Achtes Kapitel


Eines Nachts überkam den Kaufmann Natterer ein allerwichtigster, den Altaicher Fremdenverkehr fördernder Gedanke.
Man mußte ein Komitee gründen, in dem zwei hervorragende Vertreter der Kurgäste neben ihm als Präsidenten wirken sollten.
Gab es etwas Klügeres?
Was für ein inniger Zusammenschluß zwischen Einheimischen und Fremden war damit zu erreichen!
Welche Fülle von Anregungen mußte aus den Beratungen hervorgehen!
Natterer hielt im Bette mit halblauter Stimme Selbstgespräche.
Eine Rede, die er an die Gäste richten wollte.
Meine Herren! Oder meine Damen und Herren, denn warum sollte man das weibliche Element nicht heranziehen?
»Meine Damen und Herren! Es liegt im Interesse eines verehrlichen Publikums, das unser liebliches Tal aufsucht, es liegt im Interesse all derer, die in unserm lieblichen Tale Erholung finden wollen, daß die Wünsche deponiert werden, welche . . . «
Frau Wally wachte durch das steigende Pathos auf und sah erstaunt auf ihren heftig bewegten Ehemann.
»Was hast d' denn, du Lattierl?« fragte sie besorgt.
Natterer kehrte dem stimmungsarmen Weibe den Rücken und faßte den Entschluß, das weibliche Element nunmehr doch nicht heranzuziehen. Er tat so, als ob er schliefe, und setzte seine Rede im stillen fort, bis sich seine Gedanken verwirrten und er in Schlaf verfiel.
Beim Morgenkaffee wiederholte Frau Wally ihre Frage.
»Was hast d' denn heut nach für a Gaudi g'macht?«
»Was woaß denn i, wenn i schlaf'?«
»Als wennst a Red' halt'n tatst, so laut hast aufg'redt. I glaab, das di der Kas druckt hat, den wo du auf d' Nacht gessen hast . . . «
Das war die Erklärung eines Frauenzimmers für eine durch Gedanken verursachte Erregung. Natterer gab lieber keine Antwort, trank seinen Kaffee aus und ging.
Seine Frau war das einzige Wesen, gegen das er verschlossen sein konnte.
Er eilte zur Post hinüber und sagte sich auf dem Wege, daß er zuerst Herrn Schnaase ins Vertrauen ziehen müsse.
Der hatte Eifer und Rednergabe. Aber er war noch nicht aufgestanden. Vor einer Stunde dürfe sie den gnädigen Herrn nicht wecken, sagte Stine. Ob sie was ausrichten solle? Nein, oder doch das eine, das Herr Natterer dem Herrn Schnaase eine sehr wichtige Mitteilung zu machen habe, und daß Herr Schnaase das Haus nicht verlassen möge, vor ihn Herr Natterer getroffen habe.
Damit eilte der rührige Mann die Stiege hinunter.
Im Hausgange stieß er auf Martl in einem überaus nachlässigen Aufzuge. Der Herr Hausknecht hatte nur eine Lederhose an und stand barfuß in den Pantoffeln. Natterer blieb stehen und schüttelte den Kopf.
Wie der Mensch in seinem karierten Hemd, ohne Kragen, sich unters Tor stellte, ja, mit einem nackten Fuß aus dem Pantoffel schloff und die Zehen spielen ließ, das konnte doch nicht in einem Kurort geduldet werden.
Er sagte in gütigem Tone:
»Martl, im Sommer, in der Hochsäson sollst so was net machen!«
»Was?«
»Du verstehst mi scho. Daß di a so herstellst, bloßfuaßet und überhaupts . . . «
»Im Winter geht's net«, sagte Martl, »da frierat mi in d' Zecha.«
»Spaß beiseit'! Das is dem Herrn Posthalter auch net recht . . . «
»Was geht denn dös di o, du Kramalippi? Du Salzstößla, du trapfter, du - - - - «
Grobe Menschen sind in frühen Morgenstunden noch gröber. Martl sagte etwas so Hausknechtliches, daß ein Mann, der seit Stunden über feine Redewendungen nachgedacht hatte, angewidert werden mußte.
Natterer ging schweigend weg; und da zog Martl auch den andern Fuß aus dem Pantoffel und ließ die Zehen spielen.
Den Kaufmann überkam ein bitteres Gefühl, als er nun an dem schönen Morgen den Kirchenweg entlang schritt. Es war nichts in ihm von der Fröhlichkeit, die alle Vögel pfeifen und zwitschern ließ.
Dieses Altaich!
Ob man auch anderwärts dem Wohltäter eines Ortes so roh begegnen durfte?
Ob es anderwärts ein gemeiner Hausknecht wagen durfte?
Hier freilich war nicht dagegen anzukämpfen.
Wenn er sich beim Posthalter beschwerte, sagte der seelenruhig: »Dös is halt an Martl sei Spruch . . . «
Natterer gab sich seiner schmerzlichen Stimmung hin, als er, um eine Ecke biegend, vor Herrn von Wlazeck stand, der schon von einem Morgenspaziergang zurückkehrte.
»Särvus, Herr Kommerzialrat!« rief der Oberleutnant jovial. »Haben Sie sich zu meiner Kur bekehrt? Is sie nicht großartig?«
Natterer erwiderte, daß er noch keine Zeit gefunden habe . . .
»Zur Gesundheitspflege hat man ganz einfach Zeit, Verehrtester! Jedes Verseimnis rächt sich, muß sich rächen . . . «
»Ich werde Herrn Oberleutnant demnächst folgen . . . «
»Tun Sie das! Woher habe ich denn meine Elastizität? Vom Karlsbader. In der Fruh das Quantum zu sich nehmen, als dann eine Stunde spazieren laufen, das macht dinnes Blut. Das ist das ganze Geheimnis. Wie belieben?«
»Ich meine, ich habe das schon von ärztlicher Seite gehört . . . «
»Schon möglich. Auch Ärzte besitzen zuweilen Einsicht. Militärärzte natürlich ausgenommen. Aber ich behaupte: Alles, was den Menschen bedrickt, kommt vom dicken Blut. Ich habe einmal in Wien zu einem sehr bekannten Dichter gesagt: Ich bidde, Herr von . . . , na, der Name tut nichts zur Sache . . . , ich bidde, was wollen Sie eigentlich mit Ihrem Wöltschmerz? Der ganze Wöltschmerz is bloß mangelhafter Stuhlgang. Wann der Lenau Karlsbader getrunken haben möchte, hätte er humoristische Gedichte gemacht. Mit einem Pfund Glaubersalz reinige ich die gesamte Poesie vom Wöltschmerz . . . Aber wirklich!«
Natterer hörte mit so düsterer Miene zu, daß Herr von Wlazeck besorft ausrief:
»Sie haben höchste Zeit. Verehrtester! Wie kann man an einem so entziggenden Morgen so melancholisch sein? Sie haben dickes Blut . . . «
»Ich fühle mich ganz wohl. Bloß, natürlich, man hat auch seine Gedanken und seine Sorgen . . . «
»Das is ja! Sorgen, Schwärmut, Wöltschmerz, sogar Verzweiflung, alles miteinander is nix wie Verstopfung. Verlassen Sie sich drauf!«
Die Teilnahme des Oberleutnants tat dem verbitterten Manne wohl, und es kam ihm der Gedanke, daß er den gewandten Offizier ins Vertrauen ziehen könne. Nicht über die Schande Altaichs, sondern über sein Vorhaben.
»Wenn Herr Oberleutnant erlauben, dann möchte ich Ihnen etwas unterbreiten . . . «
»Aber bidde . . . «
»Es handelt sich sozusagen um den Ausbau unseres Marktes in seiner Eigenschaft als Kurort. Herr Oberleutnant kennen die Leute hier und wissen vermutlich, daß sich nur wenige ein Bild von den Erfordernissen machen können, die wo unerläßlich sind . . . «
»Ich verstehe vollkommen. Sie wollen sagen, daß diese Kanadier à la Blenninger, net wahr, die übertinchte Höflichkeit nicht kennen . . . «
»Ich meine überhaupt im allgemeinen, daß die Sache hier zu neu is, und daß infolgedessen die Leute also die Erfordernisse eines Kurortes nicht kennen . . . «
»Aber das dirfte gerade der Vorzug dieses buen retiro sein!«
»Wie meinen Herr Oberleutnant?«
»Ich will Ihnen was sag'n, Herr von Natterer; wir wollen uns da ganz offen aussprechen. Unsere Winsche sind konträr, missen es sein. Ihr Ideal ist die Frequenz, mein Ideal ist das lauschige Versteck . . . «
»Natürlich, die Herrschaften lieben die Ruhe, aber wir müss'n doch etwas bieten . . . «
»Das kenn' ich, lieber Freind! Man sagt bieten und meint fordern. Die Teierung ist die Tochter der Frequenz! Geraten Sie nicht auf diese schiefe Ebene!«
»Ich habe gehofft, Herr Oberleutnant würden mir zur Seite stehen . . . «
»Wieso, zur Seite stehen?«
»Nämlich, ich doch sozusagen die Sache ins Leben gerufen, und leider bin ich der einzige, der in dieser Beziehung sich betätigen kann. Aber diese Last is für meine Schultern zu schwer . . . Folgedessen möcht' ich Hilfskräfte finden unter den Herrn Kurgästen . . . «
»Ah so! Warum sagen Sie das nicht gleich? Sie wollen mir die Leitung übertragen? Aber gerne!«
»Ich habe gemeint . . . «
»Bedarf keiner Begriendung, lieber Freind! Die Idee ist glänzend . . . «
»Ich hab' also gedacht . . . «
»Sie hab'n als Mann von Erfahrung und Kenntnissen die Beobachtung gemacht, daß verschiedene Kurorte unter der Leitung alter Militährs ausgezeichnet florieren. Diese Beobachtung ist durchaus richtig, Verehrtester, und Sie soll'n sich auch in mir nicht geteischt haben. Was zunächst die Hauptsache anlangt, so sage ich: ja. Alsdann . . . «
Natterer war überrascht über die Schnelligkeit, mit der die Soldateska sich des Regimentes bemächtigen wollte, und hielt es für angezeigt, die ausschweifenden Wünsche zu zügeln.
»Entschuldigen, Herr Oberleutnant, es handelt sich nicht um die Direktion, sondern . . . «
»Sondern?!«
»Betreff einer mehr beratenden Stellung. Nämlich insoferne zwei Herren, die aus freier Wahl hervorgehen, mit mir ein Komitee bilden, wo die allenfalsigen Wünsche deponiert werden und die Maßnahmen begutachtet werden.«
Herr von Wlazeck war enttäuscht.
»Nehmen S' mir die Bemärkung nicht übel, aber das scheint mir schon im Prinzip verföhlt zu sein. Was heißt denn: Wahl? Muß denn alles nach dieser Schablone gehen? Is jemals in der Wölt aus einer Wahl was G'scheites rauskommen? Cliquenwirtschaft kommt raus, weiter gar nichts. Und warum denn zwei?«
»Indem, wenn wir drei sind . . . «
»Zwei den andern majorisieren können, net wahr? Da haben wir wieder diesen fatalistischen Glauben an das Allheilmittel der Majorität. Einer, Herr von Natterer, einer ist immer derjenige, der das Gute schafft . . . «
»Entschuldigen, Herr Oberleutnant, aber es sind da bereits Schritte geschehen, betreff eines dritten Herrn . . . «
»Wer ist denn der Gliekliche?«
»Der Herr Rentier Schnaase . . . «
»So?«
Wlazeck lächelte.
Der Vorschlag schien ihm nicht ganz zu mißfallen.
»So? Der Herr von Schnaase? Und Sie haben ihm bereits die Angelegenheit unterbreitet?«
»Die einleitenden Schritte habe ich gemacht, betreff dieses Ersuchens . . . «
»Alsdann will ich nicht opponieren. Ich habe zwar begriendete Ursache zu der Annahme, daß Herr von Schnaase die richtige Berliner Bradlgoschen hat und die Beratungen sehr lebhaft gestalten wird, aber . . . « Wlazeck lächelte vielsagend . . . »aber der Vater einer so entziggenden jungen Dame is mir heilig.«
»Ich will ihn jetzt betreff dieser Sache aufsuchen . . . «
»Schön, und damit gleich der geschlossene Wille des Komitees zum Ausdrucke gelangt, werde ich Sie begleiten . . . «

Gustav Schnaase war schnell gewonnen, und Natterer begriff zu spät, daß sich's auf einem Throne besser allein als zu dritt sitzt.
Er sah, daß sich die beiden andern sogleich heftig bemühten, ihm das Zepter zu entwinden.
Der Berliner war eine Herrennatur, die keine Ideen neben der ihrigen aufkommen ließ, und die ältere österreichische Kultur war zwar anschmiegsamer, aber zäh und klebrig.
Es wurde Natterer klar, daß er selbst keine Einfälle mehr zu haben brauchte.
Er mußte vielmehr die sich überstürzenden Vorschläge der Mitregierenden bekämpfen und sein Werk vor unbedachten Neuerungen schützen.
Es war ein tragisches Schicksal für ihn, daß er so mit seinen Waffen bekämpft wurde und ganz wider seine Natur handeln mußte.
Auch Schnaase wies den Gedanken einer Wahl schroff ab.
»Mumpitz!« sagte er. »Warum soll ich mir von den beiden Münchner Knautschenberjern erst noch'n Mandat übertragen lassen? Nee! Das machen wir von alleene. Hiemit konstituieren wir uns als Altaicher Fremden-Komitee. Halten Sie mal! Af-ko . . . Jawollja. Das is wie Bugra un Bedag. Ganz famos! Also nich wahr: Afko. Das kommt auf Briefbogen, Kuverts, das wird so inseriert. Afko. Das Publikum merkt sich so was leichter, als wenn es heißt: Altaicher Fremden-Komitte . . . «
»Eine vorziegliche Idee, Herr von Schnaase. Das Wort allein verrät schon die gewisse Routine und erweckt gespannte Erwartungen . . . «
»Man sagt sich, die Leute sin nich von gestern. Also: Wir bilden hiermit das Dreimänner-Komitee und nehmen die Sache in die Hand. Wir bestimmen die Kurtaxe, wir arrangschieren Feste, Ausflüge, Wasserpartien . . . Apropos, wir müssen einige Gondeln haben für den See, na wo wir letzte Woche waren . . . «
»Sassau, meinen Herr Schnaase?«
»Richtig. Sassauer See. Sagen Sie mal, kann hier jemand Gondeln bauen?«
Natterer, dem es schwül wurde, schüttelte verneinend den Kopf.
»Nich? Aber hören Sie mal, das is doch das erste, wenn ich 'n Wasser in der Nähe habe! Da müssen von irgendwoher Gondeln beschafft werden . . . Warten Sie mal! Ich kenne 'n Hamburger Reeder, der weiß sicher Bescheid, und dem schreibe ich noch heute . . . «
»Ans Ministerium haben wir noch immer nicht g'schrieben . . . «
»Ministerium? Was soll ich mit 'm Ministerium?«
»Betreff der Umwandlung oder des Einbaues einer Restauration im Kloster . . . «
»Ach so, richtig. Na das eilt nich so. Erst mal Gondeln her und . . . «
»Darf ich mir submissest die Frage erlauben, um welche Restauration es sich handelt?«
»Darauf komme ich noch zu sprechen, Herr Oberleutnant. es war'n Vorschlag von mir, den ich Ihnen gelegentlich mal mitteilen werde . . . Was sagte ich eben? Gondeln . . . jawoll und Brief nach Hamburg! M. W.!«
»Ich bewundere Sie«, rief Wlazeck. »Gestatten, daß ich Ihnen das unumwunden ausspreche. Aber das is eben das großoartige, preißische Organisationstalent, das uns Österreichern leider föhlt; dieses schnelle sich entschließen und sofort eingreifen, nicht lange hin und her. Ich gratuliere uns zu der bedeitenden Kraft, die wir in Ihnen gewonnen haben . . . «
Es war ein Glück, daß dem Afko keine gefüllte Kasse zur Verfügung stand.
Natterer konnte gegen den Ideenhagel einen Schirm aufspannen, indem er die traurige Wahrheit mitteilte, daß man nicht ganz fünfzehn Mark Betriebskapital habe.
Gegen die Einführung einer Kurtaxe sträubte er sich hartnäckig, und Wlazeck unterstützte ihn.
»Bidde zu bedenken, Herr von Schnaase, mit wölchen Elementen daß wir es gegenwärtig zu tun haben. Die zwei Minchner sind erbitterte Gegner derartiger Reformen. Und der Professor? Es wirde uns kaum gelingen, ihm den Begriff Kurtaxe klarzumachen.«
»Aber hören Sie mal, mit fufzehn Reichsmärkern! Damit läßt sich doch nischt anfangen!«
»Ein schwacher Fundus, allerdings! Aber bidde, Herr von Schnaase, sollen wir vielleicht diesen sogenannten Dichter besteiern? Schenken wir ihm doch lieber Strimpfe im Interesse des Ansehens unseres Kurortes! Ich habe die Bemärkung gemacht, daß er keine anhat. Das soll wahrscheinlich Bohämm sein . . . «
Natterer beschwichtigte, wehrte ab, ernüchterte und wahrte die Gebote der Besonnenheit.
Als er sich entfernte, war er in sehr gedrückter Stimmung.
»Finden Sie nicht auch«, fragte Schnaase, »daß der Mensch einen merkwürdigen Mangel an Begeisterung gezeigt hat? 'n Flunsch hat er gemacht, wie ich ihm die paar Direktiven gab . . . «
»Ein bläder Kerl, Herr von Schnaase. Verzeihen Sie das harte Wort!«
»Wenn man so 'n Mensch uf'n Trab bringen will, kommt immer die süddeutsche - ich meine natürlich die bayrische - Gemütlichkeit raus . . . «
»Auch die österreichische! Bidde, bleiben wir bei dem Sammelbegriff süddeitsch . . . auch bei uns ist sehr vieles mangelhaft . . . Dieses beriehmte Mocht nix . . . Was habe ich für Kempfe gehabt beim Militär! Das war ja der Grund, warum ich meinen Abschied genommen habe, weil ich diese Sisyphusarbeit nicht mehr leisten mochte. Ich ging lieber. Allerdings hat mir der Graf Kielmannsegge - nicht der Max Kielmannsegge, sondern der Georg, der gölbe Schurl, wie ich ihn tauft hab' - beim Abschied gesagt: Alsdann, was is jetzt, Franzl? Du gehst, aber die Zustende bleiben . . . No ja, das war ja richtig in gewisser Beziehung, aber man trägt nicht alles, was man nicht ändern kann . . . «
Schnaase sah den Oberleutnant unmerklich von der Seite an. Wächst mir hier 'ne Pomeranze?
Aber Wlazeck sah es nicht, und der Rentier ergriff das Wort:
»Ich sage immer, der erste Eindruck ist der richtige. Wie ich hier ankam, und der Schlummerkopp von Posthalter sich so demlich anstellte, wußte ich alles. Hier is kein Zeitgeist. Und dieser Natterer is zwar in gewisser Beziehung 'n gerissener Junge, der harmlose Reisende mit seiner Reklame betimpeln kann, aber weiter reicht's nich . . . Nee, Herr Oberleutnant, die Sache müssen wir deichseln. Da wollen wir mal Nord und Süd vertreten und, wenn ich so sagen soll, von entgegengesetzten Polen her auf die Sache einwirken. Aber nu entschuldigen Sie mich! Ich höre meine Frau . . . «
»Gehorsamster Diener, Herr von Schnaase, und bidde, Handkuß der Gnädigen und dem reizenden Fräulein Tochter!«

»Also«, sagte Schnaase, wie er neben seinen Damen aus der Post schritt, »also ich muß Noblenz-Koblenz den Eltern des hoffnungsvollen Künstlers einen Besuch machen? Wie komme ich dazu?«
»Diese schreckliche Last kannst du am Ende noch auf dich nehmen«, antwortete Frau Karoline.
»Es handelt sich nich um die Last; es handelt sich ums Prinzip. Wie komme ich dazu, in Altaich gesellschaftliche Verpflichtungen zu haben? Das is doch das, was ich nich haben will; weswejen wir in die Einsamkeit geflohen sind . . . «
»Du kannst ausnahmsweise mal Rücksicht auf uns nehmen . . . «
»Uns? Also Henny inbegriffen? Da möcht ich doch 'n ernstes Wort sprechen.«
»Sprich es lieber nich! Ich möchte wirkliche keine unzarten Bemerkungen hören . . . «
»Aber 'n paar zarte. Ich finde, der junge Mann is 'n bißchen sehr aufmerksam . . . «
»Das fällt dir unangenehm auf?«
»Angenehm, Karline, wenn er dir den Hof macht. Aber ich kann diesen schwerwiegenden Verdacht nicht fassen. Ich bin gezwungen, Henny für den Gegenstand seines schmeichelhaften Interesses zu halten, und . . . «
»Du kannst dir natürlich nich vorstellen, daß ein junger Mann ohne jede Nebenabsicht froh ist, wenn es sich mal wieder gebildet unterhalten kann?«
»Nee!«
»Nachdem er das monatelang entbehren mußte?«
»Nee! Den Bildungsdrang kenn ich, wenn 'n hübsches Mädel mitten mang is . . . «
»Am Ende ist es kein Verbrechen, wenn er auch Henny in zarter Weise . . . «
»Auch? Karline?«
»Ich verbitte mir deine Witze!«
»Is keen Witz . . . im Gegenteil . . . also um wieder darauf zurückzukommen . . . «
»Darf ich bitten, daß ich dabei aus dem Spiel bleibe?« unterbrach Henny ihren Vater. »Warum darüber reden? Es lohnt sich nich.«
»Eben, weil die Sache keinen moralischen Hintergrund hat, will ich nicht haben, daß du mit ihm kokettierst.«
»Wieso kokettiere ich?«
»Oder sagen wir, daß du nich genügend Distanxe hälst. Er setzt sich Raupen in den Kopp, und das is bei 'nem jungen Mann in der Provinz ne andere Sache als in Berlin . . . «
»Aber wirklich Papa! Die Predigt ist gräßlich . . . «
»Es muß mal sein, und . . . «
»Gar nich muß es sei. Ich unterhalte mich hier, so gut es geht; ich würde viel lieber in Zoppot Tennis spielen, als hier von Natur und Heimat quasseln. Aber ich bin doch nich schuld, daß wir in dem schauderhaften Nest sitzen . . . «
»Du wirst das auch kaum zu bestimmen haben«, sagte Mama Schnaase mit Schärfe.
»Ruhe im Saal! Dieses Thema wollen wir nich schon wieder behandeln. Mamas Wunsch war maßgebend, da is nich dran zu tippen. Du kannst wohl 'n paar Wochen leben ohne Bälleschmeißen?«
»Ich komme ganz aus der Übung . . . «
»Du kommst schon wieder rin.«
»Aber ich muß Rücksicht nehmen auf meine Partie, nich wahr? Wenn James erfährt, daß ich den halben Sommer keinen Ball geschlagen habe, sucht er sich eine andere Partnerin. Muß er doch!«
»Laß ihn man! Den James Dessauer mit seine Seebelbeene!«
»Gott!«
»Überhaupt so 'n Keesekopp! Sein Vater handelte noch mit alten Kledaschen uf'n Mühlendamm, und der Bengel hat sich was als James und Tennisfatzke . . . «
»Jedenfalls hat er in Wiesbaden die Meisterschaft gewonnen . . . «
»Was ich mir dafür koofe! Wir werden uns trotzdem erlauben, aufs Land zu gehen, ohne Rücksicht auf Tennis un den Lord vom Mühlendamm. Übrigens, Karline, das muß ich doch sagen, du mit deiner Sehnsucht nach Ruhe und Schweigen im Walde solltest dich nich so ins Altaicher Gesellschaftsleben stürzen . . . «
Die Familie Schnaase hatte sich der Ertlmühle genähert. Konrad eilte ihr entgegen und führte sie über den Hof in den Garten, wo seine Eltern die Gäste freundlich empfingen.
Für Frau Margaret waren die Berliner keine unbekannten Erscheinungen mehr; sie hatte sie zweimal von einem Laden aus gesehen und so genau betrachtet, wie es einer in Mitleidenschaft gezogenen Mutter zukam.
Von dem, was sie dabei herausgefunden hatte, redete sie nicht. Das Mädel war von einer anderen Welt und gehörte in eine andere Welt, und das war ausgemacht und sicher, daß sie fast ein wenig lächeln mußte über ihren Konrad. Aber darüber sprechen nützte nichts, es war besser, wenn er selber zu der Einsicht kam.
Darum hatte sie geschwiegen, und als sie jetzt die Familie begrüßte, tat sie es ohne Befangenheit, als rechte Herrin in ihrem Reiche.
Sie stand über der Situation, hätte Schnaase gesagt, wenn er die kleine Bürgersfrau beachtet hätte.
Martin bewunderte wieder einmal seine Margaret, die sich in alles schickte und so sicher auftrat, als hätte sie jeden Tag Gäste aus Berlin.
Auch Konrad war froh über den Verlauf der ersten Begegnung, die ihm, er wußte nicht warum, Sorge gemacht hatte.
Man setzte sich an den gedeckten Tisch, auf dem ein leuchtend brauner Guglhupf, ein auf grünen Blättern ruhender Butterwecken und etliche Gläser voll Honig ländliche Wohlbehäbigkeit verrieten.
Frau Schnaase ließ ihre Blicke in der Runde schweifen und rief:
»Wie hübsch es hier ist! Das ist also eine wirkliche Mühle im kühlen Grunde, und der Bach rauscht, wie man sich's nach dem Liede vorstellt. Hier müßte man immer leben!«
»Du kannst ja das Experiment machen«, sagte ihr Mann. »Aber ich wette 'ne Stange Gold, nach vierzehn Tagen kehrst du reumütig in die Hedemannstraße zurück.«
»Ich aus einer solchen Stimmung in die Hedemannstraße . . ? «
»Denk an den Fünfuhrtee, Karline, und ans Theater, und an die Vorstellungen, wo die Dingsda, die Mannekänks mit den neuen Kleidern, herumspazieren. Nee, in acht Tagen haben wir dich wieder . . . «
»Gott! Wenn du wüßtest, wie schal mir das alles vorkommt!«
»Den Zahn lass' dir man ausziehen! Du kannst es nich entbehren, und Mannekänks, das is nu mal die Poesie, die für dich Bleibe hat. Nämlich« - Herr Schnaase sage es zu Margaret - »nämlich meine Frau hat 'n Schwarm für den reinen Naturjenuß. Aber ich sage, das is Phantasie. Das wirkliche Landleben kannste nich verknusen, Karline; das is nischt für unsereins, das muß von Jugend auf gelernt sei.«
»Das ist vielleicht deine Ansicht . . . «
»Es is die Macht der Gewohnheit; was ich dir immer sage. Natur is ja hübsch und kann sogar sehr hübsch sein, aber wir Großstädter vertragen nur ne Dosis davon, und hinterher brauchen wir wieder Nachtleben und Radau . . . «
Konrad kam der Frau Schnaase zu Hilfe.
»Ich glaube, daß man die Stadt schnell vergißt . . . «
»Nee . . . «
»Das heißt . . . «
»Nee, verehrtester Herr Kunstmaler, nehmen Sie mir's schon nich übel, das kann einer nich wissen, der nich mitten drin war, so nach zwölfe in der Friedrichstraße. Diese Ruhe hier erträgt man auch, wenn man in Stimmung is. Aber ich behaupte, sogar die paar Wochen auf dem Lande sind nich unjemischte Freude . . . «
»Du muße eben opponieren«, sagte Frau Schnaase und wandte sich an Margaret. »Er hat das so. Er muß partout das Gegenteil behaupten . . . «
»Ich muß nur ab und zu mal was richtig stellen, denn ihr Damens seid nich konsequent und nich aufrichtig. Sag mal selbst, wie wir hier mit der Zottelbahn ankamen, wer wollte da gleich wieder weg?«
»Aus andern Gründen, das weißt du gut, und übrigens mußte ich doch erst die Gegend kennen lernen . . . «
Konrad kam wieder zu Hilfe und sagte, daß die Landschaft nicht sofort einen starken Eindruck mache. Aber wenn man sie länger kenne, würde sie einem lieb . . .
»Das ist gerade das, was ich sagen wollte«, rief Frau Schnaase.
»Nanu! Es ist genau das, was ich gesagt habe. Man muß es gewohnt sein . . . «
Er unterbrach sich, als das Dienstmädchen den Kaffee auftrug. Der duftete so köstlich, und Butterbrot und Guglhupf schmeckten so gut dazu, daß über Schnaase eine milde Stimmung kam.
Frau Margaret, die nach altbürgerlicher Art glaubte, daß sich gleich zu gleich halten müsse, knüpfte ein Gespräch mit Frau Schnaase an. Durch kluge Fragen erfuhr sie, wie diese Mitschwester ihr Leben führte, und sie erkannte ihr Wesen und die Ursache ihrer Seufzerlein. Zeit totschlagen ist eine Arbeit, bei der man selten lustig bleibt, und auf weichen Pfühlen sitzt man sich bald müde.
Karoline Schnaase, die ihre Liebe zu stimmungsvollen Mühlen noch eine Weile aufrecht hielt, schenkte dem bescheidenen Weiblein neben ihr ein wohlwollendes Gehör und fand Vergnügen daran, vor ihr den Vorhang über der gleißenden Pracht ihres Berliner Lebens aufzuziehen. Sie merkte nicht, wie sie durch staunende Teilnahme immer weiter herausgelockt wurde.
Frau Margaret erfuhr also, wie hilfreich sich eine große Gesellschaft gegenseitig unterstützt, um die Zeit zu vertreiben, wie viele Sorgen das Vergnügen macht, und was für einen erbitterten Kampf man gegen die Langeweile zu führen hat.
Sie sah, daß es für diese Leute nicht Regen noch Sonnenschein gibt; daß Frühling, Sommer, Herbst und Winter ihnen nichts bringen als neue Kleider und Hüte und eine Abwechslung im Zeitvertreib, die wieder Gewohnheit wird und dann schmeckt wie abgestandenes Bier. Sie sah diese Menschen sich abmühen im Nichtstun, und der Blick in eine Arena, darin einer hinterm andern zwecklos im Kreise herumlief, machte sie so ernsthaft aussehen, daß Frau Schnaase glaubte, sie habe in dem bescheidenen Wesen Sehnsucht nach der großen Welt erregt.
Weil sie aber gutmütig war, wollte sie ihm das Unerreichbare nicht gar zu verlockend erscheinen lassen und sagte: »Aber wissen Sie, gute Frau Oßwald, es is nich alles Gold, was glänzt, und unsereinen trifft manche Sorge, und man sehnt sich nach der schönen Ruhe, die Sie genießen.«
Da nichte Frau Margaret nachdenklich mit dem Kopfe und streifte mit einem Blicke das Mädchen, mit dem sich ihr Konrad unterhielt.
Henny beklagte sich darüber, daß sie in Altaich so gar keine Gelegenheit zum Tennisspielen habe.
Ein Brief ihrer Partnerin Dolly Hirsch hatte sie lebhaft an ihre Pflicht erinnert. Es war zu gefährlich, wenn sie so ganz aus der Übung kam. Sie mußte bei den Wettspielen im Herbste schlecht abschneiden. Eigentlich durfte sie gar nicht daran teilnehmen, weil sie die Chancen ihrer Partie gefährdete, aber wenn sie ihre Unterlassung eingestand, mußte sie ausscheiden, und dann wußte sie nicht, wo eine neue Partie zu finden war. Das ging nicht so einfach.
Konrad nahm Anteil an ihrem Kummer. Wenn er nur dem hübschen Mädchen hätte helfen können! Konnte man nicht doch so eine Art Tennisplatz anlegen und konnte nicht er als Spieler aushelfen?
Das fragte er ganz ernsthaft eine Siegerin in zwei Schöneberger Turnieren, und dabei gestand er, daß er noch nie ein Rakett in der Hand gehabt habe!
Junge Herren, die Eindruck machen wollen, müssen in ihren Äußerungen ungeheuer vorsichtig sein, denn ein Mangel kann andere Mängel beleuchten oder aufdecken.
Konrad hatte ahnungslos peinliche Zusammenhänge hergestellt. Sein naives Anerbieten stimmte zu dem Mangel an Schick, der ihm anhaftete, zu der schlecht geschnittenen Kniehose, die er statt Breeches trug. Ein Lächeln, das keine Hochachtung ausdrückte, huschte um die Mundwinkel Hennys, so flüchtig, daß es niemand bemerkte als Frau Margaret, die schnell und gründlich, wie es Mütter können, eine Abneigung gegen das Mädchen faßte.
Konrad hatte nichts gesehen. Er ahnte nicht, daß er blitzartig mit einem tiptop gekleideten James Dessauer verglichen und in unabsehbare Weite hinter ihn gestellt worden war.
Herr Schnaase hatte derweil dem zerstreuten Martin anerkennende Worte über bayrische Süßrahmbutter gespendet, aber der Mensch saß ja mit verträumten Augen da und bewies durch keine Antwort, daß er bei der Sache war!
Da wandte sich Schnaase von ihm ab und lenkte doch lieber die Aufmerksamkeit der andern auf sich.
»Richtig ja! Das habe ich ja noch gar nich erzählt . . . Da is doch hier der Dichter mit den großen Horchlappen, der so unmenschlich viel essen kann . . . na . . . der Pfünzli . . . Pünzli . . . über den is doch 'n Artikel in der Zeitung gestanden . . . «
»Wie interessant!« rief Frau Schnaase.
»In so ner literarischen Rundschau, und das Käsblatt, was drüben in Piebing erscheint, hat es abgedruckt . . . «
»Warum erzählst du das erst jetzt?«
»Natterer hat mir's gezeigt, vor ner Stunde . . . «
»Wie interessant! Und was sagt die Kritik?«
»Ich habe mir nich allens gemerkt, aber es heißt, er is der Erotiker der Zukunft . . . Na! ich muß sagen, das wird wohl sehr theoretisch sein . . . «
»Man muß ihn einladen«, sagte Frau Schnaase.
»Den gräßlichen Kerl?« fragte Henny.
»Wieso gräßlich?« verwies sie die Mutter.
»Herr von Wlazeck behauptet, daß er nich mal Socken an hat. Ich habe natürlich nich darauf geachtet . . . «
»Wenn er geistig bedeutend ist, und wenn man von ihm spricht, kann er Eigentümlichkeiten haben. Ein pensionierter Leutnant hat nicht das Recht dazu . . . «
Frau Schnaase wandte sich wieder an ihren Mann. »Erotiker der Zukunft, sagst du? Das is wohl Lyriker?«
»Ich weiß nich. Wahrscheinlich, denn was mit Theater zusammenhängt, kennst du ja . . . Übrigens das mit den Socken hat mir Wlazeck auch anvertraut. Eigentlich sonderbar! 'n Erotiker stelle ich mir mit durchbrochenen Strümpfen vor . . . «
»Nu fang du nich auch damit an!«
»Es is 'n interessanter Fall, Karline. Is das nu Erotik aus Erfahrung oder aus Unmöglichkeit? Das is hier die Frage . . . «
»Vielleicht wirst du dieses Thema nicht mit deiner gewohnten Gründlichkeit verbreiten?« sagte Frau Schnaase sehr strafend. »Jedenfalls müssen wir mit dem Manne bekannt werden!«
»Aber Mama!«
»Ja, sage ich dir. Er kann dann im Winter zu meinem jour fixe kommen . . . «
»Vielleicht ist er gar nicht in Berlin . . . «
»Dann kommt er hin. Als Dichter, der genannt wird . . . «
»Sehen Sie!« rief Schnaase, indem er sich an Konrad wandte. »Hier haben Sie's! Was ich Ihnen immer sage, es geht nu mal nich ohne Berlin. Meine Frau sagt das ganz unwillkürlich, mit der weiblichen Selbstverständlichkeit . . . «
»Was is mit Berlin?« fragte Frau Margaret.
»Liebe verehrte Frau Oßwald! Reden Sie um Gottes willen Ihrem Sohne nich ab! Es is unerläßlich, daß er nach Berlin geht, denn es is nu mal Metropole, und wenn München noch so gemütlich ist . . . «
»Er geht ja gar net nach München . . . «
»Ich bleibe im Winter hier«, ergänzte Konrad.
»Hier?! Aber Verehrtester, Sie brauchen doch Anregung! Hören Sie mal, als Künstler!«
»Herr Oßwald wird das besser beurteilen können . . . «
»Nee, Karline, da gibt's nu wirklich keine Meinungsverschiedenheiten. Der Künstler gehört ins Zentrum der Kultur. In künstlerisches Miliöh. Das sagt uns die Erfahrung. Nee! Machen Sie so was nich! Hier müssen sie ja versauern . . . «
Um Konrads Mund spielte ein Lächeln, das ihm gut stand, aber einem erfahrenen Weltmanne nicht gefallen konnte. Dabei erzählte er, als ob er's besser wüßte, daß er sich allerlei vom Aufenthalt verspräche.
Er wolle nach langer Zeit wieder einmal die Heimat verschlafen und verschneit sehen, Wald und Hügel und die Bauernhäuser, die sich unterm Schnee zusammenducken und bloß durch den Rauch, der aus den Schornsteinen kräuselt, verrieten, daß behagliches Leben in ihnen stecke . . .
»Alles sehr schön«, erwiderte Schnaase. »Meinswejen sogar poetisch. Aber das ändert nischt an der Devise: Der Künstler muß hinein ins volle Leben. Er muß wissen, was los ist. Glauben Sie mir altem Praktikus: Mit den Idealen alleene macht man's nich. Davon raucht der Kamin nich, weil Sie schon von Schornsteinen sprechen. Der Künstler muß wissen, was die Mode will, was gefällt. Das erfahren Sie in Berlin; hier erfahren Sie's nich!«
Konrad wollte gegen so viel Erfahrung nicht ankämpfen und schwieg.
Herr Schnaase aber vervollständigte seinen Sieg.
»Es handelt sich nich bloß darum, daß Sie sehen, sondern auch darum, daß Sie gesehen werden. Die Leute mit dem großen Portemonnaie müssen von Ihnen sprechen, der Kunsthändler muß Sie lanxieren, denn können Sie sagen: Es ist erreicht . . . «
»Vielleicht urteilst du doch zu nüchtern, Gustav? Es hat auch große Künstler gegeben, die nur ihren Idealen dienten . . . «
»Hat, Karline. Dadruff lege mal den Nachdruck! Hat gegeben, gibt's nich mehr . . . «
»Warum soll die Welt mit einemmal so prosaisch geworden sein?«
»Is se nich. Aber praktisch is se geworden. Wenn man die nötigen Moneten hat, denn kann man sich's so poetisch machen, wie man will. Sehen Sie, da is mein Freund, der Professor Waschkuhn, von dem Sie doch wohl gehört haben . . . Der hat's erfaßt. Der malte un malte drauf los; immer die Damen vom Theater, immer die Säsonggrößen. Lange war's nischt. Aber mein Waschkuhn sagte sich, mit Geduld un Spucke und ließ nich locker. Auf einmal, mit'n Bild von . . . von . . . «
»Lolo Hillmers«, sagte Henny.
»Ganz richtig! Mit'n Bild von der Hillmers machte er's. Nu kamen die Damen von der Finanz, die mit das ville Geld, und jede wollte so aussehen wie die Hillmers. Nach dem Rezept malte er nu und verdiente aasig, denn wenn's mal soweit is, darf's auch was kosten. Das wollen die Leute sogar. Ich habe oft mit Waschkuhn darüber gesprochen, und er sagte mir: >Alter Freund, der künstlerische Erfolg is und bleibt das ewige Geheimnis. Es is das große Los; un die Hauptsache is, daß man immer wieder setzt . . . «
»Zum Beispiel Dessauer!« rief Henny.
»Richtig ja! Der Bruder von deinem Tennisfatzke . . . das is auch so'n Fall . . . «
»Kennen Sie Teddy Nabob von Dessauer?« fragte Henny.
Konrad verneinte.
»Den Roman der Saison kennen Sie nicht?«
»Er ist wunder-wundervoll!« fiel Frau Schnaase ein. »Vielleicht habe ich das Buch hier . . . «
»Aber Sie haben doch davon gehört?« fragte Henny wieder.
»Nein«, sagte Konrad schlicht.
Da wunderte sich auch die gutmütige Frau Schnaase darüber, wie lange die Kultur braucht, um über die Donau zu dringen.
»In Berlin sprach man von nichts anderm. Man mußte Teddy Nabob gelesen haben. Es ist wunder-wundervoll!«
»Jedenfalls ist es riesig geschickt«, erzählte Henny. »Letztes Jahr hat kein Mensch von Lulu Dessauer gesprochen und heute ist er obenauf. Er hat mir gesagt, wie er auf die Idee gekommen ist. Es mußte was Amerikanisches sein, weil da die ganz großen Verhältnisse sind; da läßt sich noch mit den Millionen phantasieren, sagte er. Und denn schildert er einen Mann, der über Nacht Milliardär wird. Es ist wahnsinnig spannend . . . «
»Wunder-wundervoll!«
»Das is ja, was ich sage!« fiel Schnaase ein. »Wäre der Mann in Ruppin gesessen, dann wäre er nie auf die Idee gekommen. Aber in der Großstadt hat der fixe Bengel herausgefunden, daß der moderne Mensch, wenigstens in der Phantasie, mit den Millionen schmeißen will . . . «
Die kleine Welt, die um den Tisch saß und so viel Stauenswertes aus der großen hörte, blieb ungerührt.
Martin hatte nicht aufgemerkt, und Margaret hatte ungemein viel von ihrem Wohlwollen verloren.
Aber auch Konrad fühlte sich von Kellerluft angeweht. Er urteilte über den Geschmack Hennys gewiß nachsichtiger, wie sie über seine Kniehosen, aber, was er gehört hatte, war so fremd und so trennend und stimmte ihn nachdenklich.
Stille war nicht das, was Schnaase liebte.
»Haben Sie schon was gehört von Afko?« fragte er den jungen Mann und seine Eltern, die ja nun ordentlich breit geschlagen waren.
»Afko?«
»Nich wahr, das kennen Sie nich! Altaicher Fremden-Komitee. Ich habe es mit Ihrem Herrn Natterer gegründet, damit wir den Verkehr hier in Schwung bringen. Übrigens Frau Oßwald, Ihr vortrefflicher Kaffee bringt mich auf einen Gedanken. Wie wär's, wenn Sie hier so 'n kleinen Nachmittagsbetrieb aufmachen würden? Kaffee, Schokolade . . . in einem kühlen Grunde? Ich sehe hier schon alle Tische besetzt mit guter Gesellschaft . . . «
Frau Margaret sah das nicht, aber sie bemerkte, daß ihre Liese beim Wäscheaufhängen war, und sie eilte nach ein paar entschuldigenden Worten weg.
Mama Schnaase wandte sich freundlich an Martin.
»Ich finde Ihre Frau entzückend; sie hat so was Ausgeglichenes, Nervenloses . . . ach ja! das kommt doch wohl von dem Aufenthalte in dieser friedlichen Natur . . . «
»Na! Da haben wir ja Aussicht, daß du auch . . . «
»Gott Gustav! Wen ich den wahren Seelenfrieden finden sollte, müßte auch sonst noch manches anders sein. Was soll mir der vorübergehende Landaufenthalt nützen, wenn ich hinterher wieder von dem Hasten und Treiben aufgewühlt werde?«
»Ich will dir 'n Vorschlag machen, Karline. Wir fragen unsern verehrten Gastgeber, ob du nich 'n Winter hier bleiben kannst?«
»Mußt du immer solche Späße machen?«
»Nee, wirklich! In allem Ernste gesprochen. Du könntest diesem aufstrebenden Kurorte 'n kolossalen Gefallen erweisen. Denke dir, wenn du hier so die richtiggehende Wurstigkeit, den Seelenfrieden finden würdest, dann könnten wir's in die Zeitung bringen. Wunderbare Heilung oder fabelhafter Erfolg der Altaicher Höhenluft. Was?«
Frau Schnaase gab keine Antwort, und Henny erinnerte Konrad daran, daß er ihr Bilder und Skizzen zeigen wollte.
Als die jungen Leute ins Haus gingen, blickte Schnaase ihnen kopfschüttelnd nach.
»Sagen Sie mal, Herr Oßwald, wie kommt nu Ihr Sohn dazu, ausgerechnet Maler zu werden? Wenn ich mir so Ihr Etablissemang betrachte, is es mir offen gestanden schleierhaft.«
»Er hatte eben den Drang in sich . . . «
»Karline, du bist fürs Sangtimang, ich fürs Reale, un hier sind Realitäten, angesichts deren meine Frage berechtigt ist . . . «
Martin lächelte.
Aber es war eine Saite angeschlagen, die in ihm fortklang und ihn zum Reden brachte.
Er erzählte, wie Konrad als Bub still und besonders gewesen sei und wie er immer Freude an Bildern gehabt habe. Die sei mit ihm gewachsen und groß geworden, und weil sie ernsthaft gewesen sei, hätten Margaret und er eingewilligt . . .
»Das is ja sehr schön und anerkennenswert, und ich möchte Ihren Entschluß selbstverständlich nich kritisieren. Ich sage nur, ich verstehe es nich . . . «
»Was ist dabei zu verstehen?« fragte Frau Schnaase. »Er hatte das in sich, und ich finde es wunderschön, wenn Eltern ihren Kindern das Recht auf Selbstbestimmung zugestehen . . . «
»Das is die ächte weibliche Inkonsequenz. Erst biste ganz Mühle und Bach und Natur, und denn findest du es wundervoll, daß 'n junger Mensch das alles im Stiche läßt . . . «
Henny, der Konrad seine Skizzen aus der Altaicher Gegend zeigte, fragte unvermittelt:
»Waren Sie schon mal in Italien?«
»Ich hab's ein paarmal im Sinn gehabt, aber es ist nie was geworden . . . «
»Da müssen Sie unbedingt hin. Wir waren auch letzten März in Florenz und Rom. Es war herrlich . . . Und für Sie als Maler ist das notwendig . . . «
»Es kommt mir jetzt nicht mehr so notwendig vor . . . «
»Nanu! Da sollten Sie mal Waschkuhn hören! Er sagt, er verdankt Italien alles . . . «
Da Konrad wieder so merkwürdig lächelte, schloß sie ungnädig: »Und überhaupt gehört das zur Kultur!«
Beinahe hätte sich der junge Mann angemaßt, einer großstädtischen Dame lehrhaft zu kommen, als ihn ein ungeduldiger Zug in ihrem Gesicht davon abhielt. Er zeigte ihr sein letztes Bild, auf das er viel hielt. Durch hohes Kornfeld führte ein schmaler Weg, und man sah es ihm an, daß er heimführte zu guter Rast.
Henny warf einen flüchtigen Blick darauf und fragte lebhaft:
»Was denken Sie, Herr Oßwald, soll ich mich in ganzer Figur malen lassen?«
»In . . . «
»Oder Kniestück? Waschkuhn will mich porträtieren. Er is für ganze Figur.«
»Er soll Sie doch so malen . . . in einer Laube mit spielenden Lichtern . . . «
»In dem Kleide? Nee!«
Da sah man wieder die Provinz! Porträt in weißer Bluse! Doch in Gesellschaftstoilette und mit dem Kollier von Mama!
»Ich bin auch für die ganze Figur«, schloß Henny. »Es ist immer schick, und wenn man schlank ist, soll es doch zur Geltung kommen . . . «
»Ja . . . ja . . . « sagte Konrad. »Das werden werden Sie wohl mit Herrn Professor Waschkuhn vereinbaren . . . «
»Ich freue mit wahnsinnig darauf, wenn erst mein Bild in der Ausstellung hängt . . . Die Eröffnung ist immer totschick. Man sieht die neuen Frühjahrtoiletten . . . Alles ist da . . . Man trifft viele Bekannte und dann die Überraschung, wenn sie mein Bild sehen . . . Es wird einfach süß . . . «
Konrad stellte seinen Feldweg an die Wand und ging mit Henny zurück. Auch Frau Margaret hatte sich wieder an den Tisch gesetzt.
Man wechselte noch einige freundliche Worte, und dann gab Frau Schnaase mit der Versicherung, daß es sehr, sehr schön gewesen sei, das Zeichen zum Aufbruch.

»Was hat er denn?« fragte Martin, als Konrad verstimmt und nach wortkargem Abschied weggegangen war.
»Weiß man, was junge Leut haben?« erwiderte ihm Frau Margaret.
Als wenn er einen Zusammenhang gesucht oder gar gefunden hätte, sagte Martin unvermittelt:
»Ein schönes Mädel is sie . . . das muß wahr sein . . . «
»Was nützt die schönste Schüssel, wenn nix drin is?«
Wie die Margaret nur in der kurzen Zeit zu ihrer Abneigung gegen das hübsche Fräulein gekommen war?
Martin war doch dabei gesessen und hatte nichts gehört und nichts gesehen, was ihm aufgefallen wäre. Die Weiber haben ihre Mucken.
Auf dem Heimwege blieb Schnaase bald hinter der Ertlmühle stehen, stützte sich auf den Stock und holte zu einer längeren Rede aus:
»Nu will ich euch mal was sagen. Die alten Leute sind ganz nette Kleinbürger, der Kaffee war famos - aber der junge Mensch gefällt mir nich. Der hat 'n Frost in Kopp, und ich will euch sagen, was mit dem seiner Malerei und Kunst wird. Nischt wird es. Da is kein Ernst in der Sache, wenn einer bei Muttern bleibt un bloß die Leinwand bekleckert und von Schnee und Schornsteinen quasselt.«
Herr Schnaase war im rechten Fahrwasser und benützte den günstigen Umstand, daß seine Karoline beim Steigen außer Atem kam und ihn nicht unterbrechen konnte.
Hinter der Kirche hörte er plötzlich zu reden auf und brach seinen Satz mit einem erstaunten »Nanu!« ab.
Eine aufgeputzte Dame rauschte an ihm vorbei, ein betäubender Duft von peau d' Espagne umschmeichelte seine Nase. Er wandte sich um und sah die merkwürdige Erscheinung im Hause des Schlossermeisters Hallberger verschwinden.
Nanu?

Als Henny in ihr Zimmer kam, sah sie einen Brief auf dem Tische liegen. Er trug den Poststempel Altaich. Überrascht und neugierig nahm sie ihn, hielt ihn gegen das Fenster und roch daran.
Er war nicht parfümiert.
Sie riß den Umschalg auf und fand zwei grobgezackte Blätter, die mit großen, genialischen Schriftzügen bedeckt waren.
Sie las:
An das Mädchen mit den hellen Nägeln.
Belangreiche unter Belanglosen!
Ich pflanze Dir meine Blicke ins Gesicht. Mein Bleick reißt Deine Augenlider auf. Der völlig Entzündete fängt von der Entflammenden Feuer. Du siehst mich mit geschwungener Braue an und sprengst meine gedämpfte Existenz.
Ich schäume über und rase; mein Gefäß ist zersprengt. Mädchen mit den hellen Nägeln!

Der Entzündete.

Henny sah mit Vergnügen, daß sie angedichtet worden war von einem ganz Modernen.
Sie hatte die Heroen öfter gesehen, die im Café tote Wände anglotzen und mit blutenden Seelen darüber klagen, daß andere Leute arbeiten.
Von so einem angedichtet zu werden, das war doch rasend interessant!
Wie er sie dutzte, frech wie Oskar!
Natürlich waren die Verse von dem Jüngling mit den dunkeln Nägeln, von dem Erotiker ohne Socken.
Am Ende war er wahnsinnig echt Boheme?
Jedenfalls konnte man ein bißchen mit ihm kokettieren, denn mit irgend etwas mußte man sich in dem langweiligen Neste die Zeit vertreiben.
Sie verschloß den Brief in ihrem Koffer.
Ob Tobias Bünzli mehr erhofft hatte?
Ob er geglaubt hatte, daß seine Worte wie züngelnde Schlangen das Mädchen anspringen würden?
Vermutlich nicht.
Denn in Bünzli steckte noch ein starker Rest von solider Winterthurer Nüchternheit.
Eine mäßige Erbschaft und eine hinter der Ladenbuddel aufgequollene Sehnsucht hatten ihn auf die Abwege der neuen Dichtkunst geführt, in der er gleich Meister wurde, ohne Lehrling gewesen zu sein.
Sein Erbteil schwand dahin, und er sah sich im Geiste wieder im Laden stehen.
Aber es war seltsam, wie wenig ihn der Gedanke erschreckte. Ja, manchmal ertappte er sich auf dem Wunsche, es wäre schon so weit.
Vorerst mußte er aber noch gewaltige Werte schaffen und Worte bilden, die junge Mädchen wie züngelnde Schlangen ansprangen.