2. Kapitel
Unerwartete Neujahrssänger

Der Neujahrsmorgen war gekommen. In aller Frühe war die Mutter zur Kirche gegangen, denn das versäumte sie nie. Nun fing sie an, die Kinder in alle warmen Sachen zu packen, die sie nur hatte. Viele waren es nicht, doch hatte sie auch dem Fränzeli noch ein paar warme Strümpfe gestrickt.

Zuletzt nahm die Mutter ein altes Tuch hervor, das sie sonst selbst umlegte, wickelte das Fränzeli hinein, nahm es auf den Arm und sagte: »So, nun können wir gehen.«

Der Basti zog voran und arbeitete sich tapfer durch den hohen Schnee bis hinunter auf den Weg, den Schächenbach entlang. Hier konnte er neben der Mutter gehen und hatte so viel zu fragen, wohin sie nun kommen und was dann geschehen werde, daß die Zeit ganz schnell verging und er unvermerkt seine drei Viertelstunden gewandert war.

Sie waren jetzt bei den ersten Häusern von Altorf angelangt. Die Mutter sah gleich, daß schon eine Menge Kinder unterwegs waren, um ihre Neujahrslieder zu singen. In allen Häusern gingen sie aus und ein.

Die Afra ging ohne Aufenthalt bis zum großen Gasthaus, das unweit der Kirche bei dem alten Turm steht. Hier war es noch ziemlich still. Die Mutter stellte das Fränzeli auf den Boden, packte es aus und schickte dann die Kinder in das große Haus hinein. Dort sollten sie gleich beim Eintritt ihr Lied anstimmen. Sie selbst zog sich ein wenig hinter den Turm zurück, doch so, daß sie die Kinder sehen konnte, wenn diese wieder herauskamen.

Basti ging, das Fränzeli fest an der Hand, in das Haus, fing gleich mit heller Stimme sein Lied zu singen an, und Fränzeli stimmte melodisch mit ein. Da wurde die Tür der Gaststube geöffnet, die Leute riefen die Kinder herein und lobten sie für ihren Gesang. In den Korb, den die Mutter dem Basti gegeben hatte, flog von da und dort manches Stück Brot und hier und da auch eine Münze. Die Frau des Hauses legte eine große Hand voll Nüsse hinein und sagte: »Am Neujahr müßt ihr auch etwas aufs Brot haben.«

Nun dankte der Basti laut und das Fränzeli leise, und dann liefen die Kinder voller Freude über ihre Gaben zur Mutter hinaus.

Dann ging es weiter zu einem anderen Haus, aber da waren schon singende Kinder und andere kamen noch nach, so daß manchmal eine ganze Schar miteinander in demselben Haus stand. Wollten sie dann alle durcheinander singen, so kamen die Bewohner heraus und sagten, sie wollten lieber jedem ein Stück Brot geben als solchen Lärm haben. Manchmal bekamen sie auch nicht alle von den Gaben und mußten leer ausgehen. Aber mehr als einmal, wenn da so viele zusammen vor einer Tür standen, rief die Frau das Fränzeli zu sich heran und sagte freundlich: »Komm, du Kleines, du erfrierst ja fast, du mußt etwas haben. Aber dann geh heim, du zitterst ja wie Espenlaub.«

Nachdem die Kinder so in fünf oder sechs Häusern gesungen hatten und nun wieder aus einem heraustreten, sah die Mutter, daß es nicht länger so weiter ging. Es war bitterkalt, so daß sie selbst fast erstarrt war, und das zarte Fränzeli zitterte an allen Gliedern so, daß es gar nicht mehr singen konnte. Sogar der Basti war völlig blau geworden und hatte so steife Hände, daß er nichts mehr anfassen konnte und nur den Arm mit dem Korb vorstreckte, wenn er etwas bekommen sollte.

Jetzt wickelte die Mutter rasch das Fränzeli wieder ein und nahm es auf den Arm.

»Und du, Basti«, sagte sie, »lauf nur recht, dann wirst du wieder warm.«

Nun liefen sie, ohne stillzustehen, bis sie wieder daheim in ihrem Häuschen waren. Dann setzten sie sich alle drei um den kleinen Ofen ganz nahe zusammen, bis Hände und Füße wieder warm waren. Nach einer Weile holte Basti den Korb herbei. Sie mußten doch sehen, was alles drinnen war.

Die Kinder bekamen auch nach der großen Anstrengung jedes ein schönes Stück Brot und ihre Nüsse dazu, und so feierten sie zusammen einen fröhlichen Neujahrsabend. Auch die Mutter war froh und dankbar. War ihr auch keine durchgreifende Hilfe zuteil geworden, so hatte sie doch für manchen Tag genug Brot, und hier und da war ja auch eine Münze mit in den Korb hineingeflogen. Die konnte sie gut gebrauchen.

Freilich folgten noch schwere, kummervolle Tage, und die Mutter hatte noch oft mit Hunger und Kälte zu kämpfen. Aber endlich ging der lange Winter zu Ende, die warme Sonne schien wieder. Die Kinder konnten wieder vor dem Hüttchen sitzen und mußten nicht mehr frieren. Auch die Geiß wurde wieder hinausgeführt, konnte von dem jungen, schönen Gras fressen und gab wieder ein wenig mehr Milch.

Der Mutter war eine große Last dadurch abgenommen, daß sie nicht mehr überall nach Holz suchen mußte, um das dünne Häuschen notdürftig zu erwärmen. Denn jetzt schien die Sonne warm in die Fenster, und schöne, laue Luft strömte herein.

Aber die Mutter hatte sich den ganzen Winter hindurch so sehr angestrengt und so mangelhafte Nahrung zu sich genommen, daß sie ganz um ihre Kräfte gekommen war. Und auch die warme Frühlingssonne konnte sie nicht stärken. Trotzdem ließ sie nicht nach in ihrem Fleiß und ihrer rastlosen Tätigkeit von früh bis spät. Und wenn sie auch manchmal vor Müdigkeit und Schwäche umzufallen glaubte, eine große innere Angst trieb sie immer wieder neu an. Denn sie sah wohl voraus, wenn sie sich und die Kinder nicht mehr durchbringen könnte, würden sie ihr von der Armenbehörde weggenommen und irgendwo untergebracht, damit sie in einem Dienst ihr Brot erwerben könnten. Und dieser Gedanke war ihr so schrecklich, daß sie lieber ihre letzte Kraft einsetzen wollte.

Jetzt waren die langen, heißen Sommertage gekommen. Von dem wolkenlosen Himmel sandte die Sonne ganze Gluten auf die Bergwände nieder, an denen überall das Spätheu zum Trocknen lag oder schon gebündelt wurde.

Auch Afra war mit den Kindern hinaufgestiegen, wo ihr hoch am Felsen droben ein kleines Stückchen Erde gehörte, von dem sie jedes Jahr das Winterfutter für ihre Geiß gewann. Sie band das Heu, das sie tags zuvor abgemäht hatte, zusammen, um es nun auf dem Kopf nachhause zu tragen. Das Fränzeli hielt sich, wie immer, wenn die Mutter keine Hand frei hatte, an deren Kleid fest. Basti aber hatte auch eine kleine Heubürde zu tragen.

Daheim holte die Mutter gleich die Milch herbei, denn sie hatten alle seit dem kärglichen Frühstück nichts gegessen, als zwischendurch ein Stück Brot, das sie mitgenommen hatten. Und nun war es schon fünf Uhr abends. Als die Mutter zur Milch den Rest des Brotes aus dem Schrank nahm, sah sie erst, wie klein er war.

Ehe sie die bestellten Strümpfe fertig gestrickt hatte, bekam sie kein Geld, um Brot zu kaufen. Und gestern und heute hatte sie wegen der Arbeit beim Heu nicht stricken können.

Die Mutter gab die Hälfte des kleinen Stückchens dem Fränzeli, die andere dem Basti und sagte: »Ich weiß wohl, daß ihr recht Hunger habt, aber ihr begreift es schon, daß ich euch nicht mehr geben kann. Seht, es ist eben nichts mehr da. Aber heute abend will ich fleißig stricken, dann kann ich euch morgen ein größeres Stück geben.«

Basti nahm fröhlich sein Stück in Empfang. Aber er biß noch nicht hinein, er sah auf die Mutter. Afra goß Milch in die Schüsselchen, die sie den Kindern gab, setzte sich dann hin und legte ihren Kopf in die Hand. Basti schaute sie noch immer unverwandt an.

»Wo hast du dein Brot, Mutter?« fragte er endlich.

»Ich habe keins, Basti, aber ich habe auch keinen Hunger, ich brauche nichts«, erwiderte die Mutter.

Da kam das Fränzeli heran und steckte der Mutter schnell noch ein ganz kleines Stückchen in den Mund, das es noch übrig hatte. Und der Basti streckte sein Stück auch hin und sagte ganz kläglich: »Ja, wenn du keins hast, dann mußt du hungern. So wollen wir teilen.«

Aber die Mutter hielt es ihm wieder hin.

»Nein, nein, Basti, iß nur. Sieh, ich könnte nicht essen, mir ist nicht gut. Wenn ich nur morgen nach Altorf hinunter zum Doktor gehen könnte, er würde mir doch einen Rat geben. So geht's nicht mehr weiter.«

Die letzten Worte sagte sie leise für sich, und plötzlich sank sie mit geschlossenen Augen zurück. Vor Schwäche und Mattigkeit war sie in Ohnmacht gefallen.

Der Basti schaute die Mutter eine Weile an, dann sagte er leise zu Fränzeli: »Komm, ich weiß schon, was ich mache. Aber du mußt ganz leise sein, daß du die Mutter nicht weckst. Siehst du, sie will ein wenig schlafen.«

Er faßte das Fränzeli fest an der Hand, zog es zur Tür, und es konnte gar nicht anders als leise sein, denn es hatte weder Strümpfe noch Schuhe an seinen kleinen Füßen, wie auch der Basti nicht.

So schlichen sie zur offenen Tür hinaus und wanderten zusammen den Berg hinunter.

Als sie den steilen Fußweg den Berg hinunter zurückgelegt hatten und nun ihre Wanderung am tosenden Wasser entlang fortsetzten, drückte der Basti das Fränzeli vom Bach weg auf die andere Seite des Weges und noch ein gutes Stück weit in die Wiese hinein.

»Siehst du, Fränzeli«, sagte er belehrend, »man darf nie, nie auf der anderen Seite gehen, sonst fällt man in den Schächen hinunter. Das hat die Mutter gesagt, und so kleine Kinder wie du werden auf der Stelle ertrinken.«

Das begriff Fränzeli und ließ sich ganz willig durch die Wiese führen.

Dann begann der Basti wieder: »Siehst du, Fränzeli, jetzt gehen wir nach Altorf in die Häuser und singen wieder unser Lied, dann bekommen wir Brot und vielleicht auch Nüsse. Und dann bringen wir alles der Mutter, weißt du, weil sie heute kein Brot mehr bekommen hat. Aber kannst du auch das Lied noch singen?«

Fränzeli war sehr erfreut über dieses Reiseziel und wanderte mit neuem Eifer durch die Wiese und dann auf der steinigen Straße trotz seiner nackten Füßchen. Es sagte, das Lied könne es schon noch, und Basti schlug vor, es noch einmal zu probieren.

So stimmten die Kinder laut ihr Neujahrslied an. Sie konnten es noch ganz gut und fingen immer wieder von vorn an. Und so kamen sie unvermerkt bis nach Altorf hinunter, obschon Fränzelis zarte Füßchen vor Anstrengung ganz rot geworden waren.

Als sie die ersten Häuser des Fleckens erreicht hatten, hörten sie auf zu singen, und Basti sagte: »Ich weiß noch ganz gut, bei welchem Haus man anfängt, hier noch nicht.« Er zog Fränzeli, das jetzt ein wenig müde war, bis zu dem großen Gasthaus »Zum goldenen Adler«, in das die Mutter sie am Neujahrstag zuerst hineingeschickt hatte.

Aber jetzt sah es da anders aus als damals. Die Abendsonne warf goldene Strahlen auf den freien Platz vor der Haustür, und ein ziemlicher Lärm klang dort auf. Eine ganze Gesellschaft von Fremden war angekommen, lauter junge Herren in schönen, farbigen Mützen. Die hatten gleich nach ihrer Ankunft den großen Tisch aus der Gaststube herausgetragen und draußen auf den freien Platz gestellt. Und nun saßen sie alle daran und aßen und tranken fröhlich, denn sie hatten heute einen langen Marsch gemacht und ließen es sich nun schmecken.

Als Basti die vielen Herren an dem Tisch erblickte und Fränzeli vor Furcht stillstand, fand er es am besten, gleich aus der sicheren Ferne die Herren anzusingen. Und so stimmte er denn mit aller Kraft an, damit sie es auch durch den Lärm, den sie selbst machten, hören konnten.

»Still«, donnerte plötzlich die ungeheure Stimme des riesengroßen Mannes, der oben am Tisch saß, »still, sag ich, ich höre Gesang, wir bekommen Tischmusik.«

Die Herren sahen sich alle um, und als sie die Kinder erblickten, die sich ein wenig hinter den alten Turm gestellt hatten, winkten alle. Viele Stimmen riefen durcheinander.

»Nur näher!«

»Nur hierher!«

Die Kinder hatten aufgehört zu singen, und der Basti kam bereitwillig heran. Er mußte aber das Fränzeli ein wenig ziehen, denn es fürchtete sich sehr.

Jetzt streckte der große Blonde mit dem dichten Bart seinen langen Arm aus, zog den Basti noch näher zum Tisch heran, und alle riefen: »Nun laß sie singen, Barbarossa!«

»So, nun singt euer Lied!« befahl der große Mann.

Basti fing mit lauter Stimme an, und Fränzelis Stimmchen tönte wie ein leises, silbernes Glöcklein dazu.

»Nun ist das alte Jahr dahin,
Ein neues ist gekommen.
Wir wünschen, daß es euch erschien
Zu eurem Heil und Frommen.«

»Barmherzigkeit! Wir sind auf die andere Seite der Weltkugel geraten, hier feiern sie Neujahr!« schrie Barbarossa, und nun ging ein Rufen und Lachen los, daß es einen ungeheuren Lärm gab.

»Hört doch auf!« rief jetzt der schlanke Schwarzhaarige, der neben Barbarossa saß. »Seht doch das kleine Mädchen an, es zittert ja vor Angst.«

Nun waren alle still und schauten das Fränzeli an, das sich ängstlich an Basti klammerte.

»Ritter Maximilian, nimm du dich des Mädchens an!« befahl Barbarossa. »Und dann weiter mit dem Gesang!«

Maximilian nahm das Fränzeli freundlich bei der Hand und sagte: »Komm zu mir, du kleines Mädchen, da kann dir niemand was zuleide tun.«

Fränzeli hielt vertrauensvoll seine Hand fest, und sobald es ruhig war, stimmte Basti wieder an:

»Jetzt ist die kalte Winterszeit,
Die Erde starrt im Eise,
Doch ist der liebe Gott nicht weit
Und hilft nach seiner Weise.«

»Mich hat er wirklich heute vor Frost bewahrt«, warf Barbarossa ein, der von der Hitze ganz rot im Gesicht war.

Lärm und ungeheures Lachen waren wieder ausgebrochen, aber viele riefen nun: »Weiter! Weiter! Weiter!«

Die Kinder sangen:

»Doch wird es manchem Vöglein schwer,
Sein Futter zu erreichen,
Und auch die Kinder ziehn umher
Und suchen sich desgleichen.«

»Das müssen sie haben, das müssen sie haben«, riefen sie nun von allen Seiten, und eine Menge Teller mit ganzen Schichten von guten Sachen wurden zu den Kindern hingeschoben.

Aber Basti ließ sich nicht verlocken, mit fester Stimme sang er weiter, und das Fränzeli half bis zu Ende mit

»Nun komm in diesem neuen Jahr
Viel Segen auf euch nieder,
Und wer nur Gott zum Freunde hat,
Dem hilft er immer wieder.«

Nun brach ein ungeheurer Jubel aus, und alle riefen durcheinander: »Das ist ein schöner Wunsch! Der bringt uns Glück auf die Reise!«

Barbarossa aber zog nun den Basti zu sich und stellte einen Teller mit so vielen schönen Sachen vor ihn hin, wie er sie in seinem Leben noch nie gesehen hatte. Auf dem Rand lag ein großes Stück schneeweißes Brot, und Barbarossa sagte ermunternd: »So, mein Sohn, nun iß, bis nichts mehr übrig ist.«

Und all die anderen gefüllten Teller wurden ihm noch zugeschoben, und von allen Seiten riefen sie: »Den auch noch! Das soll er auch noch haben!«

Basti stand da und schaute auf all die Schätze mit hellem Entzücken in den Augen, und vor Erwartung wurden ihm die Augen immer größer. Aber er berührte nichts. Dem Fränzeli, das immer noch die Hand seines Beschützers festhielt, hatte dieser einen ebenso reichlich gefüllten Teller vorgesetzt und es aufgefordert, zuzugreifen.

Fränzeli hatte durch den langen Marsch einen großen Hunger, nahm gleich einen guten Bissen auf die Gabel und wollte ihn zum Mund führen. Aber es guckte schnell noch nach dem Basti, und als es sah, daß dieser nichts aß, legte es schnell seinen Bissen wieder auf den Teller zurück.

»Was ist denn mit dir los? Warum greifst du denn nicht zu, mein Kleiner? Wie heißt du denn eigentlich?« fragte Barbarossa.

»Basti heiße ich«, war die Antwort.

»Gut, Basti, mein Sohn, was hast du denn für tiefe Gedanken, die dir so die Augen aufreißen und den Appetit nehmen?«

»Wenn ich nur einen Sack hätte!«

»Einen Sack? Und was dann?«

»Dann will ich alles hineintun und der Mutter bringen, sie hat heute kein Brot mehr gehabt.«

Nun wurden die Herren ganz mitleidig, und viele riefen, man müsse ihm einen Sack holen, er solle seinen Willen haben. Andere fragten, wo die Mutter wohne, ob sie gleich in der Nähe sei. Als Basti antwortete, sie wohne in Bürgeln oben auf dem Berg, brachen alle in Verwunderung aus. Barbarossa sagte: »Wenn ihr von dort oben heruntergekommen seid, so habt ihr doch gewiß auch Hunger, nicht, Basti?«

»Ja, und auch noch, weil wir heute nur ganz wenig Brot bekommen haben«, bestätigte der Junge. »Aber morgen kann die Mutter vielleicht die Strümpfe fortbringen, dann bekommen wir mehr.«

Jetzt wollte jeder der Herren etwas tun, die einen wollten einen Sack holen, die anderen einen Träger. Aber Barbarossas Stimme übertönte alle.

»Jetzt will ich vor allem sehen, wie diese zwei Menschenkinder sich satt essen, und dann kommt das Weitere. Nun hör zu, Basti! Was hier auf deinem Teller liegt, das ißt du, und wenn du fertig bist, so bekommt deine Mutter alles übrige.«

»Das alles?« fragte Basti und wies mit leuchtenden Augen auf alle die gefüllten Teller hin.

»Alles«, bestätigte Barbarossa. »Kannst du nun anfangen?«

Jetzt ergriff Basti seine Gabel und aß mit so erfreulichem Appetit, daß Barbarossa mit großer Befriedigung zuschaute. Und Maximilian freute sich, als nun auch Fränzeli es wagte, endlich seinen großen Hunger zu stillen.

»Hat euch eure Mutter hierher geschickt, das Lied zu singen?« fragte Barbarossa.

»Nein, sie ist eingeschlafen, weil sie kein Brot gegessen hatte und müde war. Sie wollte auch zum Doktor gehen, damit er ihr einen Rat gibt«, erklärte der Basti. »Und da bin ich mit dem Fränzeli weggegangen, um für die Mutter Brot zu holen. Denn wir haben das erstemal auch Brot bekommen, als wir hier gesungen haben.«

Jetzt begriffen die Herren, wie es gekommen war, daß die Kinder ihnen das Neujahrslied gesungen hatten. Barbarossa rief: »Ich schlage vor, daß wir alle miteinander unsere Sänger nach Bürgeln hinaufbegleiten. Wir müßten ohnehin morgen die Stätte aufsuchen, wo die Wellen des wilden Schächenbachs den braven Tell verschlungen haben. Wir machen heute eine Mondscheinpartie daraus und bringen unsere entlaufenen Freunde ihrer Mutter wieder.«

»Und du als guter Mediziner gibst ihr gleich einen guten Rat«, setzte Maximilian hinzu.

Als er dann aber sah, daß schon alle Freunde ihre Sitze verließen, die Stöcke schwenkten und gleich auf und davon gehen wollten, da rief er ganz entrüstet: »Was meint ihr eigentlich? Soll denn dieses kleine, zarte Wesen mit euch Schritt halten? Soll es überhaupt zum zweitenmal diesen ganzen Weg auf seinen zwei winzigen Füßchen zurücklegen? Erst spannt der Wirt seinen Gaul vor, dann wird das kleine Mädchen mit dem Proviantkorb in den Wagen gesetzt, und dann geht's vorwärts.«

»Eine gute Idee«, bemerkte Barbarossa mit einem Blick auf den ungeheuren Korb, den die Wirtin statt eines Sackes gebracht hatte. Denn als sie verstanden hatte, was die Herren von ihr wollten, hatte sie ihnen erklärt, daß all die verschiedenen Nahrungsmittel nicht in einen Sack zusammengeworfen werden könnten. Und darum hatte sie einen gewaltig großen Korb herbeigeschafft und alles hineingepackt.

»Das beste ist nun«, fuhr Barbarossa fort, zu Maximilian gewandt, »du bleibst und setzt dich mit dem Mädchen und dem Proviantkorb in den Wagen. Wir gehen unterdessen voraus, und Basti macht den Wegweiser.«

Das wurde beschlossen. Als aber der Zug sich in Bewegung setzen wollte, machte Barbarossa noch einmal halt und sagte ernsthaft: »Keiner kann wissen, welchen Gefahren und Strapazen wir auf dieser nächtlichen Reise entgegengehen. Darum soll jeder meinem Beispiel folgen und eine Weinflasche in seine Tasche stecken.«

Damit ging er ins Haus, um sich eine Flasche zu holen. Alle anderen folgten ihm lachend, der Vorschlag hatte vollen Anklang gefunden.

Endlich waren dann wieder alle auf dem Platz und konnten die Reise antreten. An der Spitze des Zuges marschierte der gewaltige Barbarossa, den kleinen Basti zur Seite. Bald hob auch Maximilian das Fräulein in den offenen Wagen hinein, setzte sich an seine Seite, den hochbepackten Korb daneben.

Und nun ging's fort in den schönen Abendschein hinein, der von der untergegangenen Sonne noch golden am Himmel flimmerte. Dem Fränzeli aber gefiel es außerordentlich gut, so im Wagen zu fahren, den freundlichen Beschützer an seiner Seite. Das Vertrauen zu ihm war so groß geworden, daß es sich fortwährend mit ihm unterhielt und ihm erzählte, wie es daheim mit der Mutter und dem Basti und der Geiß lebte und was sie alles taten.


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