Durch diesen einzigen Gedanken bewegt: losgelöst von allen Eindrücken zweiten Ranges, die sein Projekt hätten aufhalten können. Durch die Weite seines durchdringenden Scharfsinns und die Zähigkeit seines Willens der außerordentl<ichste> Mensch. Im Falle sein Ziel das Wohl der Menschheit gewesen wäre, der größte Mensch.

8 [119]

von Unruhe verzehrt, von Verdacht und Mißtrauen, Sklave seiner inneren Leidenschaften, alle Macht fürchtend, selbst die, welche er geschaffen hatte.

8 [120]

Die grosse Frage.

 

 

[Dokument: Manuskript]

[Winter 1880-81]

Die Pflugschar.

Gedanken

über die moralischen Vorurtheile.

Von

Friedrich Nietzsche.

9 [1]

Suche doch ja der Ausländer die Naivetät oder gar die Ursprünglichkeit nicht mehr bei den Deutschen! In Frankreich ist die Naivetät durch den Hof erstickt worden, in Deutschland durch die "Genie's" – man hat gar zu lange mit ihr Theater gespielt und Krieg geführt. Das vermochte der verfluchte neidische Dünkel in allen jenen Genie's, welche den Franzosen ihren Geist und ihre anmuthige Beweglichkeit und den Griechen ihre Ursprünglichkeit nicht verzeihen konnten und die "deutsche Naivetät" dagegen ins Feld führten. Aber es giebt nicht nur Gespenster, welche verschwinden, wenn man von ihnen spricht, sondern auch wirkliche Eigenschaften, bei Völkern und Einzelnen.

9 [2]

Keine Unzufriedenheit mit sich selber ertragen mögen ist oft das Zeichen einer widerlichen Weichlichkeit – aber man preist es als moralisch an! Wir müssen eines Zieles halber viele Schmerzen zu ertragen wissen, ja Schmerzen aufsuchen und freiwillig erwählen, wenn das Ziel solche Mühsal nöthig hat. Haben wir denn einen Bund mit dem Schicksal gemacht, daß unser Schiff keinen Schiffbruch leide? Unsere Reise durch keine Wüste führe?

9 [3]

Mögen die Menschen uns erhalten, Während wir für sie sorgen und denken: sonst werden es die Vögel und die Bienen thun. – Aber wir sind zu stolz, um "belohnt" werden zu können: und zu ernst beschäftigt, um Zeit und Gefälligkeit für den Ruhm zu haben." – So sangen einst die philosophischen Musen.

9 [4]

Über das Wetter, über Krankheiten und über Gut und Böse glaubt Jeder mitreden zu können. Es ist das Zeichen der intellektuellen Gemeinheit.

9 [5]

Allen moralischen Systemen, welche befehlen, wie man handeln solle, fehlte die Kenntniß, wie man handelt – aber alle meinten sie zu haben, wie jeder Mensch es meint.

9 [6]

Ist man mit einem großen Ziele nicht bloß über seine Verleumdung erhaben, sondern auch über sein Unrecht? Sein Verbrechen? – So scheint es mir. Nicht daß man es durch sein Ziel heiligte: aber man hat es groß gemacht.

9 [7]

Was könnten die Deutschen ihrem Schopenhauer verdanken? Daß er den gläsernen und glitzernden Idealismus edler allgemeiner Worte und stolzer Gefühle vernichtete, welchen namentlich Schiller und sein Kreis verbreitet haben und den man am besten aus dem Briefwechsel Wilhelm von Humbold<t>s mit Schiller kennen lernt – jenen falschen "Classicismus", der einen innerlichen Haß gegen die natürliche Nacktheit und schreckliche Schönheit der Dinge hatte und unwillkürlich mit edel verstellten Gebärden und edel verstellten Stimmen in Bezug auf alles (Charaktere Leidenschaften Zeiten Sitten) eine verkleidete und nur vorgebliche Nacktheit und Gräcität, eine Art Canova-Stil forderte: welches Alles – es ist eine ganze Summe edler Halbheiten – Goethe sehr aus der Nähe quälte, ohne daß er anders dagegen verfuhr als es seine Art war, mild widerstrebend, schweigend, wegsehend, auf seinem besseren und eigenen Wege sich bestärkend. Schopenhauer der Grobe hat die Teufelei der Weit wieder sichtbar werden lassen – er kam nicht ganz so weit, auch die Teufelei des Guten und die Schönheit und Güte der Teufelei zu entdecken und aufzudecken. – Jedenfalls wäre man jetzt sehr rückständig, wenn man nach Schopenhauer noch wie Schiller empfinden würde: aber freilich dem gegenwärtigen Deutschen, wie er wirklich seitdem geworden ist, damit immer noch hundertfach überlegen!

9 [8]

Wie oft wird grob und aufsehenerregend die Ehe gebrochen, bloß um den moralischen oder rechtlichen Zustand herbeizuführen, in dem eine unerträglich gewordene Ehe gelöst werden könne!

9 [9]

Über die möglichen Motive deiner Freunde und Feinde nachdenken soll für dich ebenso eine Ehrensache sein, wie über diese Personen öffentlich zu urtheilen.

9 [10]

Du weißt wohl, es ist ein Ehrensache, öffentlich über den Charakter und die Motive eines Menschen zu reden. Freund! Es ist auch eine Ehrensache, über sie bei dir nachzudenken

9 [11]

[ ... ] Kaum klingt es jetzt glaublich, daß etwas Entgegengesetztes auch als gut gelten will und gegolten hat -"ich" mehr und stärker sagen als die gewöhnlichen Menschen, sich selber gegen sie durchsetzen, sich stemmen gegen jeden Versuch uns zum Werkzeug und Gliede zu machen, sich unabhängig machen, auf die Gefahr hin, die Anderen sich zu unterwerfen oder zu opfern, wenn die Unabhängigkeit nicht anders zu erreichen ist, einen Nothzustand der Gesellschaft jenen billigen ungefährlichen einheitlichen Wirthschaften vorziehen, und die kostspielige verschwenderische durchaus persönliche Art zu leben als Bedingung betrachten, damit "der Mensch" höher mächtiger fruchtbarer kühner ungewöhnlicher und seltener werde – damit die Menschheit an Zahl abnehme und an Werth wachse.

9 [12]

In den Sitten überleben uns unsre Ereignisse und Gedanken: falls sie kräftig genug waren Sitten zu bilden: aber wer dürfte in die Sitten der Gegenwart wie in einen Spiegel der Gegenwart sehen: wir müssen also in den Sitten der Gegenwart die Menschen und Dinge vor hundert und mehr Jahren suchen, nicht uns und unsre Erlebnisse: an diesen werden vielleicht unsre Enkel zu tragen haben!

9 [13]

[ ... ] dann muß man auch die deutschen langweiligen Frauen mit in den Kauf nehmen: welche zugleich trägen, mit sich zufriedenen Geistes als auch lebhaft, empfindlich und nachträgerisch sind. Aber auch ihnen sagt man nach, daß sie in außerordentlichen Lagen stark wie Löwinnen sind und fein genug, um durch ein Nadelöhr zu kriechen.

9 [14]

Der Mönch, der sich entweltlicht, durch Armut Keuschheit Gehorsam, der namentlich mit der letzteren Tugend, aber im Grunde mit allen dreien auf den Willen zur Macht Verzicht leistet: er tritt nicht sowohl aus der "Welt" als vielmehr aus einer bestimmten Cultur heraus, welche im Gefühl der Macht ihr Glück hat. Er tritt in eine ältere Stufe der Cultur zurück, welche mit geistigen Berauschungen und Hoffnungen den Entbehrenden Ohnmächtigen Vereinsamten Unbeweibten Kinderlosen schadlos zu halten suchte.

9 [15]

[ ... ] die vollkommene Erkenntniß würde uns muthmaaßlich kalt und leuchtend wie ein Gestirn um die Dinge kreisen lassen – eine kurze Weile noch! Und dann wäre unser Ende da, als das Ende erkenntnißdurstiger Wesen, welche am Ziehen von immer feineren Fäden von Interessen ein Spinnen-Dasein und Spinnen-Glück genießen – und die zuletzt vielleicht freiwillig, den dünnsten und zartesten Faden selber abschneiden, weil aus ihm kein noch feinerer sich ziehen lassen will. –

9 [16]

Das Genie wird verkannt und verkennt sich Selber, und dies ist sein Glück! Wehe, wenn es sich selber erkennt! Wenn es in die Selbstbewunderung, den lächerlichsten und gefährlichsten aller Zustände verfällt! Es ist ja am reichsten und fruchtbarsten Menschen nichts mehr, wenn er sich bewundert, er ist damit tiefer hinabgestiegen, geringer geworden als er war – damals, wo er sich noch an sich selber freuen konnte! Wo er noch an sich selber litt! Da hatte er noch die Stellung zu sich wie zu einem Gleichen! Da gab es noch Tadel und Mahnung und Scham! Schaut er aber zu sich hinauf, so ist er sein Diener und Anbeter geworden und darf nichts mehr thun als gehorchen, das heißt: sich selber nachmachen! Zuletzt schlägt er sich mit seinen eigenen Kränzen todt; oder er bleibt vor sich selber als Statue übrig, das heißt als Stein und Versteinerung!

9 [17]

"Es giebt so viele Morgenröthen, die noch nicht geleuchtet haben."

Rigveda.

 

[Dokument: Mappe mit losen Blättern]

[Frühjahr 1880 bis Frühjahr 1881]

10 [A1]

Ja wir wollen daß die Menschen mäßig und anständig und gerecht leben – aber Alle? Das wage ich nicht zu entscheiden. Die Menschheit <würde> zu rasch zu Ende sein!

10 [A2]

Unser Genie und unsere Tugend wächst mit unserem Haß.

10 [A3]

Wenn sehr liederliche M<enschen> endlich es satt haben und zu Predigern der Keuschheit werden, so ist dies ganz ehrlich – sie kennen die fürchterliche Seite der Sache (wie Sophocles dem Pericles einmal die Lehre gab:) allein oder behalten sie nur in Erinnerung, das Ekelhafte und Selbstverächtliche daran. – Dann giebt es wirklich M<enschen>, die die Wollust aus Hörensagen kennen und entsetzlich fürchten – auch diese predigen Keuschheit, nach der Bibel.

10 [A4]

die große Oper, französisch-italiänisch-jüdischer Herkunft

10 [A5]

Die Unfälle und tiefen Leiden sind durch nichts auszuschließen. Sollen wir darauf unser ganzes Leben und Sinnen einrichten? ataoaxia. Möglich ist sie. Aber tapfer ist sie nicht! (Semitisch.) – Aber nein! Wir wollen nicht uns das Gute verderben, und schließlich haben wir Ein Mittel – – – –

10 [A6]

Pfui, solche wohlfeilen Tugenden! Ein paar Blätter gegen Thierquälerei schreiben!

10 [A7]

Das Pathos des dramatischen Künstlers ist Gegenstand des Spottes wenn es sich anders als auf der Bühne zeigt – er ist vor allem eben Schauspieler.

10 [A8]

Man muß die Probe machen, wer von den Freunden und denen, welchen „unser Wohl am Herzen liegt", Stand hält: behandelt sie einmal grob.

10 [A9]

Gedächtniß: wir merken, daß wir uns der Sache nähern, wir erreichen eine Empfindung, die wir, als wir die Sache dachten, gelegentlich auch hatten.

10 [A10]

Wir sehen die Dinge leichtfertig, wenn wir uns so einseitigen Betrachtungen hingeben und fanatisch thun – es ist unsere Art Leichtfertigkeit. Wir wissen wohl, daß es unergründlich ist. Ein Künstler dagegen würde, wenn er so weit käme, Wunder meinen, wie streng und ernsthaft er geworden sei.

10 [A11]

Es giebt in Bezug auf Sachen Hingebung (von der aus Deduction) und Stolz (Induction)

10 [A12]

Das merkwürdigste Buch? NB

10 [A13]

Napoleon sagte oft, er allein habe den Gang der Revolution aufgehalten, nach ihm werde sie ihn fortsetzen. – "Er kannte seine Zeit ganz genau und bekämpfte sie fortwährend." "Er hat den Sinn aller Worte umgewandelt und alle Parteien entarten gemacht." R<émusat>

10 [A14]

Oft ist es nöthig, sich mit jemand zu verbünden, um ihn zu unterdrücken. Wenn wir als die besten Kenner von jemandem gelten, so wiegt unser Abfall furchtbar schwer.

10 [A15]

Dienste bezahlen, so daß nicht mehr von ihnen gesprochen wird. – Übertriebene Belohnungen erzeugen Pretention, aber keine Erkenntlichkeit. R<émusat>

10 [A16]

Die Seelen seiner Umgebung erheben, indem man seinen Glanz mit ihnen theilt: Napoleon gab nichts ab, er war eifersüchtig, er wollte allen Glanz haben – so verkleinerte er seine Umgebung und verstimmte sie.

10 [B17]

Die unmittelbare Nachahmung eines Gefühls und nachherige Unterschiebung eines Anlasses

Musik Däm<merung>

Woher diese Übung? Die Furcht hat dazu genöthigt, alle Gebärden nachzumachen, um Rückschlüsse über die Empfindung zu haben (beim Feind)

Innervation der Gesichter furchtsamer und gefallsüchtiger Frauen

Diese Fähigkeit nimmt ab unter stolzen selbstherrlichen Menschen – sie nimmt zu in ängstlichen Zeitaltern (das Verständniß der nachahmenden Künste wächst da)

10 [B18]

Woran liegt es, daß ich immer nach Menschen dürste, welche nicht Angesichts der Natur, eines Ganges auf den befestigten Höhen über Genua, klein werden! Weiß ich sie nicht zu finden?

10 [B19]

Die Aufgeregtheit, das Nervöse – ist eine fortwährende Ängstlichkeit.

10 [B20]

Wir lernen die Dinge nicht mehr kennen, weil keine Gefahr uns zwingt, sie kennen zu müssen. Es wird eine Liebhaberei daraus: und an ihrer Stelle auch eine Faulheit.

10 [B21]

Alles zusammenzustellen, worin ich vergebe. Über den Sünden stehen, sie zugeben.

10 [B22]

Die Epicureer Melancholiker mit schwachem Magen – daher ihre "Baucheslust"

10 [B23]

Horaz und Katull übersetzten aus dem Griechischen und machten alles Fremdartige zeitgemäß und rom-gemäß, mindestens rom-bekannt. Kein Romanticismus also!

10 [B24]

die Sache ist weder Raub noch Räuber werth ego

10 [B25]

Unsere erste Freude bei einem Dichter ist, einem Gedanken, einer Empfindung zu begegnen, die wir auch haben; z. B. Horaz, wenn er von seinem Landgut redet. Dann daß er unsere Gedanken so hübsch sagt! – er ehrt uns damit!

10 [B26]

Träume: die Kröte essen. – "Alpa Alpa, wer trägt seine Asche zu Berge?" – der blutige Mond.

10 [B27]

Ich bin oft beschämt darüber, wie gut ich es jetzt habe, und es spornt mich gewaltig an, zu denken, was Einer mit dieser Mus(se) machen könnte – und ich!

10 [B28]

Der Kriegszustand der Seele beginnt erst! Mag werden draus was da wolle: vorwärts! Falschheit verachten, alles Leiden heiter ertragen, was dabei uns trifft, im Hagel mit nacktem Leibe gehen – das Unrecht, das wir uns selber thun, verachten und ertragen – er spottet über "Gesundheit" "Wohlbefinden" usw.

10 [B29]

Auch beim Geringsten, was wir absichtlich thun, z. B. kauen, ist das Allermeiste unabsichtlich. Die Absicht bezieht sich auf ein ungeheures Reich von Möglichkeiten.

10 [B30]

Instinktiv die Menschen errathen. Carnot enthüllte Jourdan, Hoche, Bonaparte.

10 [B31]

Als ich Schopenhauer gleich meinem Erzieher feierte hatte ich vergessen, daß bereits seit langem keines seiner Dogmen meinem Mißtrauen Stand gehalten hatte; es kümmerte mich aber nicht, wie oft ich "schlecht bewiesen" oder "unbeweisbar" oder "übertrieben" unter seine Sätze geschrieben hatte, weil ich des mächtigen Eindrucks dankbar genoß, den Schopenhauer selber, frei und kühn vor die Dinge, gegen die Dinge hingestellt, auf mich seit einem Jahrzehnd geübt hatte. Als ich später Richard Wagner meine Verehrung bei einem festlichen Anlaß darbrachte, hatte ich wiederum vergessen, daß seine ganze Musik für mich auf einige hundert Takte, hierher und dorther entnommen, zusammengeschrumpft war, welche mir am Herzen lagen und denen ich am Herzen lag – es wird wohl noch jetzt der Fall sein – und nicht weniger hatte ich vergessen über dem Bilde dieses Lebens – dieses mächtigen, in eigenem Strome und gleichsam den Berg hinanströmenden Lebens – zu sagen, was ich von Richard Wagner in Ansehung der Wahrheit hielt. Wer möchte nicht gern anderer Meinung als Schopenhauer sein, habe ich immer gedacht – im Ganzen und Großen: und wer könnte Einer M<einung> mit Richard Wagner sein, im Ganzen und im Kleinen!

10 [B32]

Ce qui importe, ce ne sont point les personnes: mais les choses. Carnot.

Als (nach Victor Hugo) Napoleon perça sous Bonaparte, trat Carnot mit ihm in den Kampf, er sprach gegen das Consulat auf Lebenszeit er votirte für die Erhaltung der Republik. 1814 vergaß er das Kaiserthum, um sich zu erinnern, daß das Vaterland in Gefahr ist. Napoleon sagt "Carnot ich habe Sie zu spät kennengelernt." "Niemand hat mir so sehr den Eindruck der wahren Größe gegeben als Carnot" Niebuhr

10 [B33]

Zuspruch an einen Freund. Es ist noch nicht zu spät für dich, zur Größe des Charakters zu kommen.

10 [B34]

aus gleichende Naturen, welche unter Franzosen oder Amerikanern den Haß gegen die Deutschen, unter Deutschen den Haß gegen die Juden in sich durch ein absichtliches Wohlwollen ersetzen – nicht aus Widerspruch, sondern aus einem Bedürfniß der Gerechtigkeit. So gegen ganze geschichtliche Perioden gestimmt!

10 [B35]

Zehn Jahre Lehrer und nie gestraft.

10 [B36]

Heißes Wasser, im Freien und im Gehen geistig arbeiten, reinliche und sparsame Gewohnheiten, Vormittag in freier Luft; Zeiteintheilung von soldatischer Strenge. Abendliche Abrechnung im Geiste der antiken Philosophen.

10 [B37]

Wir glauben das Fatum nicht, bei schwachen Personen und wechselnden Dingen.

Unsere Meinungen über das Fatum sind Fatum.

Die Welt der Zweckmäßigkeit ist als Ganzes ein Stück der unzweckmäßigen vernunftlosen Welt.

1. Wollten wir das wirkliche Dasein intellektuell oder 2. moralisch abschätzen: so erscheint es niedrig intellektuell und niedrig moralisch. Und es wäre ein Ekel zu leben! Thun wir also diese Prädikate heraus aus der Welt! Auch das Individuum als ganzes ist so dumm und so unmoralisch wie die übrige Welt und selbst das beste Individuum darin!

Also entweder zu Grunde gehen wollen! oder loben und tadeln verlernen. Indifferenz

Preis der todten Welt. Die Triebe und ihre Entwicklung zeigen zuletzt ihre Unvernunft, sie widersprechen sich (in der Form des Intellekts, der das Dasein nicht mag) wie der Schmerz dasselbe zeigt.

Unsere Klugheit ist dem Dasein gewachsen

10 [B38]

Menschen um sich aussuchen, unter denen man sein ideales Menschenthum bewahren und zeigen kann. Sich zuerst die Aufgabe leichter machen, und dann fremdere Menschen allmählich in den Kreis hineinnehmen. – Zuerst aber seinen Kreis bilden, andere fortjagen.

Vielleicht führen wir so Zustände herbei, die die Selektions-Zweckmäßigkeit erst in Jahrtausenden und einer viel geschwächteren Menschheit bietet! (wie ihr Maaß von Intellekt nun einmal ist! = die Lichtverschwendung der Sonne usw.)

10 [B39]

Ich bin peinlich gerecht, weil es die Distanz aufrecht erhält.

10 [B40]

ich halte die Nähe eines Menschen nicht aus, der spuckt

10 [B41]

Welche Eigenschaften des Menschen ungünstig für Selection sind, also von Weibern nicht bevorzugt werden? Bücher sind Mittel, sie doch fortzupflanzen.

10 [B42]

Auch bei den Menschen Experimente nöthig wie bei Darwinismus.

10 [B43]

Irrsinn ohne Wahnvorstellungen (Affective Insanity)

a) Impulsiver Irrsinn, wo man willenlos folgen muß.

Manie sans délire

(vielleicht als abortive oder maskirte Epilepsie?)

10 [B44]

Der Neger versteckt den Fetisch, wenn er etwas nicht sehen soll, unter seinem Kleide.

10 [B45]

Bei den Südsee-Insulanern ist der Adel unsterblich, die Bürgerlichen nicht.

10 [B46]

1) Mein Erfolg bei den Schwarmgeistern: dessen war ich bald müde und mißtrauisch

2) ich habe nie über Nicht-Beachtung geklagt und kenne das Gefühl nicht.

3) ich hoffe schrittweise den höheren Naturen näher zu kommen, weiß aber kaum, wo sie sind und ob sie da sind! Bisher habe ich immer auch meine Lobredner und Tadler überwunden, wenn ich eine Stufe weiterging (und mich überwand)

10 [B47]

die Erhabenen suchen sich nachzuheben, dorthin, wo ihre Phantasie Halt machte – sie möchten so gerne über sich hinaus.

10 [B48]

Spencer meint, die Menschheit sei unvermerkt zu allem Richtigen gelangt, was ihr noth thut – zu Urtheilen, die mit der Wahrheit stimmen!! Unsinn! Das Gegentheil!

10 [B49]

Bismarck, dessen Verdienst ist den Deutschen das Vergnügen an den europäischen Partei-Schablonen zu verleiden.

10 [B50]

welche Heiterkeit ist jetzt möglich! wir haben die Gespenster verjagt und uns zur Unvernunft das Recht erworben: wir wollen nicht mehr klüger sein als die Welt es ist!

10 [B51]

Der Einzelne kann jetzt wirklich ein Glück erreichen, das der Menschheit unmöglich ist. Ehemals Adel: jetzt gehört nur dazu, daß man die Anderen als Sklaven fühlt, als unseren Dünger

10 [B52]

Ich wünsche der Wissenschaft etwas die Feierlichkeit zu nehmen – es ist jetzt eine Lustbarkeit geworden, da keine Sorgen hinter ihr sind. Ich glaube, es ist bald ein Überschuß von Geist da, der verschwendet werden muß!

10 [B53]

Bis jetzt machen wir uns die Dinge noch schwer (z.B. bei der Übervölkerung), weil wir nicht wagen, unsere neuen Werthschätzungen durchzuführen. Man muß es bald dem Leben anmerken, daß mit einem Überschuß von Geist gelebt wird!

10 [C54]

1. § Mensch der Erkenntniss, sein Werden, seine Aussichten.

2. § Ur-Moral

3. § Christenthum

4. § Zeit-Moral (Mitleid).

5. § Orientirung über die nächste Umgebung, Stände Völker usw.

6. § Aphorismen über die Affecte.

10 [D55]

Zuerst hat man in seiner intellektuellen Leidenschaft den guten Glauben: als die bessere Einsicht sich regt, tritt der Trotz auf, wir wollen nicht nachgeben. Der Stolz sagt, daß wir genug Geist haben, um auch unsere Sache zu führen. Der Hochmuth verachtet die Einwendungen, wie einen niedrigen trockenherzigen Standpunkt. Die Lüsternheit zählt sich die Freuden im Genießen noch auf und bezweifelt sehr, daß die bessere Einsicht so etwas leisten kann. Das Mitleid mit dem Abgott und seinem schweren Loose kommt hinzu, es verbietet seine Unvollkommenheiten so genau anzusehen: dasselbe und noch mehr thut die Dankbarkeit. Am meisten die vertrauliche Nähe, die Treue in der Luft des Gefeierten, die Gemeinsamkeit von Glück und Gefahr. Ah, und sein Vertrauen auf uns, sein Sichgehenlassen vor uns, es scheucht den Gedanken, daß er Unrecht habe, wie einen Verrath, eine Indiskretion von uns.

10 [D56]

Wenn das Gute an sich gut wäre, so wäre es eine Beschränkung von Gottes Allmacht: er schafft alles, dies gebietet und jenes verbietet er dem Geschaffenen, die Kraft zu beiden hat er ihm gegeben. Wäre es an sich gut und böse, so hätte Gottes Gebot und Verbot keine Nothwendigkeit. Wäre das An-sich zu erkennen, so brauchte der Mensch Gott und Priester nicht. Folglich dekretiren diese: die Moral ist nur von Gottes Befehl aus, nicht aus Nutzen und Nachtheil der Handlungen zu begreifen. Sie wehren diesen Standpunkt der Kritik der Handlungen ab.

10 [D57]

"Frühstücks-Schönheit"

10 [D58]

Ist denn die Moralität eines Priesters eine größere, weil er das Interesse der Kirche fortwährend zur Richtschnur hat, und sen eigenes dagegen zurücksetzt? Ist nicht dieses Empfinden als großer Complex nur eine stolzere Art von Selbstigkeit? Und ebenso bei der Mutter in Bezug auf ihr Kind? Bürger in Bezug auf den Staat? Diese "Entselbstung" ist ganz scheinbar: man lebt für seine Passion! und opfert etwas Geringeres von sich!

10 [D59]

Den Menschen der sympathischen und uninteressirten Handlungen als den moralischen anzusehen ist eine Mode, an der das Christenthum für Europa schuld sein mag. Sonst gilt der sich stark verantwortlich fühlende, für sein Heil und sein höchstes Interesse für moralisch, der "ich" noch mehr sagt als alle Anderen: selbst wenn er die Anderen dabei sich opfert, wie die großen Eroberer. Niemandem schaden, und ihm so viel als möglich nützen, sich aber am meisten – dies hat nicht als moralisch gegolten, weil man es für unmöglich ansah. Und mit Recht! So ist die Natur der Dinge nicht, daß man zwei entgegengesetzte Passionen zum Einklang bringen könnte. Indem wir da sind und indem wir uns durchsetzen und auf das Höchste ausbilden, müssen wir unser Interesse für höher achten als anderer und daraus die Kraft nehmen: man kann keinen Schritt weit thun, ohne irgend das Interesse eines Anderen zu verletzen. Schon weil wir es nicht genug kennen können, ist eine Richtschnur nach dem Interesse jedes Einzelnen und aller Anderen unmöglich. Ja, gegen uns selber ist es ebenso: was wir zu unserem Hauptinteresse dekretiren, das lebt auf Unkosten der anderen Interessen von uns. In uns selber ist jene Unmöglichkeit schon bewiesen. Die "Rechtlichkeit" die Schonung fremder Rechte ist nur in einem sehr groben Sinn möglich. Ihre Quelle ist eine feinere Ungerechtigkeit, es ist eine Existenzbedingung für einen sehr groben Begriff von "Existenz"! Aber das Existiren-wollen ist schon ungerecht.

10 [D60]

Es ist eine solche Anpassung wie sie Spencer im Auge hat denkbar, doch so daß jedes Individuum zu einem nützlichen Werkzeuge wird und sich auch nur so fühlt: also als Mittel, als Theil – also mit Aufhebung des Individualismus, nach dem einer Zweck und eine Ganzheit sein will, und zwar in beiden eine Einzigkeit! Diese Umbildung ist möglich, ja vielleicht läuft die Geschichte dahin! Aber dann werden die Einzelnen immer schwächer – es ist die Geschichte vom Untergang der Menschheit, wo das Princip der Uninteressirtheit des vivre pour autrui und die Socialität herrschen! Sollen die Einzelnen stärker werden, so muß die Gesellschaft ein Nothzustand bleiben und große Veränderungen immer zu erwarten haben: eine vorläufige Existenz immerfort führen.

10 [D61]

Ein Schritt weiter im Sinn für Wirklichkeit und er unterdrückt den abenteuernden Sinn, den Flug in's Freie, es erscheint als unerlaubt, auf so weniges Wissen, auf so schwache Analogien hin zu behaupten und auf diese Behauptungen hin zu vermuthen. Die spontane Überkraft geht im Joch der Vorsichtsmaßregeln, Aufsammlung des Materials, Skepsis in der Beurtheilung der einzelnen Materialstücke. Also – die intellektuelle Immoralität ist nothwendig, bis zu irgend einem undefinirbaren Grade.

10 [D62]

Bei Milton und Luther, wo die Musik zum Leben gehört, ist die mangelhafte fanatische Entwicklung des Verstandes und die Unbändigkeit des Hassens und Schimpfens vielleicht mit durch die Undisciplin der Musik herbeigeführt.

10 [D63]

In wiefern der Handelnde gegen sich – gewissenlos ist? –

Der Verstand, der die dritte vierte fünfte Folge einer That voraus erwägt, muß trotzdem irgendwo Halt machen und auf Unsicherheiten hin handeln d. h. mit dem Gefühle der unvollkommenen Einsicht in die Folgen doch thun als ob er sicher wäre in Bezug auf die Folgen: riskiren mit der Miene der Entschlossenheit und unbedingten Einsicht d. h. schauspielern oder sich selber täuschen, sein intellektuelles Gewissen zum Schweigen bringen.

10 [D64]

Der ungerechte Untergrund bei den Edelsten z. B. bei Christus

10 [D65]

Die sämmtlichen moralischen Qualitäten bei jedem Menschen in verschiedenen Verhältnissen: es sind Namen für unbekannte constitutive Verhältnisse der physischen Faktoren.

10 [D66]

Nothwendigkeit, eine wachsende füllende Erregung durch eine ausleerende Erregung (Wuth auslassen, Rachegedanken usw.) auszulösen. Beispiel: der Kopfkranke, der ein lautes Fest in der Nähe hat und endlich, weil der Schmerz zu groß ist, seine Gedanken auf einen Feind richtet und ihm im Geiste wehe thut: oder auch mit Fäusten sich selber schlägt. Hier ist etwas Unmoralisches das physisch gebotene Heilmittel gegen Wahnsinn: ein Beispiel, wie die unmoralischen Handlungen den Werth von Gesundheitsfaktoren haben.

10 [D67]

Objekt und Subjekt – fehlerhafter Gegensatz. Kein Ausgangspunkt für das Denken! Wir lassen uns durch die Sprache verführen.

10 [D68]

Jean Gerson: "Gott will gewisse Handlungen nicht, weil sie gut sind, sondern sie sind gut, weil er sie will, ebenso wie andere böse sind, weil er sie verbietet." Die Jesuit<en>.

10 [D69]

Der Zweck der Handlung und der Zweck des Handelnden zu unterscheiden.

10 [D70]

Escobar: "in Wahrheit, wenn ich an die Verschiedenheit des moralischen Gefühls denke, so denke ich, es ist das eine glückliche Wirkung (effet) der Vorsehung, denn die Verschiedenheit der Meinung hilft uns, das Joch des Herrn angenehmer zu tragen."

10 [D71]

Der beste und geistigste Mensch hat den groben beleidigenden Anblick des betrügenden und absichtlich sich bejahenden Menschen (auf Unkosten der Anderen) von seinen Augen entfernt, er hat sich in so feine und schleierhafte Sphären zurückgezogen, wo jenes Element engelhaft erscheint. Er ist der feinste Ungerechte, er hat verstanden, den Augenschein gegen seine Ungerechtigkeit zuhaben.

10 [D72]

99 Theile alles "Schaffens" ist Nachmachen, in Tönen oder Gedanken. Diebstahl, mehr oder weniger bewußt.

10 [D73]

Seid zehnmal kalt und unfreundlich gegen jemand, endlich ist es euer Gesetz, euer tägliches Quantum.

10 [D74]

Der übermäßige Gebrauch von Musik und geistigen Getränken, durch welchen die Verstandeskräfte eines Volkes leiden, während seine Affekte zunehmen – so daß, nach den zuverlässigsten Aufstellungen, die Deutschen an Selbstmördern alle V<ölker> übertreffen, und zwar im Verhältniß zu dem Reinerwerden der Rasse.

10 [D75]

Wir sind in das Zeitalter der diplomatischen Kunstfertigkeit eingetreten. Niemand glaubt mehr an ein Versprechen, an eine gründliche Untersuchung von Nothständen, an dauerhafte unveränderte Lage der Machtverhältnisse, man improvisirt und arbeitet mit verstellter Begünstigung bald dieser bald jener Meinung und Partei. Der Zweck heiligt die unheiligen Mittel nicht mehr, aber man vergißt sehr schnell.

10 [D76]

Wir können unsere "geistige Thätigkeit" ganz und gar als Wirkung ansehen, welche Objekte auf uns üben. Das Erkennen ist nicht die Thätigkeit des Subjekts, sondern scheint nur so, es ist eine Veränderung der Nerven, hervorgebracht durch andere Dinge. Nur dadurch daß wir die Täuschung des Willens herbeibringen und sagen "ich erkenne" im Sinne von "ich will erkennen und folglich thue ich es" drehen wir die Sache um, und sehen im Passivum das Aktivum. Aber auch das Wort Passiv-activ ist gefährlich!

10 [D77]

Jene Formen der Erkenntniß sind Erzeugnisse aus den Wirkungen anderer Dinge auf uns. Wir statten alle Dinge mit ihnen aus, weil alle Dinge uns mit ihnen ausgestattet haben. Unsere Thätigkeit ist scheinbar produktiv.

10 [D78]

Wie klein ist der Kreis des Idealismus bei den jungen Männern! Sie denken über Umgang Ehre Beförderung Einfluß so gering. Ja, sie sind in allem banaler, weil ihre Energie und ihr Schwung für jeden kleinen Bereich verbraucht wird. Und wie täuschen sie, wenn der Blick des Anderen darauf fällt!

10 [D79]

Das Vervollständigen (z. B. wenn wir die Bewegung eines Vogels als Bewegung zu sehen meinen) das sofortige Ausdichten geht schon in den Sinneswahrnehmungen los. Wir formuliren immer ganze Menschen aus dem, was wir von ihnen sehen und wissen. Wir ertragen die Leere nicht – dies ist die Unverschämtheit unserer Phantasie: wie wenig an Wahrheit ist sie gebunden und gewöhnt! Wir begnügen uns keinen Augenblick mit dem Erkannten (oder Erkennbaren!) Das spielende Verarbeiten des Materials ist unsere fortwährende Grund-Tätigkeit, Übung also der Phantasie. Man denke als Beweis, wie mächtig diese Thätigkeit ist, an das Spielen des Sehnervs bei geschlossenem Auge. Ebenso lesen wir, hören wir. Das genaue hören und sehen ist eine sehr hohe Stufe der Cultur – wir sind noch sehr fern davon. Die Lügnerei wird doch gar nicht darin gefühlt! Dieses spontane Spiel von phantasirender Kraft ist unser geistiges Grundleben: die Gedanken erscheinen uns, das Bewußtwerden, die Spiegelung des Prozesses im Prozeß ist nur eine verhältnißmäßige Ausnahme – vielleicht ein Brechen am Contraste.

10 [D80]

Sacharj. 9,9. J<esus> soll einziehen auf der lastbaren Eselin und dem Eselsfüllen. Die erstere – das sind die Juden, die an ihn glauben, sie haben das Joch des Gesetzes getragen. Das Füllen sind die Heiden, die gesetzlos lebten: aber Christus legte ihnen den Zügel seines Worts auf, da legten sie sich willig nieder und liessen sich alles, was er wollte, aufladen.

Das Abendmahl (eucharistische Mahl). Das Opfer des Weizenmehlkuchens war angeordnet für die, welche sich vom Aussatze reinigen wollten.

10 [D81]

Der Kampf um die Deutung des alten Testaments: nach alexandrinischer Methode wurde es ganz als ein Buch christlicher Lehre gedeutet.

Im Kampf mit den Juden, welche die messianischen Stellen anders auslegten. Justin spottet über deren exegetische Kunststücke.

10 [D82]

Eine Welt ohne Subjekt – kann man sie denken? Aber man denke sich jetzt alles Leben auf einmal vernichtet, warum könnte nicht alles andere ruhig weiter sich bewegen und genau so sein, wie wir es jetzt sehen? Ich meine nicht, daß es so sein würde, aber ich sehe nicht ein, warum man es sich nicht denken könnte. Gesetzt die Farben seien subjektiv – nichts sagt uns, daß sie nicht objektiv zu denken wären. Die Möglichkeit daß die Welt der ähnlich ist, die uns erscheint, ist gar nicht damit beseitigt, daß wir die subjektiven Faktoren erkennen.

Das Subjekt wegdenken – das heißt sich die Welt ohne Subjekt vorstellen wollen: ist ein Widerspruch: ohne Vorstellung vorstellen! Vielleicht giebt es hunderttausend subjektive Vorstellungen. Unsere menschliche wegdenken – da bleibt die der Ameise übrig. Und dächte man sich alles Leben fort und nur die Ameise übrig: hienge wirklich an ihr das Dasein? Ja, der Werth des Daseins hängt an den empfindenden Wesen. Und für die Menschen ist Dasein und werthvolles Dasein oft ein und dasselbe.

10 [D83]

Der Mensch entdeckt zuletzt nicht die Welt, sondern seine Tastorgane und Fühlhörner und deren Gesetze – aber ist deren Existenz nicht schon ein genügender Beweis für die Realität? Ich denke, der Spiegel beweist die Dinge.

10 [D84]

Sie machen's sich leicht und suchen mich aus dem Übergange in's andere Extrem zu verstehen – sie merken nichts von dem fortgesetzten Kampfe und den gelegentlichen wonnevollen Ruhepausen im Kampfe, merken nicht, daß diese früheren Schriften solchen entzückten Stillen, wo der Kampf zu Ende schien, entsprungen sind und wo man über ihn schon nachzudenken und sich zu beruhigen begann. Es war eine Täuschung. Der Kampf ging weiter. Die extreme Sprache verräth die Aufregung, die kurz vorher tobte und die Gewaltsamkeit, mit der man die Täuschung festzuhalten suchte.

10 [D85]

Der höchste Werth des phantasirenden Denkens (das Einige wohl auch gleich das produktive Denken nennen) ist, Möglichkeiten auszudenken und ihre Mechanismen des Gefühls einzuüben, welche später als Werkzeuge verwandt werden können zur Ergründung des wirklichen Seins. Es muß dies durch alle möglichen Versuche gleichsam erst errathen und als Beute des Zufalls entdeckt werden. Alle Mechanismen bei der großen Arbeit der strengen Forschung sind zuerst als "die Wahrheit" selber aufgestellt und eingeübt worden. Dichter und Metaphysiker sind insofern immer noch höchst wünschenswerth, sie suchen nach der möglichen Welt und finden hier und da etwas Brauchbares.

Es sind Versuchsstationen ebenfalls. Blinde Thiere, die fortwährend um sich greifen und etwas zu essen versuchen, entdecken Nahrungsmittel (gehen aber auch leichter zu Grunde oder entarten) Andere Thiere leben von den anerkannten Nahrungsmitteln.

10 [D86]

Man hatte auf Seiten der Heidenchristen durchaus kein Verständniß für Vorrecht des Israels und für alttestamentliche Institutionen.

10 [D87]

NB Fortsetzung der freiesten Erkenntniss und Leben mit provisorischem Charakter!

10 [D88]

19. Jahrhundert, Reaktion: man suchte die Grundprincipien alles dessen, was Bestand gehabt hatte, und suchte dies als wahr zu beweisen. Bestand, Fruchtbarkeit und gutes Gewissen galt als Indicium der Wahrheit! Dies die conservative Gesinnung: sie sammelten alles, was noch nicht erschüttert war, sie hatten den Egoismus der Besitzenden als stärksten Einwand gegen die Philosophie des 18. Jahrhunderts: für die Nichtbesitzenden und Unzufriedenen hatte man noch die Kirche, auch wohl die Künste (für einzelne sehr Begabte auch die Genieverehrung als Dank, wenn sie für die conservativen Interessen arbeiteten) Mit der Geschichte (neu!!!) bewies man, man begeisterte sich für die großen fruchtbaren Complexe, Culturen (Nationen!!!) genannt. Man warf einen ungeheuren Theil des Forschungseifers und ebenso des Verehrungssinns auf die Vergangenheit: die neuere Philosophie und die Naturwissenschaft giengen dieses Theils verlustig! – - jetzt ein Rückschlag! Die Historie bewies zuletzt etwas anderes als man wollte: sie erwies sich als das sicherste Vernichtungsmittel jener Principien. Darwin. Anderseits der skeptische Historismus als Nachwirkung, das Nachempfinden. Man lernte in der Geschichte die bewegenden Kräfte besser kennen, nicht unsere "schönen" Ideen! Der Socialismus begründet sich historisch, ebenfalls die nationalen Kriege aus Historie!

10 [E89]

Handeln und denken wie Viele Alle giebt ein Gefühl von Macht. "So wie keiner" – ist ein Zeichen vom G<efühl> d<er> M<acht>. – Die moralischen Vorschriften sind Nothbehelfe für die Indiv<iduen> welche sich nicht streng individuell erkennen und eine Norm außer sich haben müssen.

10 [E90]

Pflicht ein Zwang, bei dem unser Ind<ividuum> theilweise zu kurz kommt, theilweise zustimmt.

10 [E91]

Es ist nicht nöthig, die Thiere zu lieben, um die Menschen zu hassen. Wie Schopenhauer. Man denke an Voltaire, den Ersten, der –

10 [E92]

W<agner> der Erste unserer Zeit der hohe Ziele aus der Vereinigung der Künste erstrebt. Er hat das Experimentiren auf diesem Gebiete angefangen.

10 [E93]

Unsere Sinnenwelt ist gar nicht wirklich vorhanden, sie widerspricht sich: sie ist ein Trug der Sinne. Aber was sind dann die Sinne? Die Ursachen des Betrugs müssen real sein. Aber wir wissen von den Sinnen nur durch die Sinne, und das gehört mithin in die Welt des Truges. Somit trügt etwas, was wir nicht kennen, und sein erster Trug sind die Sinne. Unsere Vielheit gehört dazu: aber wie könnten wir Trugbilder zum Wissen um den Trug kommen? Wie könnte ein Traumbild wissen, daß es zum Traume gehöre? – Wir müssen folglich auch das sein, was trügt: d. h. wir müssen auch real sein, und zwar muß dorther unser Bewußtsein stammen, daß die Welt ein Trug ist, im rein Logischen: dies sind wir selber irgendwie. Also: wie kann das Wahre Wahrhafte die Ursache der Trugwelt sein? – Es muß sie nöthig haben: vielleicht ist das Wahre gequält wie ein Künstler und sucht eine Erlösung in lustvollen Vorstellungen und Bildern, eine Abziehung – die Wahrheit ist vielleicht der Schmerz, und der Schein ist eine Milderung, der Wechsel ist das Sichherumwerfen des schwer Leidenden, der eine bessere Lage sucht. Vielleicht aber auch ist das Wahre voller Lust und strömt über in Phantasien wie ein Künstler (Geburt der Tragödie) Die Welt ein aesthetisches Phänomen, eine Reihe von Zuständen am erkennenden Subjekt: eine Phantasmagorie nach dem Gesetze der Causalität. Daß der intellektuelle Prozeß erst am Thierreich hervortritt und ohne Thier keine Welt da sein könnte, gehört mit hinein in jenes Theaterspiel, das das Subjekt sich selber spielt: es ist ein Wahn. Die Geschichte ist eine Vermeintlichkeit – nichts mehr; die Causalität das Mittel, um tief zu träumen, das Kunststück, um über die Illusion sich zu täuschen, der feinste Apparat des artistischen Betruges.

10 [E94]

Die verkehrte Welt: die Brutstätte des Fanatismus.

Für gewöhnlich im Unglauben leben und handeln, wie der Christ – aber in einzelnen Momenten sein Leben und sich selber verurtheilen – dieser fluchwürdige Zustand, in dem das Leben nichts taugen darf, damit die Phantasterei weniger fremdartiger Minuten die Bedeutung des Daseins aufzuschließen scheine! Wir wollen diese Denkweise welche in dem kleinen oder großen Irrsinn den Richter und Verurtheiler des Daseins erkennt, nicht mehr in der Philosophie dulden und uns dagegen sträuben daß sie unter dem Schleier der Kunst geborgen weiter lebe. – Sind wir hier ohne Toleranz? Von neuem fanatisch? – Man sehe erst zu, was wir thun wollen: nichts mehr und nichts weiteres als uns nicht mehr um die verkehrte Welt kümmern.

10 [E95]

Die Welt, soweit wir sie erkennen können, ist unsere eigene Nerventhätigkeit, nichts mehr.

10 [E96]

Die anderen Religionen sind gegen die wirklichen Übel, das Christenthum gegen die moralischen Übel (zum Theil eingebildete)

10 [F97]

Die Müdigkeit bringt für den Denker einen Vortheil mit sich: sie läßt auch jene Gedanken hervorlaufen, die wir uns sonst, bei mehr Haltung und folglich bei mehr Verstellung, nicht eingestehen würden. Wir werden lässig, uns selber etwas vorzumachen, und siehe! da kommt die Wahrheit über uns.

10 [F98]

Amor und Psyche. – Wenn das Auge gar zu unverschämt in das Vergnügen der Sinne blickt, so ist das Vergnügen sehr schnell etwas Widerliches. Man muß es wie die Griechen verstehen, Götter und Phantastereien einzumischen und die groben Augen einzuhüllen; man muß vergessen können oder mindestens Vieles nie geradezu mit Namen nennen; das Vergnügen muß den Intellekt beschleichen, wenn er schläft oder träumt.

10 [F99]

"Du bist glücklich! Jedesmal wenn dein Charakter auf die Höhe seiner Fluth kommt, kommt auch dein Intellekt auf die seine." B: Du vergißt etwas!

10 [F100]

Die Eigenschaften eines Dinges erregen unsere Empfindungen z. B. daß es grau ist, und die Gestalt, die Art von Bewegung, vor allem sein Vorhandensein als Körper und Substanz – alles ist mit Lust- und Unlustempfindungen und folglich mit Vertrauen, Neigung, Lust zur Annäherung oder Furcht usw. verknüpft. Dasselbe Ding kann uns vermöge seiner verschiedenen Eigenschaften anziehen und Furcht einflößen. – Daß seine Eigenschaften aber solche Empfindungen erregen, das ist Urtheil – und dies Urtheil setzt Erfahrungen voraus und Glauben an Gleichheit in den Erfahrungen. Zuletzt aber setzt auch die älteste Erfahrung wieder Urtheil voraus, also Auslegung eines Reizes, so daß er entweder lust- oder schmerzvoll ist. "Vermehrt dieser Reiz unsere Kraft oder vermindert er sie?" Kurz, ein Urtheil ist die Quelle, daß Kraftgefühl dabei entsteht oder sich vermindert. – Also die Wirkungen der Dinge sind zuletzt angenehm oder unangenehm, je nachdem wir an die Förderung unserer Kraft dabei glauben oder nicht. Dieser Glaube aber kann nicht wieder auf Erfahrung zurückgehen, sondern müßte – aus dem dabei entstehenden Kraftgefühl seinen Ursprung nehmen. Man glaubt an Kraft, wo man das Kraftgefühl hat. Kraftgefühl gilt als Beweis von Kraft. Nach diesem Beweis wandelt sich die Reizempfindung in Lust: – also: Alle Eigenschaften eines Dinges sind in Wahrheit Reize in uns, welche theils das Kraftgefühl mehren, theils es vermindern: jedes Ding ist eine Summe von Urtheilen (Befürchtungen, Hoffnungen, einiges flößt Vertrauen ein, anderes nicht) je mehr wir nun die Physik kennen, um so weniger phantastisch wird diese Summe von Urtheilen (die falschen Subsumirungen fallen weg z. B. alles was schwarz ist, ist gefährlich) – Zuletzt begreifen wir: ein Ding ist eine Summe von Erregungen in uns: weil wir aber nichts Festes sind, ist ein Ding auch keine feste Summe. Und je mehr wir Festigkeit in die Dinge zu legen wissen, – – –

10 [F101]

Zum Beweise dafür, daß ein Skeptiker mitunter sehr ausgelassener Schwärmerei bedarf, um dann wieder besänftigt ins Land des "Vielleicht-und-Vielleicht-auch-nicht" zurückzukehren: will ich erzählen, welche Sätze mir jüngst meine schwärmenden Tauben aus den Wolken heimgebracht haben. Erstens: die gewöhnlichste Form des Wissens ist die ohne Bewußtheit. Bewußtheit ist Wissen um ein Wissen. Empfindung und Bewußtheit haben alles Wesentliche gemeinsam und mögen dasselbe sein. Die erste Entstehung einer Empfindung ist die Entstehung eines Wissens um ein Wissen: ein Vorgang, der nichts Schwieriges und Geheimnißvolles enthält, da er dem Wissen nur eine Veränderung der Richtung giebt – und dazu reichen zufällige Anstöße aus, die man vielleicht errathen kann. Bevor es Empfindung gab, gab es längst – nämlich immer – Wissen: Wiedererkennen und Schließen als seine Funktionen. Das Wissen ist die Eigenschaft aller treibenden Kräfte – es kommt auf Eins hinaus zu sagen, es sei die Eigenschaft der Materie, vorausgesetzt, daß man weiß, was Materie ist: die treibende Kraft als das Vorurtheil unserer Sinne gedacht: so daß Kraft und Materie Eins sind, entweder als ein An sich bezeichnet oder, nach der Relation zu unseren Sinnen, als Grenze unseres Empfindens für die Kraft bezeichnet. Die treibenden Kräfte sind nichts Letztes und der Analyse schlechthin Widerstrebendes, wie Schopenhauer meinte, der sie als den "Willen" verstand: wir können in ihnen noch das Wissen begrifflich absondern als ihre Eigenschaft: ohne Wiedererkennen und Schließen giebt es keinen Trieb, kein Treiben und Wollen. Der Intellekt (und nicht die Empfindung) ist "dem Wesen der Dinge" eingeboren; Empfindung ist ein Zufall in der Geschichte seiner Richtungen und nichts an sich Neues. Um die ersten Sätze der Mechanik zu verstehen, muß man den treibenden Kräften ein Wiedererkennen und Schließen geben – aber keine Bewußtheit darum, keine Empfindung. Das Wiedererkennen und Schließen aber setzt Mehrheit, aber Einartigkeit von Kräften voraus, mindestens Zweiheit. Der Irrthum im Wiedererkennen und Schließen ist erst möglich, seit es Empfindung giebt. – So! Nun fliegt zurück, ihr Tauben und gebt den Wolken, was der Wolken ist!

 

 

[Dokument: Manuskript]

[Herbst 1881]

11 [1]

Gleichgültig sch gegen Lob und Tadel machen; Recepte dafür. Dagegen einen Kreis sich stiften, der um unsere Ziele und Maaßstäbe weiß und der Lob und Tadel für uns bedeutet.

11 [2]

Den Begriff der Ernährung erweitern; sein Leben nicht falsch anlegen, wie es die thun, welche bloß ihre Erhaltung im Auge haben.

Wir müssen unser Leben nicht uns durch die Hand schlüpfen lassen, durch ein "Ziel" – sondern die Früchte aller Jahreszeiten von uns einernten.

Wir wollen nach den Andern, nach allem, was außer uns ist, trachten als nach unserer Nahrung. Oft auch sind es die Früchte, welche gerade für unser Jahr reif geworden sind. – Muß man denn immer nur den Egoismus des Räubers oder Diebes haben.? Warum nicht den des Gärtners? Freude an der Pflege der Andern, wie der eines Gartens!

11 [3]

Ehemals glaubte man, in der Alchymie, mit moralischen Begriffen (Verwandtschaft Freundschaft Trieb usw.) alles zu erklären. Das Reich der Moral wird immer kleiner.

Ein einzelnes Medikament (z. B. Chinin) und seine "moralischen" Wirkungen zum Beispiel gebrauchen!

11 [4]

La Rochef<oucauld> irrt sich nur darin, daß er die Motive, welche er für die wahren hält, niedriger taxirt als die anderen angeblichen: d.h. er glaubt im Grunde noch an die andern und nimmt den Maaßstab daher: er setzt den Menschen herab, indem er ihn gewisser Motive für unfähig hält.

11 [5]

Unser Instinkt der Triebe greift in jedem Falle nach dem nächsten ihm Angenehmen: aber nicht nach dem Nützlichen. Freilich ist in unzähligen Fällen (namentlich wegen der Zuchtwahl) das dem Triebe Angenehme eben auch das Nützliche! – Der Mensch, hochmüthig auch wo er Gründen und Zwecken nachspürt, macht im Moralischen die Augen zu vor dem Angenehmen: er gerade will, daß seine Handlungen als Consequenz der vernünftigen Absicht auf dauernden Nutzen erscheinen: er verachtet das Momentan-Angenehme -: obschon gerade dies der Hebel aller seiner Kräfte ist.

Das Kunststück des glücklichen Lebens ist, die Lage zu finden, in der das Momentan-Angenehme auch das dauernd Nützlichste ist, wo die Sinne und der Geschmack dasselbe gut heißen, was die Vernunft und Vorsicht gut heißt.

11 [6]

Die Lebensweise der Frauen, welche im Wesentlichen ernährt werden und nicht arbeiten, könnte sofort in eine philosophische Existenz umgewandelt werden! Aber man sehe sie vor einem Schauladen voller Putz und Wäsche!

11 [7]

Hauptgedanke! Nicht die Natur täuscht uns, die Individuen und fördert ihre Zwecke durch unsre Hintergehung: sondern die Individuen legen sich alles Dasein nach individuellen d. h. falschen Maaßen zurecht; wir wollen damit Recht haben und folglich muß "die Natur" als Betrügerin erscheinen. In Wahrheit giebt es keine individuellen Wahrheiten, sondern lauter individuelle Irrthümer – das Individuum selber ist ein Irrthum. Alles was in uns vorgeht, ist an sich etwas Anderes, was wir nicht wissen: wir legen die Absicht und die Hintergehung und die Moral erst in die Natur hinein. – Ich unterscheide aber: die eingebildeten Individuen und die wahren Lebens-systeme", deren jeder von uns eins ist – man wirft beides in eins, während "das Individuum" nur eine Summe von bewußten Empfindungen und Urtheilen und Irrthümern ist, ein Glaube, ein Stückchen vom wahren Lebenssystem oder viele Stückchen zusammengedacht und zusammengefabelt, eine "Einheit", die nicht Stand hält. Wir sind Knospen an Einem Baume – was wissen wir von dem, was im Interesse des Baumes aus uns werden kann! Aber wir haben ein Bewußtsein, als ob wir Alles sein wollten und sollten, eine Phantasterei von "Ich" und allem "Nicht-Ich ". Aufhören, sich als solches phantastisches ego zu fühlen! Schrittweise lernen, das vermeintliche Individuum abzuwerfen! Die Irrthümer des ego entdecken! Den Egoismus als Irrthum einsehen! Als Gegensatz ja nicht Altruismus zu verstehen! Das wäre die Liebe zu den anderen vermeintlichen Individuen! Nein! Über mich" und "dich" hinaus! Kosmisch empfinden!

11 [8]

Der Egoismus als der allgemeine "Größenwahn" – ebenso abzuleiten – physiologisch.

11 [9]

Die bösen aber unentbehrlichen Triebe ebenso zu züchten, wie den der Verstellung (in der Kunst) also unschädlich. Die Parallele zur "Kunst" zu suchen!

11 [10]

Das Erkennenwollen der Dinge, wie sie sind – das allein ist der gute Hang: nicht das Hinsehen nach, Anderen und das Sehen mit anderen Augen – das wäre ja nur ein Ortswechsel des egoistischen Sehens! Wir wollen uns von der großen Grundverrücktheit heilen, alles nach uns zu messen: Selbstliebe ist ein falscher zu enger Ausdruck; Selbsthaß und alle Affekte sind fortwährend thätig mit diesem kurzen Sprunge; als ob alles zu uns hinstrebe. Man geht durch die Gassen und meint, jedes Auge gelte uns: und was wäre es, wenn ein Auge und ein Wort uns wirklich gilt! – nicht mehr, als es uns angeht, wenn der Blick und das Wort einem Zweiten gilt – wir sollten persönlich eben so gleichgültig sein können! Vermehrung der Gleichgültigkeit! Und dazu Übung, mit anderen Augen sehen: Übung, ohne Menschliche Beziehungen, also sachlich zu sehen! Den Menschen-Größenwahn kuriren! Woher kommt er? Von der Furcht: alle geistige Kraft mußte immer schnell zum persönlich-Sehen zurückspringen. Es ist schon das thierische Leiden. Die höchste Selbstsucht hat ihren Gegensatz nicht in der Liebe zum Andern!! Sondern im neutralen sachlichen Sehen! Die Leidenschaft für das trotz allen Personen-Rücksichten, trotz allem "Angenehmen" und Unangenehmen "Wahre" ist die höchste – darum Seltenste bisher!

11 [11]

Man muß den Menschen Muth zu einer neuen großen Verachtung machen z. B. der Reichen, der Beamten usw. Jede unpersönliche Form des Lebens muß als gemein und verächtlich gelten.

A. Wie viel brauche ich, um gesund und angenehm für mich zu leben?

B. Wie erwerbe ich dies so, daß das Erwerben gesund und angenehm ist und meinem Geiste zu Statten kommt, zumal als Erholung?

c. Wie habe ich von den Anderen zu denken, um von mir möglichst gut zu denken und im Gefühle der Macht zu wachsen?

d. Wie bringe ich die Anderen zur Anerkennung meiner Macht?

e. Wie organisirt sich der neue Adel als der Machtbesitzende Stand? Wie grenzt er die Anderen von sich ab, ohne sie sich zu Feinden und Widersachern zu machen?

11 [12]

Das was einer zweckbewußten Handlung vorhergeht, im Bewußtsein z. B. das Bild des Kauens dem Kauen, ist gänzlich unbestimmt: und wenn ich es wissenschaftlich genauer mache, so ist dies auf die Handlung selber ohne Einfluß. Eine Unzahl von einzelnen Bewegungen werden vollzogen, von denen wir vorher gar nichts wissen, und die Klugheit der Zunge z. B. ist viel größer als die Klugheit unseres Bewußtseins überhaupt. Ich leugne, daß diese Bewegungen durch unseren Willen hervorgebracht werden; sie spielen sich ab, und bleiben uns unbekannt – auch ihren Prozeß vermögen wir nur in Symbolen (des Tastsinns Hörens Sehens von Farben) und in einzelnen Stücken und Momenten zu fassen – sein Wesen, eben so wie der fortdauernde Verlauf bleiben uns fremd. Vielleicht stellt die Phantasie dem wirklichen Verlaufe und Wesen etwas entgegen, eine Erdichtung, die wir gewohnt sind als das Wesen zu nehmen.

11 [13]

Wir hören wenig und unsicher, wenn wir eine Sprache nicht verstehen, die um uns gesprochen wird. Ebenso bei einer Musik, die uns fremd ist, wie die chinesische. Das Gut hören ist also wohl ein fortwährendes Errathen und Ausfüllen der wenigen wirklich wahrgenommenen Empfindungen. Verstehen ist ein erstaunlich schnelles entgegenkommendes Phantasiren und Schließen: aus zwei Worten errathen wir den Satz (beim Lesen): aus einem Vokal und 2 Consonanten ein Wort beim Hören, ja viele Worte hören wir nicht, denken sie aber als gehört. – Was wirklich geschehen ist, ist nach unserem Augenschein schwer zu sagen; – denn wir haben fortwährend dabei gedichtet und geschlossen. Ich habe öfter beim Sprechen mit Personen ihren Gesichtsausdruck so deutlich vor mir, wie ihn meine Augen nicht wahrnehmen können: es ist eine Fiktion zu ihren Worten, die Auslegung in Gebärden des Gesichts.

Ich vermuthe, daß wir nur sehen, was wir kennen; unser Auge ist in der Handhabung zahlloser Formen fortwährend in Übung: – der größte Teil des Bildes ist nicht Sinneneindruck, sondern Phantasie-Erzeugniß. Es werden nur kleine Anlässe und Motive aus den Sinnen genommen und dies wird dann ausgedichtet. Die Phantasie ist an Stelle des "Unbewußten" zu setzen: es sind nicht unbewußte Schlüsse als vielmehr hingeworfene Möglichkeiten, welche die Phantasie giebt (wenn z. B. Sousreliefs in Reliefs für den Betrachter umschlagen).

Unsere "Außenwelt" ist ein Phantasie-Produkt wobei frühere Phantasien als gewohnte eingeübte Thätigkeiten wieder zum Bau verwendet werden. Die Farben, die Töne sind Phantasien, sie entsprechen gar nicht exakt dem mechanischen wirklichen Vorgang, sondern unserem individuellen Zustande. – –

11 [14]

Das Ich – nicht zu verwechseln mit dem organischen Einheitsgefühle. –

11 [15]

Unklar listig gewaltsam und von früher her verwöhnt, durch geringe und servile Umgebung. – er hält die Unklarheit über alle Principien aufrecht, um sich bald so bald so seinem Vortheile gemäß zu stellen.

11 [16]

Angebliche Zweckmäßigkeit der Natur – bei der Selbstsucht, dem Geschlechtstrieb, wo man sagt, sie benutze das Individuum, bei der Lichtausströmung der Sonne usw. – alles Erdichtungen! Es ist vielleicht die letzte Form einer Gottes-Vorstellung – aber dieser Gott ist nicht sehr klug und sehr unbarmherzig. Leopardi hat die böse Stiefmutter Natur, Schopenhauer den "Willen". – Vielleicht kann man mit solchen anscheinenden Zweckthätigkeiten die Zweckthätigkeit des Menschen aufhellen. Es wird etwas erreicht, und das was erreicht wird und das was dazu alles geschieht, ist von dem Bilde, welches vorher im Kopfe des Wollenden ist, total verschieden – es führt keine Brücke hinüber. "Ich esse, um mich zu sättigen" – aber was weiß ich von dem, was Sättigung ist! In Wahrheit wird die Sättigung erreicht, aber nicht gewollt – die momentane Lustempfindung bei jedem Bissen, so lange Hunger da ist, ist das Motiv: nicht die Absicht "um", sondern ein Versuch bei jedem Bissen, ob er noch schmeckt. Unsere Handlungen sind Versuche, ob dieser oder jener Trieb daran seine Freude habe, bis in's Verwickeltste hinein, spielende Äußerungen des Dranges nach Thätigkeit, welche wir durch die Theorie der Zwecke mißdeuten und falsch verstehen. Wir bewegen unsere Fangarme – und dieser oder jener Trieb findet in dem, was wir fangen, seine Beute und macht uns glauben, wir hätten beabsichtigt, ihn zu befriedigen.

11 [17]

Sein schlechter Charakter folgt ihm auf die höchsten Gipfel seines Genie's. –

11 [18]

Umfang der dichterischen Kraft: wir können nichts thun, ohne nicht vorher ein freies Bild davon zu entwerfen – (ob wir freilich nicht wissen, wie sich dies Bild zur Handlung verhält, die Handlung ist etwas Wesentlich-Anderes und verläuft in uns unzugänglich en Regionen). Dies Bild ist sehr allgemein, ein Schema – wir meinen, es sei nicht nur die Richtschnur, sondern die bewegende Kraft selber. Zahllose Bilder haben keine Aktivität nach sich, davon sehen wir ab: die Fälle, wo sich hernach etwas begiebt, was "Wir gewollt" haben, bleiben im Gedächtniß. – Aller unserer Entwicklung läuft ein Idealbild voraus, das Erzeugniß der Phantasie: die wirkliche Entwicklung ist uns unbekannt. Wir müssen dies Bild machen. Die Geschichte des Menschen und der Menschheit verläuft unbekannt, aber die Idealbilder und deren Geschichte scheint uns die Entwicklung selber. Die Wissenschaft kann sie nicht schaffen, aber die Wissenschaft ist eine Hauptnahrung für diesen Trieb: wir scheuen auf die Dauer alles Unsichere Erlogene, diese Furcht und dieser Ekel fördern die Wissenschaft. Jener dichterische Trieb soll errathen, nicht phantasiren, aus wirklichen Elementen etwas Unbekanntes errathen: er braucht die Wissenschaft d. h. die Summe des Sicheren und Wahrscheinlichen, um mit diesem Material dichten zu können. Dieser Vorgang ist schon im Sehen . Es ist eine freie Produktion in allen Sinnen, der größte Theil der sinnlichen Wahrnehmung ist errathen. Alle wissenschaftlichen Bücher langweilen, die diesem errathen wollenden Triebe kein Futter geben: das Sichere thut uns nicht wohl, wenn es nicht Nahrung für jenen Trieb sein will!

11 [19]

Vielleicht lassen sich alle moralischen Triebe auf das Haben-wollen und Halten-wollen zurückführen. Der Begriff des Habens verfeinert sich immer, wir begreifen immer mehr, wie schwierig es ist zu haben und wie sich das scheinbare Besitzthum immer noch uns zu entziehen weiß – so treiben wir das Haben in's Feinere: bis zuletzt das völlige Erkennen des Dinges die Voraussetzung ist, um es zu erstreben: oft genügt uns das völlige Erkennen schon als Besitz, es hat keinen Schlupfwinkel mehr vor uns und kann uns nicht mehr entlaufen. Insofern wäre Erkenntniß die letzte Stufe der Moralität. Frühere sind z. B.: ein Ding sich zurecht phantasiren und nun zu glauben, daß man es ganz besitze, wie der Liebende mit der Geliebten, der Vater mit dem Kinde: welcher Genuß nun am Besitz! – aber uns genügt da der Schein. Wir denken uns die Dinge, die wir erreichen können, so, daß ihr Besitz uns höchst werthvoll erscheint: wir machen den Feind, über den wir zu siegen hoffen, für unseren Stolz zurecht: und ebenso das geliebte Weib und Kind. Wir haben zuerst eine ungefähre Berechnung was wir alles überhaupt erbeuten können – und nun ist unsere Phantasie thätig, diese zukünftigen Besitzthümer uns äußerst werthvoll zu machen (auch Ämter Ehren Verkehr usw.). Wir suchen die Philosophie, die zu unserem Besitz paßt d.h. ihn vergoldet. Die großen Reformatoren, wie Muhammed, verstehen dies, den Gewohnheiten und <dem> Besitz der Menschen einen neuen Glanz zu geben – nicht "etwas Anderes" sie erstreben zu heißen, sondern das was sie haben wollen und können, als etwas Höheres zu sehen (mehr Vernunft und Weisheit und Glück darin zu "entdecken" als sie bis jetzt darin fanden). – Sich selber haben wollen: Selbstbeherrschung usw.

11 [20]

Hauptfrage: wonach ist die Werthtafel der Güter gemacht und verändert worden? So daß ein Eigenthum begehrenswerther als ein anderes schien?

Was leicht zu haben war (wie z. B. Nahrung) wurde verhältnißmäßig unterschätzt. Die Werthtafel stimmt gar nicht mit den Graden des Nutzens (gegen Spencer).

11 [21]

Die Geschichte des Ich gefühls zu beschreiben: und zu zeigen, wie auch im Altruismus jenes Besitzenwollen das Wesentliche ist. Zu zeigen, wie nicht im Begriff "Nicht-ich und Ich" der Hauptfortschritt der Moral liegt, sondern im schärfer-Fassen des Wahren im Anderen und in mir und in der Natur, also das Besitzenwollen immer mehr vom Scheine des Besitzes, von erdichteten Besitzthümern zu befreien, das Ichgefühl also vom Selbstbetruge zu reinigen. Vielleicht endet es damit, daß statt des Ich wir die Verwandtschaften und Feindschaften der Dinge erkennen, Vielheiten also und deren Gesetze: daß wir vom Irrthum des Ich uns zu befreien suchen (der Altruismus ist auch bisher ein Irrthum). Nicht "um der Anderen willen", sondern "um des Wahren willen leben"! Nicht "ich und du!" Wie könnten wir "den Anderen" (der selber eine Summe von Wahn ist!) fördern dürfen! Das Ichgefühl umschaffen! Den persönlichen Hang schwächen! An die Wirklichkeit der Dinge das Auge gewöhnen! Von Personen soviel wie möglich vorläufig absehen! Welche Wirkungen muß dies haben! Über die Dinge Herr zu werden suchen und so sein Besitzen-wollen befriedigen! Nicht Menschen besitzen wollen! – Aber heißt dies nicht auch, die Individuen schwächen? Es ist etwas Neues zu schaffen: nicht ego und nicht tu und nicht omnes!

NB. Keinen Besitz in der Jugend erstreben müssen und wollen! : ebenso kein Ansehen, um über Andere zu befehlen – diese beiden Triebe gar nicht zu entwickeln! Uns von den Dingen besitzen lassen (nicht von Personen) und von einem möglichst großen Umfange wahrer Dinge! Was daraus wächst, ist abzuwarten: wir sind Ackerland für die Dinge. Es sollen Bilder des Daseins aus uns wachsen: und wir sollen so sein, wie diese Fruchtbarkeit uns nöthigt zu sein: unsere Neigungen Abneigungen sind die des Ackerlandes, das solche Früchte bringen soll. Die Bilder des Daseins sind das Wichtigste bisher gewesen – sie herrschen über die Menschheit.

11 [22]

Die Erziehung des Genius.

11 [23]

NB! Die Wissenschaft lieben, ohne an ihren Nutzen zu denken! Aber vielleicht ist sie ein Mittel, den Menschen in einem unerhörten Sinne zum Künstler zu machen! Bisher sollte sie dienen. – Eine Reihenfolge schöner Experimente ist einer der höchsten Theatergenüsse.

11 [24]

NB. "Der chemische Prozeß ist stets größer als der Nutzeffekt" Mayer. "Durch gute Dampfmaschinen wird ungefähr 1/20, durch Geschütze 1/10, durch Säugethiere 1/5 der Verbrennungswärme in mechanischen Effekt umgesetzt." Zur Verschwendung der Natur! Dann die Sonnenwärme bei Proctor! Der Staat im Verhältniß zu seinem Nutzen! Der große Geist! Unsere intellektuelle Arbeit im Verhältniß zu dem Nutzen, den die Triebe davon haben! Also keine falsche "Nützlichkeit als Norm"! Verschwendung ist ohne Weiteres kein Tadel: sie ist vielleicht nothwendig. Auch die Heftigkeit der Triebe gehört hierher.

11 [25]

Die Innervation "übt ihre Herrschaft über die Muskelaktion aus, wahrscheinlich ohne merklichen Aufwand einer physischen Kraft, ohne eine elektrische Strömung und ohne einen chemischen Prozeß überhaupt" nach Mayer – "wie der Kraftaufwand des Maschinisten etwas verschwindend Kleines ist." (Contakt – Einfluß der motorischen Nerven.)

11 [26]

Die Sinne der Menschen im Fortschritt der Civilisation sind schwächer geworden, Augen und Ohren: weil die Furcht geringer wurde und der Verstand feiner. Vielleicht wird mit der Vermehrung der Sicherheit die Feinheit des Verstandes nicht mehr nöthig sein: und abnehmen: wie in China! In Europa hat der Kampf gegen das Christenthum, die Anarchie der Meinungen und die Concurrenz der Fürsten Völker und Kaufleute bis jetzt den Verstand verfeinert.

11 [27]

Wir treten in das Zeitalter der Anarchie dies aber ist zugleich das Zeitalter der geistigsten und freiesten Individuen. Ungeheuer viel geistige Kraft ist in Umschwung. Zeitalter des Genies: bisher verhindert durch Sitten Sittlichkeit usw.

11 [28]

Verstimmung als verhinderte Auslösung. Grundsatz.- nicht die Auslösungen, so gewaltsam sie auch sein mochten, gaben der Menschheit den meisten Schaden, sondern die Verhinderung derselben. Verstimmung, krankhafte Mißgefühle haben wir zu beseitigen – aber dazu gehört der Muth, das Schreckliche der Auslösungen anders und günstiger zu beurtheilen. Attentate sind besser als schleichende Verdrießlichkeiten. Morde Kriege usw. offene Gewalt das Böse der Macht soll gut heißen: wenn das Böse der Schwäche von jetzt ab böse zu nennen ist.

11 [29]

Irrthum der positiven Philosophie nachzuweisen: sie will die Anarchie der Geister vernichten, und sie wird den dumpfen Druck unbefriedigter Auslösung hervorbringen (wie China)!

11 [30]

Über die Beschäftigung mit der Wissenschaft giebt es noch keine schöne und gesunde Sitte. Man überträgt gedankenlos die Gewohnheiten anderer Beschäftigungen z. B. des Beamten, Commis, Gärtners, Arbeiters. Der Adel ist deshalb im Großen so fruchtbar, weil er vornehme Sitten hinzubrachte: die vornehmste ist, die Langeweile aushalten zu können. In der That, der wissenschaftliche Mensch muß sich täglich mehrere Stunden auf sich beschränken und da oft die Gedanken nicht gleich kommen, viel Langeweile ohne Ungeduld hinnehmen. Die Inder verstanden dies!

11 [31]

Viele unserer Triebe finden ihre Auslösung in einer mechanischen starken Thätigkeit, die zweckmäßig gewählt sein kann : ohne dies giebt es verderbliche und schädliche Auslösungen. Haß Zorn Geschlechtstrieb usw. könnten an die Maschine gestellt werden und nützlich arbeiten lernen, z. B. Holz hacken oder Briefe tragen oder den Pflug führen. Man muß seine Triebe ausarbeiten. Das Leben des Gelehrten erfordert namentlich so etwas. Einige Stunden des Tages sollen nothwendig dem Nachdenken entzogen werden. Aller Mißmuth ist auszulösen: Handarbeit in der Nähe! Oder der Lauf Sprung Ritt. Man könnte als Denker sehr gut noch Pferde zureiten. Oder commandiren.

11 [32]

Die allgemeine Geschichte der Wissenschaft giebt zuletzt einen Begriff wie die gewöhnlichsten geistigen Verrichtungen zu Stande kommen.

11 [33]

NB! Im Moleküle könnte <sich> immer noch die Geschichte des Sonnensystems abspielen und Wärme durch Fall und Stoß sich erzeugen.

11 [34]

Die Chinesen: ohne Scham, ohne Vorurtheile, geschwätzig, maßvoll: ihre Leidenschaften Opium Spiel Weiber. Sie sind reinlich.

11 [35]

Sich die Vortheile eines Todten verschaffen – es kümmert sich Keiner um uns, weder für noch wider. Sich wegdenken aus der Menschheit, die Begehrungen aller Art verlernen: und den ganzen Überschuß von Kraft auf das Zuschauen verwenden. Der unsichtbare Zuschauer sein!!

11 [36]

Wir sind irgendwie in der Mitte – nach der Größe der Welt zu und nach der Kleinheit der unendlichen Welt zu. Oder ist das Atom uns näher als das äußerste Ende der Welt? – Ist für uns die Welt nicht nur ein Zusammenfassen von Relationen unter einem Maaße? Sobald dies willkürliche Maaß fehlt, zerfließt unsere Welt!

11 [37]

Wir kennen a) die Motive der Handlung nicht; b) wir kennen die Handlung, die wir thun, nicht; c) wir wissen nicht, was daraus wird. Aber wir glauben von allen dreien das Gegentheil: das vermeintliche Motiv, die vermeintliche Handlung und die vermeintlichen Folgen gehören in die uns bekannte Geschichte des Menschen, sie wirken aber auch auf seine unbekannte Geschichte ein, als die jedesmalige Summe von drei Irrthümern.

In jedem Falle giebt es nicht Eine Handlung, die zu thun ist, sondern so viele als es Ideale des vollkommenen Menschen giebt. Nützlich, verderblich – ist kein "An-sich"; die Ideale sind Dichtungen auf mehr oder weniger geringe Kennt niß des Menschen. – Ich leugne die absolute Sittlichkeit, weil ich ein absolutes Ziel des Menschen nicht kenne. Man muß den gesunden Zustand kennen, um den krankhaften zu erkennen – aber Gesundheit selber ist eine Vorstellung, die nach dem Vorhandenen sich in uns erzeugt. Spencer p. 302. "Übergangszustände durchdrungen von dem auf Nichtanpassung beruhenden Elend": sagt Spencer – und doch könnte gerade dies Elend das Nützlichste sein!

11 [38]

Ich suche für mich und meines Gleichen den sonnigen Winkel inmitten der jetzt wirklichen Welt, jene sonnigen Vorstellungen, bei denen uns ein Überschuß von Wohl kommt. Möge dies jeder für sich thun und das Reden ins Allgemeine, für die "Gesellschaft" bei Seite lassen!

11 [39]

Mit sich behaftet wie mit einer Krankheit – so fand ich die Begabungen.

11 [40]

Die Voraussetzung des Spencerschen Zukunfts-Ideals ist aber, was er nicht sieht, die allergrößte Ähnlichkeit aller Menschen, so daß einer wirklich im alter sich selber sieht. Nur so ist Altruismus möglich! Aber ich denke an die immer bleibende Unähnlichkeit und möglichste Souveränität des Einzelnen: also altruistische Genüsse müssen selten werden, oder die Form bekommen der Freude am Anderen, wie unsere jetzige Freude an der Natur.

11 [41]

Die Entstehung des Denkers und die Gefahren, an denen eine solche Entstehung gewöhnlich ihr Ende findet. 1) die Eltern wollen ihres Gleichen aus ihm machen 2) man gewöhnt ihn an Beschäftigungen, die ihm die Kraft und die Zeit zum Denken wegnehmen; Berufe usw. 3) man erzieht ihn zu einer kostspieligen Lebensweise, der er nun wieder viel Kraft zuwenden muß, um die Mittel dazu zu schaffen 4) man gewöhnt ihn an Freuden, welche die des Denkens farblos erscheinen lassen, und an eine Stimmung der Unbehaglichkeit in Gegenwart der Denker und ihrer Werke 5) der Geschlechtstrieb will ihn antreiben, sich mit einem Weibe zu verbinden und fürderhin für die Kinder zu leben – nicht mehr für sich selber 6) seine Begabung bringt Ehren mit sich: und diese führen ihn zu einflußreichen Personen, welche ein Interesse haben, aus ihm ein Werkzeug zu machen 7) die Lust, im Erfolge einer Wissenschaft, macht ihn von den weiteren Zielen abtrünnig: er bleibt an den Mitteln kleben und vergißt den Zweck. – Daraus lassen sich die Maximen der Erziehung des unabhängigen Denkers ableiten. Und Vorschriften, um diese Vorschriften auf's wirksamste einzuprägen (namentlich Entfernung von der Gefahr, Zwang zu denken durch sonstige Unbeschäftigung usw.) Mir liegt an der Erhaltung meiner Art

11 [42]

Die ganze Tyrannei der Zweckmäßigkeit der Gattung einmal darzulegen! Wie! Wir sollten sie gar noch fördern? Sollten nicht viel mehr dem Individuum soviel nur möglich zurückerobern? Alle Moralität soll darin aufgehen: was vererbbar auf die ganze Gattung ist, soll den Werth ausmachen? – Sehen wir doch auf die zufälligen Würfe hin, die dabei vorkommen müssen – ob da nicht manches vorkommt, was dem Gattungs-Ideal, gesetzt es werde einmal erreicht, zuwiderläuft!

11 [43]

Diese Verherrlicher der Selektions-Zweckmäßigkeit (wie Spencer) glauben zu wissen, was begünstigende Umstände einer Entwicklung sind! und rechnen das Böse nicht dazu! Und was wäre denn ohne Furcht Neid Habsucht aus dem Menschen geworden! Er existirte nicht mehr: und wenn man sich den reichsten edelsten und fruchtbarsten Menschen denkt, ohne Böses – so denkt man einen Widerspruch. Von allen Seiten wohlwollend behandelt und selber wohlwollend – da müßte ein Genie furchtbar leiden, denn alle seine Fruchtbarkeit will egoistisch sich von den Anderen nähren, sie beherrschen, aussaugen usw. Kurz, wenn jetzt der Tugendhafte an der Stärke des Egoismus leidet, so dann an der Stärke des Altruismus: alles Thun wird ihm vergällt, weil es seinem Haupthange zuwiderläuft und ihm böse vorkommt. Für sich etwas thun, bei Seite bringen, schaffen – das wäre alles mit bösem Gewissen: Lust stellte sich ein, wenn man seine Schaffensgelüste zurückdrängte und allgemein empfände. Es wäre so auch ein schönes ruhendes von allen Seiten ernährtes und erblühendes Menschenthum möglich, aber ein ganz anderes als unser bestes Menschenthum – für das auch Einiges geltend zu machen ist.

Übrigens könnte man als Individuum dem ungeheuer langsamen Prozeß der Selection zuvorkommen, in vielen Stücken und vorläufig den Menschen in seinem Ziele zeigen – mein Ideal! Die ungünstigen Umstände bei Seite thun, indem man sich bei Seite thut (Einsamkeit) Auswahl der Einflüsse (Natur Bücher hohe Ereignisse) darüber nachzudenken! Nur wohlwollende Gegner im Gedächtniß behalten! Selbständige Freunde! Alle tieferen Stufen der Menschheit aus seinem Gesichtskreis bannen! Oder sie nicht sehen und hören wollen! Blindheit Taubheit des Weisen!

11 [44]

Die Vorwegnehmenden. – Ich zweifle, ob jener Dauermensch, welchen die Zweckmäßigkeit der Gattungs-Auswahl endlich produzirt, viel höher als der Chinese stehen wird. Unter den Würfen sind viele unnütze und in Hinsicht auf jenes Gattungsziel vergängliche und wirkungslose – aber höhere: darauf laßt uns achten! Emancipiren wir uns von der Moral der Gattungs-Zweckmäßigkeit! – Offenbar ist das Ziel, den Menschen ebenso gleichmäßig und fest zu machen, wie es schon in Betreff der meisten Thiergattungen geschehen ist: sie sind den Verhältnissen der Erde usw. angepaßt und verändern sich nicht wesentlich. Der Mensch verändert sich noch – ist im Werden.

11 [45]

Die größten Einwirkungen übersehen wir nicht: wir können immer noch die Rasse zu Grunde richten, denn wir messen die Wirkungen nach Individuen, höchstens nach Jahrhunderten. Ob z. B. der Kaffé oder der Alkohol nicht Gifte sind, die in der regelmäßigen Weise eingenommen, wie es geschieht, in 2000 Jahren die Menschheit vernichtet haben?

11 [46]

"Rudimentäre Menschen" solche, die jetzt der Zweckmäßigkeit der Art nicht mehr dienen: aber keine selbsteigenen Wesen geworden sind.

Unzweckmäßig in Hinsicht auf die Art, noch nicht in Hinsicht auf kleine Complexe, und nicht in Hinsicht auf das Individuum! Sind die Zwecke des Individuums nothwendig die Zwecke der Gattung? Nein. Die individuelle Moral: in Folge eines zufälligen Wurfs im Würfelspiel ist ein Wesen da, welches seine Existenzbedingungen sucht – nehmen wir dies ernst und seien wir nicht Narren, zu opfern für das Unbekannte!

11 [47]

Der Eigenthumstrieb – Fortsetzung des Nahrungs- und Jagd-Triebs. Auch der Erkenntnißtrieb ist ein höherer Eigenthumstrieb.

11 [48]

Die Menschen bleiben bei den Mitteln hängen, wenn deren Erreichung ihnen Lust macht. Rohde.

11 [49]

Wer das Schöne nicht erreicht, sucht das Wilderhabene, weil da auch das Häßliche seine "Schönheit" zeigen darf. Ebenso sucht er die wilderhabene Moralität.

11 [50]

Im Heroismus ist der Ekel sehr stark (ebenso im Uneigennützigen – man verachtet die Beschränktheit des "Ich" – der Intellekt hat seine Expansion). Die Schwäche des Ekels bezeichnet die industrielle und utilitarische Cultur.

11 [51]

Zwei Ursprünge der Kunst 1) auf eine unschädliche Weise getäuscht zu werden (Taschenspieler Schauspieler Erzähler usw.) auch Architektur als ob der Stein redete (von dem Haus- oder Tempeleinwohner) 2) auf eine unschädliche Weise überwältigt werden: Rausch, Musik, Lyrik usw. Zuerst Besorgniß Verwunderung, daß nichts Böses erfolgt, keine Gefahr da ist – bei Beiden. So werden die Zustände, die am meisten gefürchtet werden und den höchsten Reiz ausüben, erstrebenswerth: Täuschung und Überwältigung. So von Seiten der Genießenden aus betrachtet.

11 [52]

Der Zins ("Wucher") und das böse Gewissen.

Das Theater und das böse Gewissen.

11 [53]

Reinigung der Seele. – Erster Ursprung von höher und niedriger.

Das aesthetisch-Beleidigende am innerlichen Menschen ohne Haut – blutige Massen, Kothgedärme, Eingeweide, alle jene saugenden pumpenden Unthiere – formlos oder häßlich oder grotesk, dazu für den Geruch peinlich. Also weggedacht! Was davon doch heraustritt, erregt Scham (Koth Urin Speichel Same) Frauen mögen nicht vom Verdauen hören. Byron eine Frau nicht essen sehen (So gehen die Hintergedanken ihren Weg) Dieser durch die Haut verhüllte Leib, der sich zu schämen scheint! Das Gewand an der Theilen, wo sein Wesen nach außen tritt: oder die Hand vor den Mund halten beim Speichelauswerfen. Also: es giebt Ekel-erregendes; je unwissender der Mensch über den Organismus ist, um So mehr fällt ihm rohes Fleisch Verwesung Gestank Maden zusammen ein. Der Mensch, soweit er nicht Gestalt ist, ist sich ekelhaft – er thut alles, um nicht daran zu denken. – Die Lust, die ersichtlich mit diesem innerlichen Menschen zusammenhängt, gilt als niedriger – Nachwirkung des aesthetischen Urtheils. Die Idealisten der Liebe sind Schwärmer der schönen Formen, sie wollen sich täuschen und sind oft empört bei der Vorstellung von Coitus und Samen. – Alles Peinliche Quälende Überheftige hat der Mensch diesem innerlichen Leibe zugeschrieben: um so höher hob er das Sehen Hören die Gestalt das Denken. Das Ekelhafte sollte die Quelle des Unglücks sein! – Wir lernen den Ekel um!

Zweiter Ursprung der Unterscheidung von höher und niedriger. Alles Furchteinflößende als das Mächtigere gilt als höher; alles Andere als niedriger oder gar verächtlich. Als Höchstes – Furcht einflößen und doch wohlthun und wohlwollen!

11 [54]

Welches sind die tiefen Umwandlungen, welche aus den Lehren kommen müssen, daß kein Gott für uns sorgt und daß es kein ewiges Sittengesetz giebt (atheistisch-unmoralische Menschheit)? daß wir Thiere sind? daß unser Leben vorbeigeht? daß wir unverantwortlich sind? der Weise und das Thier werden sich nähern und einen neuen Typus ergeben!

11 [55]

Die, welche den Vortheil von der hülfreichen wohlwollenden Gesinnung haben, haben sie so verherrlicht! Das Lob eine Folge des Nutzens! Und der Wohlthäter ließe es sich gefallen, mit Lob entschädigt zu werden?

11 [56]

Wie entsteht Trieb, Geschmack, Leidenschaft? Letztere opfert sich andere Triebe, die schwächer sind (anderes Verlangen nach Lust) -: das ist nicht unegoistisch! Ein Trieb beherrscht die anderen, auch den sogenannten Selbsterhaltungstrieb! "Heroismus" usw. sind nicht als Leidenschaften verstanden worden, sondern weil sie den Anderen sehr nützlich waren, als etwas Höheres Edleres Anderes! – da die meisten anderen Leidenschaften den Anderen gefährlich waren. Dies war sehr kurzsichtig! Auch der Heroismus der Vaterlandsliebe der Treue der "Wahrheit", der Forschung usw. ist den Anderen höchst gefährlich – sie sind nur zu dumm, das zu sehen! sie würden die unegoistischen Tugenden sonst in den Bann thun, in den die Habsucht der Geschlechtssinn, Grausamkeit Eroberungslust usw. gehören. Aber jene wurden gut genannt und empfunden, und allmählich ganz von den edleren und reineren Gefühlen durchtränkt – und idealisiert! ideal gemacht! So wurde die Arbeit, die Armut, der Zins, die Päderastie, zu verschiedenen Zeiten entwürdigt, zu anderen Zeiten ideal gemacht.

11 [57]

Die Menschen bewundern und loben die Handlungen eines Anderen, die für ihn selber unzweckmäßig erscheinen, sofern sie ihnen nützlich sind. (Unzweckmäßigkeit in Hinsicht auf Genuß oder Nutzen.) Früher verstand man Genuß oder Nutzen sehr gemein und eng: und wer z. B. für gloria etwas that, war schon unzweckmäßig nach der Meinung der groben Menschen, der Masse. Weil man feinere Arten von Genuß nicht sah, hat man das Reich des Uneigennützigen so groß angenommen. Der Mangel an psychologischer Feinheit ist ein Grund von vielem Loben und Bewundern! Weil die Masse keine Leidenschaft hat, so hat sie die Leidenschaft bewundert, weil sie mit Opfern verknüpft und unklug ist – den Genuß der Leidenschaft konnte man sich nicht vorstellen, man leugnete ihn. Die Menge verachtet alles Gewöhnliche, Leichte, Kleine.

11 [58]

Vor allem Wohl- und Wehethun steht die Frage: wer ist das Andere, wer ist der Andere? kurz die Erkenntniß der Welt! Wozu wohlthun und wehethun – muß erst entschieden sein! Bisher geschah alles Wohl- und Wehethun im Irrthum, als ob man wisse, was? und wozu? Die Schätzung des Wohlwollens ist erst noch zu beweisen, namentlich der Grad!

11 [59]

Nicht das Glück, sondern die möglichst lange Erhaltung ist der Inhalt aller bisherigen Moral der Gemeinde und Gesellschaft (ja auf Kosten des Glückes aller Einzelnen). Also auch nicht der Nutzen. Wer hat das Interesse der Erhaltung? Die Häuptlinge an der Spitze von Familien, Ständen usw. welche fortleben wollen im Fortleben ihrer Institutionen, welche ihr Machtgefühl in die Ferne treiben. Alle Alten: wer sein persönlich zu kurzes oder noch kurzes Leben stark empfindet, sucht sich einzudrücken in die Seele und Sitte der neuen Generation und so fortzuleben, fortzuherrschen. Es ist Eitelkeit. – Das Individuum gegen die Gesellschafts-Moral und abseits von ihr – wenn die größte Gefahr für Alle vorüber ist, können einzelne Bäume aufwachsen mit ihren Existenzbedingungen.

11 [60]

Neuer Blick auf die Welt in Hinsicht auf Intelligenz und Güte. Ist die Menschheit eine Ausnahme? Ist im Ganzen ihr Grad von Intelligenz und Güte gleichen Ranges wie der in der Natur? Ja. – Nun aber haben wir die "Zweckmäßigkeit" und "Intelligenz" der Natur zu verstehen – sie ist gar nicht da! Ebenso wenig das Unegoistische! Von da auf die Menschheit zurückzuschließen: vielleicht ist auch unsere Zweckmäßigkeit nur eine Summe günstiger Zufälle, und unsere "Güte" ebenfalls ein Irrthum. Aus den großen Schriftzügen der Natur unsere kleine Schrift zu verstehen suchen! – Wir können eine Reihe von Nacheinander's angeben, die zu einem Zwecke führen – aber 1) es ist nicht die vollständige Reihe, sondern eine erbärmliche Auswahl 2) wir können kein Glied der Reihe aus freien Stücken machen, wir wissen nur mehr oder weniger, daß es sich machen wird. Wo wir zweckmäßig sind, handeln wir trotzdem unwissend über Mittel und Zweck, im Ganzen gesehen. Über diesen Fatalismus kommen wir nicht hinaus.

11 [61]

Die Menschen haben mit Verwunderung wahrgenommen, daß Mancher seinen Vortheil vernachlässigt (in der Leidenschaft, oder aus Geschmack): sie waren blind für die inneren Vortheile des Stolzes, der Stimmung usw. und hielten diese Menschen entweder für 1) toll oder 2) für gut, falls nämlich ihnen daraus ein Vortheil erwuchs – sie bilden nun den Glauben aus, die Handlungen werden gethan allein, um ihnen wohlzuthun. Die Verherrlichung solcher Handlungen und Menschen hatte den Werth, zu ähnlichen persönlich unzweckmäßigen Handlungen anzutreiben. Der Egoismus derer, welche Hülfe und Wohlthat brauchen, hat das Unegoistische so hoch gehoben!

11 [62]

Die Jesuiten vertraten gegen Pascal die Aufklärung und die Humanität.

11 [63]

neue Praxis.

Den anderen Menschen zunächst wie ein Ding, einen Gegenstand der Erkenntniß ansehen, dem man Gerechtigkeit widerfahren lassen muß: die Redlichkeit verbietet, ihn zu verkennen, ja ihn unter irgend welchen Voraussetzungen zu behandeln, welche erdichtet und oberflächlich sind. Wohlthun ist dasselbe, wie eine Pflanze sich in's Licht rücken, um sie besser zu sehen – auch Wehethun kann ein nöthiges Mittel sein, damit die Natur sich enthülle. Nicht Jeden als Menschen behandeln, sondern als so und so beschaffenen Menschen: erster Gesichtspunkt! Als etwas, das erkannt sein muß, bevor es so und so behandelt werden kann. Die Moral mit allgemeinen Vorschriften thut jedem Individuum Unrecht. Oder giebt es Mittel der Vorbereitung der Erkenntniß, die auf jedes Wesen zuerst anwendbar sind, als Vorstufe des Experimentes? – Wie wir mit den Dingen verkehren, um sie zu erkennen, so auch mit den lebenden Wesen, so mit uns. – Aber bevor wir die Erkenntniß haben oder nachdem wir einsehen, daß wir sie nicht uns verschaffen können, wie dann handeln? Und wie, wenn wir sie erkannt haben? – Als Kräfte für unsere Ziele sie verwenden – wie anders? So wie es die Menschen immer machten (auch wenn sie sich unterwarfen: sie förderten ihren Vortheil durch die Macht dessen, dem sie sich unterwarfen) – Unser Verkehr mit Menschen muß darauf aus sein, die vorhandenen Kräfte zu entdecken, die der Völker Stände usw. – dann diese Kräfte zum Vortheil unserer Ziele zu stellen (eventuell sie sich gegenseitig vernichten lassen, wenn dies noth thut).

Neu: die Redlichkeit leugnet den Menschen, sie will keine moralische allgemeine Praxis, sie leugnet gemeinsame Ziele. Die Menschheit ist die Machtmenge, um deren Benutzung und Richtung die Einzelnen conkurriren. Es ist ein Stück Herrschaft über die Natur: vor allem muß die Natur erkannt, dann gerichtet und benutzt werden. – Mein Ziel wäre wieder die Erkenntniß? eine Machtmenge in den Dienst der Er<kenntniß> stellen?

11 [64]

Nach meinem Ziele über höhere und niedere Eigenschaften abschätzen – alle Urtheile als Vorurtheile auf diesem Gebiete behandeln. Es soll mir gleichgültig sein, was über die Keuschheit gedacht ist – gesetzt sie ist besser für die Erkenntniß, so wird sie empfohlen. Alle Dinge auf ihren Werth für das Erkennen hin prüfen, z. B. die Kunst die politischen Zustände usw. den Handel.

11 [65]

Aufgabe: die Dinge sehen, wie sie sind! Mittel: aus hundert Augen auf sie sehen können, aus vielen Personen! Es war ein falscher Weg, das Unpersönliche zu betonen und das Sehen aus dem Auge des Nächsten als moralisch zu bezeichnen. Viele Nächste und aus vielen Augen und aus lauter persönlichen Augen sehen – ist das Rechte. Das "Unpersönliche" ist nur das geschwächt-Persönliche, Matte – kann hier und da auch schon nützlich sein, wo es eben gilt, die Trübung der Leidenschaft aus dem Auge zu entfernen. Die Zweige der Erkenntniß, wo schwache Persönlichkeiten nützlich sind, am besten angebaut (Mathematik usw.). Der beste Boden der Erkenntniß, die starken mächtigen Naturen, werden erst spät für das Erkennen erobert (urbar gemacht usw.) – Hier sind die treibenden Kräfte am größten: aber das gänzliche Verirren und Wildwerden und Aufschießen in Unkraut (Religion und Mystik) ist immer noch das Wahrscheinlichste (die "Philosophen" sind solche mächtigen Naturen, die für die Erkenntniß noch nicht urbar sind; sie erbauen, tyrannisiren die Wirklichkeit, legen sich hinein. Überall, wo Liebe Haß usw. möglich sind, war die Wissenschaft noch ganz falsch: hier sind die "Unpersönlichen" ohne Augen für die wirklichen Phänomene, und die starken Naturen sehen nur sich und messen alles nach sich. – Es müssen sich neue Wesen bilden.

11 [66]

"Die Wahrheit um der Wahrheit willen" suchen – oberflächlich! Wir wollen nicht betrogen werden, es beleidigt unseren Stolz.

11 [67]

Die Schädlichkeit der "Tugenden" die Nützlichkeit der "Untugenden" ist nie in voller Breite gesehen worden. Ohne Furcht und Begierde – was wäre der Mensch! Ohne Irrthümer gar!

11 [68]

In wiefern der Sinn der Redlichkeit die phantastische Gegen kraft der Natur zu reizen vermag! Ob wirklich die Menschen nüchterner werden? – Wir begreifen ja nur durch ein phantastisches Vorwegnehmen und Versuchen, ob die Realität zufällig in dem Phantasiebild erreicht ist; namentlich in der Historie, usw. Thukydides und Tacitus müssen Dichter sein. Selbst in der Wissenschaft der einfachsten Vorgänge ist Phantasie nöthig (z. B. Mayer) – aber hier kann noch die Täuschung entstehen, als ob Nüchternheit produktiv wäre!

11 [69]

Die Leidenschaft der Erkenntniß sieht sich als Zweck des Daseins – leugnet sie die Zwecke, so sieht sie sich als werthvollstes Ergebniß aller Zufälle. Wird sie die Werthe leugnen? sie kann nicht behaupten, der höchste Genuß zu sein? Aber nach ihm zu suchen? das genußfähigste Wesen auszubilden, als Mittel und Aufgabe dieser Leidenschaft? Die Sinne steigern und den Stolz und den Durst usw.

Einen Berg hinuntersteigen, die Gegend mit den Augen umarmen, eine ungestillte Begierde dabei. Die leidenschaftlich Liebenden, welche die Vereinigung nicht zu erreichen wissen (- bei Lucrez) Der Erkennende verlangt nach Vereinigung mit den Dingen und sieht sich abgeschieden – dies ist seine Leidenschaft. Entweder soll sich alles in Erkenntniß auflösen oder er löst sich in die Dinge auf – dies ist seine Tragödie (letzteres sein Tod und dessen Pathos. Ersteres sein Streben, alles zu Geist zu machen – : Genuß die Materie zu besiegen, zu verdunsten, zu vergewaltigen usw. Genuß der Atomistik der mathematischen Punkte. Gier

11 [70]

Grundfalsche Werthschätzung der empfindenden Welt gegen die todte. Weil wir sie sind! Dazu gehören! Und doch geht mit der Empfindung die Oberflächlichkeit, der Betrug los: was hat Schmerz und Lust mit dem wirklichen Vorgange zu schaffen! – es ist ein Nebenher, welches nicht in die Tiefe dringt! Aber wir nennen's das Innere und die todte Welt sehen wir als äußerlich an – grundfalsch! Die "todte" Welt! ewig bewegt und ohne Irrthum, Kraft gegen Kraft! Und in der empfindenden Welt alles falsch, dünkelhaft! Es ist ein Fest, aus dieser Welt in die "todte Welt" überzugehen – und die größte Begierde der Erkenntniß geht dahin, dieser falschen dünkelhaften Welt die ewigen Gesetze entgegenzuhalten, wo es keine Lust und keinen Schmerz und Betrug giebt. Ist dies Selbstverneinung der Empfindung, im Intellekte? Der Sinn der Wahrheit ist: die Empfindung als die äußerliche Seite des Daseins zu verstehen, als ein Versehen des Seins, ein Abenteuer. Es dauert dafür kurz genug! Laßt uns diese Komödie durchschauen und so genießen! Laßt uns die Rückkehr in's Empfindungslose nicht als einen Rückgang denken! Wir werden ganz wahr, wir vollenden uns. Der Tod ist umzudeuten! Wir versöhnen <uns> so mit dem Wirklichen d. h. mit der todten Welt.

11 [71]

In dem Grade als die Welt zähl- und meßbar sich zeigt, also zuverlässig – erhält sie Würde bei uns. Ehedem hatte die unberechenbare Welt (der Geister – des Geistes) Würde, sie erregte mehr Furcht. Wir aber sehen die ewige Macht ganz wo anders. Unsere Empfindung über die Welt dreht sich um: Pessimismus des Intellekts.

11 [72]

Herrliche Entdeckung: es ist nicht alles unberechenbar, unbestimmt! Es giebt Gesetze, die über das Maaß des Individuums hinaus wahr bleiben! Es hätte ja ein anderes Resultat sich ergeben können!

Das Individuum nicht mehr als die ewige Sonderbarkeit und ehrwürdig! Sondern als die complicirteste Thatsache der Welt, der höchste Zufall. Wir glauben auch an seine Gesetzmäßigkeit, ob wir sie schon nicht sehen. – Oder? Als entzogen der Erkennbarkeit, aber ein Mittel der Erkenntniß, auch Hinderniß der Erkenntniß – nicht verehrungswürdig, etwas dubiös!

11 [73]

Wir können weder des Bösen noch der Leidenschaften entbehren – die vollständige Anpassung Aller an Alles und Jedes in sich (wie bei Spencer) ist ein Irrthum, es wäre die tiefste Verkümmerung. – Das schönste leiblich mächtigste Raubthier hat die stärksten Affekte: sein Haß und seine Gier in dieser Stärke werden für seine Gesundheit nöthig sein, und wenn befriedigt, diese so prachtvoll entwickeln. Selbst zum Erkennen brauche ich alle meine Triebe, die guten wie die bösen und wäre schnell am Ende, wenn ich nicht gegen die Dinge feindlich mißtrauisch grausam tückisch rachsüchtig und mich verstellend usw. sein wollte. Alle großen Menschen waren durch die Stärke ihrer Affekte groß. Auch die Gesundheit taugt nichts, wenn sie nicht großen Affekten gewachsen ist, ja sie nöthig hat. Große Affekte concentriren und halten die Kraft in Spannung. Gewiß sind sie oft Anlaß, daß man zu Grunde geht – aber dies ist kein Argument gegen ihre nützlichen Wirkungen im Großen. – Unsere Moralität will aber das Gegentheil, liebenswürdige und creditfähige Zahler und Borger.

11 [74]

Der Schaden der Tugenden ist noch nicht nachgewiesen!

11 [75]

Wir können nur intellektuelle Vorgänge begreifen: also an der Materie das, was sichtbar hörbar fühlbar wird – werden kann! d.h. wir begreifen unsere Veränderungen im Sehen, Hören, Fühlen, welche dabei enstehen. Wofür wir keine Sinne haben, <das> existirt für uns nicht – aber deshalb braucht die Welt nicht zu Ende zu sein. Elektricität – z. B. unser Sinn sehr schwach entwickelt. – Auch an einer Leidenschaft, einem Triebe begreifen wir nur den intellektuellen Vorgang daran – nicht das physiologische, wesentliche, sondern das Bischen Empfindung dabei. Alles zu Willen aufzulösen – sehr naive Verdrehung! – da freilich wäre alles verständlicher! Das war aber immer die Tendenz, alles in einen intellektuellen oder empfindenden Vorgang zu reduziren – z. B. auf Zwecke usw.

11 [76]

Veränderung der Werthschätzung – ist meine Aufgabe.

Der Leib und der Geist

die Leidenschaft

das Böse die Gemeinde – Moral

Leben und Tod

Gewissen Strafe Sünde

Lob und Tadel

Zwecke Willen

Gleichgültigkeit

das Leben als Verirrung.

11 [77]

Der Mensch als das wahnsinnig gewordene Thier: lebt in lauter Wahn, bis jetzt, mehr als irgend wer geahnt hat. So fand ich ihn vor.

11 [78]

Die aesthetischen Urtheile (der Geschmack, Mißbehagen, Ekel usw.) sind das, was den Grund der Gütertafel ausmacht. Diese wiederum ist der Grund der moralischen Urtheile.

11 [79]

Das Schöne, das Ekelhafte usw. ist das ältere Urtheil. Sobald es die absolute Wahrheit in Anspruch nimmt, schlägt das aesthetische Urtheil in die moralische Forderung um.

Sobald wir die absolute Wahrheit leugnen, müssen wir alles absolute Fordern aufgeben und uns auf aesthetische Urtheile zurückziehen. Dies ist die Aufgabe – eine Fülle aesthetischer gleichberechtigter Werthschätzungen zu creiren: jede für ein Individuum die letzte Thatsache und das Maaß der Dinge.

Reduktion der Moral auf Aesthetik!!!

11 [80]

Die Erkenntniß hat den Werth 1) die "absolute Erkenntniß" zu widerlegen 2) die objektive zählbare Welt der nothwendigen Aufeinanderfolge zu entdecken.

11 [81]

Es giebt für uns nicht Ursache und Wirkung, sondern nur Folgen ("Auslösungen") NB.

11 [82]

1.

Die Weisen müssen das Monopol des Geldmarktes sich erwerben: darüber erhaben durch ihre Lebensweise und Ziele und Richtung gebend für den Reichthum – es ist absolut nöthig, daß die höchste Intelligenz ihm die Richtung giebt.

2.

Die Ehe. Unsere meisten Ehefrauen sind zu hoch gestellt. – Geschlechtsbefriedigung soll nie das Ziel der Ehe sein. – Eine Arbeiterbevölkerung braucht gute Hurenhäuser. – Zeitehen.

3.

Der Selbstmord als übliche Todesart: neuer Stolz des Menschen, der sich sein Ende setzt und eine neue Festfeier erfindet – das Ableben.

11 [83]

Die Wissenschaft von 1650-1800 wollte die Weisheit und Güte Gottes erweisen: das Umgekehrte war das Ergebniß. Jetzt ist man versucht, einem Reste von Gott, einem mangelhaften Intellekt, listige und böse Umwege zum Guten usw. zuzugestehen. Aber 1) es zeigen sich ganz verschiedene Grade von Unvernunft 2) und ebenso von Güte: es würde ein Wesen ohne Charakter sein. Wozu ein solches Wesen annehmen? – Weder gut noch böse ist die Welt! Und der Mensch also! –

11 [84]

Unsere ganze Welt ist die Asche unzähliger lebender Wesen: und wenn das Lebendige auch noch so wenig im Vergleich zum Ganzen ist: so ist alles schon einmal in Leben umgesetzt gewesen, und so geht es fort. Nehmen wir eine ewige Dauer, folglich einen ewigen Wechsel der Stoffe an –

11 [85]

Forscher wie Lecky können den Verfall einer Meinung nach ihrer größten Herrschaft nie erklären. Die Meinungen (auf der Basis des Geschmacks) sind große Krankheiten über viele Geschlechter hin, physiologisch endlich ausheilend und absterbend – und die Meinungen selber sind nur der uns bekannte Ausdruck eines physiologischen Vorganges. Es giebt individuelle und überindividuelle Krankheiten. Man muß die Menschen studiren, in welchen die Gegenmeinung oder die Skepsis auftaucht: ein neues physiologisches Merkmal ist in ihnen, wahrscheinlich der Keim einer anderen Krankheit. – Die Menschen als die wahnsinnigen Thiere.

11 [86]

Die Thatsache an der Hexerei ist, daß ungeheure Massen Menschen damals die Lust empfanden, Anderen zu schaden und sich schädigend zu denken, ebenfalls in Gedanken sinnlich auszuschweifen und sich mächtig im Bösen und Gemeinsten zu fühlen. Woher das? – ist die Frage.

11 [87]

Jene Menschen mit der Tugend der Unbeugsamkeit Selbstüberwindung Heroismus zeigen in ihrem gefühllosen harten und grausam ausschweifenden Denken und Handeln an Andern, wo diese Tugend ihr Fundament hat. Sie handeln gegen Andere wie sie gegen sich handeln – aber weil letzteres den Menschen nützlich und selten scheint, folglich verehrungswürdig ist, ersteres sehr peinlich ist, zerlegt man sie in gute und böse Hälften! Zuletzt ist diese gefühllose Härte wahrscheinlich im Großen der Menschheit sehr nützlich gewesen, es erhielt die Ansichten und Bestrebungen aufrecht und gab ganzen Völkern und Zeiten eben jene Tugenden der Unbeugsamkeit Selbstüberwindung Heroismus, machte sie groß und stark und herrschend.

11 [88]

Ich muß nicht nur die Lehre von der Sünde, sondern auch die vom Verdienste (Tugend) aufgeben. Wie in der Natur – es bleiben die aesthetischen Urtheile! "ekelhaft, gewöhnlich, selten, anziehend, harmonisch, schroff, grell, widerspruchsvoll, quälend, entzückend" usw. Diese Urtheile sind aber auf eine wissenschaftliche Basis zustellen! "selten" was wirklich selten ist. Vieles "Gewöhnliche" als höchst werthvoll, mehr als das Seltene usw.

11 [89]

Das Wehe thun wollen, die Lust an der Grausamkeit – hat eine große Geschichte. Die Christen in ihrem Verhalten gegen die Heiden; Völker gegen ihre Nachbarn und Gegner; Philosophen gegen Menschen anderer Meinung; alle Freidenker; die Tagesschriftsteller; alle Abweichend-Lebenden, wie die Heiligen. Fast alle Schriftsteller. Selbst in den Kunstwerken sind solche Züge, welche die Absicht auf die Nebenbuhler eingiebt. Oder wie bei Heinrich von Kleist, welcher mit seiner Phantasie dem Leser Gewalt anthun will; auch Shakespeare. – Ebenso alles Lachen, und die Komödie.

Ebenso die Lust an der Verstellung: große Geschichte. –

Ist der Mensch deshalb böse?

11 [90]

Die Menschen des Mittelalters, die unbeugsamen, würden uns verachten, wir sind unter ihrem Geschmack.

11 [91]

Ein großer Schritt in der Grausamkeit, sich an geistigen statt an leiblichen Martern zu genügen und gar am Vorstellen dieser Martern und nicht-mehr-sehen-wollen.

11 [92]

Die Hexen wollten den Schaden sehen, die christlichen Verfolger und Inquisitoren auch, auch Gott vor der Hölle. Dies der Einfluß der Barbaren (Deutschen) auf Europa – ein Rückschritt. Die Sklaven haben die Demuth und die Barbaren die Grausamkeit in's Christentum gebracht.

11 [93]

Es wird fortwährend von uns sehr viel empfunden und sehr viel gedacht (erinnert, phantasirt), was nicht zum Bewußtsein kommt. Es ist geringerer und schwächerer Qualität, und reicht aus.

11 [94]

An die Moralgläubigen.

Deus nudus est,

Seneca.

11 [95]

Deus nudus est sagt Seneca. Ich fürchte, er steckt ganz in Kleidern. Und noch mehr: Kleider machen nicht nur Leute, sondern auch Götter.

11 [96]

Meint ihr, ein Grieche, dem man unsere Cultur schildert, werde dieselbe bewundern oder ersehnenswerth finden? Oder selbst ein Wilder? Jeder Zustand hat sein Ideal aus sich: ein ganz anderer ist immer eine Art Widerspruch zu diesem Ideal und deshalb peinlich und verächtlich. Wonach soll der Begriff "Fortschritt der Cultur" gemessen werden! Jeder meint, er sei auf der Höhe und sein Ideal sei das Ideal der Menschheit. Die Geschichte dieser Geschmacke an Idealen! – Auch fehlt an jedem Ideal das, was einem anderen Ideal seinen Werth, seine Schmackhaftigkeit für seine Verehrer giebt. Nun, giebt es denn einen Fortschritt der Küche? Ja, innerhalb einzelner Kreise, Völker Städte Familien, das Ideal entwickelt sich. – Das freie Individuum hat seinen Privatgeschmack, es muß sehr stark sein, sonst wird es ein Gelüstchen sein und nicht mehr, im Verhältniß zu Familien- und Volksgeschmack,.

11 [97]

Die Entstehung vieler freier Individuen bei den Griechen: Ehe nicht der Wollust wegen. Übung und Ausbildung der Kunst des coi<tus>. Die Knabenliebe als Ableitung von der Weiber-verehrung und -verzärtelung – und somit Verhinderung der Übernervosität und Schwäche der Weiber. Der Wettkampf und die Billigung des Neides. Die einfache Lebensweise. Die Sklaven und die Taxation der Arbeit. Die Religion keine Moralpredigerin, also Sitten freilassend, im Ganzen. Die Tödtung des embryo; Beseitigung der Früchte unglücklicher coitus. usw.

11 [98]

Von jedem Augenblick im Zustand eines Wesens stehen zahllose Wege seiner Entwicklung offen: der herrschende Trieb aber heißt nur einen einzigen gut, den nach seinem Ideale. So ist das Bild Spencer's von der Zukunft des Menschen nicht eine naturwissenschaftliche Nothwendigkeit, sondern ein Wunsch aus jetzigen Idealen heraus.

11 [99]

Was ist Toleranz! Und Anerkennung fremder Ideale! Wer ganz tief und stark sein eigenes Ideal fördert, kann gar nicht an andere glauben, ohne sie abschätzig zu beurtheilen – Ideale geringerer Wesen als er ist. Die absolute Höhe unseres Maaßstabes ist eben der Glaube an das Ideal. – Somit ist Toleranz historischer Sinn sogenannte Gerechtigkeit ein Beweis des Mißtrauens gegen ein eigenes Ideal, oder das Fehlen desselben. Was ist also wissenschaftlicher Sinn? Vielleicht das Verlangen nach einem Ideale und der Glaube, hier den Weg zum Absoluten, zum unwidersprechlichen Ideale zu haben: also unter der Voraussetzung, daß man kein Ideal hat und daran leidet! – Bei Vielen mag es die Rache sein, dafür daß sie kein Ideal haben, indem sie die anderen zerstören. Es giebt eine Schauspielerei (wie bei Bacon) als ob man ein Ideal hätte. "Die Wahrheit um ihrer selber willen" ist eine Phrase, etwas ganz Unmögliches, wie die Liebe des Nächsten um seiner selber willen.

11 [100]

Geschichte der Grausamkeit; der Verstellung; der Mordlust (letztere im Abtödten von Meinungen, Aburtheilen über Werke, Personen, Völker, Vergangenheit – der Richter ist ein sublimirter Henker).

11 [101]

Ich sehe in dem, was eine Zeit als böse empfindet, das was ihrem Ideale widerspricht, also einen Atavismus des ehemaligen Guten : z.B. eine gröbere Art von Grausamkeit Mordlust als heute vertragen wird. Irgendwann war die Handlung jedes Verbrechers eine Tugend. Aber jetzt empfindet er selber sie mit dem Gewissen der Zeit – er legt sie böse aus. Alles oder das Meiste, was Menschen thun und denken, als böse auslegen, geschieht dann, wenn das Ideal dem menschlichen Wesen überhaupt nicht entspricht (Christenthum): so wird alles Erbsünde, während es eigentlich Erbtugend ist.

11 [102]

Unglückseliger! Du hast nun auch das Leben des Einsamen, Freien durchschaut: und wieder, wie ehedem, hast du dir den Weg dazu eben durch dein Erkennen verschlossen.

Ich will alles, was ich verneine, ordnen und das ganze Lied absingen: es giebt keine Vergeltung keine Weisheit keine Güte keine Zwecke keinen Willen: um zu handeln, mußt du an Irrthümer glauben; und du wirst noch nach diesen Irrthümern handeln, wenn du sie als Irrthümer durchschaut hast.

11 [103]

Was ist Moralität! Ein Mensch, ein Volk hat eine physiologische Veränderung erlitten, empfindet diese im Gemeingefühl und deutet sie sich in der Sprache seiner Affekte und nach dem Grade seiner Kenntnisse aus, ohne zu merken, daß der Sitz der Veränderung in der Physis ist. Wie als ob einer Hunger hat und meint, mit Begriffen und Gebräuchen, mit Lob und Tadel ihn zu beschwichtigen!

11 [104]

Höflichkeit ein verfeinertes Wohlwollen, weil es die Distanz anerkennt und angenehm fühlen läßt, über welche der grobe Intellekt sich ärgert oder welche er nicht sieht.

11 [105]

In den gelobtesten Handlungen und Charakteren sind Mord Diebstahl Grausamkeit Verstellung als nothwendige Elemente der Kraft. In den verworfensten Handlungen und Charakteren ist Liebe (Schätzung und Überschätzung von etwas, dessen Besitz man begehrt) und Wohlwollen (Schätzung von etwas, dessen Besitz man hat, das man sich erhalten will)

Liebe und Grausamkeit nicht Gegensätze: sie finden sich bei den besten und festesten Naturen immer bei einander. (Der christliche Gott – eine sehr weise und ohne moralische Vorurtheile ausgedachte Person!)

Die Menschen sehen die kleinen sublimirten Dosen nicht und leugnen sie: sie leugnen z. B. die Grausamkeit im Denker, die Liebe im Räuber. Oder sie haben gute Namen für alles, was an einem Wesen hervortritt, das ihren Geschmack befriedigt. Das "Kind" zeigt alle Qualitäten schamlos, wie die Pflanze ihre Geschlechtsorgane – beide wissen nichts von Lob und Tadel. Erziehung ist Umtaufen-lernen oder Anders-fühlen lernen.

11 [106]

"Nützlich-schädlich"! "Utilitarisch"! Diesem Gerede liegt das Vorurtheil zu Grunde als ob es ausgemacht sei, wohin sich das menschliche Wesen (oder auch Thier Pflanze) entwickeln solle. Als ob nicht abertausend Entwicklungen von jedem Punkte aus möglich wären! Als ob die Entscheidung, welche die beste höchste sei, nicht eine reine Sache des Geschmacks sei! (Ein Messen nach einem Ideale, welches nicht das einer anderen Zeit, eines anderen Menschen sein muß!)

11 [107]

Wie werthvoll ist es, daß der Mensch so viel Freude beim Anblick oder Empfinden von Schmerz erlernt hat! Auch durch den Umfang der Schadenfreude hat sich der Mensch hoch erhoben! (Freude auch am eigenen Schmerz – Motiv in vielen Moralen und Religionen.)

11 [108]

Es giebt keinen Selbsterhaltungstrieb!

11 [109]

Diese Toleranzprediger! Ein Paar Dogmen ("fundamentale Wahrheiten") nehmen sie doch immer aus! Sie unterscheiden sich nur in der Meinung darüber von den Verfolgern, was für das Heil nothwendig sei.

Sich an die Vernunft halten wäre schön, wenn es eine Vernunft gäbe! Aber der Tolerante muß sich von seiner Vernunft, ihrer Schwäche abhängig machen! Dazu: es ist zuletzt nicht einmal diese, welche den Beweisen und Widerlegungen ihr Ohr schenkt und entscheidet. Es sind Neigungen und Abneigungen des Geschmacks. Die Verfolger sind gewiß nicht weniger logisch gewesen als die Freidenker.

11 [110]

Die Gleichgültigkeit! Ein Ding geht uns nichts an, darüber können wir denken, wie wir mögen, es giebt keinen Nutzen und Nachtheil für uns – das ist ein Fundament des wissenschaftlichen Geistes. Die Zahl dieser Dinge hat immer zugenommen; die Welt ist immer gleichgültiger geworden – so nahm die unparteiliche Erkenntniß zu, welche allmählich ein Geschmack wurde und endlich eine Leidenschaft wird.

11 [111]

Paracelsi mirabilia. Nacherzählt von F. N. – Von allem Wunderbaren – so erzählte mir Paracelsus – was ich je sah und hörte, ist Eins das Erstaunlichste, und ich muß nicht nur ein muthiges Herz wie ein Löwe, sondern auch die unschuldige Geduld eines Lammes dazu haben, es gerade so zu berichten, wie es sich zugetragen hat. Denn gesetzt, es wäre das Blendwerk eines mir übel wollenden Geistes gewesen, so gab es nie für mich eine ärgere Versuchung: und sprach das, was mir erschien, die Wahrheit –

11 [112]

Das Wesen jeder Handlung ist dem Menschen so unschmackhaft wie das Wesentliche jeder Nahrung: er würde lieber verhungern als es essen, so stark ist sein Ekel zumeist. Er hat Würzen nöthig, wir müssen zu allen Speisen verführt werden: und so auch zu allen Handlungen. Der Geschmack und sein Verhältniß zum Hunger, und dessen Verhältniß zum Bedürfniß des Organismus! Die moralischen Urtheile sind die Würzen. Der Geschmack wird aber hier wie dort als das angesehen, was über den Werth der Nahrung, Werth der Handlung entscheidet: der größte Irrthum!

Wie verändert sich der Geschmack? Wann wird er laß und unfrei? Wann ist er tyrannisch? – Und ebenso bei den Urtheilen über gut und böse; eine physiologische Thatsache ist der Grund jeder Veränderung im moralischen Geschmack; diese physiologische Veränderung ist aber nicht etwas, das nothwendig das dem Organismus Nützliche jeder Zeit forderte. Sondern die Geschichte des Geschmacks ist eine Geschichte für sich, und ebenso sehr sind Entartungen des Ganzen als Fortschritte die Folgen dieses Geschmacks. Gesunder Geschmack, kranker Geschmack – das sind falsche Unterscheidungen – es giebt unzählige Möglichkeiten der Entwicklung: was jedesmal zu der einen hinführt, ist gesund: aber es kann widersprechend einer anderen Entwicklung sein. Nur in Hinsicht auf ein Ideal, das erreicht werden soll, giebt es einen Sinn bei "gesund" und "krank". Das Ideal aber ist immer höchst wechselnd, selbst beim Individuum (das des Kindes und des Mannes!) – und die Kenntniß, was nöthig ist, es zu erreichen, fehlt fast ganz.

Wir gehen unserem Geschmack nach und benennen es mit den erhabensten Worten, als Pflicht und Tugend und Opfer. Das Nützliche erkennen wir nicht, ja wir verachten es, wie wir das Innere des Leibes verachten, alles ist uns nur erträglich wenn es sich in eine glatte Haut versteckt.

11 [113]

Beim Geschmack ergab sich nebenbei, ob ein Mittel tödtete, ob es sättigte usw. – nicht wie es auf die Dauer genommen wirkte (auf Generationen hin). Auch wußte man nicht, wie ungleichmäßig der Körper unterhalten wurde und wie diese starken Schwankungen wirkten. Die Depression in Folge mangelhafter Ernährung oder Verdauung bestimmt das Ideal.

11 [114]

Die Weihung ist gegeben worden der Beutelust, der Gefräßigkeit, der Wollust, der Grausamkeit, der Verstellung, der Lüge, der Schwäche, der Tollheit, dem Veitstanz, der Betrunkenheit, der Empfindsamkeit, der Faulheit, der Unwissenheit, dem Nichtsbesitzen, der Geistesöde, der Schadenfreude, der Furcht – allen entgegengesetzten Eigenschaften, die irgendwo Geschmack und unüberwindliche Neigung erzeugt hat (jedesmal lästerte und ekelte man sich vor dem Gegensatze und nannte ihn schlecht oder niedrig)

11 [115]

Im Wohlwollen ist verfeinerte Besitzlust, verfeinerte Geschlechtslust, verfeinerte Ausgelassenheit des Sicheren usw.

Sobald die Verfeinerung da ist, wird die frühere Stufe nicht mehr als Stufe, sondern als Gegensatz gefühlt. Es ist leichter, Gegensätze zu denken, als Grade.

Ein noch so complicirter Trieb, wenn er einen Namen hat, gilt als Einheit und tyrannisirt alle Denkenden, die nach seiner Definition suchen.

11 [116]

Seien wir nicht Sklaven von Lust und Schmerz, auch in der Wissenschaft! Schmerzlosigkeit, ja Lust beweist nicht Gesundheit – und Schmerz ist kein Beweis gegen Gesundheit (sondern nur ein starker Reiz).

11 [117]

Die moralischen Urtheile sind Epidemien, die ihre Zeit haben.

11 [118]

Es bildet sich ein Sklavenstand sehen wir zu, daß auch ein Adel sich bildet.

11 [119]

"Wissenschaft" angeblich auf der Liebe zur Wahrheit um ihrer selber willen! Angeblich beim reinen Schweigen des „Willens"! In Wahrheit sind alle unsere Triebe thätig, aber in einer besonderen gleichsam staatlichen Ordnung und Anpassung an einander, so daß ihr Resultat kein Phantasma wird: ein Trieb regt den anderen an, jeder phantasirt und will seine Art Irrthum durchsetzen: aber jeder dieser Irrthümer wird sofort wieder die Handhabe für einen anderen Trieb (z. B. Widerspruch Analyse usw.). Mit allen den vielen Phantasmen erräth man endlich fast nothwendig die Wirklichkeit und Wahrheit, man stellt so viele Bilder hin, daß endlich eins trifft, es ist ein Schießen aus vielen vielen Gewehren nach Einem Wilde; ein großes Würfelspielen, oft nicht in Einer Person, sondern in Vielen, in Generationen sich abspielend: wo dann Ein Gelehrter eben auch nur Ein Phantasma durchführt und wenn es von einem anderen zu Nichte gemacht ist, so hat sich die Zahl der Möglichkeiten (in der die Wahrheit stecken muß) verkleinert – ein Erfolg! Es ist eine Jagd. Je mehr Individuen einer in sich hat, um so mehr wird er allein Aussicht haben, eine Wahrheit zu finden – dann ist der Kampf in ihm: und alle Kräfte muß er dem einzelnen Phantasma zu Gebote stellen und später wieder einem anderen entgegengesetzten: große Schwungkraft, großen Widerwillen am Einerlei, vielen und plötzlichen Ekel muß er haben. – Jene Naturen, welche nur vergleichen, was Andere Einzelne schon phantasirt haben, bedürfen vor allem der Kälte: diese reden von der "Kälte der Wissenschaft", es sind die Unproduktiven, eine wichtige Classe Menschen, da sie den Austausch zwischen den Producenten herstellen, eine Art Kaufleute, sie schätzen den Werth der Produkte ab. Auch diese Fähigkeit kann in Einem Menschen, der sonst produktiv ist, zuletzt noch da sein. Aber auch noch eine wichtige Fähigkeit: den Genuß an allen den verworfenen Phantasmen, das Schauspiel ihres Kampfes usw. zuhaben – die Natur darin sehen.

11 [120]

Ich habe alle meine Galle nöthig zur Wissenschaft.-

11 [121]

Fortwährend arbeitet noch das Chaos in unserem Geiste: Begriffe Bilder Empfindungen werden zufällig neben einander gebracht, durch einander gewürfelt. Dabei ergeben sich Nachbarschaf ten, bei denen der Geist stutzt: er erinnert sich des Ähnlichen, er empfindet einen Geschmack dabei, er hält fest und arbeitet an den Beiden, je nachdem seine Kunst und sein Wissen ist. – Hier ist das letzte Stückchen Welt, wo etwas Neues combinirt wird, wenigstens soweit das menschliche Auge reicht. Und zuletzt wird es im Grunde eben auch eine neue allerfeinste chemische Combination sein, die wirklich im Werden der Welt noch nicht ihres Gleichen hat.

11 [122]

Die sämmtlichen thierisch-menschlichen Triebe haben sich bewährt, seit unendlicher Zeit, sie würden, wenn sie der Erhaltung der Gattung schädlich wären, untergegangen sein: deshalb können sie immer noch dem Individuum schädlich und peinlich sein – aber die Gattung's-Zweckmäßigkeit ist das Princip der erhaltenden Kraft. Jene Triebe und Leidenschaften ausrotten ist erstens am Einzelnen unmöglich – er besteht aus ihnen, wie wahrscheinlich im Bau und <in> der Bewegung des Organismus dieselben Triebe arbeiten; und zweitens hieße es: Selbstmord der Gattung. Der Zwiespalt dieser Triebe ist ebenso nothwendig wie aller Kampf: denn das Leiden kommt für die Erhaltung der Gattung so wenig in Betracht, wie der Untergang zahlloser Individuen. Es sind ja nicht die vernünftigsten und direktesten Mittel der Erhaltung, die denkbar sind, aber die einzig wirklichen. – Im Einzelnen sind die Triebe sehr oft unzweckmäßig zusammengewürfelt, dann geht das Individuum daran zu Grunde; im Ganzen ist das Ergebniß die Erhaltung der Gattung. – Das Loben und Tadeln derselben, der zeitweilige Geschmack an diesen und jenen ist ein ziemlich oberflächliches Phänomen, abhängig vorn Bewußtsein über "nützlich" „schädlich" – welches sehr unwissenschaftlich ist! – Deshalb waren die verabscheuten Triebe doch thätig, unter anderem Namen oder unbeachtet. Es kommt nicht gar zu viel auf die Ethiken an, die geherrscht haben!

11 [123]

Woher diese Änderungen des Geschmacks im Moralischen? Geht es in die Tiefe? Wie der Appetitmangel bei der Ernährung, wie das Gefühl des Ekels und des Unangenehmen bei Fäulniß Rauch usw.? Ist es, daß für einen Zustand (eines Volkes Menschen) sein Geschmack im Verhältniß des Zweckmäßigen steht? Oder wenigstens des zweckmäßig Geglaubten? – Drückt er aus "dies bedarf ich jetzt, jenes bedarf ich nicht?" – Oder sind es wechselnde Gewöhnungen, wie der Geschmack an Speisen, hervorgerufen durch die vorhandene leichtere Befriedigung an dieser und jener, so daß Gewöhnung Reiz und Verlangen entsteht und am Entgegengesetzten und Fremden das Entgegengesetzte empfunden wird? Oder Beides?

11 [124]

Wenn ein Trieb intellektueller wird, so bekommt er einen neuen Namen, einen neuen Reiz und neue Schätzung. Er wird dem Triebe auf der älteren Stufe oft entgegengestellt, wie als sein Widerspruch (Grausamkeit z. B.) – Manche Triebe z. B. der Geschlechtstrieb sind großer Verfeinerungen durch den Intellekt fähig (Menschenliebe, Anbetung von Maria und Heiligen, künstlerische Schwärmerei; Plato meint, die Liebe zur Erkenntniß und Philosophie sei ein sublimirter Geschlechtstrieb) daneben bleibt seine alte direkte Wirkung stehen.

11 [125]

Vom Leben erlöst zu sein und wieder todte Natur werden kann als Fest empfunden werden – vom Sterbenwollenden. Die Natur lieben! Das Todte wieder verehren! Es ist nicht der Gegensatz, sondern der Mutterschooß, die Regel, welche mehr Sinn hat als die Ausnahme: denn Unvernunft und Schmerz sind bloß bei der sogenannten "zweckmäßigen" Welt, im Lebendigen.

11 [126]

Die stärksten Individuen werden die sein, welche den Gattungsgesetzen widerstreben und dabei nicht zu Grunde gehen, die Einzelnen. Aus ihnen bildet sich der neue Adel: aber zahllose Einzelne müssen bei seiner Entstehung zu Grunde gehen! Weil sie allein die erhaltende Gesetzlichkeit und die gewohnte Luft verlieren.

11 [127]

Merkwürdige Thätigkeit des Intellekts! Beim Geschlechtstrieb begehrt eine Person nach der anderen als dem Mittel, um den Samen los zu werden oder das Ei zu befruchten. Dies gerade weiß der Intellekt nicht: er fragt: warum dies Begehren? er erwägt was alles eine Person begehrenswerth macht und sagt Jetzt: es muß jene Person diese begehrenswerth machenden Eigenschaften alle haben! – so schließt er und glaubt nunmehr so fest daran, wie wir im Traum an das Traumbild glauben. Das Glauben an seine Schlüsse ist charakteristisch. Bei allen Affekten ist der Intellekt dermaaßen thierisch-primitiv, wie im Traume. – Diese thierischen Schlüsse für alle Affekte nachzuweisen. – Was ist denn die Skepsis? Wann und in welchem Zustande wird denn der Intellekt so fein, so mißtrauisch gegen seine Schlüsse? so wenig traumhaft?

11 [128]

Jetzt hat man den Kampf überall wieder entdeckt und redet vom Kampfe der Zellen, Gewebe, Organe, Organismen. Aber man kann sämmtliche uns bewußte Affekte in ihnen wiederfinden – zuletzt, wenn dies geschehen ist, drehen wir die Sache um und sagen: das was wirklich vor sich geht bei der Regsamkeit unserer menschlichen Affekte sind jene physiologischen Bewegungen, und die Affekte (Kämpfe usw.) sind nur intellektuelle Ausdeutungen, dort wo der Intellekt gar nichts weiß, aber doch alles zu wissen meint. Mit dem Wort "Ärger" "Liebe" "Haß" meint er das Warum? bezeichnet zu haben, den Grund der Bewegung; ebenso mit dem Worte "Wille" usw. – Unsere Naturwissenschaft ist jetzt auf dem Wege, sich die kleinsten Vorgänge zu verdeutlichen durch unsere angelernten Affekt-Gefühle, kurz eine Sprechart zu schaffen für jene Vorgänge: sehr gut! Aber es bleibt eine Bilderrede.

11 [129]

Fähigkeit, intelligent zu hören!

11 [130]

Unsere Triebe und Leidenschaften sind ungeheure Zeiträume hindurch in Gesellschafts- und Geschlechtsverbänden gezüchtet worden (vorher wohl in Affen-Heerden): so sind sie als sociale Triebe und Leidenschaften stärker als als individuelle, auch jetzt noch. Man haßt mehr, plötzlicher, unschuldiger (Unschuld ist den ältest vererbten Gefühlen zu eigen) als Patriot als als Individuum; man opfert schneller sich für die Familie als für sich: oder für eine Kirche, Partei. Ehre ist das stärkste Gefühl für Viele d. h. ihre Schätzung ihrer selber ordnet sich der Schätzung Anderer unter und begehrt von dort seine Sanktion. – Dieser nicht individuelle Egoismus ist das Ältere, Ursprünglichere; daher so viel Unterordnung, Pietät (wie bei den Chinesen) Gedankenlosigkeit über das eigene Wesen und Wohl, es liegt das Wohl der Gruppe uns mehr am Herzen. Daher die Leichtigkeit der Kriege: hier fällt der Mensch in sein älteres Wesen zurück. – Die Zelle ist zunächst mehr Glied als Individuum; das Individuum wird im Verlauf der Entwicklung immer complicirter, immer mehr Gliedergruppe, Gesellschaft. Der freie Mensch ist ein Staat und eine Gesellschaft von Individuen. – Die Entwicklung der Heerden-Thiere und gesellschaftlichen Pflanzen ist eine ganz andere als die der einzeln lebenden. – Einzeln lebende Menschen, wenn sie nicht zu Grunde gehen, entwickeln sich zu Gesellschaften, eine Menge von Arbeitsgebieten wird entwickelt, und viel Kampf der Triebe um Nahrung Raum Zeit ebenfalls. Die Selbstregulirung ist nicht mit Einem Male da. Ja, im Ganzen ist der Mensch ein Wesen, welches nothwendig zu Grunde geht, weil es sie noch nicht erreicht hat. Wir sterben alle zu jung aus tausend Fehlern und Unwissenheiten der Praxis. – Der freieste Mensch hat das größte Machtgefühl über sich, das größte Wissen über sich, die größte Ordnung im nothwendigen Kampfe seiner Kräfte, die verhältnißmäßig größte Unabhängigkeit seiner einzelnen Kräfte, den verhältnißmäßig größten Kampf in sich, er ist das zwieträchtigste Wesen und das wechselreichste und das langlebendste und das überreich begehrende, sich nährende, das am meisten von sich ausscheidende und sich erneuernde.

11 [131]

Eine Bewegung tritt ein 1) durch einen direkten Reiz z.B. beim Frosch, dein man die Großhirnhemisphäre ausgeschnitten hat und dem das Automatische fehlt 2) durch Vorstellung der Bewegung, durch das Bild des Vorgangs in uns. Dies ist ein höchst oberflächliches Bild – was weiß der Mensch vom Kauen, wenn er das Kauen sich vorstellt! – aber unzählige Male ist dem durch Reize hervorgebrachten Vorgange das Bild des Vorgangs in Auge und Gehirn gefolgt und schließlich ist ein Band da, so fest, daß der umgedrehte Prozeß eintritt: sobald jenes Bild entsteht, entsteht die entsprechende Bewegung, das Bild dient als auslösen der Reiz.

Damit ein Reiz wirklich auslösend wirkt, muß er stärker sein als der Gegenreiz, der immer auch da ist z. B. die Lust der Ruhe der Trägheit muß aufgehoben werden. So wirkt das Bild eines Vorgangs nicht immer als auslösender Reiz, weil ein wirklicher Gegenreiz da ist, der stärker ist. Wir reden da von " Wollen-und-nicht-können" – der Gegenreiz ist häufig nicht in unserem Bewußtsein, wir merken aber eine widerstrebende Kraft, die dem Reiz des Bildes und sei es noch so deutlich die Kraft entzieht. Es ist ein Kampf da, obschon wir nicht wissen, wer kämpft. Wille, der zur That führt, tritt ein, wenn der widerstrebende Reiz schwächer ist – wir merken immer etwas von einem Widerstande, und das giebt, falsch gedeutet, jenes Nebengefühl von Sieg beim Gelingen des Gewollten. In dieser falschen Deutung haben wir den Ursprung vom Glauben an den freien Willen. "Wir" sind es nicht, die ihre Vorstellung zum Siege bringen – sondern sie siegt, weil der Gegenreiz schwächer ist. Aber gar, daß der Mechanismus vor sich geht, hat gar nichts mit unserer Willkür zu thun – wir kennen ihn nicht einmal! Wie könnten wir ihn auch nur "wollen"! Was ist z. B. das Ausstrecken unseres Arm's für unser Bewußtsein!!

11 [132]

Die Vernunft! Ohne Wissen ist sie etwas ganz Thörichtes, selbst bei den größten Philosophen. Wie phantasirt Spinoza über die Vernunft! Ein Grundirrthum ist der Glaube an die Eintracht und das Fehlen des Kampfes – dies wäre eben Tod! Wo Leben ist, ist eine genossenschaftliche Bildung, wo die Genossen um die Nahrung den Raum kämpfen, wo die schwächeren sich anfügen, kürzer leben, weniger Nachkommen haben: Verschiedenheit herrscht in den kleinsten Dingen, Samenthierchen Eiern – die Gleichheit ist, ein großer Wahn. Unzählige Wesen gehen am Kampf zu Grunde, – einige seltne Fälle erhalten sich. – Ob die Vernunft bisher im Ganzen mehr erhalten als zerstört hat, mit ihrer Einbildung, alles zu wissen, den Körper zu kennen, zu "wollen" -? Die Centralisation ist gar keine so vollkommene – und die Einbildung der Vernunft, dies Centrum zu sein ist gewiß der größte Mangel dieser Vollkommenheit.

11 [133]

Wir können nur "wollen", was wir gesehen haben also seit der Ausbildung des Auges giebt es erst Vorstellungen im Gedächtniß, und diesen, wenn sie stark genug reizen, folgen dann Handlungen. Vorher sind afferente Reize nöthig, um die Handlungen hervorzubringen.

11 [134]

Wenn wir die Eigenschaften des niedersten belebten Wesens in unsere "Vernunft" übersetzen, so werden moralische Triebe daraus. Ein solches Wesen assimilirt sich das Nächste, verwandelt es in sein Eigenthum (Eigenthum ist zuerst Nahrung und Aufspeicherung von Nahrung), es sucht möglichst viel sich einzuverleiben, nicht nur den Verlust zu compensirenes ist habsüchtig. So wächst es allein und endlich wird es so reproduktiv – es theilt sich in 2 Wesen. Dem unbegrenzten Aneignungstriebe folgt Wachsthum und Generation. – Dieser Trieb bringt es in die Ausnützung des Schwächeren, und in Wettstreit mit ähnlich Starken, er kämpft d. h. er haßt, fürchtet, verstellt sich. Schon das Assimiliren ist: etwas Fremdes sich gleich machen, tyrannisiren – Grausamkeit.

Es ordnet sich unter, es verwandelt sich in Funktion und verzichtet auf viele ursprüngliche Kräfte und Freiheiten fast ganz, und lebt so fort – Sklaverei ist nothwendig zur Bildung eines höheren Organismus, ebenso Kasten. Verlangen nach "Ehre" ist – seine Funktion anerkannt wissen wollen. Der Gehorsam ist Zwang Lebensbedingung, schließlich Lebensreiz. – Wer am meisten Kraft hat, andere zur Funktion zu erniedrigen, herrscht – die Unterworfenen aber haben wieder ihre Unterworfenen – ihre fortwährenden Kämpfe: deren Unterhaltung bis zu einem gewissen Maaße ist Bedingung des Lebens für das Ganze. Das Ganze wiederum sucht seinen Vortheil und findet Gegner. – Wenn alle sich mit "Vernunft" an ihren Posten stellen wollten und nicht fortwährend so viel Kraft und Feindseligkeit äußern wollten, als sie brauchen, um zu leben – so fehlte die treibende Kraft im Ganzen: die Funktionen ähnlichen Grades kämpfen, es muß fortwährend Acht gegeben werden, jede Laßheit wird ausgenützt, der Gegner wacht. – Ein Verband muß streben überreich zu werden (Übervölkerung), um einen neuen zu produziren (Colonien), um zu zerfallen in 2 selbständige Wesen. Mittel, dem Organismus Dauer, ohne das Ziel der Fortpflanzung, zu geben, richten ihn zu Grunde, sind unnatürlich – wie jetzt die klugen "Nationen" Europa's. – Fortwährend scheidet jeder Körper aus, er secernirt das ihm nicht Brauchbare an den assimilirten Wesen: das was der Mensch verachtet, wovor er Ekel hat, was er böse nennt, sind die Excremente. Aber seine unwissende "Vernunft" bezeichnet ihm oft als böse, was ihm Noth macht, unbequem ist, den Anderen, den Feind, er verwechselt das Unbrauchbare und das Schwerzuerwerbende Schwerzubesiegende Schwer-Einzuverleibende. Wenn er "mittheilt" an Andere, "uneigennützig" ist – so ist dies vielleicht nur die Ausscheidung seiner unbrauchbaren faeces, die er aus sich wegschaffen muß, um nicht daran zu leiden. Er weiß, daß dieser Dünger dem fremden Felde nützt und macht sich eine Tugend aus seiner "Freigebigkeit". -"Liebe" ist Empfindung für das Eigenthum oder das, was wir zum Eigenthum wünschen.

11 [135]

"Wirkung." Der Reiz, den Einer ausübt, die Anregung, die er giebt, bei der Andere ihre Kräfte auslösen (z. B. der Religionsstifter) ist gewöhnlich mit der Wirkung verwechselt worden: man schließt aus großen Kraft-Auslösungen auf große "Ursachen". Falsch! Es können unbedeutende Reize und Menschen sein: aber die Kraft war angesammelt und lag zur Explosion bereit! – Blick auf die Weltgeschichte!

11 [136]

Wenn ein Forscher zu ungemeinen Resultaten kommt (wie Mayer), so ist dies noch kein Beweis für ungemeine Kraft: zufällig wurde sein Talent an dem Punkte thätig, wo die Entdeckung vorbereitet war. Hätte ein Zufall Mayer'n zum Philologen gemacht, er hätte mit dem gleichen Scharfsinn Namhaftes geleistet, aber nichts, deswegen er "zum Genie" ausposaunt würde. – Nicht die Resultate beweisen den großen Erkennenden: auch nicht einmal die Methode, indem über diese zu jeder Zeit verschiedene Lehren und Ansprüche existiren. Sondern die Menge, namentlich des Ungleichartigen, das Beherrschen großer Massen und das Unificiren, das mit neuem Auge Ansehn – des Alten usw. –

11 [137]

Moses Mendelsohn dieser Erzengel der Altklugheit meinte in Betreff der Zwecke, Spinoza werde doch nicht so närrisch gewesen sein, sie zu leugnen! –

11 [138]

Unser Gedächtniß beruht auf dem Gleichsehen und Gleichnehmen: also auf dem Ungenausehen; es ist ursprünglich von der größten Grobheit und sieht fast alles gleich an. – Daß unsere Vorstellungen als auslösende Reize wirken, kommt daher, daß wir viele Vorstellungen immer als das Gleiche vorstellen und empfinden, also auf dem groben Gedächtniß, welches gleich sieht, und der Phantasie, welche aus Faulheit gleich dichtet, was in Wahrheit verschieden ist. – Die Bewegung des Fußes als Vorstellung ist von der darauf folgenden Bewegung höchst verschieden!

11 [139]

Im kleinsten Organism bildet sich fortwährend Kraft und muß sich dann auslösen: entweder von sich aus, wenn die Fülle da ist, oder es kommt ein Reiz von außen. Wohin die Kraft sich wendet? sicher nach dem Gewohnten: also wohin die Reize leiten, dahin wird auch die spontane Auslösung sich bewegen. Die häufigeren Reize erziehen auch die Richtung der spontanen Auslösung.

11 [140]

Oh die falschen Gegensätze! Krieg und "Frieden"! Vernunft und Leidenschaft! Subjekt Objekt! Dergleichen giebt es nicht!

11 [141]

Die Wiederkunft des Gleichen.

Entwurf.

1. Die Einverleibung der Grundirrthümer.

2. Die Einverleibung der Leidenschaften.

3. Die Einverleibung des Wissens und des verzichtenden Wissens. (Leidenschaft der Erkenntniss)

4. Der Unschuldige. Der Einzelne als Experiment. Die Erleichterung des Lebens, Erniedrigung, Abschwächung – Übergang.

5. Das neue Schwergewicht: die ewige Wiederkunft des Gleichen. Unendliche Wichtigkeit unseres Wissen's, Irren's, unsrer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende. Was machen wir mit dem Reste unseres Lebens – wir, die wir den grössten Theil desselben in der wesentlichsten Unwissenheit verbracht haben? Wir lehren die Lehre – es ist das stärkste Mittel, sie uns selber einzuverleiben. Unsre Art Seligkeit, als Lehrer der grössten Lehre.

Anfang August 1881 in Sils-Maria,

6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen

menschlichen Dingen! –

Zu 4) Philosophie der Gleichgültigkeit. Was früher am stärksten reizte, wirkt jetzt ganz anders, es wird nur noch als Spiel angesehn und gelten gelassen (die Leidenschaften und Arbeiten) als ein Leben im Unwahren principiell verworfen, als Form und Reiz aber ästhetisch genossen und gepflegt, wir stellen uns wie die Kinder zu dem, was früher den Ernst des Daseins ausmachte. Unser Streben des Ernstes ist aber alles als werdend zu verstehen, uns als Individuum zu verleugnen, möglichst aus vielen Augen in die Welt sehen, leben in Trieben und Beschäftigungen, um damit sich Augen zu machen, zeitweilig sich dem Leben überlassen, um hernach zeitweilig über ihm mit dem Auge zu ruhen: die Triebe unterhalten als Fundament alles Erkennens, aber wissen, wo sie Gegner des Erkennens werden: in summa abwarten, wie weit das Wissen und die Wahrheit sich einverleiben können – und in wiefern eine Umwandlung des Menschen eintritt, wenn er endlich nur noch lebt, um zu erkennen. – Dies ist Consequenz von der Leidenschaft der Erkenntniß: es giebt für ihre Existenz kein Mittel, als die Quellen und Mächte der Erkenntniß, die Irrthümer und Leidensch<aften> auch zu erhalten, aus deren Kampfe nimmt sie ihre erhaltende Kraft. – Wie wird dies Leben in Bezug auf seine Summe von Wohlbefinden sich ausnehmen? Ein Spiel der Kinder, auf welches das Auge des Weisen blickt, Gewalt haben über diesen und jenen Zustand – und den Tod, wenn so etwas nicht möglich ist. – Nun kommt aber die schwerste Erkenntniß und macht alle Arten Lebens furchtbar bedenkenreich: ein absoluter Überschuß von Lust muß nachzuweisen sein, sonst ist die Vernichtung unser selbst in Hinsicht auf die Menschheit als Mittel der Vernichtung der Menschheit zu wählen. Schon dies: wir haben die Vergangenheit, unsere und die aller Menschheit, auf die Wage zu setzen und auch zu überwiegen – nein! dieses Stück Menschheitsgeschichte wird und muß sich ewig wiederholen, das dürfen wir aus der Rechnung lassen, darauf haben wir keinen Einfluß: ob es gleich unser Mitgefühl beschwert und gegen das Leben überhaupt einnimmt. Um davon nicht umgeworfen zu werden, darf unser Mitleid nicht groß sein. Die Gleichgültigkeit muß tief in uns gewirkt haben und der Genuß im Anschauen auch. Auch das Elend der zukünftigen Menschheit soll uns nichts angehn. Aber ob wir noch leben wollen, ist die Frage: und wie!

Zu, erwägen: die verschiedenen erhabenen Zustände, die ich hatte, als Grundlagen der verschiedenen Capitel und deren Materien – als Regulator des in jedem Capitel waltenden Ausdrucks, Vortrags, Pathos, – so eine Abbildung meines Ideals gewinnen, gleichsam durch Addition. Und dann höher hinauf!

11 [142]

Rede ich wie einer, dem es offenbart worden ist? So verachtet mich und hört mir nicht zu. – Seid ihr noch solche welche Götter nöthig haben? Hat eure Vernunft noch keinen Ekel dabei, so billig und schlecht sich speisen zu lassen?

11 [143]

"Aber wenn alles nothwendig ist, was kann ich über meine Handlungen verfügen?" Der Gedanke und Glaube ist ein Schwergewicht, welches neben allen anderen Gewichten auf dich drückt und mehr als sie. Du sagst, daß Nahrung Ort Luft Gesellschaft dich wandeln und bestimmen? Nun, deine Meinungen thun es noch mehr, denn diese bestimmen dich zu dieser Nahrung Ort Luft Gesellschaft. – Wenn du dir den Gedanken der Gedanken einverleibst, so wird er dich verwandeln. Die Frage bei allem, was du thun willst: "ist es so, daß ich es unzählige Male thun will?" ist das größte Schwergewicht.

11 [144]

Es wäre entsetzlich, wenn wir noch an die Sünde glaubten: sondern was wir auch thun werden, in unzähliger Wiederholung, es ist unschuldig. Wenn der Gedanke der ewigen Wiederkunft aller Dinge dich nicht überwältigt, so ist es keine Schuld: und es ist kein Verdienst, wenn er es thut. – Von allen unseren Vorfahren denken wir milder als sie selber dachten, wir trauern über ihre einverleibten Irrthümer, nicht über ihr Böses.

1. Die mächtigste Erkenntniß.

2. Die Meinungen und Irrthümer verwandeln den Menschen und geben ihm die Triebe – oder: die einverleibten Irrthümer.

3. Die Nothwendigkeit und die Unschuld.

4. Das Spiel des Lebens.

11 [145]

Die neue Erziehung hat zu verhindern, daß die Menschen Einer ausschließlichen Neigung verfallen und zum Organ werden, gegenüber der natürlichen Tendenz zur Arbeitstheilung. Es sollen die herrschenden überschauenden Wesen geschaffen werden, die dem Spiel des Lebens zuschauen und es mitspielen, bald hier, bald dort, ohne allzuheftig hineingerissen zu werden. Ihnen muß schließlich die Macht zufallen, ihnen wird sie anvertraut, weil sie keinen heftigen, ausschließlich auf Ein Ziel gerichteten Gebrauch davon machen. Zunächst giebt man ihnen das Geld in die Hand, zum Zweck der Erziehung (die ersten Erzieher müssen sich selber erziehen!), dann weil Geld in ihren Händen am sichersten ist (überall sonst wird es verbraucht für über heftige einseitige Tendenzen). So bildet sich eine neue regierende Kaste.

11 [146]

Der Widerwille gegen das Leben ist selten. Wir erhalten uns darin und sind selber am Ende und in schweren Lagen einverstanden damit, nicht aus Furcht vor Schlimmerem, nicht aus Hoffnung auf Besseres, nicht aus Gewohnheit (die Langeweile wäre) nicht wegen der gelegentlichen Lust – sondern wegen der Abwechslung und weil im Grunde nichts eine Wiederholung ist, aber an Erlebtes erinnert. Der Reiz des Neuen und doch an den alten Geschmack Anklingenden – wie eine Musik mit vielem Häßlichen.

11 [147]

Eine neue Lehre trifft zu allerletzt auf ihre besten Vertreter, auf die altgesicherten und sichernden Naturen, weil in ihnen die früheren Gedanken mit der Fruchtbarkeit eines Urwalds durcheinandergewachsen und undurchdringlich sind. Die Schwächeren Leereren Kränkeren Bedürftigeren sind die, welche die neue Infektion aufnehmen – die ersten Anhänger beweisen nichts gegen eine Lehre. Ich glaube, die ersten Christen waren das unausstehlichste Volk mit ihren "Tugenden".

11 [148]

Die Welt der Kräfte erleidet keine Verminderung: denn sonst wäre sie in der unendlichen Zeit schwach geworden und zu Grunde gegangen. Die Welt der Kräfte erleidet keinen Stillstand: denn sonst wäre er erreicht worden, und die Uhr des Daseins stünde still. Die Welt der Kräfte kommt also nie in ein Gleichgewicht, sie hat nie einen Augenblick der Ruhe, ihre Kraft und ihre Bewegung sind gleich groß für jede Zeit. Welchen Zustand diese Welt auch nur erreichen kann, sie muß ihn erreicht haben und nicht einmal, sondern unzählige Male. So diesen Augenblick: er war schon einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren, alle Kräfte genau so vertheilt, wie jetzt: und ebenso steht es mit dem Augenblick, der diesen gebar und mit dem, welcher das Kind des jetzigen ist. Mensch! Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen – eine große Minute Zeit dazwischen, bis alle Bedingungen, aus denen du geworden bist, im Kreislaufe der Welt, wieder zusammenkommen. Und dann findest du jeden Schmerz und jede Lust und jeden Freund und Feind und jede Hoffnung und jeden Irrthum und jeden Grashalm und jeden Sonnenblick wieder, den ganzen Zusammenhang aller Dinge. Dieser Ring, in dem du ein Korn bist, glänzt immer wieder. Und in jedem Ring des Menschen-Daseins überhaupt giebt <es> immer eine Stunde, wo erst Einem, dann Vielen, dann Allen der mächtigste Gedanke auftaucht, der von der ewigen Wiederkunft aller Dinge – es ist jedesmal für die Menschheit die Stunde des Mittags.

11 [149]

Auch die chemischen Qualitäten fließen und ändern sich: mag der Zeitraum auch ungeheuer sein, daß die jetzige Formel einer Zusammensetzung durch den Erfolg widerlegt wird. Einstweilen sind die Formeln wahr: denn sie sind grob; was ist denn 9 Theile Sauerstoff zu 11 Theilen Wasserstoff! Dies 9 : 11 ist vollends unmöglich genau zu machen, es ist immer ein Fehler bei der Verwirklichung, folglich eine gewisse Spannweite, innerhalb deren das Experiment gelingt. Aber ebenfalls innerhalb derselben ist die ewige Veränderung, der ewige Fluß aller Dinge, in keinem Augenblick ist Sauerstoff genau dasselbe wie im vorigen, sondern etwas Neues: wenn auch diese Neuheit zu fein für alle Messungen ist, ja die ganze Entwicklung aller der Neuheiten während der Dauer des Menschengeschlechts vielleicht noch nicht groß genug ist, um die Formel zu widerlegen. – Es giebt so wenig Formen, wie Qualitäten.

11 [150]

Wir können uns das Werden nicht anders denken als den Übergang aus einem beharrenden "todten" Zustand in einen anderen beharrenden "todten" Zustand. Ach, wir nennen das "Todte" das Bewegungslose! Als ob es etwas Bewegungsloses gäbe! Das Lebende ist kein Gegensatz des Todten, sondern ein Spezialfall.

11 [151]

Unsere Annahme, daß es Körper Flächen Linien Formen gebt, ist erst die Folge unserer Annahme, daß es Substanzen und Dinge, Beharrendes giebt. So gewiß unsere Begriffe Erdichtungen sind, so sind es auch die Gestalten der Mathematik. Dergleichen giebt es nicht – wir können eine Fläche, einen Kreis, eine Linie ebenso wenig verwirklichen als einen Begriff. Die ganze Unendlichkeit liegt immer als Realität und Hemmniß zwischen 2 Punkten.

11 [152]

Wenn nicht alle Möglichkeiten in der Ordnung und Relation der Kräfte bereits erschöpft wären, so wäre noch keine Unendlichkeit verflossen. Weil dies aber sein muß, so giebt es keine neue Möglichkeit mehr und alles muß schon dagewesen sein, unzählige Male.

11 [153]

Unser Intellekt ist nicht zum Begreifen des Werdens eingerichtet, er strebt die allgemeine Starrheit zu beweisen, Dank seiner Abkunft aus Bildern. Alle Philosophen haben das Ziel gehabt, zum Beweis des ewigen Beharrens, weil der Intellekt darin seine eigene Form und Wirkung fühlt.

11 [154]

Nichts ist congruent in der Wirklichkeit, denn es giebt da keine Flächen.

11 [155]

Unsere Sinne zeigen uns nie ein Nebeneinander sondern stets ein Nacheinander. Der Raum und die menschlichen Gesetze des Raumes setzen die Realität von Bildern Formen Substanzen und deren Dauerhaftigkeit voraus, d.h. unser Raum gilt einer imaginären Welt. Vom Raum, der zum ewigen Fluß der Dinge gehört, wissen wir nichts.

11 [156]

Im Grunde ist die Wissenschaft darauf aus, festzustellen, wie der Mensch – nicht das Individuum – zu allen Dingen und zu sich selber empfindet, also die Idiosyncrasie Einzelner und Gruppen auszuscheiden und das beharrende Verhältniß festzustellen. Nicht die Wahrheit, sondern der Mensch wird erkannt und zwar innerhalb aller Zeiten, wo er existirt. D. h. ein Phantom wird construirt, fortwährend arbeiten alle daran, um das zu finden, worüber man übereinstimmen muß, weil es zum Wesen des Menschen gehört. Dabei lernte man, daß Unzähliges nicht wesenhaft war, wie man lange glaubte, und daß mit der Feststellung des Wesenhaften nichts für die Realität bewiesen sei als daß die Existenz des Menschen bis jetzt vom Glauben an diese "Realität" abgehangen hat (wie Körper Dauer der Substanz usw.) Die Wissenschaft setzt also den Prozeß nur fort, der das Wesen der Gattung constituirt hat, den Glauben an gewisse Dinge endemisch zu machen und den Nichtglaubenden auszuscheiden und absterben zu lassen. Die erreichte Ähnlichkeit der Empfindung (über den Raum, oder das Zeitgefühl oder das Groß- und Kleingefühl) ist eine Existenzbedingung der Gattung geworden, aber mit der Wahrheit hat es nichts zu thun. Der "Verrückte" die Idiosyncrasie beweisen nicht die Unwahrheit einer Vorstellung, sondern deren Abnormität; es läßt sich mit ihr nicht für eine Masse leben. Es ist der Massen-instinkt, der auch in der Erkenntniß waltet: ihre Existenzbedingungen will sie immer besser erkennen, um immer länger zu leben. Uniformität der Empfindung, ehemals durch Gesellschaft Religion erstrebt, wird jetzt durch die Wissenschaft erstrebt: der Normalgeschmack an allen Dingen festgestellt, die Erkenntniß, ruhend auf dem Glauben an das Beharrende, steht im Dienste der gröberen Formen des Beharrens (Masse Volk Menschheit) und will die feineren Formen, den idiosyncrasischen Geschmack ausscheiden und tödten – sie arbeitet gegen die Individualisirung, den Geschmack, der nur für Einen Lebensbedingung ist. – Die Gattung ist der gröbere Irrthum, das Individuum der feinere Irrthum, es kommt später. Es kämpft für seine Existenz, für seinen neuen Geschmack, für seine relativ einzige Stellung zu allen Dingen – es hält diese für besser als den Allgemeingeschmack und verachtet ihn. Es will herrschen. Aber da entdeckt es, daß es selber etwas Wandelndes ist und einen wechselnden Geschmack hat, mit seiner Feinheit geräth es hinter das Geheimniß, daß es kein Individuum giebt, daß im kleinsten Augenblick es etwas Anderes ist als im nächsten und daß seine Existenzbedingungen die einer Unzahl Individuen sind: der unendlich kleine Augenblick ist die höhere Realität und Wahrheit, ein Blitzbild aus dem ewigen Flusse. So lernt es: wie alle genießende Erkenntniß auf dem groben Irrthum der Gattung, den feineren Irrthümern des Individuums, und dem feinsten Irrthum des schöpferischen Augenblicks beruht.

11 [157]

Hüten wir uns, diesem Kreislaufe irgend ein Streben, ein Ziel beizulegen: oder es nach unseren Bedürfnissen abzuschätzen als langweilig, dumm usw. Gewiß kommt in ihm der höchste Grad von Unvernunft ebenso wohl vor wie das Gegentheil: aber es ist nicht darnach zu messen, Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit sind keine Prädikate für das All. – Hüten wir uns, das Gesetz dieses Kreises als geworden zu denken, nach der falschen Analogie der Kreisbewegung innerhalb des Ringes: es gab nicht erst ein Chaos und nachher allmählich eine harmonischere und endlich eine feste kreisförmige Bewegung aller Kräfte: vielmehr alles ist ewig, ungeworden: wenn es ein Chaos der Kräfte gab, So war auch das Chaos ewig und kehrte in jedem Ringe wieder. Der Kreislauf ist nichts Gewordenes, er ist das Urgesetz, so wie die Kraftmenge Urgesetz ist, ohne Ausnahme und Übertretung. Alles Werden ist innerhalb des Kreislaufs und der Kraftmenge; also nicht durch falsche Analogie die werdenden und vergehenden Kreisläufe z. B. der Gestirne oder Ebbe und Fluth Tag und Nacht Jahreszeiten zur Charakristik des, ewigen Kreislaufs zu verwenden.

11 [158]

Hüten wir uns, eine solche Lehre wie eine plötzliche Religion zu lehren! Sie muß langsam einsickern, ganze Geschlechter müssen an ihr bauen und fruchtbar werden, – damit sie ein großer Baum werde, der alle noch kommende Menschheit überschatte. Was sind die Paar Jahrtausende, in denen sich das Christenthum erhalten hat! Für den mächtigsten Gedanken bedarf es vieler Jahrtausende – lange lange muß er klein und ohnmächtig sein!

11 [159]

Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben! Dieser Gedanke enthält mehr als alle Religionen, welche dies Leben als ein flüchtiges verachten und nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten.

11 [160]

Diese Lehre ist milde gegen die, welche nicht an sie glauben, sie hat keine Höllen und Drohungen. Wer nicht glaubt, hat ein flüchtiges Leben in seinem Bewußtsein.

11 [161]

Nicht nach fernen unbekannten Seligkeiten und Segnungen und Begnadigungen ausschauen, sondern so leben, daß wir nochmals leben wollen und in Ewigkeit so leben wollen! – Unsere Aufgabe tritt in jedem Augenblick an uns heran.

11 [162]

Damit es irgend einen Grad von Bewußtsein in der Welt geben könne, mußte eine unwirkliche Welt des Irrthums – entstehen: Wesen mit dem Glauben an Beharrendes an Individuen usw. Erst nachdem eine imaginäre Gegenwelt im Widerspruch zum absoluten Flusse entstanden war, konnte auf dieser Grundlage etwas erkannt werden – ja zuletzt kann der Grundirrthum eingesehn werden worauf alles beruht (weil sich Gegensätze denken lassen) – doch kann dieser Irrthum nicht anders als mit dem Leben vernichtet werden: die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die Einverleibung nicht, unsere Organe (zum Leben) sind auf den Irrthum eingerichtet. So entsteht im Weisen der Widerspruch des Lebens und seiner letzten Entscheidungen; sein Trieb zur Erkenntniß hat den Glauben an den Irrthum und das Leben darin zur Voraussetzung.

Leben ist die Bedingung des Erkennens. Irren die Bedingung des Lebens und zwar im tiefsten Grunde Irren. Wissen um das Irren hebt es nicht auf! Das ist nichts Bitteres!

Wir müssen das Irren lieben und pflegen, es ist der Mutterschooß des Erkennens. Die Kunst als die Pflege des Wahnes – unser Cultus.

Um des Erkennens willen das Leben lieben und fördern, um des Lebens willen das Irren Wähnen lieben und fördern. Dem Dasein eine ästhetische Bedeutung geben, unseren Geschmack an ihm mehren, ist Grundbedingung aller Leidenschaft der Erkenntniß.

So entdecken wir auch hier eine Nacht und einen Tag als Lebensbedingung für uns : Erkennen-wollen und Irren-wollen sind Ebbe und Fluth. Herrscht eines absolut, so geht der Mensch zu Grunde; und zugleich die Fähigkeit.

11 [163]

Der politische Wahn, über den ich eben so lächle, wie die Zeitgenossen über den religiösen Wahn früherer Zeiten, ist vor allem Verweltlichung, Glaube an die Welt und Aus-dem-Sinn-Schlagen von "Jenseits" und "Hinterwelt". Sein Ziel ist das Wohlbefinden des flüchtigen Individuums: weshalb der Socialismus seine Frucht ist, d. h. die flüchtigen Einzelnen wollen ihr Glück sich erobern, durch Vergesellschaftung, sie haben keinen Grund zu warten, wie die Menschen mit ewigen Seelen und ewigem Werden und zukünftigem Besserwerden. Meine Lehre sagt: so leben, daß du wünschen mußt, wieder zu leben ist die Aufgabe – du wirst es jedenfalls! Wem das Streben das höchste Gefühl giebt, der strebe: wem Ruhe das höchste Gefühl giebt, der ruhe; wem Einordnung Folgen Gehorsam das höchste Gefühl giebt, der gehorche. Nur möge er bewußt darüber werden, was ihm das höchste Gefühl giebt und kein Mittel scheuen! Es gilt die Ewigkeit!

11 [164]

Ich rede von Instinkt, wenn irgend ein Urtheil (Geschmack in seiner untersten Stufe) einverleibt ist, so daß es jetzt selber spontan sich regt und nicht mehr auf Reize zu warten braucht. Es hat sein Wachsthum für sich und folglich auch seinen nach außen stoßenden Thätigkeits-Sinn. Zwischenstufe: der Halbinstinkt, der nur auf Reize reagirt und sonst todt ist.

11 [165]

Wir wollen ein Kunstwerk immer wieder erleben! So soll man sein Leben gestalten, daß man vor seinen einzelnen Theilen denselben Wunsch hat! Dies der Hauptgedanke! Erst am Ende wird dann die Lehre von der Wiederholung alles Dagewesenen vorgetragen, nachdem die Tendenz zuerst eingepflanzt ist, etwas zu schaffen, welches unter dem Sonnenschein dieser Lehre hundertfach kräftiger gedeihen kann!

11 [166]

Das Ähnliche ist kein Grad des Gleichen: sondern etwas vom Gleichen völlig Verschiedenes.

11 [167]

Wie kann man dem Nächsten Kleinen Flüchtigen Bedeutung geben? A) Indem man es als Wurzel der Gewohnheiten begreift B) als ewig und ebenfalls Ewiges bedingend.

11 [168]

Wer auf den Geist säet, pflanzt Bäume, die sehr spät groß werden. Das was sich vom Vater auf den Sohn vererbt, sind die geübtesten Gewohnheiten (nicht die geschätztesten!) Der Sohn verräth den Vater. Der Fleiß eines Gelehrten ist entsprechend der Thätigkeit seines Vaters: z. B. wenn dieser immer am Comtoir ist oder wenn er nur wie ein Landgeistlicher "arbeitet". Die Griechen der höheren Stände wurden so individuell produktiv, weil sie keinen gedankenlosen Fleiß vererbt bekamen.

11 [169]

Gegen alle wilden Energien wehren wir uns so lange, als wir sie nicht zu benutzen wissen (als Kraft) und so lange nennen wir sie böse. Nachher aber nicht mehr! Frage: wie macht man Verbrechen nützlich? Wie macht man seine eigene Wildheit nützlich?

11 [170]

Ich will gegen die Kunst der Kunstwerke eine höhere Kunst lehren: die der Erfindung von Festen.

11 [171]

Ich erkenne etwas Wahres nur als Gegensatz zu einem wirklich lebendigen Unwahren: so kommt das Wahre ganz kraftlos, als Begriff, zur Welt und muß sich durch Verschmelzung mit lebendigen Irrthümern erst Kräfte geben! Und darum muß man die Irrthümer leben lassen und ihnen ein großes Reich zugestehen. – Ebenso: um individuell leben zu können, muß erst die Gesellschaft hoch gefördert sein und fort und fort gefördert werden – der Gegensatz: im Bunde mit ihr bekommt das Individuelle zuerst einige Kraft. – Endlich erscheint ein Punkt, wo wir über das Individuelle und Idiosynkratische hinauswollen: aber nur im Bunde mit dem Individuum, dem Gegensatze, können wir diesem Streben Kräfte verleihen.

11 [172]

Wie geben wir dem inneren Leben Schwere, ohne es böse und fanatisch gegen Anders-denkende zu machen? Der religiöse Glaube nimmt ab und der Mensch lernt sich als flüchtig begreifen und als unwesentlich, er wird endlich dabei schwach; er übt sich nicht so im Erstreben Ertragen, er will den gegenwärtigen Genuß, er macht sich's leicht – und viel Geist verwendet er vielleicht dabei.

11 [173]

Wie unkräftig war bisher alle physiologische Erkenntiß! während die alten physiologischen Irrthümer spontane Kraft bekommen haben! Lange lange Zeit können wir die neuen Erkenntnisse nur als Reize verwenden – um die spontanen Kräfte zu entladen.

11 [174]

Wie das Böse abgenommen hat! Ehemals setzte man die Absicht zu schaden in jedem Naturereigniß voraus!

11 [175]

Wie gemein hat sich das Christenthum gegen das Alterthum benommen, indem es dasselbe ganz durchteufelte! Gipfel aller verleumderischen Bosheit!

11 [176]

Sklaven-Arbeit! Freien-Arbeit! Erstere Arbeit ist alle Arbeit, die nicht um unserer selber willen gethan wird und die keine Befriedigung in sich hat. Es ist viel Geist noch zu finden, damit ein jeder seine Arbeiten sich befriedigend gestalte.

11 [177]

Das Zeitalter der Experimente! Die Behauptungen Darwin's sind zu prüfen – durch Versuche! Ebenso die Entstehung höherer Organismen aus den niedersten. Es müssen Versuche auf 1000de von Jahren hin geleitet werden! Affen zu Menschen erziehen!

11 [178]

Es ist ein falscher Gesichtspunkt: um die Gattung zu erhalten, werden unzählige Exemplare geopfert. Ein solches "Um" giebt es nicht! Ebenso giebt es keine Gattung, sondern lauter verschiedene Einzelwesen! Also giebt es auch keine Opferung, Verschwendung! Also auch keine Unvernunft dabei! – Die Natur will nicht die "Gattung erhalten"! Thatsächlich erhalten sich viele ähnliche Wesen, mit ähnlichen Existenzbedingungen leichter als abnorme Wesen.

11 [179]

Während in sehr vielen Fällen das erste Kind einer Ehe einen genügenden Grund abgiebt, keine weiteren Kinder in die Welt zu setzen: wird doch die Ehe dadurch nicht gelöst, sondern trotz des voraussichtlichen Nachtheils neuer Kinder (zum Schaden aller Späteren!) festgehalten! Wie kurzsichtig! Aber der Staat will und wollte keine bessere Qualität, sondern Masse! Deshalb liegt ihm an der Züchtung der Menschen nichts! – Einzelne ausgezeichnete Männer sollten bei mehreren Frauen Gelegenheit haben, sich fortzupflanzen; und einzelne Frauen, mit besonders günstigen Bedingungen, sollten auch nicht an den Zufall Eines Mannes gebunden sein. Die Ehe wichtiger zu nehmen! Weil der Staat nicht mehr nöthig ist.

11 [180]

Man redet dem Luxus jetzt das Wort als dem stärksten Reizmittel auf Arme, Arbeit-Geplagte und Verheirathete: <um> seinetwillen streben sie nach Reichthum: man befeindet die Zufriedenheit und die idyllische Philosophie als Schädiger des National-Reichthums und der – Arbeitskraft. Möglichst viel Reichthum, möglichst viel Neid und Unlust, möglichst viel Concurrenz! In reichen Staaten seien die Künste am besten gefördert worden, durch Luxusmenschen, die Kunst ein Mittel, den Neid der Niederen zu erregen, als ein Stück Luxus. – Andererseits soll ihr Emporwachsen im Luxus eine Apologie des Luxus und der Absicht auf Unzufriedenheit sein: Künste vorübergehend die Unlust solcher Zustände beschwichtigend und betäubend, jedenfalls verherrlichend.

11 [181]

Ein M<ensch> sinkt in meiner Achtung 1) wenn er 200-300 Thaler jährlich hat und trotzdem Kaufmann Beamter oder Soldat noch wird, bei der Wahl eines Lebensberufs 2) wenn er soviel verdient und trotzdem ein noch zeitraubenderes Amt sucht (auch als Gelehrter). Wie! Sind das intellektuelle Menschen! Sich verheirathen wollen und den Sinn des Lebens darüber verlieren!

11 [182]

Ein starker freier M<ensch> empfindet gegen alles Andere die Eigenschaften des Organismus

1) Selbstregulirung: in der Form von Furcht vor allen fremden Eingriffen, im Haß gegen den Feind, im Maaßhalten usw.

2) überreichlicher Ersatz: in der Form von Habsucht Aneignungslust Machtgelüst

3) Assimilation an sich: in der Form von Loben Tadeln Abhängigmachen Anderer von sich, dazu Verstellung List, Lernen, Gewöhnung, Befehlen Einverleiben von Urtheilen und Erfahrungen

4) Sekretion und Excretion: in der Form von Ekel Verachtung der Eigenschaften an sich, die ihm nicht mehr nützen; das Überschüssige mittheilen Wohlwollen

5) metabolische Kraft: zeitweilig verehren bewundern sich abhängig machen einordnen, auf Ausübung der anderen organischen Eigenschaften fast verzichten, sich zum "Organe" umbilden, dienen-können

6) Regeneration: in der Form von Geschlechtstrieb, Lehrtrieb usw.

Nun würde man irren, diese organischen Eigenschaften zuerst bei dem Menschen vorauszusetzen: vielmehr bekommt er diese alle zuletzt, als freigewordener Mensch. Er hat dagegen begonnen als Theil eines Ganzen, welches seine organischen Eigenschaften hatte und den Einzelnen zu seinem Organe machte – so daß durch unsäglich lange Gewöhnung die Menschen zunächst die Affekte der Gesellschaft gegen andere Gesellschaften und Einzelne und alles Lebende und Todte empfinden, und nicht als Individuen! Z. B. er fürchtet und haßt stärker und am stärksten als Mitglied eines Geschlechtes oder Staates, nicht seinen persönlichen Feind, sondern den öffentlichen; ja er empfindet den persönlichen Feind wesentlich als einen öffentlichen (Blutrache) Er zieht in den Krieg, um seinen Staat und Häuptling zu bereichern und zum Überersatz zu verhelfen, mit jeder persönlichen Gefahr der Verkümmerung Entbehrung Verstümmelung. Er assimilirt als Mitglied seiner Gesellschaft Fremdes an sich, lernt für deren Wohl; er verachtet was von Eigenschaften nicht mehr zum Bestande der Gesellschaft nützt, er stößt die höchsten Individuen von sich, wenn sie diesem Nutzen widersprechen. Er verwandelt sich zum Organ im Dienste seiner Gesellschaft durchaus und macht von allen Eigenschaften nur den dadurch eingeschränkten Gebrauch: richtiger: er hat jene anderen Eigenschaften noch nicht und erwirbt sie erst als Organ des Gemeinwesens: als Organ bekommt er die ersten Regungen der sämmtlichen Eigenschaften des Organischen. Die Gesellschaft erzieht erst das Einzelwesen, formt es zum Halb- oder Ganz-Individuum vor, sie bildet sich nicht aus Einzelwesen, nicht aus Verträgen solcher! Sondern höchstens als Kernpunkt ist ein Individuum nöthig (ein Häuptling) und dieser auch nur im Verhältniß zu der tieferen oder höheren Stufe der Anderen "frei". Also: der Staat unterdrückt ursprünglich nicht etwa die Individuen: diese existiren noch gar nicht! Er macht den Menschen überhaupt die Existenz möglich, als Heerdenthieren. Unsere Triebe Affekte werden uns da erst gelehrt: sie sind nichts Ursprüngliches! Es giebt keinen "Naturzustand" für sie! Als Theile eines Ganzen nehmen wir an dessen Existenzbedingungen und Funktionen Antheil und einverleiben uns die dabei gemachten Erfahrungen und Urtheile. Diese gerathen später mit einander in Kampf und Relation, wenn das Band der Gesellschaft zerfällt: er muß in sich die Nachwirkungen des gesellschaftlichen Organismus ausleiden, er muß das Unzweckmäßige von Existenzbedingungen Urtheilen und Erfahrungen, die für ein Ganzes paßten, abbüßen und endlich kommt er dahin, seine Existenzmöglichkeit als Individuum durch Neuordnung und Assimilation Excretion der Triebe in sich zu schaffen. Meistens gehen diese Versuchs-Individuen zu Grunde. Die Zeiten, wo sie entstehen, sind die der Entsittlichung, der sogenannten Corruption d. h. alle Triebe wollen sich jetzt persönlich versuchen und nicht bis dahin jenem persönlichen Nutzen angepaßt zerstören sie das Individuum durch Übermaaß. Oder sie zerfleischen es, in ihrem Kampfe mit einander. Die Ethiker treten dann auf und suchen dem Menschen zu zeigen, wie er doch leben könne, ohne so an sich zu leiden – meistens, indem sie ihm die alte bedingte Lebensweise unter dem Joche der Gesellschaft anempfehlen, nur so daß an Stelle der Gesellschaft ein Begriff tritt – es sind Reaktionäre. Aber sie erhalten Viele, wenn gleich durch Zurückführung in die Gebundenheit. Ihre Behauptung ist, es gebe ein ewiges Sittengesetz ; sie wollen das individuelle Gesetz nicht anerkennen und nennen das Streben dahin unsittlich und zerstörerisch. – Unvermeidlich überwiegen bei einem, der frei werden will, die Funktionen an Kraft, mit denen er (oder seine Vorfahren) der Gesellschaft gedient haben: diese hervorragenden Funktionen lenken und fördern oder beschränken die übrigen – aber alle hat er nöthig, um als Organism selber zu leben, es sind Lebensbedingungen!

Aber wir sind lange Mißgestalten, und dem entspricht das viel größere Mißbehagen der frei werdenden Individuen – im Vergleich zur älteren abhängigen Stufe und das massenhafte Zugrundegehen.

11 [183]

Haupttendenzen: 1) die Liebe zum Leben, zum eigenen Leben auf alle Weise pflanzen! Was auch jeder Einzelne dafür erdenkt, das wird der Andere gelten lassen, und eine neue große Toleranz dafür sich aneignen müssen: so sehr es oft wider seinen Geschmack geht, wenn der Einzelne wirklich die Freude am eigenen Leben mehrt!

2) Eins sein in der Feindschaft gegen alles und Alle, die den Werth des Lebens zu verdächtigen suchen: gegen die Finsterlinge und Unzufriedenen und Murrköpfe. Diesen die Fortpflanzung verwehren! Aber unsere Feindschaft muß selber ein Mittel zu unserer Freude werden! Also lachen, spotten, ohne Verbitterung vernichten! Dies ist unser Todkampf.

Diess Leben – dein ewiges Leben!

11 [184]

Dem wirklichen Verlaufe der Dinge muß auch eine wirkliche Zeit entsprechen, ganz abgesehn von dem Gefühle langer kurzer Zeiträume, wie sie erkennende Wesen haben. Wahrscheinlich ist die wirkliche Zeit unsäglich viel langsamer als wir Menschen die Zeit empfinden: wir nehmen so wenig wahr, obschon auch für uns ein Tag sehr lang erscheint, gegen denselben Tag im Gefühl eines Insekts. Aber unser Blutumlauf könnte in Wahrheit die Dauer eines Erd- und Sonnenlaufs haben. – Sodann empfinden wir uns wahrscheinlich als viel zu groß und haben darin unsere Überschätzung, daß wir ein zu großes Maaß in den Raum hineinempfinden. Es ist möglich, daß alles viel kleiner ist. Also die wirkliche Welt kleiner, aber viel langsamer bewegt, aber unendlich reicher an Bewegungen als wir ahnen.

11 [185]

Der Egoism ist etwas Spätes und immer noch Seltenes: die Heerden-Gefühle sind mächtiger und älter! Z. B. noch immer schätzt sich der Mensch so hoch als die Anderen ihn schätzen (Eitelkeit) Noch immer will er gleiche Rechte mit den Anderen und hat ein Wohlgefühl bei dem Gedanken daran, auch wenn er die Menschen gleich behandelt (was doch der Gerechtigkeit des suum cuique sehr zuwiderläuft!) Er faßt sich gar nicht als etwas Neues in's Auge, sondern strebt sich die Meinungen der Herrschenden anzueignen, ebenfalls erzieht er seine Kinder dazu. Es ist die Vorstufe des Egoismus, kein Gegensatz dazu: der Mensch ist wirklich noch nicht mehr individuum und ego; als Funktion des Ganzen fühlt er seine Existenz noch am höchsten und am meisten gerechtfertigt. Deshalb läßt er über sich verfügen, durch Eltern Lehrer Kasten Fürsten, um zu einer Art Selbstachtung zu kommen – selbst in der Liebe ist er viel mehr der Bestimmte als der Bestimmende. Gehorsam Pflicht erscheint ihm als "die Moral" d. h. er verherrlicht seine Heerdentriebe, indem er sie als schwere Tugenden hinstellt. – Auch im erwachten Individuum ist der Urbestand der Heerdengefühle noch übermächtig und mit dem guten Gewissen verknüpft. Der Christ mit seinem extra ecclesiam nulla salus ist grausam gegen die Gegner der christlichen Heerde; der Staatsbürger verhängt schreckliche Strafen über den Verbrecher, nicht als ego, sondern aus dem alten Instinkte – die That der Grausamkeit des Mordes der Sklaverei (Gefängniß) beleidigt ihn nicht, sobald er sie vom Heerdeninstinkt aus ansieht. – Alle freieren M<enschen> des Mittelalters glaubten, vor allem sei das Heerdengefühl zu erhalten, das seltene Individuum müsse in dieser Hinsicht Verstellung üben, ohne Hirten und den Glauben an allgemeine Gesetze gehe alles drunter und darüber. Wir glauben das nicht mehr – weil wir gesehen haben, daß der Hang zur Heerde so groß ist, daß er immer wieder durchbricht, gegen alle Freiheiten des Gedankens! Es giebt eben noch sehr selten ein ego! Das Verlangen nach Staat, socialen Gründungen, Kirchen usw. ist nicht schwächer geworden. v<ide> die Kriege! Und die "Nationen"!

11 [186]

Die griechischen Gesetzgeber haben den agon so gefördert, um den Wettkampfgedanken vom Staate abzulenken und die politische Ruhe zu gewinnen. (jetzt denkt man an die Concurrenz des Handels) Das Nachdenken über den Staat sollte durch agonale Erhitzung abgelenkt werden – ja turnen und dichten sollte man – dies hatte den Nebenerfolg, die Bürger stark schön und fein zu machen. – Ebenso förderten sie die Knabenliebe, einmal um der Übervölkerung vorzubeugen (welche unruhige verarmte Kreise erzeugt, auch innerhalb des Adels) sodann als Erziehungsmittel zum agon: die Jungen und die Älteren sollten bei einander bleiben, sich nicht trennen und das Interesse der Jungen festhalten – sonst hätte sich der Ehrgeiz der abgesonderten Älteren auf den Staat geworfen, aber mit Knaben konnte man nicht vom Staate sprechen. So benutzte vielleicht Richelieu die Galanterie der Männer, um die ehrgeizigen Triebe abzulenken und andere Gespräche als über den Staat in Curs zu bringen.

11 [187]

Woran gieng die alexandrinische Cultur zu Grunde? Sie vermochte mit all ihren nützlichen Entdeckungen und der Lust an der Erkenntniß dieser Welt doch dieser Welt, diesem Leben nicht die letzte Wichtigkeit zu geben, das jenseits blieb wichtiger! Hierin umzulehren jetzt immer noch die Hauptsache – vielleicht wenn die Metaphysik eben dies Leben mit dem schwersten Accent trifft – nach meiner Lehre!

11 [188]

Im Allgemeinen ist die Richtung des Socialism wie die des Nationalismus eine Reaktion, gegen das Individuellwerden. Man hat seine Noth mit dem ego, dem halbreifen tollen ego: man will es wieder unter die Glocke stellen.

11 [189]

Die Amöben-Einheit des Individuums kommt zuletzt! Und die Philosophen giengen von ihr aus, als ob sie bei jedem da sei! – Die Sittlichkeit ist der Hauptgegenbeweis: überall wo das Individuum auftritt, tritt die Sittenverderbniß auf d. h. der individuelle Maaßstab von Lust und Unlust wird zum ersten Male gehandhabt, und da zeigt sich, wie innerhalb des Einzelnen die Triebe noch gar nicht gelernt haben sich anzupassen, die Einheit ist noch nicht da, oder in Form der gröbsten Gewaltherrschaft Eines Triebes über die anderen – so daß das Ganze gewöhnlich zu Grunde geht! – Damit beginnt die Zeit der freien Menschen – zahllose gehen zu Grunde. – Im Anblick davon rufen die „Weisen" die alte Moral an und suchen sie als angenehm und nützlich für den Einzelnen zu beweisen.

11 [190]

Ein labiles Gleichgewicht kommt in der Natur so wenig vor, wie zwei congruente Dreiecke. Folglich auch kein Stillstand der Kraft überhaupt. Wäre der Stillstand möglich, so wäre er eingetreten!

11 [191]

Die Heerden-Menschen und die selbsteignen Menschen: letztere zuerst als Hirten. –

11 [192]

Schadenwollen als Tendenz ist jetzt im Kampfe der Parteien (der politischen und auch der wissenschaftlichen) seines Tadels entkleidet, ebenso in der Concurrenz der Kaufleute, der Staaten: man untersagt sich gewisse Mittel, aber nicht die Tendenz! Kritik gegen alles geübt ist eine letzte Machtäußerung der Einflußlosen – eine Fortsetzung der Hexerei Nützenwollen durch Gebete und Erhöhung der Phantasie galt ehemals für eine Hauptbeschäftigung des Menschen, einen Gott vergewaltigen und bestimmen zum Guten – es ist das Seitenstück zur Magie: einen Teufel vergewaltigen und zwingen zum Bösen: was wohl auch eine Hauptbeschäftigung war. Das Schwelgen im Wollen und im Bilde der erreichten Absicht und der Glaube, daß dies das Mittel zur Erreichung der Absicht sei: darin waren Alle einmüthig. Man glaubte an einen geheimen Weg außer dem der That und der Mechanik, um zum gleichen Ziel zu kommen.

11 [193]

Spinoza: wir werden nur durch Begierden und Affekte in unserem Handeln bestimmt. Die Erkenntniß muß Affekt sein, um Motiv zu sein. – Ich sage: sie muß Leidenschaft sein, um Motiv zu sein.

ex virtute absolute agere = ex ductu rationis agere, vivere, suum Esse conservare. "von Grund aus nicht anderes suchen als den eigenen Nutzen" "Niemand strebt um eines anderen Wesens willen das eigene Sein zu erhalten." "Das Streben nach Selbsterhaltung ist die Voraussetzung aller Tugend."

"Die Menschen sind sich gegenseitig am nützlichsten, wenn jeder seinen eigenen Nutzen sucht." "Kein einzelnes Wesen in der Welt ist dem Menschen so nützlich, als der Mensch der nach der Richtschnur seiner Vernunft ex ductu rationis lebt. "

"Gut ist alles, was der Erkenntniß wahrhaft dient; schlecht dagegen alles, was sie hindert."

Unsere Vernunft ist unsere größte Macht. Sie ist unter allen Gütern das Einzige, das alle gleichmäßig erfreut, das keiner dern anderen beneidet, das jeder dem Anderen wünscht und um so mehr wünscht als er selbst davon hat. – Einig sind die Menschen nur in der Vernunft. Sie können nicht einiger sein als wenn sie vernunftgemäß leben. Sie können nicht mächtiger sein als wenn sie vollkommen übereinstimmen. – Wir leben im Zustande der Übereinstimmung mit Anderen und mit uns selbst jedenfalls mächtiger als in dem des Zwiespalts. Die Leidenschaften entzweien; sie bringen uns in Widerstreit mit den anderen Menschen und mit uns selbst, sie machen uns feindselig nach außen und schwankend nach innen. – ego: das Alles ist Vorurtheil. Es giebt gar keine Vernunft der Art, und ohne Kampf und Leidenschaft wird alles schwach, Mensch und Gesellschaft.

("Die Begierde ist das Wesen des Menschen selbst, nämlich das Streben, kraft dessen der Mensch in seinem Sein beharren will."

"Jeder ist in dem Grade ohnmächtig als er seinen Nutzen d. h. seine Selbsterhaltung außer Acht läßt."

"Das Streben nach Selbsterhaltung ist die erste und einzige Grundlage der Tugend."

Es giebt im Geiste keinen freien Willen, sondern der Geist wird, dies oder jenes zu wollen, von einer Ursache bestimmt, die ebenfalls von einer anderen bestimmt ist, und diese wiederum von einer anderen, und so fort bis ins Endlose.

Der Wille ist das Vermögen zu bejahen und zu verneinen: nichts Anderes.

Dagegen ich: Voregoismus, Heerdentrieb sind älter als das "Sich-selbst-erhalten-wollen". Erst wird der Mensch als Funktion entwickelt : daraus löst sich später wieder das Individuum, indem es als Funktion unzählige Bedingungen des Ganzen, des Organismus, kennen gelernt und allmählich sich, einverleibt hat.

11 [194]

Die Jesuiten hielten es mit dem Empirismus, Anhänger des Gassendi, Gegner des Descartes (den sie mit den Gründen des Sensualismus angreifen): wie Pater Bourdin. Also sie sind für Thomas Aristoteles Gassendi – gegen Augustin Plato Descartes Idealismus. (Congregation der Väter des Oratorium Jesu und ebenso Port-Royal) Pascal

Arnold Geulinx (in Niederlanden geboren 1625): impossibile est ut is faciat, qui nescit quomodo fiat. Quod nescio, quomodo fiat, ich non facio. – Qua fronte dicam, ich me facere quod quomodo fiat nescio? – Mein Wille soll sich nicht weiter erstrecken als mein Vermögen. Ubi nihil vales, ibi nihil velis.

Virtus est amor rationis. – Amor rationis hoc agit in amante, ut se ipse deserat, a se penitus recedat. Humilitas est incuria sui. Partes humilitatis sunt duae: inspectio sui et despectio sui.

Malebranche: "Betrachte man die Sinne als falsche Zeugen in Betreff der Wahrheit, aber als treue Rathgeber in Rücksicht auf die Erhaltung und den Nutzen des Lebens!" Wir irren, sobald unser Denken in die Abhängigkeit von den Sinnen geräth, wenn der Geist vom Körper sich abhängig macht. Sünde ist es, welche diese Abhängigkeit verschuldet. Das Erkennenwollen durch die Sinne, die Quelle des Irrthums – ist Sünde. Irrthum durch die Sünde verursacht! Der Irrthum wird durch Abkehrung von Gott möglich, durch Unterwerfung unter das Joch des Körpers.

Spinoza oder Teleologie als Asylum ignorantiae.

11 [195]

Mittag und Ewigkeit.

Fingerzeige zu einem neuen Leben.

Zarathustra, geboren am See Urmi, verliess im dreissigsten Jahre seine Heimat, gieng in die Provinz Aria und verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den Zend-Avesta.

11 [196]

Die Sonne der Erkenntniß steht wieder einmal im Mittag: und geringelt liegt die Schlange der Ewigkeit in ihrem Lichte – - es ist eure Zeit, ihr Mittagsbrüder!

11 [197]

Zum "Entwurf einer neuen Art zu leben".

Erstes Buch im Stile des ersten Satzes der neunten Symphonie. Chaos sive natura: "von der Entmenschlichung der Natur". Prometheus wird an den Kaucasus angeschmiedet. Geschrieben mit der Grausamkeit des Kqatoz, "der Macht".

Zweites Buch. Flüchtig-skeptisch-mephistophelisch. "Von der Einverleibung der Erfahrungen." Erkenntniss = Irrthum, der organisch wird und organisirt.

Drittes Buch. Das Innigste und über den Himmeln Schwebendste, was je geschrieben wird: "vom letzten Glück des Einsamen" – das ist der, welcher aus dem "Zugehörigen" zum "Selbsteignen" des höchsten Grades geworden ist: das vollkommene ego: nur erst dies ego hat Liebe, auf den früheren Stufen, wo die höchste Einsamkeit und Selbstherrlichkeit nicht erreicht ist, giebt es etwas anderes als Liebe.

Viertes Buch. Dithyrambisch-umfassend. "Annulus aeternitatis." Begierde, alles noch einmal und ewige Male zu erleben.

Die unablässige Verwandlung – du musst in einem kurzen Zeitraume durch viele Individuen hindurch. Das Mittel ist der unablässige Kampf.

Sils-Maria 26. August 1881

"allem Hübschen und Gefälligen aus dem Wege gehen, als ein weltverachtender Gewaltmensch" sagt J. Burckhardt bei Palazzo Pitti)

11 [198]

Die große Form eines Kunstwerks wird an's Licht treten, wenn der Künstler die große Form in seinem Wesen hat! An sich die große Form ist albern und verdirbt die Kunst, es heißt den Künstler zur Heuchelei verführen oder das Große und Seltene zur Conventions-münze umstempeln wollen. Ein ehrlicher Künstler, der diese gestaltende Kraft in seinem Charakter nicht hat, ist ehrlich, sie auch nicht in seinen Werken haben zu wollen: – wenn er sie überhaupt leugnet und verunglimpft, so ist dies begreiflich und mindestens zu entschuldigen: er kann da nicht über sich. So Wagner. Aber die "unendliche Melodie" ist ein hölzernes Eisen – "die nicht Gestalt gewordene, fertig gewordene Gestalt" – das ist ein Ausdruck für das Unvermögen der Form und eine Art Princip aus dem Unvermögen gemacht. Dramatische Musik und überhaupt Attitüden-Musik verträgt sich freilich am besten mit der formlosen, fließenden Musik – ist deshalb aber niederer Gattung.

11 [199]

Gehorsam Funktionsgefühl Schwächegefühl haben den Werth "des Unegoistischen" aufgebracht: namentlich als man die vollkommene Abhängigkeit von Einem Gotte glaubte. Verachtung gegen sich selber, aber einen Zweck dafür suchen, daß man doch thätig ist, nämlich sein muß: also um Gottes willen, und schließlich, als man an den Gott nicht mehr glaubte, um des Anderen willen: eine Einbildung, ein mächtiger Gedanke, der den Menschen das Dasein leichter machte. Auch unsere Zustände wollen Sklaverei, und das Individuum soll gehemmt werden – daher Cultur des Altruismus. In Wahrheit handelt man "unegoistisch", weil es die Bedingung ist, unter der allein man noch fortexistirt d. h. man denkt an die Existenz des Anderen gewohnheitsmäßig eher als an die eigne (z. B. der Fürst an das Volk, die Mutter an das Kind) weil sonst der Fürst nicht als Fürst, die Mutter nicht als Mutter existiren könnte: sie – wollen die Erhaltung ihres Machtgefühls, wenn es auch die beständige Aufmerksamkeit und zahllose Selbstopferung zu Gunsten der Abhängigen fordert: oder, in anderen Fällen, zu Gunsten der Mächtigen, wenn unsere Existenz (Wohlgefühl, z.B. im Dienste eines Genie's usw.) nur so behauptet wird.

11 [200]

Rechte: der Mächtigere stellt die Funktionäre gegen einander fest: und Pflichten: der Mächtigere stellt die Funktionäre gegen sich fest: jeder hat etwas zu leisten, und um dies regelmäßig zu erlangen, verzichtet der Mächtigere auf weitere Eingriffe, und fügt sich selber einer Ordnung: es gehört dies zur Selbstregulirung. In Bezug auf die Pflichten der Funktionen stimmt der Mächtige und die Funktion überein. Es ist nichts "Unegoistisches" daran.

11 [201]

Das modern-wissenschaftliche Seitenstück zum Glauben an Gott ist der Glaube an das All als Organismus: davor ekelt mir. Also das ganz Seltene, unsäglich Abgeleitete, das Organische, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen Allgemeinen Ewigen machen! Dies ist immer noch Vermenschung der Natur! Und eine verkappte Vielgötterei in den Monaden, welche zusammen den All-Organism bilden! Mit Voraussicht! Monaden, welche gewisse mögliche mechanische Erfolge wie das Gleichgewicht der Kräfte zu verhindern wissen! Phantasterei! – Wenn das All ein Organismus werden könnte, wäre es einer geworden. Wir müssen es als Ganzes uns gerade so entfernt wie möglich von dem Organischen denken! Ich glaube, selbst unsere chemische Affinität und Cohärenz sind vielleicht spät entwickelte, bestimmten Epochen in Einzelsystemen zugehörige Erscheinungen. Glauben wir an die absolute Nothwendigkeit im All, aber hüten wir uns, von irgend einem Gesetz, sei es selbst ein primitiv mechanisches unserer Erfahrung, zu behaupten, dies herrsche in ihm und sei eine ewige Eigenschaft. – Alle chemischen Qualitäten können geworden sein und vergehen und wiederkommen. Unzählige "Eigenschaften" mögen sich entwickelt haben, für die uns, aus unserem Zeit- und Raumwinkel heraus, die Beobachtung nicht möglich ist. Der Wandel einer chemischen Qualität vollzieht sich vielleicht auch jetzt, nur in so feinem Grade, daß er unserer feinsten Nachrechnung entschlüpft.

11 [202]

Das Maaß der All-Kraft ist bestimmt, nichts Unendliches": hüten wir uns vor solchen Ausschweifungen des Begriffs! Folglich ist die Zahl der Lagen Veränderungen Combinationen und Entwicklungen dieser Kraft, zwar ungeheuer groß Und praktisch "unermeßlich", aber jedenfalls auch bestimmt und nicht unendlich. Wohl aber ist die Zeit, in der das All seine Kraft übt, unendlich d. h. die Kraft ist ewig gleich und ewig thätig: – bis diesen Augenblick ist schon eine Unendlichkeit abgelaufen, d. h. alle möglichen Entwicklungen müssen schon dagewesen sein. Folglich muß die augenblickliche Entwicklung eine Wiederholung sein und so die, welche sie gebar und die, welche aus ihr entsteht und so vorwärts und rückwärts weiter! Alles ist unzählige Male dagewesen, insofern die Gesammtlage aller Kräfte immer wiederkehrt. Ob je, davon abgesehen, irgend etwas Gleiches dagewesen ist, ist ganz unerweislich. Es scheint, daß die Gesammtlage bis in's Kleinste hinein die Eigenschaften neu bildet, so daß zwei verschiedene Gesammtlagen nichts Gleiches haben können. Ob es in Einer Gesammtlage etwas Gleiches geben kann, z. B. zwei Blätter? Ich zweifle: es würde voraussetzen, daß sie eine absolut gleiche Entstehung hätten, und damit hätten wir anzunehmen, daß bis in alle Ewigkeit zurück etwas Gleiches bestanden habe, trotz aller Gesammtlagen-Veränderungen und Schaffung neuer Eigenschaften – eine unmögliche Annahme!

11 [203]

Prüfen wir, wie der Gedanke, daß sich etwas wiederholt, bis jetzt gewirkt hat (das Jahr z.B. oder periodische Krankheiten, Wachen und Schlafen usw.) Wenn die Kreis-Wiederholung auch nur eine Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit ist, auch der Gedanke einer Möglichkeit kann uns erschüttern und umgestalten, nicht nur Empfindungen oder bestimmte Erwartungen! Wie hat die Möglichkeit der ewigen Verdammniß gewirkt!

11 [204]

Die Lage, in der die Menschen sich befinden, zur Natur und zu Menschen, macht ihre Eigenschaften – es ist wie bei den Atomen.

11 [205]

Hüten wir uns zu glauben, daß das All eine Tendenz habe, gewisse Formen zu erreichen, daß es schöner, vollkommener, complicirter werden wolle! Das ist alles Vermenschung! Anarchie, häßlich, Form – sind ungehörige Begriffe. Für die Mechanik giebt es nichts Unvollkommenes.

11 [206]

Es ist Alles wiedergekommen: der Sirius und die Spinne und deine Gedanken in dieser Stunde und dieser dein Gedanke, daß Alles wiederkommt.

11 [207]

Wie fremd und überlegen thun wir hinsichtlich des Todten des Anorganischen, und inzwischen sind wir zu drei Viertel eine Wassersäule, und haben anorganische Salze in uns, die über unser Wohl und Wehe vielleicht mehr vermögen als die ganze lebendige Gesellschaft!

11 [208]

Die Philosophen haben es gemacht, wie die Völker: ihre enge Moral in das Wesen der Dinge hineingelegt. Das Ideal jedes Philosophen soll auch im An-sich der Dinge stecken.

11 [209]

Heerdenmenschen und Sondermenschen!

11 [210]

Das Unorganische bedingt uns ganz und gar: Wasser Luft Boden Bodengestalt Elektricität usw. Wir sind Pflanzen unter solchen Bedingungen.

11 [211]

Meine Aufgabe: die Entmenschung der Natur und dann die Vernatürlichung des Menschen, nachdem er den reinen Begriff "Natur" gewonnen hat.

11 [212]

Alle Gewöhnungen (z. B. an eine bestimmte Speise, wie Kaffe, oder eine bestimmte Zeiteintheilung) haben auf die Dauer das Ergebniß, Menschen bestimmter Art zu züchten. Also blicke um dich! Prüfe das Kleinste! Wohin will es? Gehört es zu deiner Art, zu deinem Ziele?

11 [213]

Das unendlich neue Werden ist ein Widerspruch, es würde eine unendlich wachsende Kraft voraussetzen. Aber wovon sollte sie wachsen! Woher sich ernähren, mit Überschuß ernähren! Die Annahme, das All sei ein Organism, wider streitet dem Wesen des Organischen.

11 [214]

Freunde des Salzes sind keine "Fleischfresser". Es giebt immer Vornehm- und Reichthuer, welche verbergen möchten, daß wenig Fleisch gegessen wird: man gebe Acht, ob die Personen viel oder wenig Salz brauchen!

11 [215]

Thee ein fader oder strenger oder unbedeutender Geruch und Geschmack: folglich soll man die Blumen hinzuthun!

11 [216]

Die Speisen (z. B. Zwiebeln und Reiz-Narcotica wie Taback) beweisen daß nicht Lust und die Vermeidung der Unlust, sondern das Gereizt werden dem Menschen am wichtigsten ist. Reiz ist an sich etwas Anderes als Lust und Unlust (oder letztere sind seine Extreme)

11 [217]

Wir haben zeitweilig die Blindheit nöthig und müssen gewisse Glaubensartikel und Irrthümer in uns unberührt lassen – so lange sie uns im Leben erhalten.

Wir müssen gewissenlos sein in Betreff von Wahrheit und Irrthum, so lange es sich um das Leben handelt – eben damit wir das Leben dann wieder im Dienste der Wahrheit und des intellektuellen Gewissens verbrauchen. Dies ist unsere Ebbe und Fluth, die Energie unserer Zusammenziehung und Ausbreitung.

11 [218]

Fortpflanzung oft ohne jede individuelle Neigung.

11 [219]

Diese Sklaven sind oft müde und regelmäßig müde – deshalb nehmen sie mit ihren Vergnügungen so fürlieb (was das seltsamste Merkmal unserer Zeit ist) Ihre Bier- und Weinstuben, ihr Maaß angenehmer Unterhaltung, ihre Feste, ihre Kirchen – alles ist so mittelmäßig, denn es darf da nicht viel Geist und Kraft verbraucht werden, also auch nicht gefordert werden – man will sich ausruhen. – Ja! Otium! Das ist der Müssiggang solcher, die noch alle Kraft bei sich haben.

11 [220]

Der mächtigste Gedanke verbraucht viele Kraft, die früher anderen Zielen zu Gebote stand, so wirkt er umbildend, er schafft neue Bewegungsgesetze der Kraft, aber keine neue Kraft. Darin beruht aber die Möglichkeit, die einzelnen Menschen in ihren Affekten neu zu bestimmen und zu ordnen.

11 [221]

Die Sklaverei ist allgemein sichtbar, obwohl sie sich dies nicht eingesteht; – wir müssen darnach streben, überall zu sein, alle Verhältnisse derselben zu kennen, alle ihre Meinungen am besten zu vertreten, so allein können wir sie beherrschen und benutzen. Unser Wesen muß verborgen bleiben: gleich dem der Jesuiten, welche eine Diktatur in der allgemeinen Anarchie ausübten, aber sich als Werkzeug und Funktion einführten. Welches ist unsere Funktion, unser Mantel der Sklaverei? Lehrerthum? – Die Sklaverei soll nicht vertilgt werden, sie ist nothwendig. Wir wollen nur zusehen, daß immer wieder solche entstehen, für welche gearbeitet wird, damit diese ungeheure Masse von politisch-commerciellen Kräften nicht umsonst sich verbraucht. Selbst schon, daß es Zuschauer und Nicht-mehr-Mitspieler giebt!

11 [222]

Aus dem Geiste der Funktion heraus denken jetzt die Philosophen darüber nach, die Menschheit in Einen Organism zu verwandeln – es ist der Gegensatz meiner Tendenz. Sondern möglichst viele wechselnde verschiedenartige Organismen, die zu ihrer Reife und Fäulniß gekommen ihre Frucht fallen lassen; die Individuen, von denen zwar die meisten zu Grunde gehen, aber auf die Wenigen kommt es an. – Der Socialismus ist eine Gährung, welche eine Unzahl von Staats-experimenten ankündigt, also auch von Staats-Untergängen und neuen Eiern. Das Reifwerden von jetzigen Staaten geschieht schneller; die militärische Gewaltsamkeit wird immer größer.

11 [223]

Ich empfinde die Mühe Schwerfälligkeit und das Geisthabenwollen in jeder Wendung!

11 [224]

Wir haben den Blitz unschädlich gemacht: wir müssen erfinderisch sein, um ihn nützlich zu machen, ihn arbeiten zu lassen.

11 [225]

Das "Chaos des Alls" als Ausschluß jeder Zweckthätigkeit steht nicht im Widerspruch zum Gedanken des Kreislaufs: letzterer ist eben eine unvernünftige Nothwendigkeit, ohne irgend eine formale ethische ästhetische Rücksicht. Das Belieben fehlt, im Kleinsten und im Ganzen.

11 [226]

Der Egoismus ist noch unendlich schwach! Man nennt so die Wirkungen der heerdenbildenden Affekte, sehr ungenau: Einer ist habgierig und häuft Vermögen (Trieb der Familie des Stammes), ein Anderer ist ausschweifend in Venere, ein Anderer eitel (Taxation seiner selbst nach dem Maaßstabe der Heerde), man spricht vom Egoismus des Eroberers, des Staatsmanns usw. – sie denken nur an sich, aber an "sich" soweit das ego durch den heerdenbildenden Affekt entwickelt ist. Egoismus der Mütter, der Lehrer. Man frage nur einmal, wie Wenige gründlich prüfen: warum lebst du hier? warum gehst du mit dem um? Wie kamst du zu dieser Religion? Welchen Einfluß übt diese und jene Diät auf dich? Ist dies Haus für dich gebaut? usw. Nichts ist seltener als die Feststellung des ego vor uns selber. Es herrscht das Vorurtheil, man kenne das ego, es verfehle nicht, sich fortwährend zu regen: aber es wird fast gar keine Arbeit und Intelligenz darauf verwandt – als ob wir für die Selbsterkenntniß durch eine Intuition der Forschung überhoben wären!

11 [227]

Hier das Gebirge zeigt seine 3 Höcker: mit einem schärferen Glase sehe ich eine Menge neuer Höcker, die Linie wird bei jedem schärferen Glase immer neu, die alte zum willkürlichen Phantasma. Endlich komme ich an den Punkt wo die Linie nicht mehr zu beobachten ist, weil die Bewegung der Verwitterung unserem Auge entgeht. Die Bewegung aber hebt die Linie auf

11 [228]

Wir können uns nur wenig im Großen schützen: ein Komet kann jeden Augenblick die Sonne zertrümmern, oder eine elektrische Kraft kann auftreten, in der mit Einem Male das Sternensystem zerschmilzt. Was ist "Statistik" in diesen Dingen! Wir haben für Erde und Sonne vielleicht ein Paar Millionen Jahre, in denen so etwas nicht geschehen ist: es beweist gar nichts. – Zur Vernatürlichung des Menschen gehört die Bereitschaft auf das absolut Plötzliche und Durchkreuzende.

Die plötzlichen Dinge haben die Menschen an einen falschen Gegensatz gewöhnt, sie nennen es dauernd regelmäßig usw. – aber Plötzliches ist fortwährend im Kleinsten da, in jedem Nerv; und es ist eben regelmäßig, ob es auch in der Zeit uns unberechenbar erscheint. Dauernd ist das, dessen Veränderungen wir nicht sehen, weil sie zu allmählich und zu fein für uns sind.

11 [229]

Wenn wir allmählich die Gegensätze zu allen unsern Fundamentalmeinungen formuliren, nähern wir uns der Wahrheit. Es ist zunächst eine kalte todte Begriffswelt; wir verquicken sie mit unseren anderen Irrthümern und Trieben und ziehn so ein Stück nach dem anderen in das Leben hinein. In der Anpassung an die lebenden Irrthümer kann allein die zunächst immer todte Wahrheit zum Leben gebracht werden.

11 [230]

Die Menschen reden von Magenkranken und meinen die, welche an der Verdauung leiden – als ob der Magen allein das Verdauende sei! Und die Gebildeten reden vom „Magensaft". – Es ist sehr gut, daß solche Irrthümer nicht auf die Organisation wirken, wir wären längst zu Grunde gegangen. – Und durch die Heilmethode und Diät-Unsinn haben sie todtgefährlich genug gewirkt! –

11 [231]

Die Nebeneinanderexistenz von 2 ganz Gleichen ist unmöglich: es würde die absolut gleiche Existenzgeschichte voraussetzen, in alle Ewigkeit zurück. Dies aber setzte die allgemeine absolut gleiche Entstehungsgeschichte voraus d. h. es müßte alles Andere auch absolut gleich in allen Zeiten sein d. h. der ganze Rest müßte fortwährend sich wiederholen, in sich und losgelöst von den 2 Gleichen. – Aber ebenso kann man mit Einer Verschiedenheit schon die absolute Verschiedenheit und Ungleichheit im Nebeneinander beweisen: eine Loslösung ist undenkbar; wenn Eins sich ändert, so geht die Nachwirkung in Alles hindurch

11 [232]

Unendlich viele Kraftlagen hat es gegeben, aber nicht unendlich verschiedene: letzteres setzte eine unbestimmte Kraft voraus. Sie hat nur eine "Zahl" von möglichen Eigenschaften.

11 [233]

Die Mechanik nimmt die Kraft als etwas absolut Theilbares: aber sie muß erst jede ihrer Möglichkeiten an der Wirklichkeit controliren. Es ist bei jener Kraft eben nichts in gleiche Theile theilbar; in jeder Lage ist sie Eigenschaft, und Eigenschaften kann man nicht halbiren: weshalb es nie ein Gleichgewicht der Kraft gegeben hat

11 [234]

Es ist wunderbar, daß für unsere Bedürfnisse (Maschinen Brücken usw.) die Annahmen der Mechanik ausreichen, es sind eben sehr große Bedürfnisse, und die "kleinen Fehler" kommen nicht in Betracht.

11 [235]

Bewegung können wir nicht ohne Linien uns denken: ihr Wesen ist uns verhüllt. "Kraft" in mathematischen Punkten und mathematischen Linien ist die letzte Consequenz, und zeigt den ganzen Unsinn. Es sind zuletzt praktische Wissenschaften, ausgehend von den Fundamentalirrthümern des Menschen, daß es Dinge, und Gleiches giebt.

11 [236]

v. Analysis d<er> W<irklichkeit>

Wir können dieselbe Bewegung als Ton Farbe Wärme Elektricität empfinden. Die Empfindung macht die Eigenschaften der Dinge für uns so bunt und mannigfaltig. In Wahrheit könnte alles viel einfacher und anders sein! Wie unterscheiden wir zwischen roth und blau, wie wirkt es anders auf das Gemüth, nam<entlich> von Irren! – und doch! Die Empfindung macht die Klüfte, die Differenzen viel größer als sie in der Natur sind.

11 [237]

"Urbild" ist eine Fiktion wie Zweck, Linie usw. Das der Gestalt nach Ähnliche wird in der Natur nie erstrebt, sondern es entsteht, wo wenig verschiedene Grade in der Quantität der Kräfte walten. "Wenig" verschieden für uns! Und "ähnlich" für uns!

Ähnliche Qualitäten, sollten wir sagen, statt "gleich" – auch in der Chemie. Und "ähnlich" für uns. Es kommt nichts zweimal vor, das Sauerstoff-atom ist ohne seines Gleichen, in Wahrheit, für uns genügt die Annahme, daß es unzählige gleiche giebt.

11 [238]

Die M<enschen> und die Philosophen haben früher in die Natur hinein den Menschen gedichtet – entmenschlichen wir die Natur! Später werden sie mehr in sich selber hineindichten, an Stelle von Philosophieen und Kunstwerken wird es Ideal-menschen geben, welche alle 5 Jahre aus sich ein neues Ideal formen.

11 [239]

49 Centner weniger – atmosph<ärischer> Druck hier in der Höhe von 6000 Fuß: lasse ich meine Empfindung zu Worte kommen, so sagt sie dagegen: "zwei Pfund weniger zu tragen als drunten am Meere – und vielleicht nicht einmal so viel weniger!"

11 [240]

Erst müssen die Menschen die neue Begierde lernen – und dazu muß Jemand da sein, der sie ihnen erregt, ein Lehrer: ich vertraue, daß sie dann schon fein und erfindsam genug sein werden, die Wege zur Befriedigung der Begierde selber zu finden – schritt- und versuchsweise, wie sie es gewöhnt sind. – Es thut nichts, wenn meine Vorschläge "unpraktikabel" sind – sie sollen nur dem Appetit Reiz geben (z. B. die Behandlung der Verbrecher).

11 [241]

Wenn unsere Affekte das Mittel sind, um die Bewegungen und Bildungen eines gesellschaftlichen Organism zu unterhalten, so würde doch nichts fehlerhafter sein als nun zurückzuschließen, daß im niedrigsten Organism es eben auch die Affekte seien, welche hier selbstreguliren, assimiliren, exkretiren umwandeln, regeneriren – also Affekte auch da vorauszusetzen, Lust Unlust Willen Neigung Abneigung. Es wäre ein so toller Fehler als wenn man, nach der Thatsache des Blutumlaufs im menschlichen Körper, <auf> einen ähnlichen Blutumlauf für die niedrigsten Organismen schließen wollte. – Unsere Affekte setzen Gedanken und Geschmäcker voraus, diese ein Nervensystem usw.

11 [242]

Wir sehen, so weit als wir empfinden – Empfindung ist aber Idiosynkrasie, also ist auch Sehen (Umkreis und Grad der Deutlichkeit) Idiosynkrasie

11 [243]

Sonderbar: das worauf der Mensch am stolzesten ist, seine Selbstregulirung durch die Vernunft, wird ebenfalls von dem niedrigsten Organism geleistet, und besser, zuverlässiger! Das Handeln nach Zwecken ist aber thatsächlich nur der allergeringste Theil unserer Selbstregulirung: handelte die Menschheit wirklich nach ihrer Vernunft d. h. nach der Grundlage ihres Meinens und Wissens, so wäre sie längst zu Grunde gegangen. Die Vernunft ist ein langsam sich entwickelndes Hülfsorgan, was ungeheure Zeiten hindurch glücklicherweise wenig Kraft hat, den Menschen zu bestimmen, es arbeitet im Dienste der organischen Triebe, und emancipirt sich langsam zur Gleichberechtigung mit ihnen – so daß Vernunft (Meinung und Wissen) mit den Trieben kämpft, als ein eigener neuer Trieb – und spät, ganz spät zum Übergewicht.

11 [244]

Die Temperaments-Unterschiede sind vielleicht durch die verschiedene Vertheilung und Masse der unorganischen Salze mehr als durch alles andere bedingt. Die biliösen Menschen haben zu wenig schwefelsaures Natrium, den melancholischen Menschen fehlt es an schwefel- und phosphorsaurem Kali; zu wenig phosphorsaurer Kalk bei den Phlegmatikern. Die muthigen Naturen haben einen Überfluß von phosphorsaurem Eisen.

11 [245]

Wäre ein Gleichgewicht der Kraft irgendwann einmal erreicht worden, so dauerte es noch: also ist es nie eingetreten. Der augenblickliche Zustand widerspricht der Annahme. Nimmt man an, es habe einmal einen Zustand gegeben, absolut gleich dem augenblicklichen, so wird diese Annahme nicht durch den augenblicklichen Zustand widerlegt. Unter den unendlichen Möglichkeiten muß es aber diesen Fall gegeben haben, denn bis jetzt ist schon eine Unendlichkeit verflossen. Wenn das Gleichgewicht möglich wäre, so müßte es eingetreten sein. – Und wenn dieser augenblickliche Zustand da war, dann auch der, der ihn gebar und dessen Vorzustand zurück – daraus ergiebt sich, daß er auch ein zweites drittes usw. Mal schon da war – ebenso daß er ein zweites drittes Mal da sein wird – unzählige Male, vorwärts – und rückwärts. D. h. es bewegt sich alles Werden in der Wiederholung einer bestimmten Zahl vollkommen gleicher Zustände. – Was alles möglich ist, das kann freilich dem menschlichen Kopfe nicht überlassen sein auszudenken: aber unter allen Umständen ist der gegenwärtige Zustand ein möglicher, ganz abgesehn von unserer Urtheils-Fähigkeit oder Unfähigkeit in Betreff des Möglichen – denn es ist ein wirklicher. So wäre zu sagen: alle wirklichen Zustände müßten schon ihres Gleichen gehabt haben, vorausgesetzt, daß die Zahl der Fälle nicht unendlich ist, und im Verlaufe unendlicher Zeit nur eine endliche Zahl vorkommen mußte? weil immer von jedem Augenblick rückwärts gerechnet schon eine Unendlichkeit verflossen ist? Der Stillstand der Kräfte, ihr Gleichgewicht ist ein denkbarer Fall: aber er ist nicht eingetreten, folglich ist die Zahl der Möglichkeiten größer als die der Wirklichkeiten. – Daß nichts Gleiches wiederkehrt, könnte nicht durch den Zufall, sondern nur durch eine in das Wesen der Kraft gelegte Absichtlichkeit erklärt werden: denn, eine ungeheure Masse von Fällen vorausgesetzt, ist die zufällige Erreichung desgleichen Wurfs wahrscheinlicher als die absolute Nie-Gleichheit.

11 [246]

Grundgedanke der Handels-Kultur: die niedere Masse mit ihrem kleinen Besitz wird unzufrieden gemacht durch den Anblick des Reichen, sie glaubt, der Reiche sei der Glückliche. – Die arbeitende überarbeitete selten ruhende Sklavenmasse glaubt, der Mensch ohne körperliche Arbeit sei der Glückliche (z. B. schon der Mönch – daher die Sklaven so gern Mönche wurden). – Der von Begierden Geplagte und selten Freie glaubt, der Gelehrte und Unbewegliche und auch Geistliche sei der Glückliche. – Der hin- und hergerissene Nervöse glaubt, der Mensch der großen Einen Leidenschaft sei der Glückliche. – Der Mensch, welcher kleine Auszeichnungen kennen gelernt hat, meint, der Geehrteste sei der Glückliche. Es ist das selten und in geringem Grade Besessene, was die Phantasie der Menschen zum Bilde des Glücklichen aufreizt – nicht das was ihnen fehlt – das Fehlen erzeugt Gleichgültigkeit gegen den Gegensatz des Fehlens.

11 [247]

Es giebt im Moleküle Explosionen und Veränderungen der Bahn aller Atome, und plötzliche Auslösungen von Kraft. Es könnte auch mit Einem Moment unser ganzes Sonnensystem einen solchen Reiz erfahren, wie ihn der Nerv auf den Muskel ausübt. Daß dies nie geschehen sei oder geschehen werde, ist nicht zu beweisen.

11 [248]

Hypothese auf die Dauer mächtiger als irgend ein Glaube – vorausgesetzt, daß sie viel länger stehen bleibt als ein rel<igiöses> Dogma.

11 [249]

Kühnheit nach Innen und Bescheidung nach Außen, nach allem "Außen" – eine deutsche Vereinigung von Tugenden, wie man ehemals glaubte, – habe ich bisher am schönsten bei schweizerischen Künstlern und Gelehrten gefunden: in der Schweiz, wo mir überhaupt alle deutschen Eigenschaften bei weitem reichlicher weil bei weitem geschützter aufzuwachsen scheinen als im Deutschland der Gegenwart. Und welchen Dichter hätte Deutschland dem Schweizer Gottfried Keller entgegenzustellen? Hat es einen ähnlichen wegesuchenden Maler wie Böcklin? Einen ähnlichen weisen Wissenden wie J. Burckhardt? Thut die große Berühmtheit des Naturforschers Häckel der größeren Ruhmwürdigkeit Rütimeyers irgend welchen Eintrag? – um eine Reihe guter Namen nur zu beginnen. Immer noch dort wachsen Alpen- und Alpenthalpflanzen des Geistes, und wie man zur Zeit des jungen Goethe sich aus der Schweiz selbst seine hohen deutschen Antriebe holte, wie Voltaire Gibbon und Byron dort ihren übernationalen Empfindungen nachzuhängen lernten, so ist auch jetzt eine zeitweilige Verschweizerung ein rathsames Mittel, um ein wenig über die deutsche Augenblicklichkeits-Wirthschaft hinauszublicken.

11 [250]

Nicht Reue! sondern Böses durch eine gute Handlung gut machen!

11 [251]

Im Lohengrin giebt es viele blaue Musik. Wagner kennt die opiatischen und narkotischen Wirkungen und braucht sie gegen die ihm gut bewußte nervöse Zerfahrenheit seiner musikalischen Erfindungskraft.

11 [252]

Ich bin immer erstaunt, ins Freie tretend zu denken, mit welcher herrlichen Bestimmtheit alles auf uns wirkt, der Wald so und der Berg so und daß gar kein Wirrwarr und Versehen und Zögern in uns ist, in Bezug auf alle Empfindungen. Und doch muß die allergrößte Unsicherheit und etwas Chaotisches dagewesen sein, erst in ungeheuren Zeitstrecken ist das Alles so fest vererbt; Menschen, die wesentlich anders empfanden, über Raumentfernung, Licht und Farbe usw. sind bei Seite gedrängt worden und konnten sich schlecht fortpflanzen. Diese Art, anders zu empfinden, muß in langen Jahrtausenden als "die Verrücktheit" empfunden und gemieden worden sein. Man verstand sich nicht mehr, man ließ die "Ausnahme" bei Seite zu Grunde gehen. Eine ungeheure Grausamkeit seit Beginn alles Organischen hat existirt, alles ausscheidend, was "anders empfand". – Die Wissenschaft ist vielleicht nur eine Fortsetzung dieses Ausscheidungsprozesses, sie ist völlig unmöglich, wenn sie nicht "den Normalmenschen" als oberstes, mit allen Mitteln zu erhaltendes "Maaß" anerkennt! – Wir leben in den Überresten der Empfindungen unserer Urahnen: gleichsam in Versteinerungen des Gefühls. Sie haben gedichtet und phantasirt – aber die Entscheidung, ob eine solche Dichtung und Phantasma leben bleiben durfte, war durch die Erfahrung gegeben, ob sich mit ihr leben lasse oder ob man mit ihr zu Grunde gehe. Irrthümer oder Wahrheiten – wenn nur Leben mit ihnen möglich war! Allmählich ist da ein undurchdringliches Netz entstanden! Darein verstrickt kommen wir ins Leben, und auch die Wissenschaft löst uns nicht heraus.

11 [253]

Wenn die moralischen Leiden das Leben schwer gemacht haben – es hängt daran, daß es durchaus nicht möglich ist, eine moralische Empfindung relativ zu nehmen; sie ist wesentlich unbedingt, wie die Körper uns unbedingt erscheinen, insgleichen der Staat, die Seele, das Gemeinwesen. Wir mögen uns noch so sehr das Gewordensein von dem allen vorhalten: es wirkt auf uns als Ungewordenes, Unvergängliches und legt absolute Pflichten auf. "Der Nächste" ebenfalls, wie weise wir auch über ihn sind. Der Trieb zum Unbedingtnehmen ist sehr mächtig angezüchtet.

11 [254]

Es gäbe kein Leiden, gäbe es nichts Organisches d. h. ohne den Glauben an Gleiches d. h. ohne diesen Irrthum gäbe es keinen Schmerz in der Welt!

11 [255]

Die Wissenschaft hat immer mehr das Nacheinander der Dinge in ihrem Verlaufe festzustellen, so daß die Vorgänge für uns praktikabel werden (z. B. wie sie in der Maschine praktikabel sind) Die Einsicht in Ursache und Wirkung ist damit nicht geschaffen, aber eine Macht über die Natur läßt sich so gewinnen. Der Nachweis hat bald sein Ende, und eine weitere Verfeinerung hätte keinen Nutzen für den Menschen. – Bis jetzt war dies die große Errungenschaft des Menschen, in vielen Dingen die ihm mögliche Genauigkeit in der Beobachtung des Nacheinander zu erreichen und so für seine Zwecke nachahmen zu können

11 [256]

Unsere Eltern wachsen noch in uns nach, ihre später erworbenen Eigenschaften, die im Embryon auch vorhanden sind, brauchen Zeit. Die Eigenschaften des Vaters damals als er Mann war, lernen wir erst als Mann kennen.

11 [257]

Ich habe hoch über Wagner die Tragödie mit Musik gesehen – und hoch über Schopenhauer die Musik in der Tragödie des Daseins gehört.

11 [258] Zur "Kur des Einzelnen."

1) er soll vom Nächsten und Kleinsten ausgehen und die ganze Abhängigkeit sich feststellen, in die hinein er geboren und erzogen ist

2) ebenso soll er den gewohnten Rhythmus seines Denkens und Fühlens, seine intellektuellen Bedürfnisse der Ernährung begreifen

3) Dann soll er Veränderung aller Art versuchen, zunächst um die Gewohnheiten zu brechen (vielen Diätwechsel, mit feinster Beobachtung

4) er soll sich geistig an seine Widersacher einmal anlehnen, er soll ihre Nahrung zu essen versuchen. Er soll reisen, in jedem Sinne. In dieser Zeit wird er "unstät und flüchtig" sein. Von Zeit zu Zeit soll er über seinen Erlebnissen ruhen – und verdauen.

5) Dann kommt das Höhere: der Versuch, ein Ideal zu dichten. Dies geht dem noch Höheren voraus – eben dies Ideal zu leben.

6. Er muß durch eine Reihe von Idealen hindurch.

11 [259]

Grundsatz: das was verehrt werden soll darf nicht angenehm sein. Folglich – – –

11 [260]

Es giebt einen Theil der Nacht, von dem ich sage "hier hört die Zeit auf!" Nach allen Nachtwachen, namentlich nach nächtlichen Fahrten und Wanderungen hat man in Bezug auf diesen Zeitraum ein wunderliches Gefühl: er war immer viel zu kurz oder viel zu lang, unsere Zeitempfindung fühlt eine Anomalie. Es mag sein, daß wir es auch im Wachen zu büßen haben, daß wir jene Zeit gewöhnlich im Zeitenchaos des Traums zubringen! genug, Nachts von 1-3 Uhr haben wir die Uhr nicht mehr im Kopf. Mir scheint, daß eben dies auch die Alten ausdrückten, mit intempestiva nocte und en awqonucti (Aeschylus) "da in der Nacht, wo es keine Zeit giebt"; und auch ein dunkles Wort Homers zur Bezeichnung des tiefsten stillsten Theils der Nacht lege ich mir etymologisch auf diesen Gedanken hin zurecht: mögen die Übersetzer es immerhin mit "Zeit der Nachtmelke" wiedergeben – wo in aller Welt hat man je die Kühe Nachts um Ein Uhr gemolken! Wo war man dermaßen thöricht!

11 [261]

Es ist unsere Aufgabe, die Reinheit der Musik festzuhalten und zu verhüten, daß sie, nachdem sie in der Form des Barockstils und nach langer Einverleibung jetzt ungeheurer plötzlicher Wirkungen fähig gemacht ist, jetzt zu mystischen halbreligiösen Zwecken mißbraucht wird: – jeder kommende Hexenmeister und Cagliostro wird versuchen, mit Musik und Spiritismus zu wirken, und es sind Wiedererweckungen religiöser und sittlicher Instinkte auf diesem Wege möglich – vielleicht daß man dem christlichen Abendmahle wieder eine innere Gluth durch Musik zu geben versuchen wird. – Daß sie keine Worte nöthig hat, ist ihr größter Vorsprung vor der Dichtkunst, welche an die Begriffe appellirt und folglich an die Philosophie und Wissenschaft stößt -: aber man merkt es nicht, wenn uns die Musik von der Philosophie und Wissenschaft weg führt, verführt!

11 [262]

Die Geschichte der Philosophie ist bis jetzt erst kurz: es ist ein Anfang, sie hat noch keine Kriege geführt und die Völker zusammengeführt; das höchste ihres Vorstadium's sind die kirchlichen Kriege, das Zeitalter der Religion ist noch lange nicht zu Ende. Später wird man philosophische Meinungen einmal so als Lebens- und Existenzfragen nehmen wie bisher mitunter religiöse und politische – der Geschmack und der Ekel in Meinungen wird so groß, daß man nicht mehr leben will, so lange noch eine andere Meinung besteht. Die ganze Philosophie wird vor diesem Forum des Massen-Geschmacks und Massen-Ekels durchgelebt werden – wahrscheinlich gab es vor dem Zeitalter der Religionen auch schon vorlaufende, aber gänzlich gleichgültige religiöse Einzelne, entsprechend den vorlaufenden und gleichgültigen einzelnen Philosophen. – Als "Wahrheit" wird sich immer das durchsetzen, was nothwendigen Lebensbedingungen der Zeit, der Gruppe entspricht: auf die Dauer wird die Summe von Meinungen der Menschheit einverleibt sein, bei welchen sie ihren größten Nutzen d. h. die Möglichkeit der längsten Dauer hat. Die wesentlichsten dieser Meinungen, auf denen die Dauer der Menschheit beruht, sind ihr längst einverleibt z. B. der Glaube an Gleichheit Zahl Raum usw. Darum wird sich der Kampf nicht drehen – es kann nur ein Ausbau von diesen irrthümlichen Grundlagen unserer Thierexistenz sein. – Wichtig als bedeutendstes Denkmal des Dauergeistes ist die chinesische Denkweise. – Es wird also schwerlich die Geschichte der "Wahrheit" werden, sondern die eines organischen Irrthümer-Aufbaus, welcher in Leib und Seele übergeht und die Empfindungen und Instinkte endlich beherrscht. Es wird eine fortwährende Selection des zum Leben Gehörigen geübt. Der Anspruch auf Lebenserhaltung Wird immer tyrannischer an die Stelle des "Wahrheitssinnes" treten d. h. er wird den Namen von ihm erhalten und festhalten. – Leben wir Einzelnen unser Vorläufer-Dasein, überlassen wir den Kommenden Kriege um unsere Meinungen zu führen – wir leben in der Mitte der menschlichen Zeit: größtes Glück!

11 [263]

Tiefster Irrthum in der Beurtheilung der Menschen: wir schätzen sie ab nach ihren Wirkungen, mit dem Maaße effectus aequat causam. Aber der Mensch übt nur Reize auf andere Menschen aus, es kommt darauf <an>, was in anderen Menschen vorhanden ist, daß das Pulver explodirt oder daß der Reiz fast nichts ausmacht. Wer würde ein Streichholz darnach abschätzen, daß es in seiner Nachwirkung eine Stadt zerstörte! So machen wir es aber! Die Wirkungen beweisen, welche Elemente in den anderen Menschen der Zeit da waren: daß er einen Reiz ausübte: und mit welchen Mitteln und mit was für eigentlichen Absichten, muß man noch fragen! – Es ist Teleologie zu glauben, daß der Große eben den vorhandenen zur Explosion bereiten Elementen zur Zeit kommen muß. Wichtig ist jedenfalls, daß die anreizende Kraft eines Menschen nach seinem Tode übrig bleiben kann, durch seine Werke oder durch die Fabel, die von seinem Leben sich bildet: darauf sollen die denken, welche auf die Zeit keinen "Reiz" üben.

Zuletzt: wir irren ebenso über die Dinge, weil wir sie nach den Wirkungen in uns beurtheilen: wie verschieden scheint uns Blau und Roth, und es handelt sich um etwas mehr oder weniger Länge des Nerven! Oder dieselben chemischen Bestandtheile so und so der Lage nach gestellt ergeben Verschiedenes, und wie empfinden wir diese Verschiedenheit! Wir messen alles nach der Explosion, die ein Reiz in uns hervorruft, als groß klein usw.

11 [264]

Der Stoß ist nicht die erste mechanische Thatsache, sondern daß etwas da ist, welches stoßen kann, jener Aggregat-Heerdenzustand von Atomen, der nicht gleich Staub ist, sondern zusammenhält: hier ist gerade Nicht-Stoß und trotzdem Kraft, nicht nur des Gegenstrebens, Widerstands, sondern vor allem der Anordnung, Einordnung, Anhänglichkeit, überleitenden und zusammenknüpfenden Kraft. So ein Klümpchen kann nachher als Ganzes "stoßen"!

11 [265]

Das völlige Gleichgewicht muß entweder an sich eine Unmöglichkeit sein, oder die Veränderungen der Kraft treten in den Kreislauf ein, bevor jenes an sich mögliche Gleichgewicht eingetreten ist. – Dem Sein "Selbsterhaltungsgefühl" zuschreiben! Wahnsinn! Den Atomen "Streben von Lust und Unlust"!

11 [266]

Man aß das Fleisch nicht, weil man nicht die Seelen von Menschen verspeisen wollte, es war also nur ein Abscheu vor der Menschenfresserei, bei Pythagoras wie den Indern. Nicht Mitleiden mit den Thieren! Schmerz-machen durch Tödtung ist gar nicht nöthig: und in Hinsicht auf den wahrscheinlichen natürlichen Tod hat der Mensch, der die Thiere tödtet, im Allgemeinen das Loos der Thierwelt gemildert, zumal sie keine Voraussehung des Todes haben. – Wer nicht "von Lebendem" leben will, möge sich der Pflanzen auch enthalten! – Das Mitleiden der christlichen Heiligen war das Mitleiden mit Wesen, in denen der Teufel wohnt – nicht mit dem "Lebendigen".

11 [267]

"Die Unsittlichkeit" des Boc<c>accio ist indischen Ursprungs.

11 [268]

Damit es überhaupt ein Subjekt geben könne, muß ein Beharrendes da sein und ebenfalls viele Gleichheit und Ähnlichkeit da sein. Das unbedingt Verschiedene im fortwährenden Wechsel wäre nicht festzuhalten, an nichts festhaltbar, es flösse ab wie der Regen vom Steine. Und ohne ein Beharrendes wäre gar kein Spiegel da, worauf sich ein Neben- und Nacheinander zeigen könnte: der Spiegel setzt schon etwas Beharrendes voraus. – Nun aber glaube ich: das Subjekt könnte entstehen, indem der Irrthum des Gleichen entsteht z. B. wenn ein Protoplasma von verschiedenen Kräften (Licht Elektricität Druck) immer nur Einen Reiz empfängt und nach dem Einen Reiz auf Gleichheit der Ursachen schließt: oder überhaupt nur Eines Reizes fähig ist und Alles Andere als Gleich empfindet – und so muß es wohl im Organischen der tiefsten Stufe zugehen. Zuerst entsteht der Glaube an das Beharren und die Gleichheit außer uns – und später erst fassen wir uns selber nach der ungeheuren Einübung am Außer-uns als ein Beharrendes und Sich-selber-Gleiches, als Unbedingtes auf. Der Glaube (das Urtheil) müßte also entstanden sein vor dem Selbst-Bewußtsein: in dem Prozeß der Assimilation des Organischen ist dieser Glaube schon da – d. h. dieser Irrthum! – Dies ist das Geheimniß: wie kam das Organische zum Urtheil des Gleichen und Ähnlichen und Beharrenden? Lust und Unlust sind erst Folgen dieses Urtheils und seiner Einverleibung, sie setzen schon die gewohnten Reize der Ernährung aus dem Gleichen und Ähnlichen voraus!

11 [269]

Ehemals dachte man, zur unendlichen Thätigkeit in der Zeit gehöre eine unendliche Kraft, die durch keinen Verbrauch erschöpft werde. Jetzt denkt man die Kraft stets gleich, und sie braucht nicht mehr unendlich groß zu werden. Sie ist ewig thätig, aber sie kann nicht mehr unendliche Fälle schaffen, sie muß sich wiederholen: dies ist mein Schluß.

11 [270]

Reiz und veranlassendes Ding von Anbeginn an verwechselt! Die Gleichheit der Reize gab dem Glauben an „gleiche Dinge" den Ursprung: die dauernd gleichen Reize schufen den Glauben an "Dinge", "Substanzen".

In der Art, wie die Erstlinge organischer Bildungen Reize empfanden und das Außer-sich beurtheilten, muß das lebenserhaltende Princip gesucht werden: derjenige Glaube siegte, erhielt sich, bei dem das Fortleben möglich wurde; nicht der am meisten wahre, sondern am meisten nützliche Glaube. "Subjekt" ist die Lebensbedingung des organischen Daseins, deshalb nicht "wahr", sondern Subjekt-Empfindung kann wesentlich falsch sein, aber als einziges Mittel der Erhaltung. Der Irrthum Vater des Lebendigen!

Dieser Urirrthum ist als ein Zufall zu verstehen! Zu errathen!

In den entwickeltsten Zuständen begehen wir immer noch den ältesten Irrthum: z. B. stellen wir uns den Staat als Ganzes Dauerndes Wirkliches als Ding vor und demgemäß ordnen wir uns ihm ein, als Funktion. Ohne die Vorstellung des Protoplasma von einem "dauernden Dinge" außer ihm gäbe es keine Einordnung, keine Assimilation.

Es giebt sehr wenig Reize gegenüber den wahren vielen reizenden Veranlassungen – darauf wurde der älteste Irrthum basirt.

11 [271]

Im Walde wächst der Baum schnell, im Verlangen nach Luft und Licht, aber "er treibt wenig Wurzeln und ist deshalb wenig dauerhaft: während die Bäume, bei welchen Licht und Luft freien Zutritt haben, Jahrhunderte lang stehen: die Tiefe und Ausbreitung der Wurzeln steht im Verhältniß zur Dauerhaftigkeit. Aber folglich langsames Aufsteigen!"

11 [272]

Mein Gegensatz zum Geiste des Handels, als dem Geiste der Epoche.

11 [273]

Ich möchte, Deutschland bemächtigte sich Mexico's, um auf der Erde durch eine musterhafte Forstkultur im conservativen Interesse der zukünftigen Menschheit den Ton anzugeben. – Die Zeit kommt, wo der Kampf um die Erdherrschaft geführt werden wird – er wird im Namen philosophischer Grundlehren geführt werden. Schon jetzt bilden sich die ersten Kräfte-gruppen, man übt sich ein in dem großen Princip der Bluts- und Rassenverwandschaft. "Nationen" sind viel feinere Begriffe als Rassen, im Grunde eine Entdeckung der Wissenschaft, die man jetzt dem Gefühle einverleibt: Kriege sind die großen Lehrmeister solcher Begriffe und werden es sein. – Dann kommen sociale Kriege – und wieder werden Begriffe einverleibt werden! Bis endlich die Begriffe nicht mehr nur Vorwände, Namen usw. für Völkerbewegungen abgeben, sondern der mächtigste Begriff sich durchsetzen muß.

Die socialen Kriege sind namentlich Kriege gegen den Handelsgeist und Einschränkungen des nationalen Geistes. Klimatische Entscheidungen über Bevölkerungen und Rassen in Amerika. – Slavisch-germanisch-nordische Cultur! – die geringere, aber kräftigere und arbeitsamere!

11 [274]

Fortwährend findet ein Fortschritt in der klimatischen Anpassung statt, und jetzt ist er ungeheuer beschleunigt, weil die Ausscheidung der ungeeigneten Personen so leicht ist: und ebenfalls weil jetzt die Anpassung durch die Wissenschaft unterstützt wird (z. B. Wärme, Grundwasser usw.).

Die thierischen Gattungen haben meistens, wie die Pflanzen, eine Anpassung an einen bestimmten Erdtheil erreicht, und haben nun darin etwas Festes und Festhaltendes für ihren Charakter, sie verändern sich im Wesentlichen nicht mehr. Anders der Mensch, der immer unstet ist und sich nicht Einem Klima endgültig anpassen will, die Menschheit drängt hin zur Erzeugung eines allen Klimaten gewachsenen Wesens (auch durch solche Phantasmen wie "Gleichheit der Menschen"): ein allgemeiner Erdenmensch soll entstehen, deshalb verändert sich der Mensch noch (wo er sich angepaßt hat z. B. in China bleibt er durch Jahrtausende fast unverändert). Der überklimatische Kunstmensch, der die Nachtheile jedes Klima's zu compensiren weiß und die Ersatzmittel für das, was dem Klima fehlt (z. B. Öfen), in jedes Klima schleppt – ein anspruchsvolles, schwer zu erhaltendes Wesen! Die "Arbeiternoth" herrscht dort, wo das Klima im Widerspruch zum Menschen steht! und nur Wenige die Ersatzmittel sich schaffen können (im Kampfe natürlich, und tyrannisch).

In den gebildeten Kreisen des Nordens herrscht das Winter-Siechthum. – Vielleicht daß die Öfen eine dauernde Vergiftung herbeiführen! Gegen Franzosen gesehn, erscheint der Deutsche, wie ein verkümmerter Ofenhocker.

11 [275]

Kein Verächter der Wollust sein!

11 [276]

Die Verwandlung des Menschen braucht erst Jahrtausende für die Bildung des Typus, dann Generationen: endlich läuft ein Mensch während seines Lebens durch mehrere Individuen.

Warum sollen wir nicht am Menschen zu Stande bringen, was die Chinesen am Baume zu machen verstehen – daß er auf der einen Seite Rosen, auf der anderen Birnen trägt?

Jene Naturprozesse der Züchtung des Menschen z. B., welche bis jetzt grenzenlos langsam und ungeschickt geübt wurden, könnten von den Menschen in die Hand genommen werden: und die alte Tölpelhaftigkeit der Rassen, Rassenkämpfe Nationalfieber und Personeneifersuchten könnte, mindestens in Experimenten, auf kleine Zeiten zusammengedrängt werden. – Es könnten ganze Theile der Erde sich dem bewußten Experimentiren weihen!

11 [277]

Es wären Nasen denkbar, deren Geruchsnerven erst von den Auswürfen eines Vulkans gekitzelt würden. Thatsächlich scheinen sich die Oberflächen aller Dinge, welche riechen, im Zustande beständiger Explosion zu befinden; die Kraft, mit der die kleinen Massen ausgesandt werden, muß ungeheuer sein – ich denke z. B. an die Wirkung des Campfers auf Wasser. – So ist die Erde immer von dicken Wolken feinster Materien umhüllt ohne diese würde der Wasserdampf sich nicht zu Wolken ballen können.

11 [278]

Um vom Großen auf das Kleine zu schließen: wir sehen überall Strömungen wirken, das sind aber keine Linien! So wird es auch wohl im Reich der Atome sein, die Kräfteströmen und üben dabei den Druck ebenso sehr horizontal aus als in Hinsicht auf das, worauf sie stoßen. Eine Linie ist eine Abstraktion im Verhältniß zu dem wahrscheinlichen Thatbestand: wir können mit keinem Zeichen eine bewegte Kraft malen, sondern isoliren begrifflich 1) die Richtung 2) das Bewegte 3) den Druck usw. In der Wirklichkeit giebt es diese isolirten Dinge nicht!

11 [279]

Das Princip "um des Nächsten willen etwas thun" ist entweder ein Atavismus des Gefühls, zur Zeit, wo das Band mit der Gemeinde schwach geworden ist oder ein unklares Gefühl des Heerdensinnes, welches an Menschen außerhalb der Gemeinschaft, weil diese so fern sind, gar nicht denkt und beim Nächsten nur das Mitglied der Gemeinschaft im Auge hat (z. B. bei "Freiheit" und "Gleichheit" wo man gewiß nicht an die Hottentotten denkt) Oder es ist eine Maske für jenes Gefühl: es soll eine Gemeinschaft gebildet werden, z. B. die christliche. Wo jenes Princip auftritt, will man meistens Gemeinden bilden z. B. die Anhänger Comte's.

11 [280]

Die Gesetze sind nicht der Ausdruck vom Charakter eines Volks: ich meine, die Fehler im Charakter, so wie sie den Mächtigsten erscheinen (als Hindernisse ihrer Macht und Absichten) werden hervorgehoben. Zudem stehen sie fest und das Volk entwickelt sich: so daß sehr bald ein Mißverhältniß entsteht.

11 [281]

Erst das Nacheinander bringt die Zeitvorstellung hervor. Gesetzt, wir empfänden nicht Ursachen und Wirkungen, sondern ein continuum, so glaubten wir nicht an die Zeit. Denn die Bewegung des Werdens besteht nicht aus ruhenden Punkten, aus gleichen Ruhestrecken. Die äußere Peripherie eines Rades ist ebenso wie die innere Peripherie, immer bewegt und, obschon langsamer, doch im Vergleich zur schneller bewegten inneren, nicht ruhend. Zwischen langsamer und schneller Bewegung ist mit der "Zeit" nicht zu entscheiden. Im absoluten Werden kann die Kraft nie ruhen, nie Unkraft sein: "langsame und schnelle Bewegung derselben" mißt sich nicht an einer Einheit, welche da fehlt. Ein continuum von Kraft ist ohne Nacheinander und ohne Nebeneinander (auch dies setzte wieder menschlichen Intellekt voraus und Lücken zwischen den Dingen). Ohne Nacheinander und ohne Nebeneinander giebt es für uns kein Werden, keine Vielheit – wir könnten nur behaupten, jenes continuum sei eins, ruhig, unwandelbar, kein Werden, ohne Zeit und Raum. Aber das ist eben nur der menschliche Gegensatz.

11 [282]

Welche Glaubensartikel sind zur Veredelung des Menschen unentbehrlich? – Zunächst um nicht zur Wildheit und Unsocietät zurückzufallen. Es könnte auch hier unentbehrliche Irrthümer geben.

11 [283]

Jesus war ein großer Egoist.

11 [284]

Das Machtgefühl erst erobernd, dann beherrschend (organisirend) – es regulirt das Überwundene zu seiner Erhaltung und dazu erhält es das Überwundene selber. – Auch die Funktion ist aus Machtgefühl entstanden, im Kampf mit noch schwächeren Kräften. Die Funktion erhält sich in der Überwältigung und Herrschaft über noch niedrigere Funktionen – darin wird sie von der höheren Macht unterstützt!

11 [285]

Ehemals dachte ich, unser Dasein sei der künstlerische Traum eines Gottes, alle unsere Gedanken und Empfindungen im Grunde seine Erfindungen im Ausdichten seines Drama's – auch daß wir meinten, "ich dächte" "ich handelte" sei sein Gedanke. Die Gesetzmäßigkeit der Natur wäre als Gesetzmäßigkeit seiner Vorstellungen begreiflich – oder auch es genügte, daß er uns als solche dächte, welche die Natur so empfinden wie wir sie empfinden. – Kein glücklicher, sondern eben ein Künstler-Gott!

11 [286]

Ohne die ungeheure Sicherheit des Glaubens und Bereitwilligkeit des Glaubens wäre Mensch und Thier nicht lebensfähig. Auf Grund der kleinsten Induktion zu verallgemeinern, eine Regel für sein Verhalten machen, das einmal Gethane, das sich bewährt hat, als das einzige Mittel zum Zweck glauben – das, im Grunde die grobe Intellektualität, hat Mensch und Thier erhalten. Unzählig oft sich so zu irren und am Fehlschluß leiden ist lange nicht so schädigend im Ganzen als die Skepsis und Unentschlossenheit und Vorsicht. Den Erfolg und den Mißerfolg als Beweise und Gegenbeweise gegen den Glauben betrachten ist menschlicher Grundzug: "was gelingt, dessen Gedanke ist wahr". – Wie sicher steht in Folge dieses wüthenden gierigen Glaubens die Welt vor uns! Wie sicher führen wir alle Bewegungen aus! "Ich schlage" – wie sicher empfindet man das! – Also die niedrige Intellektualität, das unwissenschaftliche Wesen ist Bedingung des Daseins, des Handelns, wir würden verhungern ohne dies, die Skepsis und die Vorsicht sind erst spät und immer nur selten erlaubt. Gewohnheit und unbedingter Glaube, daß es so sein muß wie es ist, ist Fundament alles Wachsthums und Starkwerdens. – Unsere ganze Weltbetrachtung ist so entstanden, daß sie durch den Erfolg bewiesen wurde, wir können mit ihr leben (Glaube an Außendinge, Freiheit des Wollens). Ebenso wird jede Sittlichkeit nur so bewiesen. – Da ensteht nun die große Gegenfrage: es kann wahrscheinlich unzählige Arten des Lebens geben und folglich auch des Vorstellens und Glaubens. Wenn wir alles Nothwendige in unserer jetzigen Denkweise feststellen, so haben wir nichts für das "Wahre an sich" bewiesen, sondern nur "das Wahre für uns" d. h. das Dasein-uns-Ermöglichende auf Grund der Erfahrung – und der Prozeß ist so alt, daß Umdenken unmöglich ist. Alles a priori gehört hierher.

11 [287]

Die Auflösung der Sitte, der Gesellschaft ist ein Zustand, in dem das neue Ei (oder mehrere Eier) heraustreten – Eier (Individuen) als Keime neuer Gesellschaften und Einheiten. Das Erscheinen der Individuen ist das Anzeichen der erlangten Fortpflanzungsfähigkeit der Gesellschaft: sobald es sich zeigt, stirbt die alte Gesellschaft ab. Das ist kein Gleichniß. – Unsere ewigen "Staaten" sind etwas Unnatürliches. – Möglichst viel Neubildungen! – Oder umgekehrt: zeigt sich die Tendenz zur Verewigung des Staates, so auch Abnahme der Individuen und Unfruchtbarkeit des Ganzen: deshalb halten die Chinesen große Männer für ein nationales Unglück; sie haben die ewige Dauer im Auge. Individuen sind Zeichen des Verfalls.

11 [288]

Es ist in der Wollust etwas Berauschendes, dies haben die alten Religionen benutzt. Und noch jetzt suchen Dichter und Musiker durch Erregung erotischer Nachempfindungen diesen Theil berauschender Kraft sich zu Nutze zu machen. – Die Künstler wirken mit allen möglichen Wirkungsmitteln, sehr unbefangen.

11 [289]

Erst zwingt der Zwang etwas oft zu thun, und später entsteht das Bedürfniß, nachdem der Zwang einverleibt ist (z. B. zu gehen, wenn das Thier nicht mehr schwimmen kann, ist erst Zwang, und Gegensatz des Verlangens: später wird es Bedürfniß)

11 [290]

Der letzte Nutzen der Erkenntniß und Wissenschaft ist, die Loslösung neuer Eier vom Eierstocke zu ermöglichen und immer neue Arten entstehen zu lassen: denn die Wissenschaft bringt die Kenntnisse der Erhaltungsmittel für neue Individuen. – Ohne Fortschritte der Erkenntniß würden neue Individuen immer schnell zu Grunde gehen, die Existenzbedingungen wären zu schwer und zufällig. Schon die Qual des inneren Widerspruchs!

11 [291]

Es giebt wahrscheinlich viele Arten von Intelligenz, aber jede hat ihre Gesetzmäßigkeit, welche ihr die Vorstellung einer anderen Gesetzmäßigkeit unmöglich macht. Weil wir also keine Empirie über die verschiedenen Intelligenzen haben können, ist auch jeder Weg zur Einsicht in den Ursprung der Intelligenz verschlossen. Das allgemeine Phänomen der Intelligenz ist uns unbekannt, wir haben nur den Spezialfall, und können nicht verallgemeinern. Hier allein sind wir ganz Sklaven, selbst wenn wir Phantasten sein wollten! Andererseits wird es von jeder Art Intelligenz aus ein Verständniß der Welt geben müssen – aber ich glaube, es ist nur die zu Ende geführte Anpassung der Gesetzmäßigkeit der einzelnen Art Intelligenz – sie führt sich selber überall durch. Jede Intelligenz glaubt an sich

11 [292]

Man gehe einmal rückwärts. Hätte die Welt ein Ziel, so müßte es erreicht sein: gäbe es für sie einen (unbeabsichtigten) Endzustand, so müßte er ebenfalls erreicht sein. Wäre sie überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens fähig, gäbe es in ihrem Verlaufe nur Einen Augenblick "Sein" im strengen Sinn, so könnte es kein Werden mehr geben, also auch kein Denken, kein Beobachten eines Werdens. Wäre sie ewig neu werdend, so wäre sie damit gesetzt <als> etwas an sich Wunderbares und Frei- und Selbstschöpferisch-Göttliches. Das ewige Neuwerden setzt voraus: daß die Kraft sich selber willkürlich vermehre, daß sie nicht nur die Absicht, sondern auch die Mittel habe, sich selber vor der Wiederholung zu hüten, in eine alte Form zurückzugerathen, somit in jedem Augenblick jede Bewegung auf diese Vermeidung <zu> controliren – oder die Unfähigkeit, in die gleiche Lage zu gerathen: das hieße, daß die Kraftmenge nichts Festes sei und ebenso die Eigenschaften der Kraft. Etwas Un-Festes von Kraft, etwas Undulatorisches ist uns ganz undenkbar. Wollen wir nicht ins Undenkbare phantasiren und nicht in den alten Schöpferbegriff zurückfallen (Vermehrung aus dem Nichts, Verminderung aus dem Nichts, absolute Willkür und Freiheit im Wachsen und in den Eigenschaften) –

11 [293]

In Hinsicht auf alle unsere Erfahrung müssen wir immer skeptisch bleiben und z. B. sagen: wir können von keinem "Naturgesetz" eine ewige Gültigkeit behaupten, wir können von keiner chemischen Qualität ihr ewiges Verharren behaupten, wir sind nicht fein genug, um den muthmaaßlichen absoluten Fluß des Geschehens zu sehen: das Bleibende ist nur vermöge unserer groben Organe da, welche zusammenfassen und auf Flächen hinlegen, was so gar nicht existirt. Der Baum ist in jedem Augenblick etwas Neues: die Form wird von uns behauptet, weil wir die feinste absolute Bewegung nicht wahrnehmen können: wir legen eine mathematische Durchschnittslinie hinein in die absolute Bewegung, überhaupt Linien und Flächen bringen wir hinzu, auf der Grundlage des Intellekts, welches der Irrthum ist: die Annahme des Gleichen und des Beharrens, weil wir nur Beharrendes sehen können und nur bei Ähnlichem (Gleichem) uns erinnern. Aber an sich ist es anders: wir dürfen unsere Skepsis nicht in die Essenz übertragen.

11 [294]

Der Wohlstand, die Behaglichkeit, die den Sinnen Befriedigung schafft, wird jetzt begehrt, alle Welt will vor allem das. Folglich wird sie einer geistigen Sklaverei entgegengehen, die nie noch da war. Denn dies Ziel ist zu erreichen, die größten Beunruhigungen jetzt dürfen nicht täuschen. Die Chinesen sind der Beweis, daß auch Dauer dabei sein kann. Der geistige Cäsarismus schwebt über allem Bestreben der Kaufleute und Philosophen.

11 [295]

Unsere jetzige Erziehung hat den Werth einer Art Wanderzwangs in der Zeit des Mittelalters und der Zünfte. Das Gegengewicht, es sich zu Hause nach heimatlichem Werthmaße bequem einzurichten wirkte ehemals. Jetzt wirkt die Absicht auf Sinnen-Wohlstand und daneben das Bild aller anderen Culturen, welche etwas wollten über oder wider den Sinnenwohlstand.

Der Zunftzwang lehrte lernen: endlich ist ein individueller Lerntrieb entstanden, durch Vererbung. Das Lernen ist ursprünglich saurer als alle Arbeit, daher gehaßt. Die Gelehrten haben daher im Mittelalter ein Übergewicht.

11 [296]

Wer das fremde Blut haßt oder verachtet, ist noch kein Individuum, sondern eine Art menschliches Protoplasma.

11 [297]

Werde fort und fort, der, der du bist – der Lehrer und Bildner deiner selber! Du bist kein Schriftsteller, du schreibst nur für dich! So erhältst du das Gedächtniß an deine guten Augenblicke und findest ihren Zusammenhang, die goldne Kette deines Selbst! So bereitest du dich auf die Zeit vor, wo du sprechen mußt! Vielleicht daß du dich dann des Sprechens schämst, wie du dich mitunter des Schreibens geschämt hast, daß es noch nöthig ist, sich zu interpretiren, daß Handlungen und Nicht-Handlungen nicht genügen, dich mitzutheilen. Ja, du willst dich mittheilen! Es kommt einst die Gesittung, wo viel-Lesen zum schlechten Tone gehört: dann wirst du auch dich nicht mehr schämen müssen, gelesen zu werden; während jetzt jeder, der dich als Schriftsteller anspricht, dich beleidigt; und wer dich deiner Schriften halber lobt, giebt dir ein Zeichen, daß sein Takt nicht fein ist, er macht eine Kluft zwischen sich und dir – er ahnt gar nicht, wie sehr er sich erniedrigt, wenn er dich so zu erheben glaubt. Ich kenne den Zustand der gegenwärtigen Menschen, wenn sie lesen: Pfui! Für diesen Zustand sorgen und schaffen zu wollen!

11 [298]

Wenn man um Meinungen uneins ist und Blut vergießt und opfert, so ist die Cultur hoch: da sind Meinungen zu Gütern geworden.

11 [299]

Hellwald, Häckel und Consorten – sie haben die Stimmung der Spezialisten, und eine Froschnasen-Weisheit. Das kleine Gehirnstückchen, welches der Erkenntiß ihrer Welt geöffnet ist, hat mit ihrer Gesamtheit nichts zu schaffen, es ist ein Ecken-Talentchen, wie wenn einer zeichnet, ein anderer klavierspielt; sie erinnern mich an den alten ehrlichen David Strauß, der ganz harmlos erzählt, wie er sich erst zwicken und zwacken muß, um sich selber festzustellen, ob er noch eine Empfindung für das allgemeine Dasein habe. Diese Spezialisten haben sie nicht und sind deshalb so "kalt"; Bildungskamele, auf deren Höckern viel gute Einsichten und Kenntnisse sitzen, ohne zu hindern, daß das Ganze doch eben nur ein Kamel ist.

11 [300]

Pflanzenkost und Wein – das wäre die verrückteste aller möglichen Lebensweisen!

11 [301]

Ohne Phantasie und Gedächtniß gäbe es keine Lust und keinen Schmerz. Die dabei erregten Affekte verfügen augenblicklich über vergangene ähnliche Fälle und über die schlimmen Möglichkeiten, sie deuten aus, sie legen hinein. Deshalb steht ein Schmerz im Allgemeinen ganz außer Verhältniß zu seiner Bedeutung für das Leben – er ist unzweckmäßig. Aber dort, wo eine Verletzung nicht vom Auge oder dem Getast wahrgenommen wird, ist sie viel weniger schmerzhaft, da ist die Phantasie ungeübt. An den Fingern ist der Schmerz am größten, an Zähnen, am Kopfe usw.

11 [302]

Das Großartige in der Natur, alle Empfindungen des Hohen Edlen Anmuthigen Schönen Gütigen Strengen Gewaltigen Hinreißenden, die wir in der Natur und bei Mensch und Geschichte haben, sind nicht unmittelbare Gefühle, sondern Nachwirkungen zahlloser uns einverleibter Irrthümer, – es wäre alles kalt und todt für uns, ohne diese lange Schule. Schon die sicheren Linien des Gebirgs, die sicheren Farbenabstufungen, die verschiedene Lust an jeder Farbe sind Erbstücke: irgendwann war diese Farbe weniger mit gefahrdrohenden Erscheinungen verknüpft als eine andere und allmählich wirkte sie beruhigend (wie das Blau)

11 [303]

Der Egoism ist verketzert worden, von denen die ihn übten (Gemeinden Fürsten Parteiführern Religionsstiftern Philosophen wie Plato); sie brauchten die entgegengesetzte Gesinnung bei den Menschen, die ihnen Funktion leisten sollten. – Wo eine Zeit ein Volk eine Stadt hervorragt, ist es immer, daß der Egoismus derselben sich bewußt wird und kein Mittel mehr scheut (sich nicht mehr seiner selber schämt). Reichthum an Individuen ist Reichthum an solchen, die sich ihres Eigenen und Abweichenden nicht mehr schämen. Wenn ein Volk stolz wird und Gegner sucht, wächst es an Kraft und Güte. – Dagegen die Selbstlosigkeit verherrlichen! und zugeben, wie Kant, daß wahrscheinlich nie eine That derselben gethan worden sei! Also nur, um das entgegengesetzte Princip herabzusetzen, seinen Werth zu drücken, die Menschen kalt und verächtlich, folglich gedankenfaul gegen den Egoismus stimmen! – Denn bisher ist es der Mangel an feinem planmäßigen gedankenreichen Egoismus gewesen, was die Menschen im Ganzen auf einer so niedrigen Stufe erhält! Gleichheit gilt als verbindend und erstrebenswerth! Es spukt ein falscher Begriff von Eintracht und Frieden, als dem nützlichsten Zustande. In Wahrheit gehört überall ein starker Antagonismus hinein, in Ehe Freundschaft Staat Staatenbund Körperschaft gelehrten Vereinen Religion, damit etwas Rechtes wachse. Das Widerstreben ist die Form der Kraft – im Frieden wie im Kriege, folglich müssen verschiedene Kräfte und nicht gleiche dasein, denn diese würden sich das Gleichgewicht halten!

11 [304]

Saugt eure Lebenslagen und Zufälle aus – und geht dann in andere über! Es genügt nicht, Ein Mensch zu sein, wenn es gleich der nothwendige Anfang ist! Es hieße zuletzt doch, euch aufzufordern, beschränkt zu werden! Aber aus Einem in einen Anderen übergehen und eine Reihe von Wesen durchleben!

11 [305]

Unendlich neue Veränderungen und Lagen einer bestimmten Kraft ist ein Widerspruch, denke man sich dieselbe noch so groß und noch so sparsam in der Veränderung, vorausgesetzt, daß sie ewig ist. Also wäre zu schließen 1) entweder sie ist erst von einem bestimmten Zeitpunkte an thätig und wird ebenso einmal aufhören – aber Anfang des Thätigseins zu denken ist absurd; wäre sie im Gleichgewicht, so wäre sie es ewig! 2) oder es giebt nicht unendlich neue Veränderungen, sondern ein Kreislauf von bestimmter Zahl derselben spielt sich wieder und wieder ab: die Thätigkeit ist ewig, die Zahl der Produkte und Kraftlagen endlich.

11 [306]

Die Natur baut nicht für das Auge, die Form ist ein zufälliges Ergebniß. Man denke, daß in einer Eizelle alle Atome ihre Bewegungen machen, daß Formen nur für Augen existiren und daß Atome ohne Augen sie auch nicht wollen können.

11 [307]

Schopenhauern war wohl ein Gedanke Spinoza's im Herzen hängen geblieben: daß das Wesen jedes Ding's appetitus sei und daß dieser appetitus darin bestehe, im Dasein zu beharren. Dies leuchtete ihm einmal auf und leuchtete ihm so ein, daß er den Vorgang "Wille" nie mehr sorgfältig überdacht hat (ebenso wenig wie alle seine Grundbegriffe – er war in Betreff derer ohne Zweifel, weil er ohne rechte Vernunft und Empirie zu ihnen gekommen war).

11 [308]

Wie unregelmäßig ist die Milchstraße! (Vogt. p 110)

11 [309]

Beobachten, wie eine Lust entsteht, wie viel Vorstellungen zusammenkommen müssen! und zuletzt ist es Eines und Ganzes, und will nicht mehr als Vielheit sich erkennen lassen. So könnte es mit jeder Lust jedem Schmerz sein! Es sind Gehirn phänomene! Aber längst uns einverleibte und jetzt nur als Ganzes sich präsentirende Vielheiten! Warum thut ein geschnittener Finger wehe? An sich thut er nicht wehe (ob er schon "Reize" erfährt), der dessen Gehirn chloroformirt ist, hat keinen "Schmerz" im Finger. Sollte erst das Urtheil über die Verletzung eines funktionirenden Organs, von Seiten der vorstellenden Einheit, nöthig gewesen sein? Ist es die Einheit, welche allein die Schädigung sich vorstellt und – jetzt sie uns als Schmerz zu empfinden giebt, indem sie dorthin, wo der Schade geschehen, die stärksten Reize schickt? Könnte also auch die Absicht auf Flucht Abwehr Vorsicht Rettung in dem Schmerz stecken? Mittel, weiterem Schaden vorzubeugen? Zugleich Wuth über die Verletzung, Rachegefühl in Einem? Alles zusammen – Schmerz? So uns zum Bewußtsein kommend, als Durcheinander und Einheit des Gefühls?

11 [310]

Er schämte sich seiner Heiligkeit und verkleidete sie.

11 [311]

Ist nicht die Existenz irgendwelcher Verschiedenheit und nicht völliger Kreisförmigkeit in der uns umgebenden Welt schon ein ausreichender Gegenbeweis gegen eine gleichmäßige Kreisform alles Bestehenden? Woher die Verschiedenheit innerhalb des Kreises? Woher die Zeitdauer dieser ablaufenden Verschiedenheit? Ist nicht alles viel zu mannichfaltig um aus Einem entstanden zu sein? Und sind nicht die vielen chemischen Gesetze und wieder organischen Arten und Gestalten unerklärbar aus Einem? Oder aus Zweien? – Gesetzt, es gäbe eine gleichmäßige "Contraktionsenergie" in allen Kraftcentren des Universums, so fragt sich, woher auch nur die geringste Verschiedenheit entstehen könnte? Dann müßte sich das All in zahllose völlig gleiche Ringe und Daseinskugeln lösen, und wir hätten zahllose völlig gleiche Welten neben einander. Ist dies nöthig für mich, anzunehmen? Zum ewigen Nacheinander gleicher Welten ein ewiges Nebeneinander? Aber die Vielheit und Unordnung in der bisher uns bekannten Welt widerspricht, es kann nicht eine solche universale Gleichartigkeit der Entwicklung gegeben haben, es müßte auch für unseren Theil ein gleichförmiges Kugelwesen ergeben haben! Sollte in der That die Entstehung von Qualitäten keine gesetzmäßige an sich sein? Sollte aus der "Kraft" Verschiedenes entstehen können? Beliebiges? Sollte die Gesetzmäßigkeit, welche wir sehen, uns täuschen? Nicht ein Urgesetz sein? Sollte die Vielartigkeit der Qualitäten auch in unserer Welt eine Folge der absoluten Entstehung beliebiger Eigenschaften sein? Nur daß sie in unserer Weltecke nicht mehr vorkommt? Oder eine Regel angenommen hat, die wir Ursache und Wirkung nennen, ohne daß sie dies ist (ein zur Regel gewordenes Belieben, z. B. Sauerstoff und Wasserstoff chemisch)??? Sollte diese Regel" eben nur eine längere Laune sein? – – –

11 [312]

Wer nicht an einen Kreisprozeß des Alls glaubt, muß an den willkürlichen Gott glauben – so bedingt sich meine Betrachtung im Gegensatz zu allen bisherigen theistischen! (s. Vogt p. 90.)

11 [313]

Was ich als Gegenhypothese gegen den Kreisprozeß einwende:

Sollte es möglich sein, die Gesetze der mechanischen Welt ebenso als Ausnahmen und gewissermaßen Zufälle des allgemeinen Daseins abzuleiten, als eine Möglichkeit von vielen unzähligen Möglichkeiten? Daß wir zufällig in diese mechanische Weltordnungs-Ecke geworfen sind? Daß aller Chemismus wiederum in der mechanischen Weltordnung die Ausnahme und der Zufall ist und endlich der Organismus innerhalb der chemischen Welt die Ausnahme und der Zufall? – Hätten wir als allgemeinste Form des Daseins wirklich eine noch nicht mechanische, den mechanischen Gesetzen entzogene (wenn auch nicht ihnen unzugängliche) Welt anzunehmen? Welche in der That die allgemeinste auch jetzt und immer wäre? So daß das Entstehen der mechanischen Welt ein gesetzloses Spiel wäre, welches endlich eben solche Consistenz gewänne, wie jetzt die organischen Gesetze für unsere Betrachtung? So daß alle unsere mechanischen Gesetze nicht ewig wären, sondern geworden, unter zahllosen andersartigen mechanischen Gesetzen, von ihnen übrig geblieben, oder in einzelnen Theilen der Welt zur Herrschaft gelangt, in anderen nicht? – Es scheint, wir brauchen ein Belieben, eine wirkliche Ungesetzmäßigkeit, nur eine Fähigkeit gesetzlich zu werden, eine Urdummheit, welche selbst für Mechanik nicht taugt? Die Entstehung der Qualitäten setzt das Entstehen der Quantitäten voraus, und diese wieder könnten nach tausend Arten von Mechanik entstehen.

11 [314]

Unsere höheren Schmerzen, die sogenannten Schmerzen der Seele, deren Dialektik wir oft noch sehen, beim Eintreten irgend eines Ereignisses, sind langsam und auseinandergezogen, im Vergleich zum niederen Schmerz (z. B. bei einer Verwundung), dessen Charakter Plötzlichkeit ist. Aber letzterer ist eben so complicirt und dialektisch im Grunde, und intellektuell – das Wesentliche ist, daß viele Affekte auf einmal losstürzen und auf einander stürzen – dies plötzliche Wirrsal und Chaos ist für das Bewußtsein der physische Schmerz. – Lust und Schmerz sind keine "unmittelbaren Thatsachen", wie Vorstellung es ist. Eine Menge Vorstellungen, in Triebe einverleibt, sind blitzschnell bei der Hand und gegen einander. Das Umgekehrte ist bei der Lust, die Vorstellungen, ebenso schnell zur Hand, sind in Harmonie und Ausgleichung und – dies wird vom Intellekt als Lust empfunden.

11 [315]

Es hat unzählige modi cogitandi gegeben, aber nur die welche das organische Leben vorwärts brachten, haben sich erhalten – werden es die feinsten gewesen sein? – Die Simplifikation ist das Hauptbedürfniß des Organischen; die Verhältnisse viel gedrängter sehen, Ursache und Wirkung ohne die vielen Mittelglieder fassen, vieles Unähnliche ähnlich finden – das war nöthig – so fand ein unvergleichlich größeres Suchen nach Nahrung und Assimilation statt, weil der Glaube, daß etwas zur Nahrung zu finden sei, viel öfter erregt wurde – ein großer Vortheil im Wachsthum des Organischen! Das Begehren vertausendfacht durch die vertausendfachte Wahrscheinlichkeit der Befriedigung, die Organe des Suchens gestärkt – : das Irren und Sichvergreifen mag ins Unzählige wachsen, aber die günstigen Griffe werden häufiger! Der "Irrthum" ist das Mittel zum glücklichen Zufall!

11 [316]

Die letzten Organismen, deren Bildung wir sehen (Völker Staaten Gesellschaften), müssen zur Belehrung über die ersten Organismen benutzt werden. Das Ich-bewußtsein ist das letzte, was hinzukommt, wenn ein Organismus fertig fungirt, fast etwas Überflüssiges: das Bewußtsein der Einheit, jedenfalls etwas höchst Unvollkommenes und Oft-Fehlgreifendes im Vergleich zu der wirklich eingeborenen einverleibten arbeitenden Einheit aller Funktionen. Unbewußt ist die große Hauptthätigkeit. Das Bewußtsein erscheint erst gewöhnlich, wenn das Ganze sich wieder einem höheren Ganzen unterordnen will – als Bewußtsein zunächst dieses höheren Ganzen, des Außer-sich. Das Bewußtsein entsteht in Bezug auf das Wesen, dem wir Funktion sein könnten – es ist das Mittel, uns einzuverleiben. So lange es sich um Selbsterhaltung handelt, ist Bewußtsein des Ich unnöthig. – So wohl schon im niedersten Organismus. Das Fremde Größere Stärkere wird als solches zuerst vorgestellt. – Unsere Urtheile über unser "Ich" hinken nach, und werden nach Einleitung des Außer- uns, der über uns waltenden Macht vollzogen. Wir bedeuten uns selber das, als was wir im höheren Organismus gelten – allgemeines Gesetz.

Die Empfindungen und die Affekte des Organischen sind alle längst fertig entwickelt, bevor das Einheits-gefühl des Bewußtseins entsteht.

Älteste Organismen: chemische langsame Prozesse, in noch viel langsameren wie in Hüllen eingeschlossen, von Zeit zu Zeit explodirend und dann um sich greifend und dabei neue Nahrung an sich ziehend.

11 [317]

Ihr sagt: "jene Irrthümer waren für jene Stufe nothwendig, als Heilmittel – die Kur des Menschengeschlechts hat einen nothwendig-vernünftigen Verlauf!" In diesem Sinne leugne ich die Vernünftigkeit. Es ist zufällig, daß dieser und jeder Glaubensartikel siegte, nicht nothwendig – dieselbe Heilwirkung wäre vielleicht auch von einem anderen ausgegangen. Aber vor allem! Die Folge der Heilwirkungen ist sehr beliebig, sehr unvernünftig gewesen! Zudem brachten fast alle eine tiefe andere Erkrankung mit sich! Diese ganze Kur der Menschheit ist aber von ihr vertragen worden – das ist das Merkwürdigste! Es war gewiß nicht die Vernünftigste, noch die einzig-mögliche! Aber möglich war sie!

11 [318]

Ihr meint, ihr hättet lange Ruhe bis zur Wiedergeburt – aber täuscht euch nicht! Zwischen dem letzten Augenblick des Bewußtseins und dem ersten Schein des neuen Lebens liegt „keine Zeit" – es ist schnell wie ein Blitzschlag vorbei, wenn es auch lebende Geschöpfe nach Jahrbillionen messen und nicht einmal messen könnten. Zeitlosigkeit und Succession vertragen sich miteinander, so bald der Intellekt weg ist.

11 [319]

Intellektuell gemessen, wie irrthumvoll ist Lust und Schmerz! Wie falsch wäre geurtheilt, wenn man nach dem Grade von Lust oder Schmerz auf den Werth für das Leben schließen wollte! Im Schmerz ist so viel Dummheit wie in den blinden Affekten, ja es ist Zorn Rache Flucht Ekel Haß Überfüllung der Phantasie (Übertreibung) selber, der Schmerz ist die ungeschieden zusammengeflossene Masse von Affekten, ohne Intellekt giebt es keinen Schmerz, aber die niedrigste Form des Intellekts tritt da zu Tage; der Intellekt der "Materie", der "Atome". – Es giebt eine Art, von einer Verletzung überrascht zu werden (wie jener der auf dem Kirschbaum sitzend eine Flintenkugel durch die Backe bekam), daß man gar nicht den Schmerz fühlt. Der Schmerz ist Gehirnprodukt.

11 [320]

Begreift man, wie auch jetzt noch das Leben im Großen (im Gange der Staaten Sittlichkeiten usw.) durch Irrthümer gezeugt wird: wie die Irrthümer aber immer höher und feiner werden müssen: so wird es wahrscheinlich, daß das, was ursprünglich das Leben zeugte, eben der denkbar gröbste Irrthum war – daß zuerst sich dieser Irrthum entwickelt hat und daß überhaupt die ältesten, und am besten einverleibten Irrthümer es seien, auf denen der Fortbestand der Gesellschaft beruht. Nicht die Wahrheit, sondern die Nützlichkeit und Erhaltefähigkeit von Meinungen hat sich im Verlauf der Empirie beweisen müssen; es ist ein Wahn, dem auch unsere jetzige Erfahrung widerspricht, daß die möglichste Anpassung an den wirklichen Sachverhalt die lebengünstigste Bedingung sei. – Es kann sehr viele Ansätze zu Vorstellungen über die Dinge gegeben haben, die wahrer waren (und es giebt deren immer noch) aber sie gehen zu Grunde, sie wollen sich nicht mehr einverleiben – das Fundament von Irrthümern, auf dem jetzt alles ruht, wirkt auswählend, regulirend, es verlangt von allem "Erkannten" eine Anpassung als Funktion – sonst scheidet es dasselbe aus. – Innerhalb jedes kleinen Kreises wiederholt sich der Prozeß: es werden viele Ansätze zu neuen Meinungen gemacht, aber eine Auswahl findet statt, das Lebendige und Im-Leben-bleiben-Wollende entscheidet. Meinungen haben nie etwas zu Grunde gerichtet – aber bei allem Zugrundegehen schießen die Meinungen frei auf, die bisher unterdrückt wurden. Jede neue Erkenntniß ist schädigend, bis sie sich in ein Organ der alten verwandelt hat und die Hierarchie von Alt und Jung in derselben anerkennt – sie muß lange embryonal-schwach bleiben; Ideen treten oft spät erst in ihrer Natur auf, sie hatten Zeit nöthig, sich einzuverleiben und groß zu wachsen.

11 [321]

Die Unwahrheit muß aus dem "eigenen wahren Wesen" der Dinge ableitbar sein: das Zerfallen in Subjekt und Objekt muß dem wirklichen Sachverhalt entsprechen. Nicht die Erkenntniß gehört zum Wesen der Dinge, sondern der Irrthum. Der Glaube an das Unbedingte muß ableitbar aus dem Wesen des esse, aus dem allgemeinen Bedingtsein sein! Das Übel und der Schmerz gehören zu dem, was wirklich ist: aber nicht als dauernde Eigenschaften des esse. Denn Übel und Schmerz sind nur Folgen des Vorstellens, und daß das Vorstellen eine ewige und allgemeine Eigenschaft alles Seins ist, ob es überhaupt dauernde Eigenschaften geben kann, ob nicht das Werden alles Gleiche und Bleibende ausschließt, außer in der Form des Irrthums und Scheins, während das Vorstellen selber ein Vorgang ohne Gleiches und Dauerndes ist? – Ist der Irrthum entstanden als Eigenschaft des Seins? Irren ist dann ein fortwährendes Werden und Wechseln?

11 [322]

Je höher der Intellekt, um so mehr nimmt der Umfang von Schmerz und Lust zu, Bereich und Grade.

11 [323]

Wie ganz irrthümlich ist die Empfindung! Allen unseren Bewegungen auf Grund von Empfindungen liegen Urtheile zu Grunde – einverleibte Meinungen über bestimmte Ursachen und Wirkungen, über einen Mechanismus, über unser "Ich" usw. Alles ist aber falsch! Trotzdem: wir mögen es besser wissen, so bald wir praktisch handeln, müssen wir wider das bessere Wissen handeln und uns in den Dienst der Empfindungs-Urtheile stellen! Das ist die Stufe der Erkenntniß, welche noch viel älter ist als die Stufe der Sprach-Erfindung – meist thierisch!

11 [324]

Vorstellen selber ist kein Gegensatz der Eigenschaften des esse: sondern nur sein Inhalt und dessen Gesetz. – Gefühl und Wille sind uns nur als Vorstellungen bekannt, somit ist ihre Existenz nicht bewiesen. Wenn sie als Inhalt der Vorstellung und nach dem Gesetz der Vorstellung uns allein bekannt sind, so müssen sie uns als gleich ähnlich beharrend usw. erscheinen. In der That, jedes Gefühl wird als etwas irgendwie Dauerndes von uns gefaßt (ein plötzlicher Schlag?) und nicht als etwas an sich Neues und Eigenes, sondern dem Bekannten Ähnliches und Gleiches.

11 [325]

Wir würden ohne die Annahme einer der wahren Wirklichkeit entgegengesetzten Art des Seins nichts haben, an dem es sich messen und vergleichen und abbilden könnte: der Irrthum ist die Voraussetzung des Erkennens. Theilweises Beharren, relative Körper, gleiche Vorgänge, ähnliche Vorgänge – damit verfälschen wir den wahren Thatbestand, aber es wäre unmöglich, von ihm irgendetwas zu wissen, ohne ihn erst so verfälscht zu haben. Es ist nämlich so zwar jede Erkenntniß immer noch falsch, aber es giebt doch so ein Vorstellen, und unter den Vorstellungen wieder eine Menge Grade des Falschen. Die Grade des Falschen festzustellen und die Nothwendigkeit des Grundirrthums als der Lebensbedingung des vorstellenden Seins – Aufgabe der Wissenschaft. Nicht wie ist der Irrthum möglich, heißt die Frage, sondern: wie ist eine Art Wahrheit trotz der fundamentalen Unwahrheit im Erkennen überhaupt möglich? – Das vorstellende Sein ist gewiß, ja unsere einzige Gewißheit: was es vorstellt und wie es vorstellen muß, ist das Problem. Daß das Sein vorstellt, ist kein Problem, es ist eben die Thatsache: ob es ein anderes als ein vorstellendes Sein überhaupt giebt, ob nicht Vorstellen zur Eigenschaft des Seins gehört, ist ein Problem.

11 [326]

Ich lerne immer mehr: das Unterscheidende zwischen den Menschen ist, wie lange sie eine hohe Stimmung bei sich erhalten können. Manche kaum eine Stunde, und bei Einigen möchte man zweifeln, ob sie hoher Stimmungen fähig sind. Es ist etwas Physiologisches daran.

11 [327]

Frauen, die allzu lebhaft sind und den Eindruck davon dämpfen möchten, wählen blaue Farben: und ebenso giebt es in Büchern blaue Farbentöne, mit denen ihr Urheber seine springende Reizbarkeit zu balanciren sucht.

11 [328]

Ein Mensch, der täglich so viele Giftbrühen in sich hinunterzuwürgen hat, ist immer zu bewundern, wenn er Zeiten großer Empfindungen kennt und nicht überhaupt einen principiellen Ekel am "Großen" hat.

11 [329]

Die Antinomie: "die Elemente in der gegebenen Wirklichkeit, welche dem wahren Wesen der Dinge fremd sind, können aus diesem nicht herstammen, müssen also hinzugekommen sein – aber woher? da es außer dem wahren Wesen nichts giebt – folglich ist eine Erklärung der Welt ebenso nöthig als unmöglich." Dies löse ich so: das wahre Wesen der Dinge ist eine Erdichtung des vorstellenden Seins, ohne welche es nicht vorzustellen vermag. Jene Elemente in der gegebenen Wirklichkeit, welche diesem erdichteten "wahren Wesen" fremd sind, sind die Eigenschaften des Seins, sind nicht hinzugekommen. Aber auch das vorstellende Sein, dessen Existenz an den irrthümlichen Glauben gebunden ist, muß entstanden sein, wenn anders jene Eigenschaften (die des Wechsels, der Relativität) dem esse zu eigen sind: zugleich muß Vorstellen und Glauben an das Selbstidentische und Beharrende entstanden sein. – Ich meine, daß schon alles Organische das Vorstellen voraussetzt.

11 [330]

Grundgewißheit.

"Ich stelle vor, also giebt es ein Sein" cogito, ergo est. – Daß ich dieses Vorstellende Sein bin, daß Vorstellen eine Thätigkeit des Ich ist, ist nicht mehr gewiß: ebenso wenig alles was ich vorstelle. – Das einzige Sein, welches wir kennen, ist das vorstellende Sein. Wenn wir es richtig beschreiben, so müssen die Prädikate des Seienden überhaupt darin sein. (Indem wir aber das Vorstellen selber als Objekt des Vorstellens nehmen, wird es da nicht durch die Gesetze des Vorstellens getränkt, gefälscht, unsicher? -) Dem Vorstellen ist der Wechsel zu eigen, nicht die Bewegung: wohl Vergehen und Entstehen, und im Vorstellen selber fehlt alles Beharrende; dagegen stellt es zwei Beharrende hin, es glaubt an das Beharren 1) eines Ich 2) eines Inhaltes: dieser Glaube an das Beharrende der Substanz d. h. an das Gleich bleiben Desselben mit sich ist ein Gegensatz gegen den Vorgang der Vorstellung selber. (Selbst wenn ich, wie hier ganz allgemein vom Vorstellen rede, so mache ich ein beharrendes Ding daraus) An sich klar ist aber, daß Vorstellen nichts Ruhendes ist, nichts Sich selber Gleiches Unwandelbares: das Sein also, welches uns einzig verbürgt ist, ist wechselnd, nicht-mit-sich identisch, hat Beziehungen (Bedingtes, das Denken muß einen Inhalt haben, um Denken zu sein). – Dies ist die Grundgewißheit vom Sein. Nun behauptet das Vorstellen gerade das Gegentheil vom Sein! Aber es braucht deshalb nicht wahr zu sein! Sondern vielleicht ist dies Behaupten des Gegentheils eben nur eine Existenz-bedingung dieser Art von Sein, der vorstellenden Art! Das heißt: es wäre das Denken unmöglich, wenn es nicht von Grund aus das Wesen des esse verkennte: es muß die Substanz und das Gleiche behaupten, weil ein Erkennen des völlig Fließenden unmöglich ist, es muß Eigenschaften dem Sein andichten, um selber zu existiren. Es braucht kein Subjekt und kein Objekt zu geben, damit das Vorstellen möglich ist, wohl aber muß das Vorstellen an Beide glauben. – Kurz: was das Denken als das Wirkliche faßt, fassen muß, kann der Gegensatz des Seienden sein!

11 [331]

Wir sind milder und menschlicher! Alle Milde und Menschlichkeit aber besteht darin, daß wir den Umständen viel zurechnen und nicht mehr Alles der Person! und daß wir den Egoismus vielfach gelten lassen und ihn nicht als das Böse und Verwerfliche an sich mehr betrachten (wie er in der Gemeinde geachtet wurde). Also: im Nachlassen unseres Glaubens an die absolute Verantwortlichkeit der Person und unseres Glaubens an die Verwerflichkeit des Individuellen besteht unser Fortschritt aus der Barbarei!

11 [332]

Ihr sagt: "gewisse Glaubenssätze sind der Menschheit heilsam, folglich müssen sie geglaubt werden" (so hat jede Gemeinde geurtheilt). Aber das ist meine That, zum ersten Male die Gegenrechnung gefordert zu haben! – also gefragt zu haben: welches unsägliche Elend, welche Verschlechterung der Menschen dadurch entstanden ist, daß man das Ideal der Selbstlosigkeit aufstellte, also den Egoismus böse hieß und als böse empfinden ließ!! – dadurch daß man den Willen des Menschen frei hieß und ihm die volle Verantwortlichkeit zuschob somit die Verantwortlichkeit für alles Egoistische – "Böse genannte" – d. h. Naturnothwendige seines Wesens: so machte man ihm einen schlechten Ruf und ein schlechtes Gewissen: – dadurch daß man einen heiligen Gott über den Menschen dachte und damit allem Handeln das böse Wesen eindrückte, und zwar je feiner und edler ein Mensch empfand? – Das Nachlassen dieser furchtbaren Glaubenssätze und das Nachlassen im Zwängen und Erzwingen des Glaubens überhaupt hat die Barbarei verscheucht! – Freilich: eine noch frühere Barbarei, eine gröbere konnte nur durch jene "heilsamen" Wahnartikel verscheucht werden!

11 [333]

Jedes Vorstellen kommt mit Hülfe des Gedächtnisses zu Stande, und ist das Produkt unzähliger Erfahrungen Urtheile Irrthümer Lüste Unlüste vergangner Momente im Menschen: ob es auch noch so plötzlich auftritt. Wenn ich mir einen Gebirgssee vorstelle, so arbeitet bei mir eine ganz andere Vergangenheit an dieser Vorstellung als wenn ein Berliner ihn sich vorstellt. Oder: Kirche" "Philosoph" "Edelmann" "Tagedieb"

usw.

11 [334]

Jede Lust und Unlust ist jetzt bei uns ein höchst complicirtes Ergebniß, so plötzlich es auftritt; die ganze Erfahrung und eine Unsumme von Werthschätzungen und Irrthümern derselben steckt darin. Das Maaß des Schmerzes steht nicht im Verhältniß zur Gefährlichkeit; unsere Einsicht widerspricht. Ebenso ist das Maaß der Lust nicht im Verhältniß zu unserer jetzigen Erkenntniß – wohl aber zur "Erkenntniß" der primitivsten und längsten Vorperiode von Mensch- und Thierheit. Wir stehen unter dem Gesetze der Vergangenheit d. h. ihrer Annahmen und Werthschätzungen.

11 [335]

Nur die Arten von Annahmen, mit denen ein Weiterleben möglich war, haben sich erhalten – dies die älteste Kritik, und lange die einzige! Dadurch sind die gröbsten Irrthümer uns einverleibt, unausrottbar – denn sie verhinderten oft nicht das Weiterleben. Ob eine Annahme auf die Dauer Schaden brachte (z. B. die Annahme, daß ein Getränk gesund sei, doch das Leben auf die Dauer verkürzte), das kam nicht in Betracht. Die Kurzlebigkeit des Menschen mag die Folge fehlerhafter einverleibter Annahmen sein.

Am Beginn aller geistigen Thätigkeit stehen die gröbsten Annahmen und Erdichtungen, z. B. Gleiches Ding Beharren. Sie sind gleichaltrig mit dem Intellekte und er hat sein Wesen danach gemodelt. – Nur die Annahmen blieben, mit denen sich das organische Leben vertrug.

11 [336]

An E. R.

Leg ich mich aus, so leg ich mich hinein

So mög ein Freund mein Interprete sein.

Und wenn er steigt auf seiner eignen Bahn,

Trägt er des Freundes Bild mit sich hinan.

Februar 1882.

11 [337]

Gaya Scienza.

Albas Morgenlieder

Serenas Abendlieder

Tenzoni Streitlieder

Sirventes Lob- und Rügelieder

Sontas Lieder der Freude

Laïs Lieder des Leides

11 [338]

Die zukünftige Geschichte: immer mehr wird dieser Gedanke siegen – und die nicht daran Glaubenden müssen ihrer Natur nach endlich aussterben!

Nur wer sein Dasein für ewig wiederholungsfähig hält, bleibt übrig: unter solchen aber ist ein Zustand möglich, an den noch kein Utopist gereicht hat!

11 [339]

Seid ihr nun vorbereitet? Ihr müßt jeden Grad von Skepsis durchlebt haben und mit Wollust in eiskalten Strömen gebadet haben – sonst habt ihr kein Recht auf diesen Gedanken; ich will mich gegen die Leichtgläubigen und Schwärmerischen wohl wehren! Ich will meinen Gedanken im Voraus vertheidigen! Er soll die Religion der freiesten heitersten und erhabensten Seelen sein – ein lieblicher Wiesengrund zwischen vergoldetem Eise und reinem Himmel!

11 [340]

1) Ungeheure Thatsache: alle unsere moralischen Urtheile sind aus den entgegengesetzten hervorgegangen: wie ist dies geschehen?

2) wie ist das ältere moralische Urtheil entstanden?

11 [341]

Die Strafe nicht entehrend, so lange sie auch den unabsichtlichen Schädiger trifft.

11 [342]

Gewissensbiß auch nach unbeabsichtigtem Frevel. Z. B. Oedipus.

wesentlich: Ekel vor sich selber!

aesthetische Grundnatur des Urtheils.

11 [343]

Gegen Spencer: "so ist es nicht zweckmäßig" – das ist kein moralisches Urtheil

"Es ist nicht recht, obwohl es zweckmäßig ist"

"es erniedrigt mich" "es macht Grauen und Ekel vor mir."

Die Rücksicht auf den eigenen Nutzen oder den der Gesellschaft macht die Sache immer noch nicht "moralisch"! "Es ist schädlich für die Andern, nützlich für mich" – was muß geschehen, damit dies als „erniedrigend", als ekelhaft empfunden wird? – An und für sich ist es die rechte Handlung die natürliche, bei der alles grünt und gedeiht.

Der freie Wille, das Wissen um die Zwecke der Handlungen wurden als unmoralisch empfunden: ist Heerdeninstinkt. Das Wissen hat das schlechte Gewissen für sich gehabt.

11 [344]

In der Heerde keine Nächstenliebe: sondern Sinn für das Ganze und Gleichgültigkeit gegen den Nächsten. Diese Gleichgültigkeit ist etwas sehr Hohes

11 [345]

In welchem Satze und Glauben drückt sich am besten die entscheidende Wendung aus, welche durch das Übergewicht des wissenschaftlichen über den religiösen götter-erdichtenden Geist eingetreten ist? Wir bestehen darauf, daß die Welt, als eine Kraft, nicht unbegrenzt gedacht werden darf – wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft, als mit dem Begriff "Kraft" unverträglich.

11 [346]

der Mensch die Natur in Dienste nehmend und überwältigend

der wissenschaftliche Mensch arbeitet im Instinkt dieses Willens zur Macht und fühlt sich gerechtfertigt

Fortschritt im Wissen als Fortschritt in der Macht (aber nicht als Individuum). Vielmehr macht dieser sklavenmäßige Verbrauch des Gelehrten das Individuum niedriger.

11 [347]

Erhöhung und Verstärkung des Typus!

Antagonism: Erhöhung und Verstärkung seiner einzelnen Organe und Funktionen.

11 [348]

An und für mich – wozu? –

 

 

[Dokument: Notizbuch]

[Herbst 1881]

12 [1]

Nachts, vor dem bestirnten Himmel:

- Oh dieser todtenstille Lärm! –

12 [2]

Wortspiele:

Ridicultur eines Menschen

der geistige Nachtisch jetzt für Viele: Gorgon-Zola – in der Grotte seiner Nymphe Ärgeria.

12 [3]

Genua, dieser entfärbte Süden.

12 [4]

Künstler, die mit ihrem Antreiben und ihrem Verlangen zu wirken wissen, während sie nicht im Stande sind, selber ihre Ziele zu erreichen. Aber sie theilen den Impuls mit – und mitunter hat der Andere die mächtigere Thatkraft im Erreichen oder wenigstens Voraussehen des Ziels.

12 [5]

die Wissensch<aft> stellt auf, worin der Mensch festgeworden ist (nicht worin die Dinge – obschon sie so sich ausdrückt, jetzt!) Die Polypen werden sich des ungeheuren Gebirgs bewußt, das sie gebaut haben das aus ihnen besteht, daß sie ein lebendiges Gebirge von furchtbarer Festigkeit sind.

12 [6]

Diese furchtbare Realität, diese Furchtbarkeit der Realität ist ebenso ersichtlich bei den moralischen Phänomenen wie den physikalischen, ja deutlicher: wie hier [+] im Grunde alles Dichtung! Dies habe ich zu beweisen! – Es ist wie im Traum, es übt die ganz reale Macht aus, der Glaube daß hier wirkliches ist (z. B. bei einem Mord, einer Hinrichtung, einem Leichenbegängniß)

12 [7]

Ohne die Vorstellung anderer Wesen als Menschen sind bleibt alles Kleinstädterei, Klein-Menschelei. Die Erfindung der Götter und Heroen war unschätzbar. Wir brauchen Wesen zur Vergleichung, selbst die falsch ausgelegten Menschen, die Heiligen und Heroen sind ein mächtiges Mittel gewesen. Freilich: dieser Trieb verbrauchte einen Theil der Kraft, welche auf die Findung des eigenen Ideals verwendet werden konnte. – Aber eigene-Ideale-suchen war nichts für frühere Zeiten, das Wichtigste war den Menschen nicht mehr unter ein Mittelmaaß hinabsinken zu lassen und dazu diente, daß er wie angeschmiedet wurde an ein allgemeines Menschenbild, daß Selbstlosigkeit ihm gepredigt wurde.

12 [8]

Wie habe ich den Menschen gesucht, der höher ist als ich, und der mich wirklich übersieht! Ich fand ihn nicht. Ich darf mich nicht mit W<agner> vergleichen – aber ich gehöre einem höheren Range an, abgesehn von der "Kraft".

12 [9]

Wenn wir nicht aus dem Tode Gottes eine großartige Entsagung und einen fortwährenden Sieg über uns machen, so haben wir den Verlust zu tragen.

12 [10]

Das neue Problem: ob nicht ein Theil der Menschen auf Kosten des anderen zu einer höheren Rasse zu erziehen ist. Züchtung – – – –

12 [11]

Zuletzt: unsere idealistische Phantasterei gehört auch zum Dasein und muß in seinem Charakter erscheinen! Es ist nicht die Quelle, aber deshalb ist es doch vorhanden. Unsere höchsten und verwegensten Gedanken sind Charakterstücke der "Wirklichkeit". Unser Gedanke ist von gleichem Stoffe wie alle Dinge.

12 [12]

Wir verachten den Besitzlosen – darum auch den, der sich selber nicht beherrschen kann, der sich selber nicht besitzt. Er ist, nach unserer Empfindung, nicht als Egoist verächtlich, sondern als Wetterfahne von Impulsen und Mangel an Selbst.

12 [13]

An einem klugen rücksichtslosen Spitzbuben und Verbrecher tadeln wir nicht seinen Egoismus als solchen, der sich auf die feinste Weise äußert, sondern daß dieser sich auf so niedere Ziele richtet und auf sie beschränkt. Sind die Ziele groß, so hat die Menschheit einen anderen Maaßstab und schätzt "Verbrechen" nicht als solche, selbst die furchtbarsten Mittel. – Das Ekelhafte ist, ein guter Intellekt im Dienste einer erbärmlichen Anspruchslosigkeit des Geschmacks – wir ekeln uns vor der Art ego, nicht an sich vor dem ego.

12 [14]

Die Musik repräsentirt jetzt Gefühle – sie erregt sie nicht!

12 [15]

unorganische Materie, ob sie gleich meist organisch war, hat nichts gelernt, ist immer ohne Vergangenheit! Wäre es anders, so würde es nie eine Wiederholung geben können – denn es entstände immer etwas aus Stoff mit neuen Qualitäten, mit neuen Vergangenheiten.

12 [16]

Verschiedenes bei gleicher Musik erleben!

12 [17]

Ein Ding, ganz allein, würde gar nicht existiren – es hätte gar keine Relationen. Z. B. mein Buch.

12 [18]

Ich stelle mich vor mir selber erzürnt über die Kälte und Vernachlässigung, die ich von Freunden erfahre – im tiefsten Grunde läßt mich dies unbewegt, und ich wünschte fast, es zu einem Motiv zu machen, das mich etwas erregte. Ich suche Gründe gegen die Langeweile und finde nicht viel.

12 [19]

Daß ein Mensch manche Dinge nicht begehrt, nicht liebt, das rechnen wir ihm an als Zeichen seiner Niedrigkeit und Gemeinheit. "Selbstlosigkeit" als Gegenstück – er liebt manche Dinge und bringt andere Triebe zum Opfer, die den meisten Menschen nicht begreiflich als Gegenstand solcher Liebe sind – deshalb nehmen sie das Wunder der "Selbstlosigkeit" an!

12 [20]

Die Menschen haben die Liebe immer mißverstanden – sie glauben hier selbstlos zu sein, weil sie den Vortheil eines anderen Wesens wollen, oft wider ihren eigenen. Wollen sie dafür jenes andere Wesen besitzen? Oft nicht einmal!

12 [21]

Das erste Buch als Grabrede auf den Tod Gottes. –

12 [22]

Hundert Tannhäuser. – An Wotan nicht zu glauben! Ausdeutung der Vergangenheit

12 [23]

Dieser einsamste der Einsamen, der Mensch, sucht nun nicht mehr einen Gott, sondern einen Genossen. Dies wird der mythenbildende Trieb der Zukunft sein. Er sucht den Freund des Menschen.

12 [24]

Diese Welt die wir geschaffen haben, oh wie haben wir sie geliebt!

Wie tief-fremd ist uns die durch die Wissenschaft entdeckte Welt!

12 [25]

Opfer bringen wir fortwährend. Bald siegt diese Neigung über die andere und deren Anforderungen, bald jene. Du würdest erstaunen, wenn ich vorrechnete, wie viel Opfer jeder Tag mich kostet.

12 [26]

Alles was der Mensch aus sich heraus gelegt hat, in die Außenwelt, hat er dadurch sich fremd gemacht und immer mehr: so daß es nun wie ein Nicht-Ich wirkt, und alle moralischen Prädikate trägt und erträgt, die der Mensch sich selber nicht beizulegen wagt. "Natur". So hat er sich erniedrigt und verarmt: je reicher sein Außer-sich wurde (Farbe Bewegung ebenso wie Schönheit Linie Erhabenheit).

12 [27]

Während es dem Melancholiker allzusehr an phosphorsaurem Kali in Blut und Gehirn gebricht, sieht er den Grund seines Mangelgefühls und seiner Depression in den moralischen Zuständen der Menschen, der Dinge, seiner selber!!!

12 [28]

Kinder die ein Gedächtniß für Strafen haben, werden tückisch und heimlich. Aber zumeist vergessen sie – und so bleiben sie in der Unschuld.

12 [29]

Wir kommen über die Ästhetik nicht hinaus – ehemals glaubte ich, ein Gott mache sich das Vergnügen, die Welt anzusehen: aber wir haben das Wesen einer Welt, welche die Menschen allmählich geschaffen haben: ihre Ästhetik.

12 [30]

Musik – eine verkappte Befriedigung der religiosi. Vom Worte absehen! Das ist ihr Vortheil! Ja auch von Bildern! Damit sich der Intellekt nicht schäme! So ist es gesund und eine Erleichterung für jene Triebe, welche doch befriedigt sein wollen!

12 [31]

nach der Wahrheit jagen – es ist auch nur eine Form der Jagd nach dem Glücke

12 [32]

Ach, nun müssen wir die Unwahrheit umarmen und der Irrthum wird jetzt erst zur Lüge, und die Lüge vor uns wird zur Lebensnothwendigkeit!

12 [33]

Ach, ich bin hinter die Maskerade der großen Männer, der großen Erfolge, der großen Verluste gekommen. Es ist alles perspektivisch zu betrachten – wenn man sich nicht unter die Kleinen einordnet, so hat man nichts davon als Lärm und Anlaß zu Lachen und Herzbrechen.

12 [34]

Meine Aufgabe: alle die Schönheit und Erhabenheit, die wir den Dingen und den Einbildungen geliehen, zurückfordern als Eigenthum und Erzeugniß des Menschen und als schönsten Schmuck, schönste Apologie desselben. Der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott, als Macht, als Mitleid. O über seine königliche Freigebigkeit, womit er die Dinge beschenkt hat, um sich zu verarmen und elend zu fühlen! Das ist seine größte "Selbstlosigkeit", wie er bewundert und anbetet und nicht weiß und wissen will, daß er schuf, was er bewundert. – Es sind die Dichtungen und Gemälde der Urmenschheit, diese "wirklichen" Naturscenen – damals wußte man noch nicht anders zu dichten und zu malen, als indem man in die Dinge etwas hineinsah. Und diese Erbschaft haben wir gemacht. – Es ist diese erhabene Linie, dies Gefühl von trauernder Größe, dies Gefühl des bewegten Meeres alles erdichtet von unseren Vorfahren. Dieses Fest- und Bestimmtsehen überhaupt!

12 [35]

Wie kommt es, daß wir unsere stärkeren Neigungen auf Unkosten unserer schwächeren Neigungen befriedigen? – An sich, wenn wir eine Einheit wären, könnte es diesen Zwiespalt nicht geben. Thatsächlich sind wir eine Vielheit, welche sich eine Einheit eingebildet hat. Der Intellekt als das Mittel der Täuschung mit seinen Zwangsformen „Substanz" "Gleichheit"; „Dauer" – er erst hat die Vielheit sich aus dem Sinne geschlagen.

12 [36]

Die Musik ist mein und unser Vorläufer – so persönlich sprechen und so gut und edel! Unsäglich <vieles> hat noch kein Wort gefunden und keinen Gedanken – das beweist unsere Musik – nicht, daß kein Gedanke und kein Wort da zu finden wäre.

12 [37]

nox intemp<esta> wo Ursache und Wirkung aus den Fugen gekommen zu sein scheinen und jeden Augenblick etwas aus dem Nichts entstehen kann. (Richard Wagner hat es in „Hagens Wacht" in Musik gesetzt)

12 [38]

Diese Schönheit und Erhabenheit der Natur, vor der jeder Mensch klein erscheint, haben wir erst in die Natur hineingetragen – und folglich um diesen Theil die Menschheit beraubt. Sie muß es büßen.

12 [39]

Wo wir etwas ganz Schätzenswerthes zu erkennen glauben und es erwerben und erhalten wollen, also im Eigenthum-Verlangen, erwachen unsere edelsten Triebe. Der Liebende ist ein höherer Mensch: obschon er mehr Egoist ist als je. Aber 1. sein Egoismus ist concentrirt, 2. der Eine Trieb ist entschieden siegreich über die anderen und bringt das Außergewöhnliche hervor.

12 [40]

Das Bollwerk der Wissenschaft und ihrer Vernunft-Allgemeinheit muß erst errichtet sein, dann kann die Entfesselung der Indi<viduen> vor sich gehen: es darf keinen Irrthum dabei geben, weil die Grenzen der Vernünftigkeit vorher festgesetzt und ins Gewissen und den Leib einverleibt wurden. Erst Einverleibung der Wissenschaft – dann:

12 [41]

Mein Gefühl unterscheidet höhere und niedere Menschen: was und wie es da unterscheidet, will ich einmal so hart und bestimmt wie möglich aussprechen.

12 [42]

Eins ist immer nöthiger als das Andre.

12 [43]

Handlungen durch welche wir einen Affekt befriedigen (sei es der der Liebe Neigung Abneigung gegen jemanden) nennt man nicht "selbstlos", es sei denn im ungenauen Sprachgebrauch. Der Liebende bejaht ersichtlich sich selbst mehr als je – und wenn er auf die Handlungen der Liebe und Aufopferung verzichten muß, so leidet er sehr – Das Problem ist hier nicht – wir thun auch anscheinend selbstlose Handlungen, gegen gleichgültige, selbst unangenehme Personen und Sachen. Darüber mein [–]. – Aber das Problem bleibt: wie kann man jemanden lieben? Gar einen Bruder? Einen solchen Bruder.

12 [44]

Der Denker, der seine Stille gewöhnlich zwischen zwei Lärmen zu finden hat, wenn er sie überhaupt zu finden weiß!

26 Okt. 1881.

12 [45]

Wie viele verschiedene Lebensalter haben unsere moralischen Qualitäten!

12 [46]

Was wird aus dem Überschuß von göttlichen Gefühlen? Oder giebt es den nicht?

12 [47]

Gespräche in der Einsamkeit.

12 [48]

12 Sommer.

12 [49]

Spott bei dem ruhig Genießenden, als Zeichen daß der Geist nicht einschlummert! Haß aber – – –

12 [50]

Aber die Welt, die die Wissenschaft entdeckt – woher stammt die? Wäre alles von uns, so dürfte es so etwas gar nicht geben! Oder ist es nur unsere vergessene Welt? War alles einmal Oberfläche und Haut und Gegenstand des Bewußtseins, bis es eine neue Oberfläche und Haut gab und die alte vergessen wurde?

12 [51]

ästhetische Urtheile sind Überreste unserer Urtheile über glücklich-unglücklich z. B. in einer Landschaft der Reichthum an Farben, an Genießbarem, an Ruhe, an festen Linien – es sind alles die Abzeichen und Symbole eines Menschen, der uns einst als der Glückliche galt. So andere Male die leidenschaftliche Gegend – wir hielten auch die Leidenschaft für den Zustand des Glückes. Die fromme Gegend, die heilige Gegend, die verehrte Gegend, die alterthümliche, die kindliche, die weibliche, die stolze, die schlafende

12 [52]

Wenn ich von Plato Pascal Spinoza und Goethe rede, so weiß ich, daß ihr Blut in dem meinen rollt – ich bin stolz, wenn ich von ihnen die Wahrheit sage – die Familie ist gut genug, daß sie nicht nöthig hat, zu dichten oder zu verhehlen; und so stehe ich zu allem Gewesenen, ich bin stolz auf die Menschlichkeit, und stolz gerade in der unbedingten Wahrhaftigkeit

12 [53]

Für die Gedankenlosen bedarf es einer abgekürzten Philosophie und Moral. Gott. Nämlich wenn die bösen Stunden kommen!

12 [54]

Hohe Zimmer!

Viele dumme Frauen halten Milch für keine Nahrung, wohl aber Rüben.

12 [55]

Ein Weib ist das Geschöpf, welches seinen Feind und Räuber lieben soll – und liebt.

12 [56]

An einem schlechten Hange zu Grunde gehen – nicht so schlimm! Phantasterei über das Böse wie über den Schmerz aufzudecken!!

12 [57]

Inwiefern jeder hellere Gesichtskreis als Nihilism erscheint

12 [58]

Wir Aesthetiker höchsten Ranges möchten auch die Verbrechen und das Laster und die Qualen der Seele und die Irrthümer nicht missen – und eine Gesellschaft von Weisen würde sich wahrscheinlich eine böse Welt hinzuerschaffen. Ich meine, es ist kein Beweis gegen die Künstlerschaft Gottes, daß das Böse und der Schmerz existirt – wohl aber gegen seine "Güte"? – Aber was ist denn Güte! Das Helfenwollen und Wohlthunwollen, welches ebenfalls solche voraussetzt, denen es schlechter geht! Und die schlechter sind!

12 [59]

Es genügen außerordentlich kleine Veränderungen der Werthschätzung, um ganz ungeheuer verschiedene Werthbilder zu bekommen (Anordnung der Güter)

12 [60]

Wir sind nicht die Reste und Überbleibsel der Menschheit (wie wir dies gewiß von der organisch werdenden Welt sind) Vieles Neue kann von uns noch ausgehen, was den Charakter der Menschheit verändert.

12 [61]

Wer erfindet uns das tragische Ballet mit Musik? Besonders nöthig bei Völkern, die nicht singen können und die sich durch die dramatische Musik die Kehlen gebrochen haben!

12 [62]

"ich habe meinen Regenschirm vergessen"

12 [63]

Ursache und Wirkung. Wir verstehen darunter im Grunde eben das, was wir denken, wenn wir uns selber als Ursache eines Schlages usw. denken. "Ich will" ist Voraussetzung, eigentlich ist es der Glaube an eine magisch wirkende Kraft, dieser Glaube an Ursache und Wirkung – der Glaube, daß alle Ursachen so persönlich-wollend sind, wie der Mensch. Kurz, dieser Satz a priori ist ein Stück Urmythologie – nichts mehr!

12 [64]

Wir dürfen nicht wider den Strich die Vernunft der Menschheit entwickeln, aber es ist auch dafür gesorgt, daß wir es nicht können.

12 [65]

die versöhnenden Menschen sind mir fatal

12 [66]

das aschgraue Licht, das der Mond von der erleuchteten Erde erhält

12 [67]

Der Schmerz ist wegen seiner großen Nützlichkeit so ausgebildet worden – er ist ebenso nützlich wie die Lust

12 [68]

Emerson

Ich habe mich nie in einem Buch so zu Hause und in meinem Hause gefühlt als – ich darf es nicht loben, es steht mir zu nahe.

12 [69]

Die Masken fallen einem bei der ital<ienischen> Musik ein.

12 [70]

Ich will das Ganze als eine Art Manfred und ganz persönlich schreiben. Von den Menschen suche ich weder "Lob noch Mitleid noch Hülfe" – ich will sie vielmehr „durch mich überwältigen".

12 [71]

durch Alcohol bringt man sich auf Stufen der Cultur zurück, die man überwunden hat. Alle Speisen haben irgend eine Offenbarung über die Vergangenheit, aus der wir wurden.

12 [72]

Nein! Ich will nicht älter sein als ich bin. Es wird vielleicht einmal noch die Zeit kommen, wo auch die Adler scheu zu mir aufblicken müssen (wie zum h<eiligen> Johannes)

12 [73]

Schriftgelehrte – Naturgelehrte

12 [74]

Daß alles und jedes Geschehen die Folge von Willensakten sei und damit erklärt oder nicht weiter erklärbar – diesen Glauben haben die Wilden mit Schopenhauer gemeinsam: er hat ehemals alle Menschen beherrscht, und es war ein bloßer Atavismus, ihn noch im 19. Jahrhundert in der Mitte Europas, zu haben und zu predigen. Das Gegentheil – daß bei allem Geschehen der Wille nicht betheiligt ist, so sehr er es scheint – ist nahezu bewiesen! (Und das für das unsäglich kleine Stück Geschehens, wo überhaupt ein Wille betheiligt sein könnte!)

12 [75]

Ich wehre mich dagegen, Vernunft und Liebe, Gerechtigkeit und Liebe von einander zu trennen, oder gar sich entgegenzustellen und der Liebe den höheren Rang zu geben! Liebe ist comes, bei Vernunft und Gerechtigkeit, sie ist die Freude an der Sache, Lust an ihrem Besitz, Begierde sie ganz zu besitzen und in ihrer ganzen Schönheit – die aesthetische Seite der Gerechtigkeit und Vernunft, ein Nebentrieb.

Nachdem wir Vernunft und Gerechtigkeit haben, müssen wir die Leitern zerbrechen, die uns dazu führten; es ist die traurige Pflicht, daß diese höchsten Ergebnisse uns zwingen, gleichsam die Eltern und Voreltern vor Gericht zu laden. Gegen die Vergangenheit gerecht sein, sie wissen wollen, in aller Liebe! Hier wird unsere Vornehmheit auf die höchste Probe gestellt! Ich merke es, wer mit rachsüchtigem Herzen vom Christenthum redet – das ist gemein!

12 [76]

Die Wissenschaft giebt uns unseren adeligen Stammbaum, unsere Heraldik: sie giebt uns die Vorfahren. Im Vergleich zu uns waren alle bisherigen Menschen "Eintagsfliegen" und Pöbel, der nur ein kurzes Gedächtniß hatte.

Das historische Gefühl ist das Neue, da wächst etwas ganz Großes! Zunächst schädlich, wie alles Neue! Es muß sich lange einleben, ehe es gesund wird und große Blüthe treibt! Wir hören, was unsere Vorfahren – Helden alles besaßen – wir müssen vieles fahren lassen, aber allen Verlusten höhere Erwerbungen entgegenstellen.

Vernunft und Gerechtigkeit sind am schwersten zu würdigen, weil jung und schwach und oft schädigend!

12 [77]

Gott ist todt – wer hat ihn denn getödtet? Auch dies Gefühl den Heiligsten Mächtigsten getödtet zu haben, muß noch über einzelne Menschen kommen – jetzt ist es noch zu früh! zu schwach! Mord der Morde! Wir erwachen als Mörder! Wie tröstet sich ein solcher? Wie reinigt er sich? Muß er nicht der allmächtigste und heiligste Dichter selber werden?

12 [78]

Unsere Gesetze sind Versuche, aus Papier den weisen Mann zu machen, der allen Umständen gewachsen ist und dessen Gerechtigkeit so groß ist wie seine Unerschrockenheit – ach, wo ist das ehrfurchterweckende Gesicht des Gesetzgebers hin, welcher mehr bedeuten muß als das Gesetz, nämlich den Wunsch, es aus Liebe und Ehrfurcht heilig zu halten?

12 [79]

Ich habe eine Herkunft – das ist der Stolz, entgegengesetzt der cupido gloriae. Es ist mir nicht fremd, daß Zarathustra – – –

12 [80]

Das Originelle des Menschen ist, daß er ein Ding sieht, das alle nicht sehen.

12 [81]

Die Unbefriedigten müssen etwas haben, an das sie ihr Herz hängen: z. B. Gott. Jetzt, wo dieser fehlt, bekommt z. B. der Socialismus viele solche, die ehemals sich an Gott geklammert hätten – oder patria (wie Mazzini). Ein Anlaß zu großartiger Aufopferung, und einer öffentlichen (weil sie disciplinirt und fest hält, auch Muth macht!) soll immer da sein! Hier ist zu erfinden!

12 [82]

Wir selber müssen, wie Gott, gegen alle Dinge gerecht gnädig sonnenhaft sein und sie immer neu schaffen, wie wir sie geschaffen haben.

12 [83]

Man überträgt fälschlich Empfindungen (die bei jetzigen Zuständen z. B. Ehe erklärlich sind) auf Urzeiten, wo die Ehe anders war und gar nicht Liebe der Gatten unter sich hervorbringen konnte!

12 [84]

R<ichard> W<agner> wollte eine große Cultur, um einen Platz für seine Kunst zu haben – aber es fehlte ihm der neue Gedanke. So machte er Anleihen überall: zuletzt christliche Empfindungen, wenn auch noch nicht christliche Gedanken etc.

12 [85]

Aufgeben die niederen Grade der Macht, um zu höheren zu kommen

12 [86]

Mir als Mann ist die träumerische Beschaffenheit der Welt zuwider – aber ich sage als Mann die Wahrheit, auch die zuwidere.

12 [87]

Jene Art von Egoism, welche uns treibt, etwas um des Nächsten Willen zu thun oder zu lassen.

12 [88]

Situationen zu sammeln

12 [89]

Erster Satz meiner Moral: man soll keine Zustände erstreben, weder sein Glück, noch seine Ruhe, noch seine Herrschaft über sich. Der Zustand soll immer nur comes, nie dux virtutis sein! Warum? – Auch nicht "das Ideal" – sondern jede kleine und große Handlung so erhaben und schön wie möglich und auch sichtbar ausführen! Die Art und Weise soll uns unterscheiden!

12 [90]

Die Wissensch<aft> fliegt auf einmal so rasch aufwärts, daß ihre jünger kaum Athem holen können – und eben in der allzu dünnen Luft wird es ihnen wehe, so weit und rein ihr Blick auch reicht. Die Menschheit muß es nachholen – sie muß es, wie sie es bisher gethan hat! Alle Klugheit und Vernunft auf der unser Leben jetzt ruht, ist die Entdeckung Einzelner gewesen und ganz allmählich der Menschheit aufgedrungen, aufgezwungen, angeübt, einverleibt worden – so daß es jetzt wie zum unverrückbaren Wesen des Menschen zu gehören scheint!

12 [91]

Wer die Ernährung z. B. oder die Heizung studirt, lernt eine Menge Verhaltungsmaßregeln. Ehemals gehörten alle diese Regeln unter die "Moral" – jetzt ist der Unterricht nicht mehr so feierlich und das Heil der Seele ist nicht daran geknüpft. Wie die Magie unendlich von der Wissenschaft übertroffen ist an Kraft und Kunststücken – so:

12 [92]

Wir alten eingefleischten Wagnerianer sind doch die dankbarsten Bellini- und Rossini-Hörer.

12 [93]

Ich sehe das Mißverhältniß von Wissenschaft und Mensch fortwährend – es schwindet nie aus meinem Gesichte: gab es etwas Ähnliches? Priester und Mensch, Prophet und Mensch, Fürst und Mensch, Richter und Mensch. Jedesmal schien die Forderung das Individuum aufzuheben

12 [94]

Die Fiorituren und Cadenzen in der Musik sind wie süßes Eis im Sommer.

12 [95]

Nach dem periodischen Stile greifen alle, wie nach einem Gewande, welche sich nicht nackt zeigen wollen – sei es nun, daß sie ungestaltet sind, sei es, daß sie sich allzu schamhaft gewöhnt haben. Ihre Gedanken sind scheu und linkisch ohne Hülle – das Wenige von Anmuth, dessen sie fähig sind, zeigt sich erst, wenn die Falten der Periode ihnen Muth und Glauben an die eigene Würde geben. Dies wollen wir an ihnen ertragen und selbst gutheißen: nur bitten wir diese Mantelträger und Faltenreichen aus sich kein Gesetz der Moral und Schönheit zu machen: der periodische Stil ist und bleibt ein Nothbehelf und – – –

12 [96]

M<eine> Brüder! Verbergen wir es uns nicht! Die Wiss<enschaft> oder, ehrlicher geredet, die Leidenschaft der Erkenntniß ist da; eine ungeheure neue wachsende Gewalt, dergleichen noch nie gesehen worden ist, mit Adlersschwung, Eulenaugen und den Füßen des Lindwurms – ja sie ist schon jetzt so stark, daß sie sich selber als Problem faßt und fragt: "wie bin ich nur möglich unter Menschen! Wie ist der Mensch fürderhin möglich mit mir!"

12 [97]

Diese Leidenschaft der Erk<enntniß> fällt sich selber an, sie fragt nach ihrem Warum? Nach ihrem "Woher?" – und – – –

12 [98]

die Menschheit ist schlechter geworden

12 [99]

Das Gefühl moralischer Geringschätzung ist jetzt gewöhnlich!

12 [100]

ein Ungeheuer von Zeitenlänge, für das wir Spracharmen wieder kein Wort mehr bereit halten – wir müßten da sagen: eine kleine Ewigkeit von Zeit –

12 [101]

Hier bin ich dies lebende Muschelthier, unter all den Felsen am Gestade

12 [102]

Wer die Tragödie moralisch genießt, der hat noch einige Stufen zu steigen.

12 [103]

Die beste Musik ist wenig, wenn nicht ein Sänger, eine Sängerin uns durch Stimme und Kunst in sanfte Trunkenheit versetzt – und in diesem Falle wird geringe Musik unsäglich gehoben!

12 [104]

Sind diese Dinge denn wichtig? Ich gehe durch große Städte und finde Keinen der sie dafür halten würde – oder solche die es heucheln – von Berufs wegen. Wichtig ist aber, daß sie es nicht mehr wichtig nehmen! Savonarola in Florenz ist vorüber! ganz!

12 [105]

Der Bauende fragt: wer gilt dafür, den besten Geschmack als Baumeister zu haben? Dessen Geschmack will ich haben – und er gewöhnt sich daran, es wird sein Bedürfniß. So bekommen Städte endlich einen Geschmack

12 [106]

Das Glück, breite und langsame Treppe

12 [107]

Die Gedanken der Alten wirken ungeheuer, weil sich der Glaube an die Alten seit Jahrhunderten angesammelt hat. Meine Gedanken betreffen zu hohe und schwere Dinge als daß sie ohne den größten persönlichen Druck wirken können –

12 [108]

Wenn dieser M<ensch> nicht ein großer Tugendhafter wird, so wird er fürchterlich sein, sich und Anderen. Bei Anderen lohnt es sich nicht, wenn sie sich so heftig um die Tugend bemühen – sie werden durch ihre Mittelmäßigkeit sogar die Tugend um ihr Ansehen bringen.

12 [109]

Ist nicht Alles Alles bereit für diese Revolution? Die Lage ist zu schildern.

12 [110]

Paradoxie im Weibe und seiner Erziehung – sehr geheimnißvoll und interessant. – Diesen Sinn hat alle Moral

12 [111]

Es giebt keine Parteilichkeit für das Lebende oder gegen das Todte in der Natur. Wenn etwas lebend nicht erhalten bleibt, so ist kein Zweck verfehlt! der Charakter "nützlich" "zweckmäßig" ist accessorisch, menschlich

12 [112]

"Wenn Z<arathustra> die Menge bewegen will, da muß er der Schauspieler seiner selber sein"

„Zarathustra's Müssiggang ist aller Laster Anfang"

12 [113]

Giebt es denn in der ganzen Welt jetzt einen Menschen, der so wie ich am Meere sitzt und –

12 [114]

Genueser Müssiggang. Wenn ich recht beobachtet habe, so bin ich hier der einzige Müssiggänger.

12 [115]

Die Mittelstände streben mit allem Eifer die Arbeiter in ihre Lage zubringen: sind sie denn glücklicher?

12 [116]

An den eigentlichen Misojuden (wie W<agner> ist mir eher die Verwandtschaft mit dem jüdischen als die Unähnlichkeit aufgefallen – es ist eine ungeheure Eifersucht. Die Deutschen zerfielen jetzt in Juden und Misojuden, d. h. – – –

12 [117]

Eine neue Art Verdummung – durch die Lust am Thun und Unternehmen.

12 [118]

Ein M<ensch> mit bleichem Gesicht, tief gebückt über meinem Tische. Diese Vorstellung dauerte einen Augenblick: im nächsten nahm ich eine Katze wahr, ein paar Schritte weiter

12 [119]

Die Musik als die Kunst der Morgenröthe!

12 [120]

Was R<idard> W<agner> werth ist, das wird uns erst der sagen, der den besten Gebrauch von ihm macht. Einstweilen haben wir W<agner> geglaubt, was er gern geglaubt haben möchte

12 [121]

Chamfort in seiner Weise, der Einen Augenblick lachen, und viele Augenblicke nachdenken macht.

12 [122]

Veredelung der Prostitution

12 [123]

Zu Ehren der alten Frauen

12 [124]

in Deutschland, wo die besten Stimmen durch die häßliche Sprache ruinirt werden so daß zuletzt schöne Blasinstrumente übrig bleiben und nicht mehr –

12 [125]

Die Ehe hat das schlechte Gewissen gehabt – sollte man es glauben? Ja man soll es glauben

12 [126]

Meine Kunst, das Pathetische zu mildern und zu brechen.

12 [127]

Ich nehme mir die Freiheit, mich zu vergessen. Warum nicht widersprechen!

12 [128]

Du widersprichst heute dem, was du gestern gelehrt hast – Aber dafür ist gestern nicht heute, sagte Zarathustra.

12 [129]

Zum Äußersten bereit Alle Arten tapferer M<enschen> um – – –

ein unsägliches Wehgefühl, daß das Leben so wegfließt.

Eines Tages sagte ich mir: es kommt alles wieder, und dieser wundervolle Tropfen Schwermuth im Glücke des Eroberers ist vielleicht das Schönste.

Zu seinem jünger sagte er: "das ist die purpurne Schwermuth, die schönste Muschel, die du am Meere des Daseins auflesen kannst das Gefühl des nahen Abschieds, die Abendbeleuchtung der Dinge

für Könige

12 [130]

Du bist hart gegen dein früheres Ideal und die Menschen, mit denen es dich verband. – In der That, ich bin über sie hinweg gestiegen, um nach einem höheren Ideale umzuschauen. Es war eine Treppe für mich – und jene meinten, ich wolle mich auf ihr zur Ruhe setzen.

12 [131]

Man brachte 2 Jünglinge zu Z<arathustra>. "dieser wird jede Sache mittelmäßig machen – dieser wird nicht wehethun wollen, er ist nicht heroisch-grausam genug."

12 [132]

Nicht Gattungs- sondern Heerden-Egoismus

12 [133]

barbarisch, gerade die Schwäche einer Sache zu nehmen, das Gegentheil, eine Sache so zu nehmen, daß man an Stelle ihrer Schwäche die eigene Stärke zu stellen weiß und sie so beschenkt

12 [134]

die furchtbaren Schreie Zeichen Rätsel alles womit die Verdauung der Menschheit nicht fertig wird, – der "Koth des Daseins" ist der fruchtbarste Dünger gewesen

12 [135]

Wer viel siegt, muß viel Gegner gehabt haben. Alle unsere Kräfte wollen fortwährend kämpfen. Die Moral will: zu allererst Gegner! und Krieg!

12 [136]

Wie vielen edlen und feinen Ziegen bin ich auf Reisen begegnet! sagte Z<arathustra>.

12 [137]

Verdi ist arm an den Erfindungen schöner Sinnlichkeit und läßt gar noch merken, daß er äußerst sparsam mit ihnen umzugehen hat. Aber er hält sein Publikum mit seinen paar Einfällen fest – sie sind alle ärmer geworden wie er und wollen trotzdem nichts anderes, ganz wie er – so ist er ihr Mann und Meister. Auch W<agner> hat eine arme Sinnlichkeit und eine in Bezug auf Melodie an's Verrückte streifende Widerspenstigkeit in der Armut – aber wie hat er daraus sich eine Brücke zum Ideal zu bauen gewußt!

12 [138]

W<agners> Musik gleicht der Wolke – und man muß von der Art der Rosenkranz und Güldenstern sein, um, gleich einigen Äesthetikern, in dieser Wolke ein Kameel zu sehen und nicht mehr

12 [139]

Von den deutschen Dichtern hat Clemens Brentano am meisten Musik im Leibe

12 [140]

Heroismus ist die Kraft, Schmerz zu leiden und zuzufügen.

12 [141]

Der Stoicismus im gefaßten Ertragen ist ein Zeichen gelähmter Kraft, man stellt seine Trägheit gegen den Schmerz auf die Wage – Mangel an Heroismus, der immer kämpft (nicht leidet) der den Schmerz "freiwillig aufsucht".

12 [142]

"Wie ertrug ich nur bisher zu leben!" auf dem Posilipp als der Wagen rollte – Abendlicht

12 [143]

Es liegt wenig an Menschen, welche einen Gruß auf der Straße eher erwidern als sie die Person erkennen

12 [144]

den Thee oder sein Wasser "mediterranisiren" (durch Orangenwasser)

12 [145]

Jener Kaiser hält sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge vor, um sie nicht zu wichtig zu nehmen und ruhig zu bleiben. Auf mich wirkt die Vergänglichkeit ganz anders – mir scheint alles viel mehr werth zu sein als daß es so flüchtig sein dürfte – mir ist als ob die kostbarsten Weine und Salben ins Meer gegossen würden.

12 [146]

Wenn unser Glück uns nicht verleumden soll, müssen wir sichtbare Gebrechen an uns tragen.

12 [147]

Edel: in wiefern ein anderes Maaß des Moralischen als das des Mitleids? Der Höhere – der Grad von Verachtungsfähigkeit

Man kann fragen: war die Moral ein Mittel der Veredelung des Menschen? Was ist da Veredelung"? Eine feinere Art der Moralität selber? – „Höher von sich denken"? –

vorausverkündende Verbrechen

12 [148]

Ohne das Gefühl "ich bin verantwortlich" – was wird aus dem Menschen? Ohne den Glauben an das Gewissen – was wird aus ihm? Denn er kann Gewissensbisse haben, aber skeptisch gegen sie sein, wie gegen andere Triebe, die sich regen

12 [149]

Wallfahrten als die Badereisen der Armen – und die Kirchen ihr Pallast und ihre Vornehmheit

12 [150]

Inschrift des Dichters-Zimmers

12 [151]

der gedankenreichste Autor dieses Jahrh<underts> ist bisher ein Amerikaner gewesen (leider durch deutsche Philosophie verdunkelt – Milchglas)

Drei Irrthümer 1) die Vergeltung – – –

12 [152]

Goethe der auch über seine Leidenschaften Buch führt.

12 [153]

Ich gehe immer noch allem Leuchtenden nach – und du legst die Hand über die Augen, wenn du aussiehst.

12 [154]

Ich schwimme auf der obersten Welle.

12 [155]

Übler Geruch ein Vorurtheil. Alle Aussdeidungen ekelhaft – warum? Als übelriechend? Warum übel? sie sind nicht schädlich. Speichel Schleim Schweiß Same Urin Koth Hautreste, Nasenschleimhäute usw. Es ist unzweckmäßig! – Der Ekel mit der Verfeinerung zunehmend. Die Verrichtungen, die daran sich knüpfen, auch ekelhaft. – Ekel als Brechreiz zu verstehen: die Ausscheidungen erregen den Reiz, die Nahrung auszuscheiden unverdaut (wie ein Gift) Urtheil vom Standpunkte der Genießbarkeit aus: dies ist nicht zu essen! Grundurtheil der Moral.

12 [156]

Solche welche das Alter, gleich einem edlen Wein, immer geistiger und süßer macht – Menschen wie Goethe und Epikur – denken auch an ihre erotischen Erlebnisse zurück.

12 [157]

Hier schwieg Z<arathustra> von Neuem und versank in tiefes Nachsinnen. Endlich sagte er wie träumend: "Oder hat er sich selber getötet? Waren wir nur seine Hände?"

12 [158]

Um die Schönheit dieser Frau ganz zu sehen, muß man sie mit schwachen Augen ansehen: um aber ihren Geist ganz zu sehen, wird man das schärfste Augenglas anwenden müssen – denn sie verbirgt ihn aus Eitelkeit in ihrem Gesichte, so weit er nur zu verbergen ist: denn Geist macht Frauen alt.

12 [159]

Glück, o Glück, du schönste Beute,

immer nah, nie nah genung,

immer morgen, nur nicht heute, –

ist dein Jäger dir zu jung?

Bist du wirklich Pfad der Sünde,

aller Sünden

lieblichste Versündigung

12 [160]

Jedes Ding an jedem Dinge meßbar: aber außerhalb der Dinge giebt es kein Maaß: weshalb an sich jede Größe unendlich groß und unendlich klein ist.

Dagegen giebt es vielleicht eine Zeiteinheit, welche fest ist. Die Kräfte brauchen bestimmte Zeiten, um bestimmte Qualitäten zu werden.

12 [161]

ich würde mich nicht vermissen!

12 [162]

Die Morgenröthe hat geleuchtet – aber wo ist die Sonne? Dieser Tag wird Sturm bringen – Sturmwolken ziehen um den Horizont.

12 [163]

der einfachste Organismus ist der vollkommene – alle complicirteren sind fehlerhafter und unzählige der höheren Art gehen zu Grunde. Heerden und Staaten sind die höchsten uns bekannten – sehr unvollkommenen Organismen. Endlich entsteht, hinter dem Staate, das menschliche Individuum – das höchste und unvollkommenste Wesen, welches in der Regel zu Grunde geht und die Gebilde aus denen es entsteht zu Grunde richtet. Das ganze Pensum der Heerden- und Staatentriebe ist in seinem Innern concentrirt. Er kann allein leben, nach eigenen Gesetzen – er ist kein Gesetzgeber und will nicht herrschen. Sein Machtgefühl schlägt nach innen. Die sokratischen Tugenden!

12 [164]

Trost für die welche zu Grunde gehen! ihre Leidenschaften als ein unglückliches Lotterieloos betrachten. Sehen, daß die meisten Würfe mißlingen müssen, daß das Zugrundegehen so nützlich ist als das Werden. Keine Reue. Selbstmord abkürzend.

12 [165]

Ein Wort für die, welche an Gott glauben – sie mögen erwägen, ob ein Gott die Vernichtung von irgend etwas wollen kann oder überhaupt kann – ob dies nicht eben das göttliche Unvermögen ist

12 [166]

Die Gehirn-Unruhe, welche der Wein – und sei es ein Eßlöffel voll bei mir hervorbringt, ist mir unausstehlich.

12 [167]

Jugend hat keine Tugend

12 [168]

Es könnte noch immer eine Musik kommen, gegen welche die ganze Wagnerische Kunst unter den Begriff und die Rechtfertigung des recitativo secco fiele: und der welcher der sublimen Frage nach der Moralität der Musik nachhängt, wird auch jene Möglichkeit in Betrachtung zu ziehen haben.

12 [169]

Feindschaft Machtgelüst Grausamkeit Neid Rache Spott- und Tadelsucht Lüge Hang zur Wollust und zum Besitz

12 [170]

Voltaires edler Anstand und Zierlichkeit

12 [171]

Malherbe sagt zu seinem Beichtvater, der ihm von der Seligkeit in plumpen und niedrigen Wendungen sprach: "Genug! lassen wir das! Ihr schlechter Stil macht mir Ekel."

12 [172]

Jener Indier, welcher sich in den Kopf gesetzt hatte, wenn er seinen Urin abschlage, werde er ganz Disnajan unter Wasser setzen.

12 [173]

"diese gegenwärtige Brücke ist allhier gebaut worden" ländliche Einfalt

12 [174]

Freundschaft – verschieden von der Liebe

12 [175]

Der Cardinal Richelieu wollte gern heilig gesprochen werden

12 [176]

Von wem hast du das Alles gelernt, fragte Saadi einen weisen Mann. "Von dem Blinden, der den Fuß nicht eher in die Höhe hebt, als bis er zuvor den Boden, auf den er treten soll, mit dem Stocke untersucht hat"

12 [177]

Posilipp und all die Blinden, denen das Auge geöffnet wird.

12 [178]

Meine Gedanken sollen mir anzeigen, wo ich stehe, aber sie sollen nicht mir verrathen, wohin ich gehe – ich liebe die Unwissenheit um die Zukunft und will nicht an der Ungeduld und dem Vorwegnehmen verheißener Dinge zu Grunde gehen.

Ich falle, bis ich auf den Grund komme – und will nicht mehr sagen: "ich forsche nach dem Grunde!"

Meine unsichtbare Natur ist vielleicht im Grunde weitsichtig und langathmig: mein Geist aber ist vielleicht zu kurz für sie, er errafft mit schnellem Blicke einige ihrer letzten Zipfel und kann nicht satt werden; sich über deren Buntheit und scheinbaren Unverstand zu wundern.

12 [179]

"aus diesem Kelche schäumt Unendlichkeit".

12 [180]

Sophokles giebt oder schafft jeder Person Recht.

12 [181]

Ich habe nicht Kraft genug für den Norden: dort herrschen die schwerfälligen und künstlichen Seelen, die so beständig und nothwendig an Maßregeln der Vorsicht arbeiten als der Biber an seinem Bau. Unter ihnen habe ich meine ganze Jugend verlebt! das fiel über mich her, als ich zum 1. Male den Abend über Neapel heraufkommen sah, mit seinem sammtnen Grau und Roth <des> Himmels – wie ein Schauder Mitleid mit mir, daß ich mein Leben damit anfieng, alt zu sein, und Thränen und das Gefühl, noch gerettet zu sein, im letzten Augenblick.

ich habe Geist genug für den Süden

12 [182]

Ein M<ensch> der ohne alle Liebe und Theilnahme an Anderen ist, ist in meinen Augen einer, der nicht erwerben will, sich einen Genuß verbietet oder der Klugheit ermangelt, es fehlt ihm an Abwechslung, ein armer M<ensch>

12 [183]

Züchtung der Griechen.

Die Männer schöner als die Frauen.

12 [184]

Grillparzer: "Schiller geht nach oben, Goethe kommt von oben"

Unterscheidung der höheren Naturen

12 [185]

Spencer meint, das eigentlich Moralische sei, die wirklichen natürlichen Folgen einer Handlung in Betracht zu ziehen – nicht Lob Tadel Strafe. Aber dies "in Betracht ziehen" war unmoralisch! Die That wird gethan, was dabei auch herauskommt! – Die Rücksicht auf die gesammten Folgen einer That ist nie bisher verlangt worden – und wer sie verlangte, würde die Menschen stille stehen machen. Die Folgen sind unsäglich und unerforschlich: die nächsten Folgen würden durch die ferneren überwogen werden: jedes Verbrechen ließe sich so begründen.

12 [186]

Das Individuum war lange "unmoralisch" – es versteckte sich folglich, z. B. das Genie (wie Homer) unter dem Namen eines Heros. Oder man machte einen Gott verantwortlich.

12 [187]

"Der höhere Mensch mehr werth als der erkennende, der gemein und dumm sein kann. Es liegt nichts an den Leistungen. Als Werkzeug und Funktion ist der Mensch am werthvollsten – die Genie's sind selten."

12 [188]

Man übt sich, lange bevor man weiß, was man später einmal zu sagen hat, die Gebärde, die Haltung, den Stimmklang, den Stil ein, welcher dazu am besten sich eignet: die aesthetischen Triebe und Vorneigungen der Jugend sind die Ankündigungen von etwas, das mehr als aesthetisch ist. Seltsam!

12 [189]

Wir wollen es nicht machen, wie Wagners Wotan, der mit ungeheurer Wichtigkeit die alte Erda aus ihrem Schlafe weckt, um ihr zu sagen, daß sie weiter schlafen könne. Und auch nicht wie Wagners Parsifal – ein Arzt, der zwar seine Patientin heilt, doch so daß diese gleich nach der Heilung stirbt – und zwar mit rückwirkender Kraft; denn irgend ein alter Großvater muß auch deshalb noch sterben. Ja, wir wollen Aufwecker und Ärzte sein, doch so daß die Aufgeweckten nicht wieder einschlafen müssen und die Geheilten nicht an der Heilung zu Grunde gehen.

12 [190]

Lob Voltaires

12 [191]

Welches Erstaunen macht mir M<arc> Aurel und welches Grazian!

12 [192]

Eine ganz andere Aeternisirung – der Ruhm geht in einer falschen Dimension vorwärts. Wir müssen die ewige Tiefe hinein legen, die ewige Wiederholbarkeit.

12 [193]

Irren wir nicht im oeden All umher?

12 [194]

Die lange Liebe ist deshalb möglich – auch wenn sie glücklich ist – weil ein Mensch nicht leicht zu Ende zu besitzen, zu Ende zu erobern ist – es thun sich immer neue, noch unentdeckte Gründe und Hinterräume der Seele auf, und auch nach diesen streckt sich die unendliche Habsucht der Liebe aus. – Aber die Liebe endet, sobald wir das Wesen als begrenzt empfinden.

Der Conflikt der langen und der kurzen Leidenschaft entsteht, wenn der Eine den Anderen zu Ende zu besitzen glaubt und der Andere noch nicht – da wendet jener sich ab, entzieht sich und reizt nun durch die Ferne den Anderen noch mehr auf, neue Werthe zu suchen – zuletzt oft mit dem Entschluß, ihn lieber zu tödten, als einen Anderen in den Besitz kommen zu lassen. – Glücklicherweise haben die Dinge keine Seele; sonst sähen wir fortwährend diesen Conflikt: und die Natur, wenn sie den unendlichen M<enschen> wirklich geliebt hätte, würde ihn längst aus Liebe aufgezehrt haben – sei es auch nur um ihn nicht z. B. einem Gotte zur Beute zu lassen.

12 [195]

Zu jeder Moral gehört eine gewisse Art von Analyse der Handlungen: jede ist falsch. Aber jede Moral hat ihre Perspektiven und Beleuchtungen – ihre Lehre von den "Motiven".

12 [196]

"Jeder thue, was er für Pflicht hält" – damit hätten wir den Rückschritt und Stillstand.

12 [197]

Man nennt es Erkennen: in Wahrheit geht der lieb<ende> Mensch – – –

12 [198]

Nichts ist weiser als ein Sprüchwort – sagte der Seeigel, als ihn die Sonne stach: da machte er davon sofort fünfundzwanzig.

12 [199]

Der gute Mensch

1. der seine (legale) aber auch 1. der seinem Herzen folgt Pflicht thut

2. der Tapfere 2. der Milde Versöhnliche

3. der Sich selber 3. der mit guter Natur, beherrschende ohne Zwang

4. der pietätvolle 4. der Wahrheitsfreund

5. der fromme 5. der sich-selber gehorchende

6. der Vornehme, Edle 6. der nicht-verachtende

7. der gutmüthige 7. der Kämpfe- und Siegbegierige.

immer auch der Gegensatz dazu ist gut genannt worden

12 [200]

Verachtung des Schauspielers (wirkt auf ihn zurück, selbst auf Shakespeare, Voltaire Befreier.

12 [201]

so lange wir jung sind und unser selber noch nicht gewiß, ist die Gefahr nicht gering, daß uns die Wissenschaft durch die Wissenschaftlichen verleidet werde – oder die Kunst durch die Künstler – oder gar das Leben durch uns selber.

12 [202]

Gott

Wir haben ihn mehr geliebt als uns und ihm nicht nur unseren "eingeborenen Sohn" zum Opfer gebracht.

Ihr macht es euch zu leicht, ihr Gottlosen! Gut, es mag so sein, wie ihr sagt: die Menschen haben Gott geschaffen – ist dies ein Grund, sich nicht mehr um ihn zu kümmern? Wir haben bisher umgekehrt geschlossen, Gott, weil er die – – –

Ach Freund, was haben denn die Menschen seit Jahrtausenden gethan als sich um ihren Gott gekümmert usw. Wenn er nun trotzalledem nicht leben kann, und keine Nahrung ihn mehr bei Kräften erhält -: so – – –

12 [203]

Das war ein stolzer Mensch! "Lieber sterben als einen Wohlthäter haben" – sprach's und sprang ins Wasser. Eine halbe Stunde später hatte er einen Wohlthäter und lebte: ein armer Arbeiter war ihm nachgesprungen und hinderte ihn zu sterben.

12 [204]

Logik im Diebstahl. Dieb sein können. – Jeder kauft so billig als er kann: d. h. Jeder bestiehlt seinen Nächsten, so lange als es dieser sich eben gefallen lassen muß.

12 [205]

Ich stehe still, ich bin auf einmal müde. Voran, scheint es, geht es abwärts, blitzschnell, in irgend einen Abgrund – ich mag nicht hinsehen. Hinter mir ragt das Gebirge. Ich greife zitternd nach einem Halt. Wie! ist alles um mich plötzlich zum Gestein und Absturz geworden? Hier dies Gesträuch – es zerbricht in meiner Hand und vergilbte Blätter und ärmliche Würzelchen rieseln abwärts. Mich schaudert und <ich> schließe das Auge. – Wo bin ich? Ich sehe in eine purpurne Nacht, sie zieht mich an sich und winkt mir – wie ist mir doch? was geschah, daß die Stimme dir plötzlich versagt und du dich wie verschüttet fühlst unter einer Last trunkener und undurchsichtiger Gefühle? Woran leidest du jetzt? – ja ich leide – das ist das rechte Wort! – Welcher Wurm biß mich ins Herz?

12 [206]

Ich dachte an das Zeitalter als ich heute einen Menschen sah, der vor einem plötzlich dahinrollenden Wagen mit einem Entrechat auswich,

12 [207]

Die Beängstigungen einer feigen furchtsamen und argwöhnischen Seele, die Unfähigkeit, irgend einen boshaften Einfall zurückzuhalten, wenn er Geist hatte, machen die Komödie in R<ousseau>'s Leben aus.

12 [208]

Ich bin am verbindlichsten gegen Leute, die mich sehr gut kennen (mich selber eingerechnet): gegen einen Fremden bin ich vorsichtig, bis er meiner Vorgebirge und Klippen gewahr geworden ist: ich will nicht, daß er sich an mir stoße und sich über sich selber dabei verdrieße.

12 [209]

Gewissensbisse bei der Anrufung der staatlichen Gerechtigkeit (statt der Rache)

beim Eingehen der Ehe

bei der Arbeit

beim Aufsuchen eines Lehrers

der Kaufmann

der Schauspieler

12 [210]

Nun, ich wüßte schon eine Kur für einen so leckerhaft gewordenen Gaumen! – Die wäre? – Er sollte einmal eine Kröte verschlucken. Darauf würden ihm schon so gute Dinge, wie das Lob ist, auch wieder gut schmecken!

12 [211]

Die Verteidiger der Vorurtheile müssen sehr viel Geist haben, wenn sie nicht an diese Vorurtheile glauben – und hat einer so viel davon, so bekämpft er gewöhnlich die Vorurtheile.

12 [212]

Letzte Klugheit. Er fürchtet den Neid der Götter und der Guten: er versteht sich darauf, sein Verdienst durch seine Thorheiten in Frage zu stellen und dergestalt wieder gut zu machen.

12 [213]

Ego als gefühlter Gegensatz der Heerde (Selbst – Heerde) und das Heerdenstück-Gefühl, welches sich nicht zu unterscheiden vermag vom Interesse der Heerde – nicht zu verwechseln!

12 [214]

Die Menschen werden so reich, weil die Dinge nicht so viel werth sind, die ihnen gefallen, – sie sind nicht erfinderisch in der Freude.

12 [215]

Wer du auch sein magst, geliebter Fremdling, dem ich hier zum ersten Male begegne: nimm diese frohe Stunde wahr und die Stille um uns und über uns und laß dir von einem Gedanken erzählen, der vor mir aufgegangen ist, gleich einem Gestirne und der zu dir und zu Jedermann hinunterleuchten möchte, wie es die Art des Lichtes ist.

12 [216]

Für diesen Gedanken wollen wir nicht 30 Jahre Gloria mit Trommeln und Pfeifen und 30 Jahre Todtengräberarbeit und dann eine Ewigkeit der Todtenstille, wie bei so vielen berühmten Gedanken.

Schlicht und fast trocken, der Gedanke muß nicht die Beredtsamkeit nöthig haben.

Merkst du nicht – es wird plötzlich stille stille, stille um dich –

12 [217]

Grausamkeit ist das Heilmittel des verletzten Stolzes.

12 [218]

Der Irrthum beim Gelobtwerden besteht darin, daß der, welcher gelobt wird, dem Worte des Lobenden seinen Begriff dieses Wortes unterlegt und nicht den des Lobenden, – den er ja zumeist gar nicht kennen kann. Gewöhnlich aber ist der Begriff im Kopfe des Lobenden etwas viel Geringeres Matteres Ärmeres als im Kopfe des Gelobten: so daß der letztere sich oft genug sehr verdrießen müßte zu wissen, was eigentlich an ihm und seinem Werke gelobt worden ist.

12 [219]

Der Magen, moralisch beschrieben

Themata vorschlagen.

12 [220]

*** Es sind vorläufige Abrechnungen mit dem, was mich am meisten im Leben gehemmt und gefördert hat, Versuche, von Einigem loszukommen, dadurch daß ich es verunglimpfte oder verherrlichte (- ach, die Dankbarkeit im Guten und Bösen hat mir immer viel zu schaffen gemacht!

So weit ich etwas von meinen Zeitgenossen weiß, habe ich von Schopenhauer und Wagner den besten Gebrauch gemacht: vielleicht nicht zu ihrem Vortheil, denn ich habe sie um einen Zoll zu tief kennengelernt.

Ich könnte sie Juvenilia et Juvenalia nennen, deutlich genug wie ich meine, aber in einer Latinität, welche mich erröthen macht. Viel Jugendliebe und Jugendhaß ist darin, in allen Arten.

Geburt der Tragödie

1) gegen Wagner's Satz "die Musik ist Mittel zum Zweck" und zugleich Apologie meines Geschmacks an Wagner

2. gegen Schopenhauer und die moralische Deutung des Daseins – ich stellte darüber die aesthetische, ohne die moralische zu leugnen oder zu ändern.

12 [221]

Köselitz: Eckermann über Voltaire "zu vornehm war er – – –

12 [222]

Es ist die alte Geschichte

„Wenig Wolle und viel Geschrei",

so meinen solche, sie kommt zu Gesichte –

Wie's geschieht, zwei Mal oder drei.

12 [223]

Incipit tragoedia.

12 [224]

"Musiker Dichter Denker et hoc

genus omne."

Gelegenheiten Beobachtungen und Fragen von F. N.

12 [225]

Zarathustra's Müssiggang.

Von F. N.

flüssig feurig glühend – aber hell:

das letzte Buch –

es soll majestätisch und selig einherrollen. – So sprach Z<arathustra> „ich klage nicht an, ich will selbst die Ankläger nicht anklagen"

12 [226]

Von dem Augenblicke an, wo dieser Gedanke da ist, verändert sich alle Farbe, und es giebt eine andere Geschichte.

12 [227]

Stellen des Glückes zu sammeln z. B. Em<erson>

12 [228]

Philosophie des Überflüssigen. Gegen die Aufopferung als schädlich auf die Dauer.

12 [229]

Colonie – Corruption.

12 [230]

Form nur fürs Auge.

12 [231]

Friedrich Nietzsche

am Ende seines zweiten

Aufenthalts in Genua.

[lux mea crux]

[crux mea lux]

 

 

[Dokument: Exemplar von R. W. Emerson]

[Herbst 1881]

13 [1]

Jene Irrthümer waren bei jener Stufe nothwendig als Heilmittel: die Erziehung des Menschengeschlechts als Kur hat einen nothwendig-vernünftigen Verlauf. – So sagt ihr.

In diesem Sinne leugne ich die Nothwendigkeit. Es ist zufällig, daß dieser und jener Glaubensartikel siegte – dieselbe Heilwirkung wäre von einem anderen auch ausgegangen. Und vor allem! die Folge der Heilwirkung ist sehr beliebig, sehr unvernünftig! Fast immer ist eine tiefe Erkrankung die Folge des neuen Glaubens und nicht eine Kur!

13 [2]

Ihr lebt wie Betrunkene durchs Leben, besinnungslos – und mitunter fallt ihr die Treppe hinab und zerbrecht euch nicht die Glieder, wegen eurer Betrunkenheit und Besinnungslosigkeit. – Hier liegt unsere Gefahr! Unsere Muskeln sind nicht matt und leiden furchtbar viel mehr als eure!

13 [3]

Saugt eure Lebenslagen und Zufälle aus – und geht dann in andere über! Es genügt nicht, Ein Mensch zu sein! Das hieße euch auffordern, beschränkt zu werden! Aber von Einem zum Andern!

13 [4]

Die Fähigkeit zum Schmerz ist ein ausgezeichneter Erhalter, eine Art von Versicherung des Lebens: dies ist es, was der Schmerz erhalten hat: er ist so nützlich als die Lust – um nicht zu viel zu sagen. Ich lache über die Aufzählungen des Schmerzes und Elends, wodurch sich der Pessimismus zurecht beweisen will – Hamlet und Schopenhauer und Voltaire und Leopardi und Byron.

"Das Leben ist etwas, das nicht sein sollte, wenn es sich nur so erhalten kann!" – sagt ihr. Ich lache über dies "Sollte" und stelle mich zum Leben hin, um zu helfen, daß aus dem Schmerze so reich wie möglich Leben wachse – Sicherheit, Vorsicht, Geduld, Weisheit, Abwechslung, alle feinen Farben von hell und dunkel, bitter und süß – in allem sind wir dem Schmerz verschuldet, und ein ganzer Kanon von Schönheit Erhebung Göttlichkeit ist erst recht möglich in einer Welt tiefer und wechselnder und mannigfaltiger Schmerzen. Das, was euch über das Leben richten heißt, kann nicht Gerechtigkeit sein – denn die Gerechtigkeit würde wissen, daß der Schmerz und das Übel – – – Freunde! Wir müssen den Schmerz in der Welt mehren, wenn wir die Lust und die Weisheit mehren wollen.

13 [5]

Willst du ein allgemeines gerechtes Auge werden? So musst du es als einer, der durch viele Individuen gegangen ist und dessen letztes Individuum alle früheren als Funktionen braucht.

13 [6]

Sei eine Platte von Gold – so werden sich die Dinge auf dir in goldner Schrift einzeichnen.

13 [7]

Oh über unsre Habsucht! Ich fühle Nichts von Selbstlosigkeit, vielmehr ein Alles begehrendes Selbst, welches durch viele Individuen – wie durch seine Augen sieht und wie mit seinen Händen greift, ein auch die ganze Vergangenheit zurückholendes Selbst, welches nichts verlieren will, was ihm überhaupt gehören könnte.

13 [8]

Wir ehren und schützen alle Machtansammlungen, weil wir sie einst zu erben hoffen – die Weisen. Wir wollen ebenso die Erben der Moralität sein, nachdem wir die Moral zerstört h<aben>

13 [9]

Es ist viel zu antworten, wenn ein Räthsel aufgegeben wird und zu glauben, es gelöst zu haben – schon bei dem Muthe der Antwort auf das Räthsel des Lebens hat sich bisweilen die Sphinx hinabgestürzt.

13 [10]

Meine Art krank und gesund zu sein, ist ein gutes Stück meines Charakters – es rechtfertigt sich und mich.

13 [11]

Gesetzt, mein Buch existirte nur noch in den Köpfen der Menschen, so wäre alles in gewissem Sinn aus deren Gedanken und Wesen – es wäre eine "Summe von Relationen". Ist es darum nichts mehr? Gleichniß für alle Dinge. Ebenso unser "Nächster".

Daß ein Ding in eine Summe von Relationen sich auflöst, beweist nichts gegen seine Realität.

13 [12]

Meine Philosophie – den Menschen aus dem Schein herauszuziehen auf jede Gefahr hin! Auch keine Furcht vor dem Zugrundegehen des Lebens!

13 [13]

Warum ziehn die entgegengesetzten Naturen mich am heftigsten an? Sie lassen mich das Voll-werden-müssen fühlen, sie gehören in mich hinein.

13 [14]

Der wirkliche Mensch ist weit zurück hinter dem embryonischen, der aus ihm erst in 3 Geschlechtern entsteht.

13 [15]

Alle Formen sind unser Werk – wir sprechen uns aus in der Art, wie wir die Dinge jetzt erkennen müssen.

13 [16]

Was habe ich gelernt, bis heute (15. Oktober 1881)? Mir selber aus allen Lagen heraus wohlzuthun und Anderer nicht zu bedürfen.

13 [17]

Was gehen mich die Irrthümer der Philosophen an!

13 [18]

Charakter = Organismus.

13 [19]

Das neue Große nicht über sich, nicht außer sich sehen, sondern aus ihm eine neue Funktion unser selbst machen.

Wir sind der Ozean, in den alle Flüsse des Großen fließen müssen.

Wie gefährlich ist es, wenn der Glaube an die Universalität unser selbst fehlt! Viel Art von Glauben thut noth.

13 [20]

Vom Kleinsten Nächsten auszugehen:

1) die ganze Abhängigkeit sich feststellen, in die man hineingeboren und erzogen ist

2) den gewohnten Rhythmus unsres Denkens, Fühlens, unsere intellektuellen Bedürfnisse und Nahrungsweisen

3) Versuche der Veränderung, zunächst mit den Gewohnheiten zu brechen (zb. Diät

Sich geistig an seine Widersacher einmal anlehnen, in ihrer Luft zu leben versuchen reisen, in jedem Sinn

"Unstet und flüchtig" – eine Zeit.

Von Zeit zu Zeit über seinen Erfahrungen ruhen, verdauen.

4) Versuche der Idealdichtung und später des Ideal-Lebens.

13 [21]

Jenseits von Liebe und Haß, auch von Gut und Böse, ein Betrüger mit gutem Gewissen, grausam bis zur Selbstverstümmlung, unentdeckt und vor aller Augen, ein Versucher, der vom Blut fremder Seelen lebt, der die Tugend als ein Experiment liebt, wie das Laster.

13 [22]

Hier sitzest du, unerbittlich wie meine Neubegier, die mich zu dir zwang: wohlan, Sphinx, ich bin ein Fragender, gleich dir: dieser Abgrund ist uns gemeinsam – es wäre möglich, daß wir mit Einem Munde redeten?

 

 

[Dokument: Manuskript]

[Herbst 1881]

14 [1]

Das ist etwas Neues an der jetzigen Musik, wie ich sie eben hörte! Sie repräsentirt Gefühle, sie erregt sie nicht mehr – man ist zufrieden mit ihrer Hülfe zu verstehen! Wie bescheiden!

14 [2]

Wie kalt und fremd sind uns bisher die Welten, welche die Wissenschaft entdeckte! Wie verschieden ist z. B. der Leib, wie wir ihn empfinden, sehen, fühlen, fürchten, bewundern und der "Leib" wie ihn der Anatom uns lehrt! Die Pflanze, die Nahrung, der Berg und was uns nur die Wissenschaft zeigt – alles ist eine wildfremde eben entdeckte neue Welt, der größte Widerspruch mit unserer Empfindung! Und doch soll allmählich "die Wahrheit" sich in unseren Traum verketten und – wir sollen einmal wahrer träumen! – – – –

14 [3]

Es ist eine ganz neue Lage – auch sie hat ihre Erhabenheit, auch sie kann heroisch aufgefaßt werden: obschon es noch Niemand gethan hat. Die wissenschaftlichen Menschen gewiß nicht: es sind landläufige Seelen, mit einem von ihrem Empfinden abgeschlossenen Reiche ihrer geistigen Thätigkeit: für sie ist die Wissenschaft vornehmlich etwas Strenges, Kaltes, Nüchternes – kein erschütternder Ausblick, kein Wagniß, kein Alleinstehen gegen alle Dämonen und Götter. Die Wissenschaft geht sie nichts an – das giebt ihnen die Fähigkeit dazu! Hätten sie Furcht oder Witterung des Ungeheuren – so ließen sie die Hand davon. Diese Art Wissenschaft ist es allein, welche bisher der Staat gefördert hat! – das Streben nach Erkenntniß ohne Heroism, als Geschäft, nützliche Verwendung der Verstandeskräfte usw.

14 [4]

Nachts, bei bestirntem Himmel regt sich wohl ein Gefühl, wie armselig unsere Fähigkeit zum Hören ist. Oh dieser todtenstille Lärm! –

14 [5]

Jetzt komme ich mir wie Einer vor, der gelernt hat, mit allen Winden zu fahren – und seine Straße! Heute bin ich ganz in meiner Genueser Kühnheit und weiß kaum, wohinaus ich noch alles fahren soll -: es ist als ob das Dasein mir zu eng wäre und als ob ich ein neues entdecken oder schaffen müßte. Ich brauche Raum, eine sehr große weite unbekannte unentdeckte Welt, es ekelt mich sonst.

14 [6]

Warum finde ich die Menschen nicht unter den Lebenden, die höher hinaus schauen als ich und mich unter sich sehen müssen? Habe ich denn nur schlecht gesucht? – Und es verlangt mich so gerade nach Solchen!!

14 [7]

Mit meinen halbblinden und arbeitsscheuen Augen gehe ich jetzt die Wege am liebsten, wo meine Füße nicht mehr zu denken brauchen – ich kann und mag nicht mehr im Gebirge und in schlecht gepflegten Kleinstädten wohnen, wo Leben und Stolpern zusammengehört.

14 [8]

Diese ganze Welt, die uns wirklich etwas angeht, in der unsere Bedürfnisse Begierden Freuden Hoffnungen Farben Linien Phantasien Gebete und Flüche wurzeln diese ganze Welt haben wir Menschen geschaffen und haben es vergessen, so daß wir nachträglich noch einen eigenen Schöpfer für alles das erdachten, oder uns mit dem Probleme des Woher? zerquälten. Wie die Sprache das Urgedicht eines Volkes ist, so ist die ganze anschauliche empfundene Welt die Urdichtung der Menschheit, und schon die Thiere haben hier angefangen zu dichten. Das erben wir alles auf einmal, wie als ob es die Realität selber sei.

14 [9]

Diese ganze Welt, die wir geschaffen haben, oh wie haben wir sie geliebt! Alles was Dichter empfinden gegen ihr Werk, ist nichts gegen die zahllosen Ausströmungen des Glücks, welche die Menschen in unvordenklichen Zeiten empfunden haben, als sie die Natur erfanden.

14 [10]

Wo finden wir, wir Einsamsten der Einsamen, wir Menschen – denn das werden wir sicher einmal sein, durch die Nachwirkung der Wissenschaft – wo finden wir einen Genossen für den Menschen! Ehedem suchten wir einen König, einen Vater, einen Richter für Alles, weil es uns an rechten Königen, rechten Vätern, rechten Richtern mangelte. Nachmals werden wir den Freund suchen – die Menschen werden selbsteigene Herrlichkeiten und Sonnenkreise geworden sein – aber einsam. Der mythenbildende Trieb geht dann aus nach dem Freunde.

14 [11]

Ich würde wünschen, auch nur einmal mit einem Menschen zusammengetroffen zu sein, welcher bei Allem, was ihm unter die Hände kam, sich fragte: „könnte dies nicht verbessert werden?" Die Mahlzeiten und die Diät und die Eintheilung des Tages usw.

14 [12]

So wie unsere großen und kleinen Städte jetzt, sind, muß ein Denker es jetzt verstehen, seine Stelle zwischen zwei Lärmen zu finden – oder er wird sie nicht finden und aufhören, Denker zu sein. Das antike Rom hatte mehr Humanität für die Denker als unsere Welt! –

14 [13]

So leben wir Alle! – wir reißen die Dinge gierig an uns und haben unersättliche Augen dabei, dann nehmen wir eben so gierig aus ihnen heraus, was uns schmeckt und dienlich ist – und endlich überlassen wir den Rest – alles womit unser Appetit und unsere Zähne nicht fertig geworden sind – den anderen Menschen und der Natur, namentlich aber alles, was wir verschlangen, ohne es uns einverleiben zu können -: unsere Excremente. Darin sind wir unerschöpflich wohlthätig und durchaus nicht geizig: wir düngen die Menschheit mit diesem Unverdauten unseres Geistes und unserer Erfahrungen.

14 [14]

Überall wo verehrt, bewundert, beglückt, gefürchtet, gehofft, geahnt wird, steckt noch der Gott, den wir todt gesagt haben – er schleicht sich allerwegen herum und will nur nicht erkannt und bei Namen genannt sein. Da nämlich erlischt er wie Buddha's Schatten in der Höhle – er lebt fort unter der seltsamen und neuen Bedingung, daß man nicht mehr an ihn glaubt. Aber ein Gespenst ist er geworden! Freilich!

14 [15]

Im Grunde haben alle Civilisationen jene tiefe Angst vor dem "großen Menschen", welche allein die Chinesen sich eingestanden haben, mit dem Sprichwort "der große Mensch ist ein öffentliches Unglück". Im Grunde sind alle Institutionen darauf hin eingerichtet, daß er so selten als möglich entsteht und unter so ungünstigen Bedingungen als nur möglich ist heranwächst: was Wunder! Die Kleinen haben für sich, für die Kleinen gesorgt!

14 [16]

Die Erlaubniß, Kinder zu zeugen, sollte als eine Auszeichnung verliehen werden, und auf jedem Wege dem so üblichen geschlechtlichen Verkehre der Charakter eines Mittels der Fortpflanzung genommen werden: sonst werden immer mehr die niedrig gesinnten Menschen die Oberhand bekommen – denn die höheren Geister sind nicht zu eifrig in erotischen Dingen. Wohl sind dies die Tapferen und Kriegerischen – und ihnen verdankt man im Ganzen die bessere Art von Menschen, die noch bestehen. Kommt aber der Handels-Geist zur Übermacht über den kriegerischen, so – Gegen Verbrecher sei man wie gegen Kranke: auch darin, daß man es verabscheut, sie sich fortpflanzen zu machen. Dies ist die erste allgemeine Verbesserung der Sitten, welche ich wünsche: der Kranke und der Verbrecher sollen nicht als fortpflanzbar anerkannt werden.

14 [17]

So will ich es doch eingestehen – ich stelle mich vor mir selber erzürnt über die gelegentliche Kälte und Vernachlässigung, die ich von Freunden und ehemaligen Vertrauten erfahre – im tiefsten Grunde läßt dies alles mich unbewegt, und das Gefühl dieser gewöhnlichen Unbewegtheit ist es, welches mich mitunter wünschen macht, es möchte etwas recht stark mich erschüttern und herumreißen. Ich suche ein Mittel gegen die Langeweile, wenn ich mich erzürnt über solche Dinge stelle, und es gelingt mir schlecht damit – ich bin euch gut und bleibe der Mensch des versöhnlichsten Herzens! –

14 [18]

Es ist eine Haupterkenntniß, daß bei der Werthschätzung aller Dinge der Mensch allem Gewöhnlichen und noch mehr allem schlechthin Unentbehrlichen einen niederen Werth gab. Das Gewöhnliche war dem Ungemeinen entgegengesetzt, als das "Gemeine" –: das Unentbehrliche als ein Zwang dem, was der freie Mensch sich willkürlich verschaffen kann oder nicht kann, dem Überflüssigen, Luxushaften des Lebens. So wurde alles, was nöthig ist und alles, was üblich ist, zum Geringen: alles Fatum wurde Gemeinheit. Laune Willkür freier Wille der aristokratische Hang des Herrschenden und beliebig Befehlenden, die Leidenschaft für alles Seltene Schwer-zu-erlangende – das war das Merkmal des höheren Menschenthums: damit erst glaubte der Mensch nicht mehr Thier zu sein. Die Klugheit und die Erfahrung zwar schrieben ihre Gesetze dem Handelnden vor und wiesen unerbittlich auf das Nöthige und das Übliche hin – aber die höhere Empfindung trennte sich oft genug von der Klugheit und gab dem Unnöthigen und dem Ungewöhnlichen und daher meisthin auch Unklugen den Vorrang. So ist auf die Dauer der Boden unseres Lebens und unserer ganzen Lebensart – das ist und bleibt doch immer das Nöthige und Gewohnheitsmäßige – von den höheren Empfindungen entkleidet worden! Essen und Wohnen und Zeugen, der Handel, der Erwerb, das Geschäft ja selbst das gesellschaftliche Leben hat sich vom Ideale abgetrennt – und die Sorge für sich selber, selbst in ihrer feinsten Form, ist mit einem Makel behaftet, welchen der Tadel des Egoismus und das Lob der Selbstlosigkeit zu verstehen giebt.

14 [19]

Sich mit Jemandem verbünden, um ihn damit zu unterdrücken oder in die Dunkelheit zu drängen – ein Kunststück der Politiker aller Zeiten welches feiner ist als sich einen Anderen zum Rivalen umschaffen, damit man durch seine schon fest begründete Berühmtheit selber zum Ruhme komme.

14 [20]

Der Stolze haßt es zu zittern und nimmt Rache an dem, der ihn zittern gemacht hat: dies ist der Grund seiner Grausamkeit. Er hat die größte Lust, den vor sich zu sehen, vor dem er nun nicht mehr zittert, ob er ihm schon das Schmählichste und Schmerzhafteste anthut. – Der Stolze gesteht sich das nicht ein, was ihm drückend ist, so lange er nicht die Möglichkeit sieht, Rache für diesen Druck zu nehmen. Sein Haß schießt im Augenblick hervor, wenn diese Möglichkeit ihm zu Gesichte kommt. Alle Starken, die sich selber brechen und einem Gesetze unterwerfen, sind grausam: früher machte es ihnen einen ähnlichen Genuß, den Willen Anderer zu brechen und den Thon nach ihrem Willen zu kneten. Alle Verkannten, Zurückgesetzten, Gelangweilten sind grausam, denn ihr Stolz ist immer gereizt. Auch alle Schwachen sind grausam, und gerade darin, daß sie Mitleiden bei den Anderen wollen. Das heißt: sie fordern, daß auch die Anderen leiden, wenn sie leiden und schwach sind. Daher ist es nur das halbe Unglück socios habuisse malorum. Endlich: wie grausam sind alle Künstler, denn sie wollen mit allen Mitteln, daß ihre Erlebnisse Gewalt üben und bekommen, daß ihre Leiden zu unseren Leiden werden! Und gar die Bußprediger, welche darin ihren dämonischen Stachel und Reiz spüren, daß sie die große Macht öffentlich verachten, daß sie die Hochmächtigsten wie die Niedrigsten zur gleichen Zerknirschung und Abstinenz treiben wollen – das ist eine Grausamkeit des Stolzes ohne Gleichen! Kurz die Menschen haben viel Genuß an der Grausamkeit, sie ist das üblichste aller Vergnügen, so sehr auch der "Grausame" gelästert wird!

14 [21]

Oh über diesen neuen Ehrgeiz der Gegenwärtigen! Es ist unter ihren Künstlern das Zeitalter der nachgeahmten Originalität und namentlich der nachgeahmten Leidenschaften: sie haben nämlich die alte Furcht vor dem Auslande, man möchte ihnen nicht genug Leidenschaft und überhaupt nicht die Leidenschaften zutrauen, deshalb machen sie sofort Grimassen und Ausschweifungen in Ton und Gebärde, nicht aus der Stärke ihres Affektes heraus, sondern um sich Glauben an <die> Stärke ihres Affektes zu schaffen. Ihre Theaterfiguren wie die Gestalten auf ihren Gemälden laufen den Leidenschaften so nach, daß man jeden für toll halten würde, der es so im Leben machte. Es steht zu befürchten, daß diese öffentliche Schule auch die D<eutschen> dahin treibt, sich im Leben z. B. in der Politik wie toll zu gebärden. Ihre ehemaligen Neigungen zum Behaglichen und Gemüthlichen machen ihnen jetzt Scham; sie argwöhnen, daß man sich mit solchen Neigungen zur Mittelmäßigkeit des Geistes verurtheilt habe und unfähig sei, in großen Dingen mitzureden z. B. über die Frage des Glücks. Man will jetzt nicht das Glück selber, aber man will jedenfalls den Stolz, zu den letzten Richtern und Meßkünstlern des Glücks zu gehören – man hat den Ehrgeiz des Geistes und der Leidenschaft zugleich. So zum Beispiele in Betreff des Glücks der Liebe: daraus machen die deutschen Künstler jetzt ein vampyrisches Gebilde: ihre "Liebe" will im Glück die ganze Welt ausstechen, austrinken und gleichsam trocken zurücklassen: und wenn ihr dies nicht gelingt, so will sie wenigstens an allem, was noch von Glück sonst übrig bleibt, Rache nehmen. Aber dies ist die Liebe im Irrenhause – oder sie gehört ins Irrenhaus: oder sie macht ein Irrenhaus. –

14 [22]

Beim Klavierspiel ist die Hauptsache, daß man den Gesang singen läßt und die Begleitung begleiten läßt. Ich vertrage eine Musik, worin nicht in dieser Weise zwischen Musik und Begleitung geschieden ist, jetzt nur noch als ein kurzes Zwischenspiel, als einen idealen Lärm, der uns begierig nach dein Wiederbeginn des Gesanges macht.

14 [23]

Die Menschenstimme ist die Apologie der Musik.

14 [24]

Mit welcher Dankbarkeit blickt der altgewordene Goethe auf die erotischen Empfindungen aller Arten, wie sie ihm das Leben geboten hatte! Es war eine schlechte Stunde, als Sophokles von dem Eros wie von einem wüthenden Dämon sprach – entweder ist dieser liebenswürdigste aller Athener gegen sich selber zu liebenswürdig und in Folge davon zeitweilig bösartig und tückisch und seiner überdrüssig gewesen: – oder, noch wahrscheinlicher, er schmähte den Gott und ließ ihn entgelten daß er ihn verlassen hatte.

14 [25]

Wohin ist Gott? Was haben wir gemacht? haben wir denn das Meer ausgetrunken? Was war das für ein Schwamm, mit dem wir den ganzen Horizont um uns auslöschten? Wie brachten wir dies zu Stande, diese ewige feste Linie wegzuwischen, auf die bisher alle Linien und Maaße sich zurückbezogen, nach der bisher alle Baumeister des Lebens bauten, ohne die es überhaupt keine Perspektive, keine Ordnung, keine Baukunst zu geben schien? Stehen wir denn selber noch auf unseren Füßen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und gleichsam abwärts, rückwärts, seitwärts, nach allen Seiten? Haben wir nicht den unendlichen Raum wie einen Mantel eisiger Luft um uns gelegt? Und alle Schwerkraft verloren, weil es für uns kein Oben, kein Unten mehr giebt? Und wenn wir noch leben und Licht trinken, scheinbar wie wir immer gelebt haben, ist es nicht gleichsam durch das Leuchten und Funkeln von Gestirnen, die erloschen sind? Noch sehen wir unsren Tod, unsere Asche nicht, und dies täuscht uns und macht uns glauben, daß wir selber das Licht und das Leben sind – aber es ist nur das alte frühere Leben im Lichte, die vergangne Menschheit und der vergangne Gott, deren Strahlen und Gluthen uns immer noch erreichen – auch das Licht braucht Zeit, auch der Tod und die Asche brauchen Zeit! Und zuletzt, wir Lebenden und Leuchtenden: wie steht es mit dieser unserer Leuchtkraft? verglichen mit der vergangner Geschlechter? Ist es mehr als jenes aschgraue Licht, welches der Mond von der erleuchteten Erde erhält?

14 [26]

Es ist noch zu früh, das ungeheure Ereigniß ist noch nicht zu den Ohren und Herzen der Menschen gedrungen – große Nachrichten brauchen lange Zeit, um verstanden zu werden, während die kleinen Neuigkeiten vom Tage eine laute Stimme und eine Allverständlichkeit des Augenblicks haben. Gott ist todt! Und wir haben ihn getödtet! Dies Gefühl, das Mächtigste und Heiligste, was die Welt bisher besaß, getödtet zu haben, wird noch über die Menschen kommen, es ist ein ungeheures neues Gefühl! Wie tröstet sich einmal der Mörder aller Mörder! Wie wird er sich reinigen!

 

 

[Dokument: Manuskript]

[Herbst 1881]

15 [1]

Dies ist mir bewußt geworden: in welcher seltsamen Vereinfachung der Dinge und Menschen leben wir! wie haben wir es uns leicht und bequem gemacht, und unsern Sinnen einen Freipaß für oberflächliche Beobachtung, unserm Denken für die tollsten muthwilligsten Sprünge und Fehlschlüsse gegeben! Das Bild, welches allmählich die Wissenschaft ausführt, ist nicht aus anderen Erkenntnißquellen geschöpft: dieselben Sinne, dasselbe Urtheilen und Schließen, aber gleichsam moralisch geworden, stoisch geduldig, tapfer, gerecht, unermüdlich, nicht zu beleidigen, nicht zu entzücken. Es sind gute Sinne, es ist gutes Denken, was in der Wissenschaft arbeitet. Und diese Wissenschaft deckt nun endlich auch dem guten Menschen seine Oberflächlichkeit und seine Fehlschlüsse auf, die Grundlagen seiner Werthschätzungen, auch seinen Aberglauben, daß der moralische Mensch die Menschheit so weit entwickelt habe: der unmoralische Mensch hat nicht weniger Antheil – und selbst in der Wissenschaft sind fortwährend in feinen Dosen Feindschaft Mißtrauen Rache Widerspruchssinn List Argwohn thätig und nöthig: in aller ihrer Tapferkeit, Gerechtigkeit und ataoaxia ist dieses böse Element. Wenn die einzelnen Forscher nicht einseitig eingenommen für ihren Einfall wären, wenn sie nicht ihre Unterhaltung haben wollten, ihre Mißachtung fürchteten – wenn sie sich nicht gegenseitig durch Neid und Argwohn in Schranken hielten, so fehlte der Wissenschaft ihr gerechter und tapferer Charakter. Aber als Ganzes erzieht sie zu gewissen Werthschätzungen – die res publica der Gelehrten erzwingt eine gewisse moralische Handlungsweise, mindestens den Ausdruck derselben: sie sublimirt das Böse zu Tugenden!

15 [2]

Ich gestehe, die Welt, wie sie sich mir nach reiflichstem Besinnen darstellt, dieses fortwachsende Phantom der Menschenköpfe, an dem wir alle in voller Blindheit arbeiten, dichten, lieben, schaffen – dies ist ein Resultat, welches eigentlich meinem männlichen Instinkt zuwider ist: daran mögen sich Frauen und Künstler gemäß ihren Instinkten und ihrer Verwandtschaft mit allem Phantomhaften ergötzen. Ich fürchte bei seinem Anblick für die männlichen Tugenden und weiß nicht recht, wobei sich noch Tapferkeit und Gerechtigkeit und harte geduldige Vernünftigkeit geltend machen soll, wenn alles so werdend, so phantastisch, so unsicher, so grundlos ist. Nun, wenigstens dies soll uns bleiben: als Männer wollen wir uns doch eben diese Wahrheit sagen, wenn sie nun einmal Wahrheit ist, und sie nicht vor uns verhehlen! Auch dem Anatomen ist der Cadaver oft zuwider – aber seine Männlichkeit zeigt sich im Beharren. Ich will erkennen.

15 [3]

Dies ist zum Verzweifeln: aus der Geschichte lehrt man uns, daß alle großen Menschen höchst ungerecht waren, und daß ohne die unbedenkliche Überschätzung ihres Gedankens und Entwurfs, ohne eine tiefe innerliche ungebrochene fraglose Ungerechtigkeit sie nicht zu ihrer Größe gekommen wären – auch Jesus nicht, der wahrlich die Menschen nicht gerecht beurtheilt hat. Wie! Und nun sollte also die von uns geforderte Erziehung zur Gerechtigkeit, wie man uns entgegenhält, die Menschen abhalten groß zu werden? Ihnen den großartigen Zug und Schwung und beinahe allen Instinkt nehmen? Und man müßte vielmehr solchen, die zur Größe bestimmt seien, die Augen zuhalten und die Schlinge des Wahns um den Hals werfen und dankbar sein, wenn ihr Schicksal ihre Augen ganz blind macht? – Es sei, wie es sei: wir wollen gerecht werden und es darin so weit treiben als es uns irgend möglich ist. Vielleicht auch hat man uns getäuscht, und viele jener großen M<enschen> waren nicht groß, sondern eben nur ungerecht, und andere von ihnen eben dadurch, daß auch sie ihre Gerechtigkeit so weit trieben, als ihre Einsicht, ihre Zeit, ihre Erziehung, ihre Gegner es ihnen möglich machten. Sie glaubten an ihre Gerechtigkeit vielleicht sicherer als wir an ihre Ungerechtigkeit!

15 [4]

Die Menschen haben Gott geschaffen, es ist kein Zweifel: sollen wir deshalb nicht an ihn glauben? Er hat den Glauben so nöthig zum Leben: seien wir doch barmherzig!

15 [5]

Die Sonne gieng hinter das Meer, und die Felsen, auf denen sie tagsüber sich ausgeruht hatte, athmen einen warmen Hauch aus.

15 [6]

Vieles muß man so genießen wie die Südamerikaner ihren Thee – sie trinken ihn, ohne ihn dabei zu sehen: denn er wird fortwährend schwärzer. Wir schmecken auch die Farben aller Nahrungsmittel – ein Gleichniß.

15 [7]

Ist es denn "die Wahrheit", welche allmählich durch die Wissenschaft festgestellt wird? Ist es nicht vielmehr der Mensch, welcher sich feststellt – welcher eine Fülle von optischen Irrthümern und Beschränktheiten aus sich gebiert oder aus einander ableitet, bis die ganze Tafel beschrieben ist und der Mensch in seinen Beziehungen zu allen übrigen Kräften feststeht – die Wissenschaft führt den ungeheuren Prozeß nur weiter, der mit dem ersten organischen Wesen begann, sie ist eine schaffende bildende constitutive Gewalt und kein Gegensatz zur schaffenden bildenden constitutiven Gewalt, wie die Schlechtunterrichteten glauben. Wir fördern die Wissenschaft – meine Freunde! das heißt auf die Dauer unbedingt nichts anderes als: wir fördern den Menschen und machen ihn fester und unwandelbarer, so sehr auch zeitweilig der Augenschein gegen uns ist, und so gewiß wir Vielem, worin beschränktere Zeiten alle menschliche Festigkeit und Dauer begründet sahen, den Grund unter den Füßen wegziehen z. B. der üblichen Moral.

15 [8]

An einem jeden Moralsysteme wäre die Menschheit zu Grunde gegangen, wenn im Großen nach ihm gelebt worden wäre – das ist leicht einzusehen: die Menschheit besteht noch vermöge ihrer unüberwindlichen "Unmoralität". Aber, was vielleicht weniger einleuchtet und doch nicht weniger gewiß ist: auch der Einzelne, der nach seinem Glauben vollkommen war als Vollstrecker seines moralischen Willens, ein Jesus, ein Epiktet, ein Zarathustra, ein Buddha, auch ein Solcher hat ebenso nur vermöge der tiefsten und gründlichsten "Unmoralität" gelebt und fortgelebt, so wenig ihm dieselbe ins Bewußtsein getreten ist.

15 [9]

Zuletzt thun wir nicht mehr mit der Erkenntniß als die Spinne mit Netze-weben und Jagd und Aussaugen thut: sie will leben vermöge dieser Künste und Thätigkeiten und ihre Befriedigung haben – und eben dies wollen auch wir, wenn wir Erkennenden Sonnen und Atome erhaschen festhalten und gleichsam feststellen – wir sind da auf einem Umwege zu uns hin, zu unseren Bedürfnissen, welche auf die Dauer bei jeder fehlerhaften unmenschlichen und rein willkürlichen Perspektive ungesättigt bleiben und uns Noth machen. Die Wissenschaft hat ein feines Gehör für den Nothschrei der Bedürfnisse, und oft ein prophetisches Gehör. Um die Dinge so zu sehen, daß wir dabei unsere Bedürfnisse befriedigen können, müssen wir unsere menschliche Optik bis in ihre letzten Folgen treiben. Du Mensch selber, mit deinen fünf bis sechs Fuß Länge – du selber gehörst in diese Optik hinein, du bist auf die Schwäche deiner Sinnesorgane hin von dir construirt – und wehe, wenn es anders wäre, wenn unsere Organe noch schwächer wären, und das Auge nicht einmal die Hand erreichte oder sie in einer so unbestimmten Ferne schweben sähe, daß eine Gesammtconstruktion des Menschen für den Menschen selber unmöglich wäre – Unsere Erkenntniß ist keine Erkenntniß an sich und überhaupt nicht sowohl ein Erkennen als ein Weiterschließen und Ausspinnen: es ist die großartige seit Jahrtausenden wachsende Folgerung aus lauter nothwendigen optischen Irrthümern – nothwendig, falls wir überhaupt leben wollen – Irrthümern, falls alle Gesetze der Perspektive Irrthümer an sich sein müssen. Unsere Gesetze und Gesetzmäßigkeiten sind es, die wir in die Welt hineinlegen – so sehr der Augenschein das Umgekehrte lehrt und uns selber als die Folge jener Welt, jene Gesetze als die Gesetze derselben in ihrer Wirkung auf uns zu zeigen scheint. Unser Auge wächst – und wir meinen, die Welt sei im Wachsen. Unser Auge, welches ein unbewußter Dichter und ein Logiker zugleich ist! Welches jetzt einen Spiegel darstellt, auf dem sich die Dinge nicht als Flächen, sondern als Körper zeigen – als seiend und beharrend, als uns fremd und unzugehörig, als Macht neben unserer Macht! Dieses Spiegel-Bild des Auges malt die Wissenschaft zu Ende! – und damit beschreibt sie ebenso die bisher geübte Macht des Menschen als sie dieselbe weiter übt – unsere dichterisch-logische Macht, die Perspektiven zu allen Dingen festzustellen, vermöge deren wir uns lebend erhalten.

15 [10]

Die gewöhnlichen Gedanken (und alles was man unter gesundem Menschenverstand begreift) genießen deshalb eine so hohe Achtung und werden deshalb im Grunde Jedermann zur Pflicht gemacht, weil diese Art zu denken eine große Bewährung für sich hat: mit ihr ist die Menschheit nicht zu Grunde gegangen: dies genügt, um die Menschheit zu dem Schlusse zu bringen – sie schließt so gern und so schnell! – daß der gesunde Menschenverstand die Wahrheit für sich habe. "Wahr" – das ist im Allgemeinen nur so viel als: zweckmäßig zur Erhaltung der Menschheit. Woran ich zu Grunde gehe wenn ich es glaube – wird da geschlossen – das ist für mich nicht wahr – es ist eine willkürliche ungehörige Relation meines Wesens zu anderen Dingen.

15 [11]

Es giebt auch für die Moral eine Art von Optik. Wie schwach verantwortlich fühlt sich der Mensch für seine indirekten und entfernten Wirkungen! Und wie grausam und übertreibend fällt die nächste Wirkung, die wir üben, über uns her – die Wirkung, die wir sehen, für die unser kurzes Gesicht eben noch scharf genug ist! Wie tragen wir an einer Schuld, bloß weil sie so nahe vor unserem Auge steht! Wie messen wir die Schwere verschieden nach der Entfernung!

15 [12]

Ehemals bewies man die Lehre von der Unfreiheit des Willens, indem man unbedenklich auf die Wahrsager hinwies, welche auch noch bei den skeptischen Philosophen einen guten Glauben fanden: die Kunst der Wahrsagerei aber setzt eine Welt voraus, welche nichts als Fatum ist, und folglich fand diese Welt ebenfalls einen guten Glauben. Als aber die Wahrsager in Mißkredit kamen, kam mit ihnen auch die Lehre von der Unfreiheit, des Willens in Mißkredit: gemäß einer falschen Art zu Schließen, welche üblicher ist als die rechte Art.

15 [13]

Wir Modernen, seien wir noch so religiös oder moralisch, sind tief unreligiös im Verhältniß zu den Religiösen des Mittelalters und tief unmoralisch im Verhältniß zu den Moralisten des Alterthums. Die antiken Philosophen hatten sammt und sonders einen moralischen Fanatismus und eine siegreiche Unbedenklichkeit im Glauben an ihr "Heil der Seele", daß sie das Alterthum schließlich in üblen Ruf und in Zweifel an sich selber brachten: jener übermäßige Werth, welchen sie auf das "Heil der Seele" legten, war die nützlichste Vorbereitung des Christenthums, welches ihre Erbschaft machte, ohne dafür sich erkenntlich zu zeigen. (Die religiösen Menschen sind niemals durch Erkenntlichkeit ausgezeichnet gewesen.)

15 [14]

So wie ich vom Leben und der Welt denke: sitze ich gleichsam inmitten eines tragischen Hausraths, und wohin ich blicke, sind Anreizungen, Tragödien zu dichten – ja kaum kann ich verhindern, daß diese feierlichen und leidenschaftlichen Masken nicht selber Tragödie spielen und mich in ihr Spiel hineinlocken: ein solcher Drang ist um mich jetzt.

15 [15]

"Und was wird nach dem Ende der Moral?" Oh ihr Neugierigen! Wozu schon jetzt so fragen! Aber laufen wir einmal schnell darüber hin – schnell! – sonst würden wir fallen – denn hier ist alles Eis und Glätte.

Alle und jede Handlungsweise, welche die Moral fordert, wurde von ihr auf Grund mangelhafter Kenntniß des Menschen und vieler tiefer und schwerer Vorurtheile gefordert: hat man diesen Mangel und diese Erdichtung nachgewiesen, so hat man die moralische Verbindlichkeit für diese und jene Handlungen vernichtet – es ist kein Zweifel! – und zwar schon deshalb, weil die Moral selber vor allem Wahrheit und Redlichkeit fordert und somit sich selber die Schnur um den Hals gelegt hat, mit welcher sie erwürgt werden kann – werden muß: der Selbstmord der Moral ist ihre eigene letzte moralische Forderung! – Immerhin könnte damit die Forderung, daß dies zu thun und jenes zu lassen ist, noch nicht vernichtet sein, nur der moralische Antrieb würde fürderhin fehlen – und nur für den Fall, daß es eben keinen weiteren Antrieb für eine Handlungsweise geben sollte, als diesen, wäre die Forderung selber mit der Moral erdrosselt. Nun melden sich aber die Utilitarier und zeigen auf den Nutzen hin, als Anlaß zur gleichen Forderung – auf den Nutzen als den nöthigen Umweg zum Glücke; die Aesthetiker sodann welche im Namen des Schönen und Hohen oder des guten Geschmacks (was dasselbe ist) die Forderung wiederholen; es erscheinen die Freunde der Erkenntniß und zeigen, daß so und so zu leben die beste Vorbereitung zum Erkennen sei und daß es nicht nur von schlechtem Geschmacke zeugen würde, sondern von Widerspänstigkeit gegen die Weisheit, wenn man anders, im Widerspruch zu jenen ehemaligen Forderungen der Moral, leben wollte. – Und zuletzt strömen die Idealisten aller Grade herbei und zeigen auf das Gebilde hin, das vor ihnen herschwebt: "ach, dies Gebilde zu erreichen, zu umarmen, es wie ein Siegel auf uns eindrücken und fürderhin dies Bild sein – was würden wir nicht alles thun und lassen um dessentwillen! Was ist uns Nutzen und Geschmack und Weisheit, was sind uns Gründe und Grundlosigkeit gegen diese Begier nach unserem ideal, nach diesem meinem Ideale!" – und so stellen sie jene Forderung wieder her, jeder für sich – als Mittel seiner Begier, als Labsal seines Durstes.

15 [16]

Feinere Sinne und einen feineren Geschmack haben, an das Ausgesuchte und Allerbeste wie an die rechte und natürliche Kost gewöhnt sein, eines starken und kühnen Körpers genießen, der zum Wächter und Erhalter und noch mehr zum Werkzeug eines noch stärkeren, kühneren, wagehalsigeren, gefahrsuchenderen Geistes bestimmt ist: wer möchte nicht, daß dies Alles gerade sein Besitz, sein Zustand wäre! Aber er verberge sich nicht: mit diesem Besitz und diesen Zustand ist man das leidensfähigste Geschöpf unter der Sonne, und nur um diesen Preis kauft man die Auszeichnung, auch das glücksfähigste Geschöpf unter der Sonne zu sein! Die Fülle der Arten des Leides fällt wie ein unendlicher Schneewirbel auf einen solchen Menschen, wie ebenfalls an ihm die stärksten Blitze des Schmerzes sich entladen. Allein unter dieser Bedingung, von allen Seiten und bis ins Tiefste hinein dem Schmerze immer offen zu stehen, kann er den feinsten und höchsten Arten des Glücks offen stehen: als das empfindlichste reizbarste gesundeste wechselndste und dauerhafteste Organ der Freude und aller gröberen und feineren Entzückungen in Geist und Sinnen: wenn nämlich die Götter ihn nur ein wenig in Schutz nehmen und nicht aus ihm (wie leider gewöhnlich!) einen Blitzableiter ihres Neides und Spottes auf die Menschheit machen. An solchen Menschen war Athen ein paar Jahrhunderte lang sehr reich, zu anderen Zeiten einmal Florenz, und noch neuerlicher Paris. Und, im Angesichte solcher letzten und höchsten Erzeugnisse der bisherigen Cultur, gilt immer noch der gute Glaube der Aufklärer, daß Glück, mehr Glück die Frucht der wachsenden Aufklärung und Cultur sein werde, und Niemand setzt hinzu: auch Unglück, mehr Unglück, mehr Leidensfähigkeit, vielartigeres und größeres Leid als je! – Warum doch brachen die philosophischen Schulen Athen's im 4. Jahrhundert gerade inmitten der höchsten bisher erreichten Aufklärung und Cultur so mächtig hervor und warum suchten sie, Jede auf ihre Weise, den damaligen Athenern eine harte zum Theil fürchterliche oder mindestens überaus beschwerliche und kümmerliche Lebensweise und als Ziel Schmerzlosigkeit und eine Art von Starrheit aufzureden? Sie hatten die leidensfähigsten Menschen um sich und gehörten zu ihnen – sie verzichteten allesammt auf das Glück im Schooß dieser höchsten Cultur, weil dieses "Glück" nicht ohne die Bremse Schmerz und deren ewige Anstachelung zu haben war! Daß, gut gerechnet, ein der Erkenntniß und dem nil admirari geweihtes Leben selbst unter den härtesten Entbehrungen und Unbequemlichkeiten erträglicher sei als das Leben der Glücklichen Reichen Gesunden Gebildeten Genießenden Bewundernden Bewunderten einer solchen "höchsten Cultur", – mit dieser Paradoxie führte sich die Philosophie in Athen ein und fand im Ganzen doch sehr viel Gläubige und Nachsprecher! und gewiß nicht nur unter den Freunden des Paradoxen! – Man kann die Seltsamkeit dieser Thatsache nicht lange genug ansehen. – – – –

15 [17]

Im Alterthum hatte jeder höhere Mensch die Begierde nach dem Ruhme – das kam daher, daß jeder mit sich die Menschheit anzufangen glaubte und sich genügende Breite und Dauer nur so zu geben wußte, daß er sich in alle Nachwelt hinein dachte, als mitspielenden Tragöden der ewigen Bühne. Mein Stolz dagegen ist "ich habe eine Herkunft" – deshalb brauche ich den Ruhm nicht. In dem, was Zarathustra, Moses, Muhamed Jesus Plato Brutus Spinoza Mirabeau bewegte, lebe ich auch schon, und in manchen Dingen kommt in mir erst reif an's Tageslicht, was embryonisch ein paar Jahrtausende brauchte. Wir sind die ersten Aristokraten in der Geschichte des Geistes – der historische Sinn beginnt erst jetzt.

15 [18]

Vergessen wir nicht: der neue Trieb ist eben neu – noch schwach gebrechlich, oft kindisch, oft schädigend, ohne feinere Wahl, so daß er mitunter die geringeren Naturen befällt und sich vor den großen Naturen scheut: er wirkt oft wie eine Krankheit, ist herb, bitter – was Wunders, daß er falsch beschrieben wird, weil man den Baum aus seinen Früchten nicht zu errathen weiß und das neue Gewächs nach seiner frühsten Gestalt mit bekannten Gewächsen und deren Wirkungen vergleicht: man sagt wohl, es sei ein Giftstrauch.

15 [19]

Ist es nicht ein Grad der Entweihung, wenn der Liebende denkt "nicht eigentlich nach dieser Geliebten verlange ich, sondern nach Liebe" – ist nicht jede Verallgemeinerung des Ziels eine Entweihung? Ja schon dies ist grob und beleidigend "ich verlange nach dieser Geliebten" – sondern die Sprache der Leidenschaft will nur Weniges, nur Einmaliges, nur ein Zeichen und Symbol. Schon alles Ganze als Ziel zu nennen ist Entweihung. Das Ideal muß zu groß als Ganzes sein – du sollst nur einzelne Strahlen abpflücken dürfen.

15 [20]

Zuerst das Nöthige – und dies so schön und vollkommen als du kannst! "Liebe das, was nothwendig ist" – amor fati dies wäre meine Moral, thue ihm alles Gute an und hebe es über seine schreckliche Herkunft hinauf zu dir.

15 [21]

Die beiden größten Gegner des Augenscheins sind Copernicus und Boscovich, beides Polen und beides Geistliche – letzterer erst hat den Stoff-Aberglauben vernichtet, mit der Lehre vom mathematischen Charakter des Atoms

11 [22]

Chamfort – ein Mensch von großem Charakter und tiefem Geiste – aber weder für seinen Charakter noch für seinen Geist ist die Stunde der Wiedererkennung gekommen. Die Tugenden müssen erst immer ein Paar machen – sonst glauben ihnen die Menschen nicht. Mirabeau nannte ihn seinen besten Freund: "Chamfort ist von meinem Schlage an Kopf und Herz."

15 [23]

Die Gebärden des plötzlichen Schreckens sind keineswegs eine Sprache des Schreckens, als ob er sich mittheilen wollte – sondern die nächsten Vorsichtsmaßregeln und deshalb sehr verschieden: ich lernte dies als ein Wagen plötzlich auf mich zu fallen drohte.

15 [24]

Wie verschieden empfindet man das Geschäft und die Arbeit seines Lebens, wenn man damit der Erste in der Familie ist oder schon der Vater und Großvater dasselbe getrieben haben! Es ist viel mehr innere Noth, ein viel plötzlicherer Stolz dabei, aber das gute Gewissen ist dafür noch nicht geschaffen, und wir empfinden etwas als "beliebig" daran.

15 [25]

Die Nesselsucht: jetzt eine Krankheit, scheint mir ursprünglich ein Vertheidigungszustand der Haut zu sein, gegen Insekten und dergleichen, aus der Zeit her, wo der Mensch noch längere und härtere Haare hatte: vielleichte konnte der Mensch diesen Zustand kleiner Hautverhärtungen willkürlich herbeiführen: jetzt ein Atavismus. Bei manchen Menschen entsteht es wenn sie gewisse Früchte z. B. Erdbeeren essen: vielleicht weil die Insekten, gegen die man ehemals so sich schützte, gerade um diese Früchte schwärmten und man das Schutzmittel anwendete, um diese Früchte genießen zu können?

15 [26]

Alle Leidenschaft trübt den Blick 1) für das Objekt 2) für den damit Behafteten. Und nun! Paradoxie! Leidenschaft der Erkenntniß, welche gerade die Erkenntniß erkennen will und ebenso den von der Leidenschaft Befallenen! Unmöglich!!! Ist, die schöne Unmöglichkeit vielleicht ihr letzter Zauber?

15 [27]

Müssen nicht gerade die besten Menschen die bösesten sein? Die, bei denen das Wissen und Gewissen am feinhörigsten und kräftigsten ausgebildet ist, so daß sie alles, was sie thun, als ungerecht empfinden und sich selber als die Immer-bösen, Immer-ungerechten, als die Nothwendig-bösen? Wer sich aber so empfindet, ist es auch!

15 [28]

Wer sich im Gebirge verklettert hat, muß sich vor Allem hüten, die Gefahr seiner Lage nicht für größer zu halten als sie ist!

15 [29]

Im Norden hat man eine Furcht vor den warmen Farben – sie gelten da als gemein, als pöbelhaft. Darin gehöre ich also zum Pöbel – aber im Süden nicht mehr!

15 [30]

Das Erste, was man in einer fremden Sprache zu lernen hat, sind die Höflichkeiten des fremden Landes – das Zweite sind die Namen der Bedürfnisse. Aber erst das Zweite – im schlimmsten Falle kommt man schon mit den Höflichkeiten aus: wer läßt einen Höflichen (dem es nicht an Anstand und Geld fehlt) hungern?

15 [31]

Wenn man die Lotterien verwünscht, so vergißt man gewöhnlich, wie viel Glück und heitere Horizonte die angenehmen Hoffnungen Aller zusammen ausmachen! Und wie viel ärmer ein Volk ohne Lotterien ist – nämlich an angenehmen Empfindungen! Die Enttäuschung ist eine einmalige und wird ziemlich schnell abgeschüttelt – aber wie oft träumt man vom Gewinnste und macht Pläne! Wie mehrt es den Geschmack an Unternehmungen!

15 [32]

Nein, dazu bin ich nicht gemacht, das Gewissen der Menschen noch zu beschweren! Ich will daß sie ihres Glückes mehr Acht haben, "aller der hundert Quellen" selbst in der Wüste! wie ein deutscher Dichter sagt – und daß sie selber von ihrem Unglücke Unvermögen und Untugenden besser denken als bisher – sie nützen damit ebenfalls, und wahrscheinlich sogar liegen da ihre eigenen Lust- und Glücks- und Kraft- und Tugendbedingungen.

15 [33]

Was wir lieben, soll an sich selber keine Flecken finden so will es der Egoismus dieser feinsten Besitzlust, welche Liebe heißt.

Gesetzt, man ist der Liebhaber einer Sängerin, mit was für ängstlichen Ohren hört man da sie vor irgend welchen Zuhörern singen! Man urtheilt fein und überfein, keineswegs voreingenommen, verliebt, verklebt: vielmehr entgeht uns keiner ihrer kleinsten Fehler, kein noch so flüchtiges Ausgleiten oder Ausbleiben; wir wissen, wenn auch die Zuhörer jubeln und klatschen, daß für die Sängerin selber nicht Alles so klang und lief, wie ihr feinstes Gewissen es verlangt hat – und weil wir fühlen, daß ihr selber all ihr kleines und großes Mißlingen bewußt ist, leiden wir unbeschreiblich dabei und sind dankbar und gerührt über alles, was ihr gelungen. So geht es auch mit Meistern einer Kunst, welchen wir Freund sind; um ihretwillen sind wir an ihrem Gelingen erquickt, ja wir geben allen eigenen Geschmack auf, sobald uns ihre Art, sich selber zu schmecken, erst zum Bewußtsein gekommen ist.

15 [34]

Im Grunde ist die Moral gegen die Wissenschaft feindlich gesinnt: schon Sokrates war es, und zwar deshalb, weil sie Dinge für wichtig, nimmt, die mit gut und böse nichts zu thun haben,

folglich dem "Gut und Böse" Gewicht nehmen – die Moral will, daß ihr alle Kraft des Menschen zu Gebote stehe; sie hält es für die Verschwendung eines, der nicht reich genug dazu ist, wenn man sich um Sterne und Pflanzen bekümmert.

15 [35]

Diese griechischen Philosophen der strengen Observanz hatten in sich die Wahl, böse Thiere zu werden oder strenge und freudenarme Thierbändiger: so schon Sokrates. Sie waren klug genug, um zu begreifen, daß wer ein menschliches Raubthier wird, fortwährend sich selber zuerst zerreißt. Aber nun glaubten sie, daß Jedermann so wie sie selber in Gefahr sei, dies Raubthier zu werden – dies ist der große Glaube aller großen Moralisten, ihre Macht und ihr Irrthum! – Der Glaube an die Nähe der furchtbaren Thierheit bei jedem. – Es waren schwerlich schöne Menschen.

15 [36]

Unser Auge und unsre Ästhetik sitzen auch an der Tafel, und viele feine Leckerbissen bleiben uns vorenthalten, weil das Auge sagt "dies sieht abscheulich aus", "diese Linien sind meinem Geschmack fremd". Bei der Auster – und selbst diese ist Vielen etwas Unmögliches – ist es die edle Arbeit der Schale, welche für die ekle schlüpfrige Masse Fürsprache einlegt und gleichsam das Auge bittet, nicht hinzusehn, wenn sie hnuntergeschluckt werden soll. – Vielleicht bleiben uns aus dem gleichen Grunde die besten Frauen vorenthalten, die wahren Leckerbissen an Güte und Kraft der Seele. Ein Paar andere Linien (oder, wie die Physiologen sagen, etwas Fett mehr oder weniger – das

15 [37]

Die Vernunft in der französischen Revolution – das ist die Vernunft Chamforts und Mirabeau's – die Unvernunft daran: das ist die Unvernunft Rousseau's.

15 [38]

Ist dies meine Aufgabe: déniaiser les savants? Sie wußten nicht, was sie thaten und dachten nicht viel daran, aber sie hatten einen albernen Hochmuth bei allem ihrem Thun, als ob in ihnen die Tugend selber zur Welt gekommen sei.

15 [39]

Der Geschmack ist stärker als alle Moral; ich kann nicht neben einem Menschen leben, der fortwährend ausspuckt, oder seine Suppe ißt – lieber wollte ich mit einem Diebe oder Meineidigen zusammen wohnen. Ehemals wurden die Neuerer des Gedankens so peinlich empfunden, als eine Sache wider den Anstand.

15 [40]

Meine Gedanken betreffen zu hohe und ferne Dinge, sie könnten nur wirken, wenn der stärkste persönliche Druck hinzukäme. Vielleicht wird der Glaube an meine Autorität erst durch Jahrhunderte so stark, um die Menschen zu vermögen, ohne Beschämung, das Buch dieser Autorität so streng und ernst zu interpretiren, wie einen alten Classiker (z. B. Aristoteles). – Der Glaube an den Menschen muß wachsen, damit sein Werk nur den nöthigen Grad von entgegenkommender Intelligenz findet: der Glaube also und das Vorurtheil. Deshalb bestand man ehemals so auf "Inspiration": jetzt – – – –

15 [41]

Das Meer nimmt ab, der Mensch das feste Land nimmt immer zu – aber weil er nur sieht, daß sich Alles verändert, so glaubt und fühlt er umgekehrt und meint, seine Unfestigkeit sei im Wachsen und er werde schließlich dem Meere nicht mehr Widerstand leisten können. – Die Langsamkeit der Vorgänge in der Geschichte des Menschen ist nicht dem menschlichen Zeitgefühl angemessen – und die Feinheit und Kleinheit alles Wachsens spottet der menschlichen Sehkraft. Deshalb wird sie immer nur ein Glaubensartikel sein: diese wirkliche Menschengeschichte! und deshalb hat sie so schweren Kampf gegen alle anderen Glaubensartikel, sie kann sich gleichfalls nicht ad oculos demonstriren. – Ja, wider alle unsere "Wahrheiten" spricht der Augenschein und wird dabei leicht zum Advokaten alles Scheins und selbst der Lüge.

15 [42]

Ich dachte mir das mir fürchterlichste Leben aus: das eines Höflings Anwalts Zolleinnehmers Registrators Kassenbeamten Königs Krämers Hausdieners und aller jener, deren Überschuß an Leistung im Warten besteht – Warten, bis jemand kommt und spricht – während es nicht möglich ist sich inzwischen besser zu beschäftigen ("es geht wider die Pflicht") Nun bemerke ich, daß die allermeisten überhaupt beschäftigten Menschen in den großen Städten gerade so beschäftigt sind und sich darauf hin ausbilden – daß also dieses pflichtmäßige Warten ihnen sehr erträglich scheinen muß.

15 [43]

Aus der Ferne und im Auslande sieht man die Dinge der Heimat nicht gerade schwarz oder weiß, aber gewiß nicht so bunt als sie wirklich sind: man vereinfacht die Farben. Als Beispiel einer großen Vereinfachung der Farben gebe ich dies Urtheil: "die Deutschen zerfallen jetzt in Juden und Misojuden: letztere möchten gar zu gerne wirkliche Deutsche sein."

15 [44]

Ist es nicht zum Lachen, daß man noch an ein heiliges unverbrüchliches Gesetz glaubt "du sollst nicht lügen" "du sollst nicht tödten" – in einem Dasein, dessen Charakter die beständige Lüge, das beständige Tödten ist! Welche Blindheit gegen das wirkliche Wesen dieses Daseins muß es hervorgebracht haben, daß man mit jenen Gesetzen allein leben zu können glaubte! Wie viel Blindheit über uns selber! Welches Mißdeuten aller unserer Absichten und Ausführungen! Wie viel pathetische Lüge, wie viel Todtschlag der Ehrlichen – d. h. Vernichtung derer, die böse zu sein und sich zu scheinen wagten – ist dadurch wieder in die Welt gekommen! Die Moralität ist selber nur durch Unmoralität so lange in Kredit geblieben.

15 [45]

Der Luxus ist die Form eines fortwährenden Triumphes – über alle die Armen Zurückgebliebenen Ohnmächtigen Kranken Begehrlichen. Nicht daß man viel von den Dingen des Luxus selber genießt – was hat der Triumphator von den Gold-Rädern und den angeketteten Sklaven seines Wagens! – aber man genießt es, daß der Wagen über Unzählige weg geht und sie drückt oder zerdrückt.

15 [46]

Die Menschheit wäre ausgestorben, wenn der Geschlechtstrieb nicht einen so blinden unvorsichtigen eilfertigen gedankenlosen Charakter hätte. An sich ist ja seine Befriedigung durchaus nicht mit der Fortpflanzung der Gattung verbunden. Wie unsäglich selten ist der coitus die Absicht der Fortpflanzung! – Und ebenso steht es mit der Lust am Kampf und der Rivalität: nur ein Paar Grade Erkältung der Triebe mehr und das Leben steht still! Es ist an eine hohe Temperatur und an eine Siedehitze der Un-Vernunft gebunden.

15 [47]

Man hat gut reden von aller Art Immoralität! Aber sie aushalten können! Z. B. würde ich ein gebrochenes Wort oder gar einen Mord nicht aushalten: langes oder kürzeres Siechthum und Untergang wäre mein Loos! ganz abgesehen vom Bekanntwerden der Unthat und von der Bestrafung derselben.

15 [48]

Sähest du feiner, so würdest du alles bewegt sehen: wie das brennende Papier sich krümmt, so vergeht alles fortwährend und krümmt sich dabei.

15 [49]

Gott war bisher verantwortlich für jedes Lebendige, das entstand – man konnte nicht errathen, was er mit ihm vorhatte; und gerade dann, wenn dem Lebendigen das Zeichen des Leidens und der Gebrechlichkeit eingeprägt war, vermuthete man, daß es schneller als andere Wesen von der Lust am "Leben" und an der "Welt" geheilt werden solle, und dergestalt mit einem Merkmal der Gnade und der Hoffnung gezeichnet sei. Sobald man aber nicht mehr an Gott und an die Bestimmung des Menschen für ein jenseits glaubt, wird der Mensch verantwortlich für alles Lebendige, das leidend entsteht und das zur Unlust am Leben vorherbestimmt ist. "Du sollst nicht tödten" – gehört in eine Ordnung der Dinge, wo ein Gott über Leben und Tod bestimmt.

15 [50]

Freunde, sagte Z<arathustra> das ist eine neue Lehre und herbe Medizin, sie wird euch nicht schmecken. Macht es also, wie es kluge Kranke machen – trinkt sie in einem langen Zuge hinunter und schnell etwas Süßes und Würziges hinterdrein, das euren Gaumen wieder rein spüle und euer Gedächtniß betrüge. Die Wirkung wird trotzdem nicht ausbleiben: denn ihr habt nunmehr "den Teufel im Leibe" – wie euch die Priester sagen werden, welche mir nicht hold sind.

15 [51]

Habt ihr kein Mitleiden mit der Vergangenheit? Seht ihr nicht, wie sie preisgegeben ist und von der Gnade dem Geiste der Billigkeit jedes Geschlechtes wie ein armes Weibchen abhängt? Könnte nicht jeden Augenblick irgend ein großer Unhold kommen, der uns zwänge, sie ganz zu verkennen, der unsre Ohren taub gegen sie machte oder gar uns eine Peitsche in die Hand gäbe, sie zu mißhandeln? Hat sie nicht dasselbe Loos wie die Musik, die beste Musik, die wir haben? Ein neuer böser Orpheus, den jede Stunde gebären könnte, wäre vielleicht im Stande, uns durch seine Töne zu überreden, wir hätten noch gar keine Musik gehabt und das Beste sei, allem, was bisher so hieß, aus dem Wege zu laufen.

15 [52]

„Du kommst zu früh!" – „du kommst zu spät" – das ist das Geschrei, um alle die, welche für immer kommen, sagte Z<arathustra>.

15 [53]

"Gut von den Menschen denken – das begreift sich bei dir! sie verstellen sich in deiner Gegenwart und werden vielleicht sogar besser – genug du lernst sie so kennen, als ob sie Spiegel wären, in denen du selber wiederstrahlst." Auf Reisen! ego.

15 [54]

Du fühlst, daß du Abschied nehmen wirst, bald vielleicht – und die Abendröthe dieses Gefühls leuchtet in dein Glück hinein. Achte auf dieses Zeugniß: es bedeutet, daß du das Leben, und dich selber liebst und zwar das Leben, so wie es bisher dich getroffen und dich gestaltet hat – und daß du nach Verewigung desselben trachtest. non alia sed haec vita sempiterna!

Wisse aber auch! – daß die Vergänglichkeit ihr kurzes Lied immer wieder singt und daß man im Hören der ersten Strophe vor Sehnsucht fast stirbt, beim Gedanken, es möchte für immer vorbei sein.

15 [55]

Ich glaube, man verkennt den Stoicismus. Das Wesentliche dieser Gemüthsart – das ist er, schon bevor die Philosophie ihn sich erobert hat – ist das Verhalten gegen den Schmerz und die Unlust-Vorstellungen: eine gewisse Schwere Druckkraft und Trägheit wird auf das äußerste gesteigert, um den Schmerz wenig zu empfinden: Starrheit und Kälte sind der Kunstgriff, Anaesthetika also. Hauptabsicht der stoischen Erziehung, die leichte Erregbarkeit zu vernichten, die Zahl der Gegenstände, die überhaupt bewegen dürfen, immer mehr einschränken, Glauben an die Verächtlichkeit und den geringen Werth der meisten Dinge, welche erregen, Haß und Feindschaft gegen die Erregung, die Passion selber als ob sie eine Krankheit oder etwas Unwürdiges sei: Augenmerk auf alle häßlichen und peinlichen Offenbarungen der Leidenschaft – in summa: Versteinerung als Gegenmittel gegen das Leiden, und alle hohen Namen des Göttlichen der Tugend fürderhin der Statue beilegen. Was ist es, eine Statue im Winter umarmen, wenn man gegen Kälte stumpf geworden ist? – was ist es, wenn die Statue die Statue umarmt! Erreicht der Stoiker die Beschaffenheit, welche er haben will – meistens bringt er sie mit und wählt deshalb diese Philosophie! – so hat er die Druckkraft einer Binde, welche Unempfindlichkeit hervorbringt. – Diese Denkweise ist mir sehr zuwider: sie unterschätzt den Werth des Schmerzes (er ist so nützlich und förderlich als die Lust), den Werth der Erregung und Leidenschaft, er ist endlich gezwungen, zu sagen: alles wie es kommt, ist mir recht, ich will nichts anders – er beseitigt keinen Nothstand mehr, weil er die Empfindung für Nothstände getödtet hat. Dies drückt er religiös aus, als volle Übereinstimmung mit allen Handlungen der Gottheit (z. B. bei Epictet).

15 [56]

ich berühre kaum noch die äußersten Spitzen der Wellen – das Dasein, in dem ich schwimmen sollte, ist wie außer mir und ich fühle mit einem Schauder der Wonne seine spielende Haut: bin ich zum fliegenden Fisch geworden? –

15 [57]

Als ich eben aufblickte, glaubte ich, schnell wie ein Blitz, neben meinem Tische einen bleichen Menschen, tief gebückt zu sehen: im nächsten Moment, wo das Auge schärfer dies Objekt fassen wollte, sehe ich ein paar Schritte weiter von dem Tische eine Katze: deren Farben hatte meine Phantasie benutzt und ebenfalls eine andere Perspektive vorausgesetzt. In einem lebhaften Gespräch sehe ich das Gesicht der Person oftmals mit der äußersten Deutlichkeit und voll des feinsten Muskelspiels und Augen-Ausdrucks, je nach den Gedanken, die sie äußert oder die ich bei ihr hervorzurufen glaube: mein wirkliches Sehvermögen kann diese Feinheiten nicht sehen und muß also eine Erdichtung sein. Wahrscheinlich macht die Person ein ganz anderes Gesicht oder gar keines. –

15 [58]

Mir ist nie einen Augenblick der Gedanke gekommen, daß etwas von mir Geschriebenes nach ein paar Jahren einfach todt sei und somit einen Erfolg in der Bälde haben müsse, wenn es einen Erfolg haben wolle. Ohne je den Gedanken der gloria gehabt zu haben, ist mir nie der Zweifel aufgestiegen, daß diese Schriften länger leben als ich. Dachte ich je an Leser, so immer nur an verstreute, über Jahrhunderte hin ausgesäete Einzelne: und mir geht es nicht so wie dem Sänger, dem erst ein volles Haus die Stimme geschmeidig, das Auge ausdrucksvoll, die Hand gesprächig macht.

15 [59]

Was die Praxis betrifft: so betrachte ich die einzelnen moralischen Schulen als Stätten des Experiments, wo eine Anzahl von Kunstgriffen der Lebensklugheit gründlich geübt und zu Ende gedacht wurden: die Resultate aller dieser Schulen und aller ihrer Erfahrungen gehören uns, wir nehmen einen stoischen Kunstgriff deshalb nicht weniger gern an, weil wir schon epikureische uns zu eigen gemacht haben. Jene Einseitigkeit der Schulen war sehr nützlich, ja sie war für die Feststellung dieser Experimente unentbehrlich. Der Stoicism z. B. zeigte, daß der Mensch sich willkürlich eine härtere Haut und gleichsam eine Art Nesselsucht zu geben vermöge: von ihm lernte ich mitten in der Noth und im Sturm sagen: "was liegt daran?" "was liegt an mir?" Vom Epikureism nahm ich die Bereitwilligkeit zum Genießen und das Auge dafür, wo alles uns die Natur den Tisch gedeckt hat.

15 [60]

Dazu sehe ich schlecht und meine Phantasie ist (im Traum und im Wachen) an Manches gewöhnt und hält manches für möglich, was Anderen nicht immer bereit sein würde. – Ich fliege im Traum, ich weiß, daß es mein Vorrecht ist, ich erinnere mich darin nicht eines Zustandes, wo ich nicht zu fliegen vermöchte. Jede Art von Bogen und Winkeln mit einem leichten Impuls auszuführen, eine fliegende Mathematik – das ist ein so eignes Glück, daß es gewiß bei mir die Grundempfindung des Glücks auf die Dauer durchtränkt hat. Wenn es mir ganz wohl zu Muthe werden will, bin ich immer in einem solchen freien Schweben, nach Oben nach Unten willkürlich, ohne Spannung das Eine und ohne Herablassung und Erniedrigung das Andere. "Aufschwung" – so wie Viele dies beschreiben ist mir zu muskelhaft und gewaltsam. – Ich verstehe die Korybanten und selbst das dionysische Wesen am besten als Versuche von ungeflügelten Thieren, sich Flügel einzubilden und sich über die Erde zu heben. Lärm gewaltsamster Bewegung wie en ungeheures Flügelschlagen – es wirkt zuletzt fast als ob sie in der Höhe wären.

15 [61]

Überall, wo ein Hof gemacht wird, halte ich es nicht <aus>: wozu bunt wie ein Flamingo stundenlang im flachen Wasser stehen! Alle Höflinge betrachten das Sitzen als ein Glück des "Lebens nach dem Tode".

15 [62]

Mit Einem Klange mitleidig spöttisch und verführerisch zu sein – verstehen nur die Frauen.

15 [63]

Im kleinen und erbärmlichen Leben klingen trotzdem die Akkorde des großen Lebens vergangener Menschen hindurch: jede Werthschätzung hat in großen Bewegungen einzelner Seelen ihre Herkunft.

15 [64]

Und wie ein Liebhaber spricht: ihre Kälte macht meine Erinnerungen erstarren: habe ich jemals dies Herz an mir glühen und klopfen gefühlt? – so – – –

15 [65]

Vielleicht muß man jetzt bei den Kaufleuten die Eigenschaften suchen, die ehedem die Menschen groß machten – ungestümen Ehrsinn Unternehmungsgeist usw. auch den Corporationsgeist.

15 [66]

Jüdisch ist im Ganzen die Moralität Europas – eine tiefe Fremdheit trennt uns immer noch von den Griechen. Aber die Juden haben ebenso sehr als sie den Menschen verachteten und als böse und verächtlich zugleich empfanden, ihren Gott reiner und ferner als irgend ein Volk gestaltet: sie nährten ihn mit all dem Guten und Hohen, was in der Brust des Menschen wächst – und diese seltsamste aller Aufopferungen hat allmählich eine Kluft zwischen Gott und Mensch entstehen lassen, die furchtbar empfunden wurde. Nur bei Juden war es möglich, ja nothwendig, daß sich endlich ein Wesen in diese Kluft hineinwarf – und wieder mußte es "der Gott" sein, der dies that, dem man allein etwas Hohes zutraute: jener Mensch selber, welcher sich als Mittler fühlte, mußte sich erst als Gott fühlen, um diese Mittler-Aufgabe sich zu stellen. Wo die Kluft weniger groß war, da konnte auch wohl ein Mensch ohne völlig übermenschlich zu sein, sondern als Heros dazwischen treten und das Wohlgefühl verbreiten, welches vielleicht das höchste der älteren Menschheit war: Einklang und Übergang von Gott zu Mensch zu sehen.

15 [67]

Warum überkommt mich fast in regelmäßigen Zeiträumen ein solches Verlangen nach Gil Blas und wiederum nach den Novellen Mérimées? Hat mich nicht Carmen mehr bezaubert als irgend eine Oper, in der mir diese geliebte Welt (die ich im Grunde nur auf halbe Jahre verlasse) wiederklingt?

15 [68]

Hinter jeder Tragödie steckt etwas Witziges und Widersinniges, eine Lust am Paradoxon, z. B. das Schlußwort der letzten tragischen Oper: "ja ich habe sie getödtet, meine Carmen, meine angebetete Carmen!" Diese Art von Pfeffer fehlt dem Epos ganz – es ist unschuldiger und wendet sich an kindlichere und plumpere Geister, denen alles Saure Bittre und Scharfe noch widersteht. Tragödie ist ein Vorzeichen, daß ein Volk witzig werden will, – daß der esprit seinen Einzug halten möchte.

15 [69]

"Nützen, nützlich": dabei denkt jetzt jeder an Klugheit Vorsicht Kälte Mäßigung usw., kurz an Seelenzustände, die dem Affekt entgegengesetzt sind. Trotzdem muß es ungeheure Zeiten gegeben haben, wo der Mensch das ihm Nützliche nur unter der Anregung der Affekte that und wo ihm die Klugheit und Vernunftkälte noch überhaupt fehlte. Damals redete das höchste utile noch die Sprache der Leidenschaft, der Verrücktheit, des Schreckens: ohne eine so gewaltige Beredsamkeit war es nicht möglich, den Menschen zu etwas "Nützlichem" – d. h. zu einem Umweg des "Angenehmen" d. h. zu einem zeitweiligen Vorziehen des Unangenehmen – zu bestimmen. Die Moral war damals noch nicht die Eingebung der Klugheit – man mußte gleichsam die Vernunft und gewöhnliche Art zu wollen für eine Zeit verlernen, um in diesem Sinne etwas Moralisches zu thun.

15 [70]

Ich will meine Heraldik und ein Wissen um den ganzen adeligen Stammbaum meines Geistes haben – erst die Historie giebt ihn. Ohne dieselbe sind wir Alle Eintagsfliegen und Pöbel: unsere Erinnerung geht bis zum Großvater – bei ihm hört die Zeit auf.

15 [71]

"Wer mit 40 Jahren nicht Misanthrop ist, der hat die Menschen nie geliebt", pflegte Chamfort zu sagen.

15 [72]

Balzac: pour moraliser en littérature, le procédé a toujours été de montrer la plaie.-

 

 

[Dokument: Manuskript]

[Dezember 1881 – Januar 1882]

16 [1]

Fortsetzung der "Morgenröthe".

Genova, Januar 1882.

16 [2]

Man ist erst dann genesen, wenn man Arzt und Krankheit vergessen hat.

16 [3]

Ich will nur Eine Gleichheit: die, welche die äußerste Gefahr und der Pulverdampf um uns giebt. Da haben wir Alle Einen Rang! Da können wir Alle miteinander lustig sein!

16 [4]

Ihr beklagt euch darüber, daß ich schreiende Farben gebrauche? Nun, ich nehme die Farben aus der Natur – was kann ich für die Natur! – Aber ihr sagt, es sei dies meine Natur und nicht die eure und die aller Welt! Und ihr habt vielleicht Recht: vielleicht habe ich eine Natur, welche schreit – "wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser." Wäret ihr selber dieses frische Wasser, wie gefällig würde euch meine Stimme klingen! Aber ihr seid verdrießlich darüber, mir nicht von meinem Durste helfen zu können – und ihr möchtet vielleicht mir so gerne helfen? – –

16 [5]

Bin ich denn ein Forscher? Ich bin nur schwer – ich falle, falle, immerfort – bis ich auf den Grund komme.

16 [6]

Unsere Tugenden müssen gleich den Versen Homer's kommen und gehen.

16 [7]

Jene haben nöthig, Nacht zu machen, um ihr Licht leuchten zu lassen – was hätte ich mit ihnen zu thun, der ich nicht zum Nachtlicht tauge? Ja, ich leugne öfter als gut ist die Nacht, wo sie nicht erst zu machen ist.

16 [8]

Die würdigste Vorstellung von den Göttern hatten die Epicureer. Wie könnte das Unbedingte irgend etwas mit dem Bedingten zu schaffen haben? Wie könnte es dessen Ursache oder dessen Gesetz oder dessen Gerechtigkeit oder dessen Liebe und Vorsehung sein! "Wenn es Götter giebt, so kümmern sie sich nicht um uns" – dies ist der einzige wahre Satz aller Religions-Philosophie.

16 [9]

"Aber wohin fließen denn zuletzt alle Flüsse des Großen und Größten am Menschen? Giebt es für sie allein keinen Ozean?" – Sei dieser Ozean: so giebt es einen.

16 [10]

Wenn man über jemand hinweg steigt, so ist es schwer, ihm dabei nicht zu hart zu erscheinen. Niemand wird dir das Recht einräumen, in ihm nichts als eine Stufe zu sehen. – Aber du mußt die ganze Treppe hinauf!

16 [11]

Recept wider die Medizin. – "Das sind lauter neue Lehren und lauter neue Medizinen – sagt ihr mir; das will uns nicht schmecken!" Nun, macht es nur so, wie es alle klugen Kranken machen – trinkt den Trank in einem langen Zuge hinunter und dann schnell noch etwas Süßes und Würziges hinterdrein, das euch den Gaumen wieder rein spüle und euer Gedächtniß betrüge! Die "Wirkung" wird trotzdem nicht ausbleiben – dessen seid versichert! Denn ihr habt nunmehr "den Teufel im Leibe", wie alle alten Medizinmänner euch sagen werden.

16 [12]

Egoismus! Wenn wir uns nicht zu allererst und fortwährend um uns selber drehten, wir hielten es nicht aus, irgend einer Sonne nachzulaufen!

16 [13]

Man hat ein feines Ohr für Kettengeklirr, wenn man jemals eine Kette getragen hat.

16 [14]

Wer Ruhm haben will, muß sich bei Zeiten darauf einüben, ohne Ehre leben zu können.

16 [15]

Vorwärts! Sobald ich hier Halt machen wollte, würde ich glauben, ich hätte mich verstiegen – ich habe keinen Gewinn dabei, stehen zu bleiben, aber die furchtbare Möglichkeit, daß der Schwindel mich packt. Vorwärts also!

16 [16]

Nachwirkung der ältesten Religiosität. – Wir glauben alle steif und fest an Ursache und Wirkung; und manche Philosophen nennen diesen Glauben wegen seiner Steif- und Festigkeit eine "Erkenntniß a priori" – zweifelnd und erwägend, ob nicht hier vielleicht eine Erkenntniß und Weisheit übermenschlicher Herkunft anzunehmen sei: jedenfalls finden sie den Menschen in diesem Punkte unbegreiflich-weise. Nun scheint mir aber die Herkunft dieses unbezwinglichen Glaubens ziemlich durchsichtig und eher ein Gegenstand zum Lachen als zum Stolz-thun. Der Mensch meint, wenn er etwas thut, zum Beispiel einen Schlag ausführt, er sei es, der da schlage, und er habe geschlagen weil er schlagen wollte, kurz, sein Wille sei die Ursache. Er merkt gar nichts von einem Problem daran, sondern das Gefühl des Willens genügt ihm, um die Verknüpfung von Ursache und Wirkung sich verständlich zu machen. Von dem Mechanismus des Geschehens und der hundertfältigen feinen Arbeit, die abgethan werden muß, damit es zu dem Schlage kommt, ebenso von der Unfähigkeit des Willens an sich, auch nur den geringsten Theil dieser Arbeit zu thun, weiß er nichts. Der Wille ist ihm eine magisch wirkende Kraft: der Glaube an den Willen als an die Ursache von Wirkungen ist der Glaube an magisch wirkende Kräfte, an den unmittelbaren Einfluß von Gedanken auf unbewegte oder bewegte Stoffe. Nun hat ursprünglich der Mensch überall, wo er ein Geschehen sah, einen Willen als Ursache gedacht, kurz: persönlich wollende Wesen im Hintergrunde wirkend geglaubt – der Begriff der Mechanik liegt ihm ganz ferne. Weil aber der Mensch ungeheure Zeiten lang nur an Personen geglaubt hat (und nicht an Stoffe, Kräfte, Sachen usw.), ist ihm der Glaube an Ursache und Wirkung zum Grundglauben geworden, den er überall, wo etwas geschieht, anwendet – auch jetzt noch, instinktiv und als ein Stück Atavismus ältester Abkunft. Die Sätze "keine Wirkung ohne Ursache", "jede Wirkung wieder Ursache" erscheinen als Verallgemeinerungen viel engerer Sätze: "wo gewirkt wird, da ist gewollt worden" "es kann nur auf wollende Wesen gewirkt werden" "es giebt nie ein reines folgenloses Erleiden einer Wirkung, sondern alles Erleiden ist eine Erregung des Willens" (zur That, Abwehr, Rache, Vergeltung) – aber in den Urzeiten der Menschheit waren diese und jene Sätze identisch, die ersten nicht Verallgemeinerungen der zweiten, sondern die zweiten Erläuterungen der ersten: alle auf der Grundlage des Gedankens "Natur ist eine Summe von Personen." Wäre hingegen der Menschheit die ganze Natur von vornherein als etwas Unpersönliches, folglich Nicht-Wollendes vorgekommen, so würde sich der umgekehrte Glaube – des fieri e nihilo, der Wirkung ohne Ursache – gebildet haben: und vielleicht hätte er dann den Ruf übermenschlicher Weisheit. – jene "Erkenntniß a priori" ist also keine Erkenntniß, sondern eine eingefleischte Urmythologie aus der Zeit der tiefsten Unkenntniß!

16 [17]

A: "Die Art, wie er mich öffentlich mißversteht, beweist mir, daß er mich nur gar zu gut verstanden hat." – B: " Nimm es von der besten Seite! Du bist bei ihm gewaltig in der Achtung gestiegen; er hält es bereits nöthig, dich zu verleumden."

16 [18]

Wer den Fleiß seines Vaters erheblich überbieten will, wird krank; und ebenso steht es mit allen Tugenden – unsere Aufgabe ist immer, eine Tugend auf der Höhe, in der sie uns vererbt ist, zu erhalten, denn in dieser Höhe gehört sie zu unserer Gesundheit: sie zu steigern – – –

16 [19]

Nachkommen haben – das erst macht den Menschen stätig, zusammenhängend und fähig, Verzicht zu leisten: es ist die beste Erziehung. Die Eltern sind es immer, welche durch die Kinder erzogen werden, und zwar durch die Kinder in jedem Sinne, auch im geistigsten. Unsere Werke und Schüler erst geben dem Schiffe unseres Lebens den Compaß und die große Richtung.

16 [20]

"Die besten Dinge sind ihm unschmackhaft geworden!" –

Nun, dagegen giebt es ein Heilmittel: er sollte einmal eine Kröte verschlucken!

16 [21]

Was geschah mir gestern an dieser Stelle? Ich war noch nie so glücklich, und die Fluth des Daseins warf mir mit den höchsten Wellen des Glückes ihre kostbarste Muschel zu, die purpurne Schwermuth. Wozu war ich nicht bereit! Welcher Gefahr hätte ich nicht getrotzt! Erschien mir nicht der Raum zu eng – – –

16 [22]

"Ja! Ich will nur das noch lieben, was nothwendig ist! Ja! Amor fati sei meine letzte Liebe!" – Vielleicht treibst du es so weit: aber vorher wirst du erst noch der Liebhaber der Furien sein müssen: ich gestehe, mich würden die Schlangen irre machen. – "Was weißt du von den Furien! Furien – das ist nur ein böses Wort für die Grazien." – Er ist toll! –

16 [23]

Ihr Selbsteigenen! Ihr Selbstherrlichen! Jene Alle, deren Wesen die Zugehörigkeit ist, jene Ungezählten Unzähligen arbeiten nur für euch, wie es auch dem Oberflächlichen anders erscheinen möge! Jene Fürsten Kaufleute Beamte Ackerbauer Soldaten, die sich vielleicht über euch hinaus glauben – sie Alle sind Sklaven und arbeiten mit einer ewigen Nothwendigkeit nicht für sich selber: niemals gab es Sklaven ohne Herren – und ihr werdet immer diese Herren sein, für die da gearbeitet wird: ein späteres Jahrhundert wird schon das Auge für dieses Schauspiel haben! Laßt jenen doch ihre Ansichten und Einbildungen, mit denen sie ihre Sklaven-Arbeit vor sich selber rechtfertigen und verhehlen – kämpft nicht gegen Meinungen, welche eine Barmherzigkeit für Sklaven sind! Aber haltet immer fest, daß diese ungeheure Bemühung, dieser Schweiß Staub und Arbeitslärm der Civilisation für die da sind, die dies Alles zu benutzen wissen, ohne mit zu arbeiten: daß es Überschüssige geben muß, welche mit der allgemeinen Überarbeit erhalten werden, und daß die Überschüssigen der Sinn und die Apologie des ganzen Treibens sind! So seid denn die Müller und laßt von diesen Bächen euch die Räder umdrehen! Und beunruhigt euch nicht über ihre Kämpfe und das wilde Tosen dieser Wasserstürze! Was für Staats- und Gesellschaftsformen sich auch ergeben mögen, alle werden ewig nur Formen der Sklaverei sein – und unter allen Formen werdet ihr die Herrschenden sein, weil ihr allein euch selber gehört, und jene immer Zubehöre sein müssen!

 

 

[Dokument: Emerson Essays]

[Exzerpte aus Emersons "Essays". Anfang 1882]

17 [1]

In jeder Handlung ist die abgekürzte Geschichte alles Werdens. ego.

17 [2]

Ich höre wohl die Lobpreisungen der Welt, aber sie sind nicht für mich: ich höre in ihnen nur das meinem Ohre viel lieblicher tönende Lob des Charakters, dem ich nachstrebe, und das ich in jedem Wort, in jedem Faktum vernehme – im dahineilenden Flusse und im wogenden Korne.

17 [3]

Das, was ich heute thue, hat eine so tiefe Bedeutung als irgend etwas Vergangenes.

17 [4]

Ich will die ganze Geschichte in eigner Person durchleben und alle Macht und Gewalt mir zu eigen machen, mich weder vor Königen noch irgend einer Größe beugen.

17 [5]

Der schaffende Instinkt der Seele zeigt sich in dem Nutzen, den wir aus der Geschichte zu ziehn wissen: es giebt nur Biographie. Jeder Mensch muß seine ganze Aufgabe erkennen. – Dieses planlose rohe widersinnige Dort und Damals soll verschwinden und an seine Stelle das Jetzt und Hier treten.

17 [6]

Aus den Resten unserer Thierheit sich seinen kostbarsten Schmuck machen: wie der Isis nichts als die mondförmigen Hörner von ihrer Verwandlung geblieben sind.

17 [7]

Wer kann einen Baum zeichnen, ohne Baum zu werden!

17 [8]

Der Künstler hat die Macht, die in anderen Seelen schlummernde Thatkraft zu erwecken.

17 [9]

Das wahre Gedicht ist des Dichters Seele: da liegt der genügende Beweisgrund für die letzte Verzierung selbst. St. Peter ist eine lahme Copie.

17 [10]

Die Genien im Walde warten, bis der Wanderer vorüber ist.

17 [11]

Wenn das Auge durch die Natur schon an ungeheure Dimensionen gewöhnt ist, kann die Kunst keinen kleineren Maßstab anlegen, ohne sich selber zu degradiren. ( Höhlen – )

17 [12]

Bei einem durch einen Fichtenwald gehauenen Weg der Dome gedenken: der Wald hat einen überwältigenden Einfluß auf den Erbauer geübt.

17 [13]

Das geistige Nomadenthum ist die Gabe der Objektivität oder die Gabe überall Augenweide zu finden. Jeder Mensch, jedes Ding ist mein Fund, mein Eigenthum: die Liebe, die ihn für Alles beseelt, glättet seine Stirn.

17 [14]

Es muß meinem Auge unmöglich sein, mit schielenden Blicken hin und dahin zu sehen: sondern immer muß ich den ganzen Kopf mit drehen – so ist es vornehm.

17 [15]

Weder der Dichter noch der Held können auf das Wort oder die Gebärde eines Kindes von oben herab sehen. Ein kindliches Wesen neben angeborener Energie. Ein Wesen, das so wenig seine Drangsaale achtet, ganz versunken, ein hoher Almosen-Empfänger, im Namen Gottes bittend.

17 [16]

Zur Verehrung verpflichtet sein ist ihm drückend, er möchte dem Schöpfer das Licht stehlen und getrennt von ihm leben.

17 [17]

Wenn ein Gott zu den Menschen kommt, so kennen sie ihn nicht.

17 [18]

Es ist viel, zu antworten, wenn ein solches Räthsel aufgegeben wird: und es ist viel, zu glauben, solch ein Räthsel gelöst zu haben. Schon bei dem Muthe der Antwort auf das Räthsel des Lebens stürzt sich die Sphinx hinab (ego).

17 [19]

Er soll ein Tempel des Ruhms sein, er soll einhergehen, in einem Gewande, das ganz und gar mit Malereien wunderbarer Begebenheiten und Erfahrungen bedeckt.

17 [20]

Deinem eignen Gedanken Glauben schenken – glauben, daß was für dich in deinem innersten Herzen wahr ist, auch für alle Menschen wahr sei: das ist Genie.

17 [21]

In jedem Werke des Genies erkennen wir unsere eignen verstoßenen Gedanken wieder: sie kommen zurück zu uns mit einer gewissen entfremdenden Majestät.

17 [22]

Es giebt eine Zeit in der Entwicklung jedes Menschen, wo er zur Überzeugung gelangt, daß Neid nur Unwissenheit, Nachahmung Meuchelmord ist: daß obgleich das weite All voll des Guten ist, ihm auch kein Samenkörnchen zukommen kann, als durch seine Mühe, die er auf das Stück Land verwendet.

17 [23]

Wir drücken uns meist nur halb aus und schämen uns des göttlichen Gedankens, der durch uns repräsentirt wird. – Man muß sein ganzes Herz der Arbeit hingegeben haben: im bloßen Versuch verläßt uns unser Genie; keine Muse, keine Hoffnung steht uns bei.

17 [24]

Den uneinigen, mißtrauischen Geist, die hohe Kunstfertigkeit, auszurechnen, was der Festigkeit und den Mitteln zu unserem Vorhaben entgegen stehen könnte: den haben die Kinder nicht; sieht man in ein Kinderangesicht, so wird man verlegen. Sie kehren sich an nichts, alles richtet sich nach ihnen; ihnen machen die Folgen oder die Interessen Anderer niemals Kummer: sie geben ein eigenmächtiges unverfälschtes Verdikt. Sie suchen nicht dir zu gefallen: du mußt ihnen den Hof machen.

17 [25]

Immer wieder von Neuem aus demselben unbestechlichen, unerschrockenen Standpunkte der Unschuld aus seine Wahrnehmungen machen – das ist furchterregend: die Macht solcher unsterblichen Jugend wird gefühlt.

17 [26]

Kein Gesetz kann mir geheiligt sein als das meiner Natur. Einzig recht ist das, was mir naturgemäß ist, und allein unrecht, was gegen meine Natur ist.

17 [27]

Daß ich allein an das denke, was mir als mein Rechtes erscheint, aber nicht an das, was die Leute dazu denken – bezeichnet den Unterschied zwischen Erhabenheit und Niedrigkeit. Dies ist um so härter, weil du solche, die deine Pflicht besser zu kennen glauben als du selbst, überall finden wirst.

Groß ist der, der mitten im Gewühl der Welt mit vollkommener Klarheit die Freiheit, die uns die Einsamkeit gewährt, festhält.

17 [28]

Wenn die Armen und die Unwissenden mit erregt werden, wenn die unverständige thierische Masse knurrt und das Gesicht verzerrt – da bedarf es großer Seele, um dies auf göttliche Weise und als Kleinigkeit bei Seite zu schieben. NB.

17 [29]

Der Mensch kann seiner Natur nicht Gewalt anthun: der Charakter, vorwärts, rückwärts, kreuzweise gelesen, sagt mir dasselbe. Was sind die höchsten Gebirge gemessen an der gesammten Erdkugel!

17 [30]

Charakterstärke tritt von selber ein: die vergangenen Tage voll Tugend übertragen ihr geistiges Wohlsein auf dich. Durch das Bewußtsein einer großen Reihe von Siegen kommt das majestätische Wesen des Helden.

17 [31]

Ehre ist deswegen etwas so Achtungswerthes, weil es nichts von heute ist: es ist immer eine alte Tugend.

17 [32]

Der rechte Mann ist der Mittelpunkt der Dinge: er nimmt von der ganzen Schöpfung Besitz, er erinnert an keinen Anderen, alle Umstände werden von ihm in Schatten gestellt, er bedarf unendlichen Raum, Zahlen und Zeit, um seine Gedanken auszuführen: – die Nachwelt folgt wie eine Prozession seinen Schritten.

17 [33]

Die Handlungen der Könige haben die Welt unterrichtet: sie handeln aus einem weiten Gesichtspunkt: sie lehren durch kolossale Symbolik, welche Achtung ein Mensch dem Menschen schuldet. Es gab immer freudige Anhänglichkeit an den, der sich nach selbstgeschaffenen Gesetzen bewegte, sich seine Werthtafel von Menschen und Dingen machte und die vorhandene umstieß und das Gesetz in seiner Person darstellte.

17 [34]

Die Geschichte ist eine Ungereimtheit und Injurie, wenn sie mehr sein will als eine erheiternde Erzählung und Parabel meines Seins und Werdens. – Mit rückgewandtem Auge bejammert er die Vergangenheit oder steht auf den Spitzen der Zehen, etwas von der Zukunft zu erspähen. Aber er sollte mit der Natur in der Gegenwart leben, erhaben über die Zeit.

17 [35]

Tugend ist innere Stärke: ein Mensch, der zur schöpferischen Urkraft durchdringt, überwältigt nach dem Gesetz der Natur alle Städte Völker Könige, die Reichen und die Dichter.

17 [36]

Was wir lieben, das ist unser: aber durch das Verlangen darnach berauben wir uns desselben.

17 [37]

Die Macht, die die Menschen besitzen, mir Verdruß zu machen gebe ich ihnen selber. Laß dich nicht so tief hinab, behaupte deine Würde; laß dich nicht einen Augenblick auf ihre Zustände auf ihr Geschrei ein: laß das Licht deines inwendigen Gesetzes in die Verwirrung dringen.

17 [38]

Es verlangt ein gottähnliches Wesen von dem, der sich von den gewöhnlichen Motiven der Humanität los gemacht hat. Hochherzigkeit Willenstreue und ein klarer Verstand: das müssen seine Eigenschaften sein, wenn er sich selber Lehre Gesellschaft und Gesetz sein will: so daß ein einfacher Vorsatz bei ihm ebenso viel ist wie bei Anderen die eiserne Nothwendigkeit. p. 57.

17 [39]

Unser Haushalt ist bettelarm; unsre Kunst, unsre Beschäftigungen, unsre Heirathen – wir haben sie nicht gewählt, sondern die Gesellschaft hat für uns gewählt. Den stürmischen Kampf mit dem Schicksal, wo unsre innere Kraft geboren wird, den scheuen wir.

 

 

[Dokument: Mappe mit losen Blättern]

[Februar – März 1882]

500 Aufschriften

auf Tisch und Wand

für Narrn

von

Narrenhand.

18 [1]

Wer stolz ist, haßt sogar das Pferd,

Das seinen Wagen vorwärts fährt.

18 [2]

Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen

Und doch leicht zu verdrehn zumal auf Reisen.

Geduld und Takt muss reichlich man besitzen

Und feine Fingerchen, uns zu benuetzen.

18 [3]

Her rollte Gold hier spielte ich mit Golde –

In Wahrheit spielte Gold mit mir – ich rollte!

18 [4]

Die Dichter hatten ehedem einen andern Begriff von Eigenthum: das Gedächtniss war die Mutter aller Musen. Das Neue galt als Inspiration. Man fühlte sich wenig verantwortlich.

18 [5]

Emerson sagt mir nach dem Herzen: Dem Poeten dem Philosophen wie dem Heiligen sind alle Dinge befreundet und geweiht, alle Ereignisse nützlich, alle Tage heilig, alle Menschen göttlich.

18 [6]

Aus dem Paradiese.

"Gut und Böse sind die Vorurtheile

Gottes" – sprach die Schlange und floh in Eile.

18 [7]

So wie jeder Sieger spricht,

Sprichst du: "Zufall giebt es nicht."

Gestern sprachst du also nicht,

Niemand weiß was ihm geschicht.

 

 

[Dokument: Manuskript]

[Frühjahr 1882]

19 [1]

Zwei kategorische Imperative. – Gewiß! Man muß ein Knochengerüst haben – sonst hat das liebe Fleisch keinen Halt! Aber ihr Herrn ohne Fleisch, ihr Knochengerippe der Stoa, eure Predigt sollte lauten: "man muß auch Fleisch an den Knochen haben!"

19 [2]

"Dies habe ich zu hoch geschätzt und zu theuer bezahlt – wie so Vieles! ich wähnte zu bezahlen und ich beschenkte. Ich bin arm geworden, weil ich an einige Dinge geglaubt habe, als seien sie überaus schätzenswerth – ach, und so wie ich bin, werde ich immer noch ärmer werden!"

19 [3]

Omnia naturalia affirmanti sunt indifferentia, neganti vero vel abstinenti aut mala aut bona.

19 [4]

Seine Gesellschaft zu finden wissen.

Mit Witzbolden ist gut zu witzeln:

Wer kitzeln will ist leicht zu kitzeln.

19 [5]

Aus der Tonne des Diogenes.

"Nothdurft ist wohlfeil, Glück ist ohne Preis:

Drum sitz' ich statt auf Gold auf meinem Steiß."

19 [6]

Timon spricht:

"Nicht zu freigebig: nur Hunde

scheißen zu jeder Stunde!"

19 [7]

Schlußreim.

Eine ernste Kunst ist Lachen

Soll ich's morgen besser machen,

Sagt mir: macht' ich's heute gut?

Kam der Funke stets vom Herzen?

Wenig taugt der Kopf zum Scherzen,

Glüht im Herzen nicht die Gluth.

Wagt's mit meiner Kost, ihr Esser!

Morgen schmeckt sie euch schon besser,

Und schon übermorgen – gut!

Wollt ihr dann noch mehr, so machen

Meine alten sieben Sachen

Mir zu sieben neuen Muth.

19 [8]

Lebensregeln.

Das Leben gern zu leben

Mußt du darüber stehn!

Drum lerne dich erheben!

Drum lerne – abwärts sehn!

Den edelsten der Triebe

Veredle mit Bedachtung:

Zu jedem Kilo Liebe

Nimm Ein Gran Selbstverachtung!

Bleib nicht auf ebnem Feld,

Steig nicht zu hoch hinaus!

Am schönsten sieht die Welt

Von halber Höhe aus.

19 [9]

Desperat.

Fürchterlich sind meinem Sinn

Spuckende Gesellen!

Lauf' ich schon, wo lauf' ich hin?

Spring' ich in die Wellen?

Alle Münder stets gespitzt,

Gurgelnd alle Kehlen,

Wand und Boden stets bespritzt –

Fluch auf Speichelseelen!

Lieber lebt' ich schlecht und schlicht

Vogelfrei auf Dächern,

Lieber unter Diebsgezücht,

Eid- und Ehebrechern!

Fluch der Bildung, wenn sie speit!

Fluch dem Tugendbunde!

Auch die reinste Heiligkeit

Trägt nicht Gold im Munde.

19 [10]

Nausikaa-Lieder.

Gestern, Mädchen, ward ich weise,

Gestern ward ich siebzehn Jahr. –

Und dem gräulichsten der Greise

Gleich' ich nun – doch nicht auf's Haar!

Gestern kam mir ein Gedanke –

Ein Gedanke? Spott und Hohn!

Kam euch jemals ein Gedanke?

Ein Gefühlchen eher schon!

Selten, daß ein Weib zu denken

Wagt, denn alte Weisheit spricht:

Folgen soll das Weib, nicht lenken;

Denkt sie, nun, dann folgt sie nicht.

Was sie noch sagt, glaubt' ich nimmer;

Wie ein Floh, so springt's, so sticht's!

"Selten denkt das Frauenzimmer,

Denkt es aber, taugt es nichts!"

Alter hergebrachter Weisheit

Meine schönste Reverenz!

Hört jetzt meiner neuen Weisheit

Allerneuste Quintessenz!

Gestern sprach's in mir, wie's nimmer

In mir sprach – nun hört mich an:

"Schöner ist das Frauenzimmer,

Interessanter ist – der Mann!"

19 [11]

Sanctus Januarius

Weib Gott und Sünde

Kunst und Schrift

Sinnsprüche

19 [12]

Die fröhliche Wissenschaft.

1. Sanctus Januarius.

2. über Künstler und Frauen.

3, Gedanken eines Gottlosen.

4. Aus dem "moralischen Tagebuche".

5. "Scherz List und Rache". Sinnsprüche.

19 [13]

Lieder und Sinnsprüche.

Takt als Anfang, Reim als Endung,

Und als Seele stets Musik:

Solch ein göttliches Gequiek

Nennt man Lied. Mit kürzrer Wendung,

Lied heißt: "Worte als Musik".

Sinnspruch hat ein neu Gebiet:

Er kann spotten, schwärmen, springen,

Niemals kann der Sinnspruch singen;

Sinnspruch heißt: "Sinn ohne Lied". –

Darf ich euch von Beidem bringen?

19 [14]

Sanctus Januarius.

Von

Friedrich Nietzsche

Meinen Freunden

als

Gruss und Geschenk.

 

 

[Dokument: Manuskript]

[Frühjahr – Sommer 1882]

20 [1]

NARREN-BUCH

Lieder und Sinnsprüche

von

Friedrich Nietzsche

20 [2]

Man hat immer nur Eine Tugend – oder keine.

20 [3]

Die moralischen Worte sind in den verschiedensten Zeiten eines Volkes dieselben: dagegen ist das Gefühl, welches sie begleitet, wenn sie ausgesprochen werden, immer im Wandel. Jede Zeit färbt dieselben alten Worte neu: jede Zeit stellt einige dieser Worte in den Vordergrund und andere zurück – nun, dies sind bekannte Dinge! Man erlaube mir einige Bemerkungen über den moral<ischen> Sprachgebrauch von heute zu machen. – In den Kreisen, in denen ich gelebt habe, unterscheidet man gute Menschen, edle Menschen, große Menschen. Das Wort Gut gebraucht man nach den wechselndsten Gesichtspunkten: ja sogar nach entgegengesetzten: wie ich gleich des Genaueren zeigen werde. Wer edel genannt wird, wird damit als ein Wesen bezeichnet, das mehr als gut ist – nicht als besonders gut sondern als verschieden vom guten Menschen und zwar so, daß er mit diesem Worte einer höheren Rangklasse eingereiht wird. Ein großer Mensch braucht nach dem jetzigen Sprachgebrauche weder ein guter noch ein edler Mensch zu sein – ich erinnere mich nur Eines Beispiels, daß ein Mensch dieses Jahrhunderts alle drei Prädikate bekommen hat, und selbst von seinen Feinden – Mazzini.

 

 

[Dokument: Manuskript]

[Sommer 1882]

Studien aller Art

zu

"die fröhliche Wissenschaft."

(la gaya scienza)

21 [1]

Die Einleitung aus dem Gesichtspunkte des Troubadours.

21 [2]

Man hat mich gelehrt, die Herkunft meines Blutes und Namens auf polnische Edelleute zurückzuführen, welche Niëtzky hießen und etwa vor hundert Jahren ihre Heimat und ihren Adel aufgaben, unerträglichen religiösen Bedrückungen endlich weichend: es waren nämlich Protestanten. Ich will nicht leugnen, daß ich als Knabe keinen geringen Stolz auf diese meine polnische Abkunft hatte: was von deutschem Blute in mir ist, rührt einzig von meiner Mutter, aus der Familie Oehler, und von der Mutter meines Vaters, aus der Familie Krause, her, und es wollte mir scheinen, als sei ich in allem Wesentlichen trotzdem Pole geblieben. Daß mein Äußeres bis jetzt den polnischen Typus trägt, ist mir oft genug bestätigt worden; im Auslande, wie in der Schweiz und in Italien, hat man mich oft als Polen angeredet; in Sorrent, wo ich einen Winter verweilte, hieß ich bei der Bevölkerung il Polacco; und namentlich bei einem Sommeraufenthalt in Marienbad wurde ich mehrmals in auffallender Weise an meine polnische Natur erinnert: Polen kamen auf mich zu, mich polnisch begrüßend und mit einem ihrer Bekannten verwechselnd, und Einer, vor dem ich alles Polenthum ableugnete und welchem ich mich als Schweizer vorstellte, sah mich traurig längere Zeit an und sagte endlich "es ist noch die alte Rasse, aber das Herz hat sich Gott weiß wohin gewendet." Ein kleines Heft Mazurken, welches ich als Knabe componirte, trug die Aufschrift "Unsrer Altvordern eingedenk!" – und ich war ihrer eingedenk, in mancherlei Urtheilen und Vorurtheilen. Die Polen galten mir als die begabtesten und ritterlichsten unter den slavischen Völkern; und die Begabung der Slaven schien mir höher als die der Deutschen, ja ich meinte wohl, die Deutschen seien erst durch eine starke Mischung mit slavischem Blute in die Reihe der begabten Nationen eingerückt. Es that mir wohl, an das Recht des polnischen Edelmanns zu denken, mit seinem einfachen Veto den Beschluß einer Versammlung umzuwerfen; und der Pole Copernikus schien mir von diesem Rechte gegen den Beschluß und den Augenschein aller andern Menschen eben nur den größten und würdigsten Gebrauch gemacht zu haben. Die politische Unbändigkeit und Schwäche der Polen, ebenso wie ihre Ausschweifung waren mir eher Zeugnisse für ihre Begabung als gegen dieselbe. An Chopin verehrte ich namentlich, daß er die Musik von den deutschen Einflüssen, von dem Hange zum Häßlichen, Dumpfen, Kleinbürgerlichen, Täppischen, Wichtigthuerischen freigemacht habe: Schönheit und Adel des Geistes und namentlich vornehme Heiterkeit, Ausgelassenheit und Pracht der Seele, insgleichen die südländische Gluth und Schwere der Empfindung hatten vor ihm in der Musik noch keinen Ausdruck. Mit ihm verglichen, war mir selbst Beethoven ein halbbarbarisches Wesen, dessen große Seele schlecht erzogen wurde, so daß sie das Erhabene vom Abenteuerlichen, das Schlichte vom Geringen und Abgeschmackten nie recht zu unterscheiden gelernt hat. (Unglücklicherweise, wie ich jetzt hinzufügen will, hat Chopin einer gefährlichen Strömung des französischen Geistes zu nahe gewohnt, und es giebt nicht wenige Musik von ihm, welche bleich, sonnenarm, gedrückt und dabei reich gekleidet und elegant daherkommt – der kräftigere Slave hat die Narkotica einer überfeinerten Cultur nicht von sich abweisen können.)

21 [3]

1. Das Überflüssige abgeben. Die Aufopferung auf die Dauer der Gesammtheit schädlich.

2. Gewissensbisse bei der Anrufung des

Staates (statt der Rache)

Arbeit

Ehe

Lehrer Scham

Kaufmann Handwerker Zins

Schauspieler

große Männer

3. Züchtung der Rasse bei den Griechen. Veredelung der Prostitution. 34. 38b. 39b. 72

4. Der freiwillige Tod als Fest. 27. 73b

5. Die Menschen zur letzten Consequenz treiben und die mit der Verneinung des Werthes zwingen, auf Fortpflanzung zu verzichten, p. 70 (vgl. Nr. II Note)

6. Homer: das versteckte Individuum

7. Die Kriege der Zukunft. 45.

8. Neue Rangordnung der Geister: nicht mehr die tragischen Naturen voran.

9. Kein Erkenntnißtrieb, die Intell<igenz> im Dienst der verschiedenen Triebe 41. 45.

10. Die Vorbereitung des Gedankens p. 79.

11. Art seiner Ausbreitung, 79. 57. 58b 62, 67, 72

Das "Wissen um die Zukunft hat immer züchtend gewirkt – so daß die Hoffen-Dürfenden übrig bleiben.

12. Als Richtschwert der Religionen. Antichrist.

13. Werthtafel der Güter woher? II b.

14. Der letzte Werth des Daseins ist nicht Folge der Einsicht, sondern Zustand, Voraussetzung der Erkenntniß.

15. Neue Werthschätzungen – meine Aufgabe

Leib und Geist

Leidenschaft Ehe 66

Das Böse Gemeinde – Moral.

Leben und Tod

Gewissen Strafe Sünde

Lob und Tadel

Zwecke Willen

Gleichgültigkeit 53

16. Unrecht gutmachen – positiv sein

17. Vom Schaden der Tugenden.

18. Voraussetzung der absoluten Moral: meine Werthschätzung die endgültige! Machtgefühl! 52b.

19. Der Weise und der Goldmarkt. 56.

20. Hexerei – Benutzung jeder Macht. Bekehrung. 74.

21. Machtgefühl und Funktion. 33b, 66,

22. Macht, Funktion – und Gewissen.

23. Ursache und Wirkung. Beschreibung. 34b.

24. Wollust im Dienst der Religion. Ebenso Genuß der Mahlzeit. Weihung p. 40

25. Wissenschaftlicher Sinn – Verlangen nach einer absoluten Moral. Toleranz? p. 35 38.

26. Böse – Atavism des Guten von ehemals. 36. 37b.

27. Elemente der Kraft p. 32.

28. Geschmack, nicht Nutzen giebt den Werth p. 39. 40.

29. Der Mensch unter den Thieren p. 43b

30. Alle Triebe zur Erhaltung der Gattung da 57. 43. 44.

31. Wir schätzen die Menschen ab nach ihren Wirkungen p. 44.

50. Resultat kein Beweis für Kraft 50.

32. Protoplasma und Moral. 45. 48. 58.

Der Kampf als das Wesen des Friedens.

32. Unsere Triebe Heerdentriebe 46.

33. Freiheit des Willens p. 47.

34. die einzelnen Kräfte der Erkenntniß als Gifte p. 48.

35. Kur des Einzelnen p. 49b

36. Was die niedrigere Cultur von der höheren nimmt (Schopenhauer's Benutzung)

37. die geringeren Grade und die Unzufriedenheit, p. 55b

38. Hütet euch! p. 55. 61. 71b

39. Jetzt Zeit, an die Unschuld zu glauben! 56.

40. Geschichte des Widerwillens gegen das Leben p. 56.

41. Erheben wir uns – statt zu strafen!

42. Einverleibung des Irrthums. 64. 62.

43. wie gering ist der Egoismus! p. 63b, 71,

44. Ein Gegenmittel gegen das Glücksstreben des flüchtigen Individuums thut noth p. 63. 65. 72.

45. Gegen die Apologeten des Luxus 66.

46. Wagner's Kunst durch Schopenhauer falsch. 66.

Erst meine Philosophie ist recht dafür. Siegfried.

47. Der freie Mensch als Vollendung des Organischen p. 67. 73.

48. das All kein Organismus p. 73.

49. Unegoistisch 74b

50. die große Form im Wesen als Bedingung der großen Form im Kunstwerk. 76.

51. Die idealisirende Macht der Gewissensbisse. Auf die geglaubten Motive, nicht auf die wirklichen, kommt es an bei der Veredelung.

52. Meine Art von "Idealismus" darzustellen – und dazu die absolute Nothwendigkeit auch des gröbsten Irrthums. Alle Empfindung enthält Werthschätzung; alle Werthschätzung phantasirt und erfindet. Wir, leben als Erben dieser Phantastereien: wir können sie nicht abstreifen. Ihre "Wirklichkeit" ist eine ganz andere als die Wirklichkeit des Fallgesetzes.

53. In der "Kraft" muß der Widerspruch sein, logisch zu reden. Der Kampf usw. Als Einheit und als Seiendes gäbe es keine Veränderung.

54. Es giebt keinen Stoff, keinen Raum (keine actio in distans), keine Form, keinen Leib und keine Seele. Kein "Schaffen", kein "Allwissen" – keinen Gott: ja keinen Mensch.

55. Chaos sive Natura. 71b 73b 70b 63b 55 43b 23a.

21 [4]

Verantwortlichkeit lange getrennt vom "Gewissen".

21 [5]

verschiedene Triebe werden so befriedigt, daß wir uns als unterlegen fühlen. Unser ganzer Stolz und Muth wird matt im Bewußtsein der kleinsten Niederlagen an jedem Tage

21 [6]

Steh ich erst auf Einem Beine

Steh ich balde auch auf zweien

21 [7]

Will<s>t jung du bleiben, werde balde alt

21 [8]

Erfahrung fährlich

Jähling<s> geht die Zeit

21 [9]

um das Gehör ist es gar ein zärtlich Ding

21 [10]

ein Wachslicht herniederwerfen, daß es ausgelöscht wird [–] mit einem kleinen Glöcklein läuten

21 [11]

Im Zustande der Schwangerschaft verbergen wir uns und sind furchtsam: denn wir fühlen, daß es uns schwer fällt, uns jetzt zu vertheidigen, noch mehr daß es dem, was wir mehr lieben als uns selber schädlich sein würde, wenn wir uns vertheidigen müßten.

21 [12]

Seltsames Loos des Menschen! Er lebt 70 Jahr und meint, etwas Neues und Niedagewesenes während dieser Zeit zu sein – und doch ist er nur eine Welle, in der die Vergangenheit der Menschen sich fortbewegt, und er arbeitet immer an einem Werke von ungeheurer Zeitdauer, so sehr er sich auch als Tagesfliege fühlen mag. Denn: er hält sich für frei, und ist doch nur ein aufgezogenes Uhrwerk, ohne Kraft, dieses Werk auch nur deutlich zu sehen, geschweige denn, es zu ändern, wie und worin er wollte.

21 [13]

Wenn die Scham die Ursache der Liebe ist: überall wo eine Befriedigung des Triebes verwehrt wird, entsteht ein neuer Zustand, und eine gewisse züchtigere Qual und Befriedigung, es wird so ein Ideal zum Keimen gebracht – etwas sinnlich-Übersinnliches.