Der Schusterstein bei Grein

Vor vielen hundert Jahren lebte in Grein ein Schustermeister, der zwar sehr viel Schuhe zum Sohlen und Flicken, aber wenig Lust zur Arbeit und zum Stillsitzen in seiner Werkstatt hatte. Viel lieber rutschte er in den Wirtshäusern umher und doppelte dort, anstatt der Schuhe zu Haus, manchen Krug edlen Gersten- oder Rebensaft. Dabei wurde sein Verdienst immer kleiner, seine Zechschuld aber bei allen Wirten der Stadt immer größer, bis ihm schließlich das Saufen verging, weil ihm nichts mehr eingeschenkt wurde. Da ließ er trübsinnig den Kopf hängen; denn das Trinken konnte er nicht lassen, die Arbeit aber haßte er wie einen Feind. Vergebens zerbrach er sich den Kopf, wie er Geld auftreiben und sein früheres Lotterleben wieder aufnehmen konnte.

Aber eines Tages erschien er vergnügt wieder im Wirtshaus, bezahlte unaufgefordert seine Schulden und bestellte, mit dem Geld in seiner Tasche klimpernd, einen Humpen vom Besten. Und nicht genug damit, lud er auch eine im Gasthaus anwesende Zechergesellschaft zu Gast und übernahm als freigebiger Spender den Vorsitz. Der Wirt machte große Augen, als er sah, daß der früher so knapp mit Geld versehene Kunde nun über einen vollen Beutel verfügte. Doch ihm sollte es recht sein, wenn sein Verdienst sich nur lohnte. Tag für Tag erschien der durstige Schuster in der Schenke, oft beehrte er mehrere Wirte an einem Tag; aber immer war es spät in der Nacht, wenn der ausdauernde Zecher die Stätte seines Wirkens verließ, und immer kam der Wirt bar auf seine Rechnung.

Da machte man eines Tages die unliebsame Entdeckung, daß das Gnadenbild der Jungfrau Maria in der Greiner Pfarrkirche seines wertvollen Schmuckes beraubt worden war. Alle Nachforschungen über den Hergang des frevelhaften Raubes waren vergebens. Der freche Täter blieb unentdeckt, obwohl der Rat der Stadt einen hohen Preis für die Ergreifung des Verbrechers ausgesetzt hatte.

Unterdessen zechte der Schuster lustig weiter, graste alle Wirtshäuser ab und bezahlte überall mit klingender Münze. Eines Nachts machte der Nachtwächter wie gewöhnlich seine Runde durch die Stadt. Er war ein armer Mann und hatte Weib und Kinder zu erhalten. Während er so durch die finsteren Gassen dahinschritt, dachte er daran wie notwendig er die hohe Belohnung brauchen könne, die für die Ergreifung des verwegenen Kirchenschänders ausgesetzt war. Da schlug es vom nahen Kirchturm Mitternacht. Aus dem gegenüberliegenden Gasthaus aber kam ein später Zecher herausgetorkelt, während der Wirt hinter ihm die Haustür absperrte. Es war der letzte Gast, der trinkfrohe Schuster, der, seinen Hut ins Genick schiebend mit wankenden Schritten quer über den Platz nach Hause ging. Er mußte wohl wieder tief ins Glas geschaut haben; denn er plauderte lustig vor sich hin und rülpste mehrere Male laut.

Als er an der Kirche vorüberging, ohne den Nachtwächter zu bemerken, der in einer Nische lehnte, blieb er stehen, lachte laut auf und rief übermütig: „Heute, Maria, hast du wieder meine Zeche bezahlt; aber morgen, lieber Petrus, kommt dein Opferstock dran." Der Nachtwächter horchte auf, wußte sogleich, wieviel die Stunde geschlagen hatte, und packte den Betrunkenen am Arm, um ihn hinter Schloß und Riegel zu setzen. Am nächsten Tag wurde der Übeltäter vor den Richter geführt und wußte, da er durch seine eigenen Worte überführt war, seine Schandtat eingestehen. Er wurde nach dem Recht der Zeit wegen Kirchenraub zum Tod verurteilt und erwartete sein letztes Stündlein.

Verzweifelt flehte seine Frau, die ihn immer noch liebte, bei dem obersten Richter, dem Landgrafen, um Gnade für ihn. Der Graf, den die Frau mit ihren Kindern dauerte, minderte das Urteil und versprach dem Schuster, wenn er es zuwege bringe, auf dem über den Donaustrudel hinausragenden Felsen ein paar neue Schuhe anzufertigen. Das war nun allerdings ein halsbrecherischer Auftrag; denn nur eine schmale Felskante erhob sich über dem Strom, und bei der geringsten unvorsichtigen Bewegung konnte der, welcher da oben saß, aus dem Gleichgewicht geraten und in den Strom hinunterstürzen, der mit rauschendem Wirbel tief unter dem Felsen dahinbrauste.

Man gab dem Schuster Leder und Nägel sowie das nötige Werkzeug und mutig bestieg er seinen schmalen Schustersitz. Während das neugierig herbeigeeilte Volk schaudernd zur Höhe emporsah, machte sich Meister Knieriem an die Arbeit, schnitt und nähte und hämmerte und tat keinen Blick in die gräßliche Tiefe. Noch nie war ihm wohl eine Arbeit so rasch vonstatten gegangen als diesmal auf seiner luftigen Höhe. Mit einem Freudenschrei hielt er schließlich das fertige Paar in die Höhe, damit alle sähen, daß er seinen Auftrag glücklich zu Ende geführt habe. Hierauf ging er vorsichtig daran, den schweren Weg nach unten anzutreten, langte glücklich auf ebenen Boden an und eilte freudestrahlend unter dem Jubel des Volkes zu seiner bang auf ihn wartenden Familie.

Von Strafe und Sühne durch die Gnade des Grafen befreit, änderte der Schuster von Stund an sein Leben und wurde ein anderer Mensch. Er mied den Wein und die Gasthäuser, saß fleißig über seiner Arbeit und gelangte zu Wohlstand und Ansehen.

Der Felsen, auf dem er gesessen war, erhielt den Namen „Schusterstein" und führt ihn noch heute.