Ludwig Tieck

Die Freunde

Erzählung

Es war ein schöner Frühlingsmorgen, als Ludwig Wandel ausging, um auf einem Dorfe, das einige Meilen entfernt war, einen kranken Freund zu besuchen. Dieser hatte ihm geschrieben, daß er gefährlich darniederliege und ihn gern noch einmal zu sehn und zu sprechen wünsche.

Der muntre Sonnenschein glänzte in den hellgrünen Gebüschen; die Vögel zwitscherten und sprangen hin und wider; die fröhlichen Lerchen sangen über den leichten, vorüberfliegenden Wolken! Düfte kamen von den frischen Wiesen und alle Obstbäume in den Gärten blühten weiß und freundlich.

Ludwigs trunkenes Auge schweifte auf allen Gegenständen umher; seine Seele wollte sich erweitern, aber dann dachte er an seinen kranken Freund und ging wieder in stiller Betrübnis weiter; die Natur hatte sich umsonst so hell und glänzend geschmückt, er sah in seiner Phantasie nur das Krankenbett und seinen leidenden Bruder.

»Wie Gesang von jedem Zweige schallt«, rief er aus; »die Töne der Vögel vermischen sich lieblich mit dem Flüstern der Blätter, und ich höre aus der Ferne doch die Seufzer des Kranken durch das süße Konzert.«

Indem kam ein Zug geputzter Bäuerinnen aus dem Dorfe; alle grüßten ihn freundlich und erzählten ihm, wie sie mit munterm Sinne nach einer Hochzeit wallfahrteten, wie die Arbeit für heute ruhen und dem Feste Platz machen müsse. Er hörte ihnen zu, und noch aus der Ferne erschallte ihr Jubel; ihm klangen die Lieder nach, die sie sangen, aber er ward immer betrübter. Im Walde setzte er sich auf einen umgehauenen Baum nieder, zog den schon oft gelesenen Brief aus der Tasche und las noch einmal.

 

Vielgeliebter Freund!

Ich weiß nicht, warum Du mich so ganz vergessen hast, daß ich gar keine Nachrichten von Dir erhalte. Darüber verwunderte ich mich nicht, daß die Menschen mich verlassen, aber das betrübt mich inniglich, daß auch Du Dich gar nicht um mich kümmerst. Ich bin gefährlich krank, ein Fieber erschöpft alle meine Kräfte; wenn Du noch länger zögerst, mich zu besuchen, so kann ich Dir nicht versprechen, ob Du mich noch wiedersiehst. Die ganze Natur lebt auf und fühlt sich frisch und kräftig, nur ich sinke ermattet zurück; mich erquickt die neue Wärme nicht, ich sehe die grüne Flur nicht, nur den Baum, der vor meinem Fenster rauscht und meinen Gedanken lauter Totenlieder singt. Meine Brust ist enge, der Atem wird mir schwer, und manchmal scheint es mir, als würden die Wände meines Zimmers immer dichter zusammenrücken und mich so erdrücken. Ihr übrigen in der Welt feiert jetzt die schönste Zeit des Lebens, und ich muß hier in der Krankenbehausung verschmachten. Ich wollte gern den Frühling aufgeben, wenn ich nur Dein liebes Angesicht noch einmal wiedersehn könnte; aber ihr Gesunden denkt nie ernsthaft daran, was es eigentlich zu sagen habe, wenn man krank ist, wie teuer uns dann in der Hülflosigkeit der Besuch des Freundes ist; ihr wißt die kostbaren Minuten des Trostes nicht zu schätzen, weil euch die ganze Welt mit warmer, inniger Freundschaft umfängt. Ach wenn ihr den schrecklichen Tod und das noch schrecklichere Kranksein so kenntet, wie ich! O Ludwig, wie würdest Du dann eilen, um diese zerbrechliche Form schnell noch einmal wiederzuerkennen, die Du bisher Deinen Freund nanntest und die nachher so unbarmherzig in Stücke geschlagen wird. Wenn ich gesund wäre, würd ich Dir entgegeneilen und mir einbilden, Du könntest in diesem Augenblicke vielleicht krank liegen. Wenn ich Dich nicht wiedersehn sollte, so lebe wohl. -

 

Welchen sonderbaren Eindruck machte der Schmerz dieses Briefes auf Ludwigs Herz in der fröhlichen Natur, die beglänzt vor seinen Augen so herrlich dalag. Er weinte und stützte das Haupt auf die Hand. »jubiliert nur, ihr Waldbewohner!« dachte er bei sich, »denn ihr kennt keine Klage, ihr führt ein leichtes, poetisches Leben, und dazu sind euch die raschen Schwingen verliehen; o wie glücklich seid ihr, daß ihr nicht trauern dürft! Der warme Sommer ruft euch und ihr wünscht nichts weiter, ihr tanzt ihm entgegen und wenn der Winter kommen will, seid ihr verschwunden. O du leichtbefiedertes, fröhliches Waldleben! wie beneid ich dich! Warum sind dem armen Menschen so viele schwere Sorgen in sein Herz gelegt? Warum darf er nicht lieben, ohne durch Jammer seine Liebe zu erkaufen? Durch Elend sein Glück? Das Leben rauscht wie eine flüchtige Quelle unter unsern Füßen hinweg, und löscht nicht unsern Durst, unsre heiße Sehnsucht.«

Er verlor sich immer mehr in Gedanken, dann stand er auf und setzte seinen Weg durch den dichten Wald fort. »Wenn ich ihm nur helfen könnte«, rief er aus; »wenn mir nur die Natur irgendein Mittel darböte, ihn zu retten; so aber habe ich nichts als das Gefühl meiner Schwäche und den Schmerz über den Verlust meines Freundes. In meiner Kindheit glaubt ich an Zauberei und an ihre übernatürliche Hülfe; o wär ich jetzt so glücklich, daß ich so, wie damals, auf sie hoffen könnte.«

Er beschleunigte seine Schritte, und unwillkürlich kamen ihm alle Erinnerungen aus seinen frühesten Kinderjahren zurück; er folgte den lieblichen Gestalten, die ihm winkten, und war bald so in einem Labyrinthe verwickelt, daß er die Gegenstände nicht bemerkte, die ihn umgaben. Er hatte vergessen, daß es Frühling war, daß sein Freund krank sei; er horchte auf die wunderbaren Melodieen, die zu ihm wie von fernen Ufern herübertönten; das Seltsamste gesellte sich zum Gewöhnlichsten; seine ganze Seele wandte sich um. Aus dem Hintergrunde des Gedächtnisses, aus dem tiefen Abgrunde der Vergangenheit wurden alle die Gestalten hervorgetrieben, die ihn einst entzückt oder geängstigt hatten; aufgestört wurden alle die ungewissen Phantome, die ohne Gestalt herumflattern und oft mit wüstem Gesumse unser Haupt umgeben. Puppen, Kinderspiele und Gespenster tanzten vor ihm her und bedeckten ganz den grünen Rasen, daß er keine Blume zu seinen Füßen gewahr werden konnte. Die erste Liebe umgab ihn mit ihrem dämmernden Morgenschimmer und ließ funkelnde Regenbogen auf die Aue niederfallen; die ersten Schmerzen zogen vorbei und drohten ihm, am Ende des Lebens in eben der Gestalt wiederzukommen. Ludwig suchte alle diese wechselnden Gefühle festzuhalten und in diesem magischen Genusse sich seiner selbst bewußt zu bleiben, aber vergeblich: wie rätselhafte Bücher mit bunten grotesken Figuren, die sich schnell auf einen Augenblick eröffnen und dann plötzlich wieder zugeschlagen werden; so unstet, so flatternd zog alles seiner Seele vorüber.

Der Wald öffnete sich und seitwärts lagen auf dem offenen Felde einige alte Ruinen, mit Warttürmen und Wällen umgeben. Ludwig verwunderte sich, daß er unter seinen Träumen den Weg so schnell zurückgelegt habe. Er schritt aus seiner Schwermut heraus, so wie er aus dem Schatten des Waldes trat; denn oft sind die Gemälde in uns nur Widerscheine von den äußern Gegenständen. Jetzt ging wie eine Morgensonne die Erinnerung in ihm auf, wie er zuerst den Genuß der Poesie habe kennen lernen, wie er zum erstenmal den holden Einklang verstanden, den manches Menschenohr niemals vernimmt.

»Wie unbegreiflich«, sagte er zu sich, »flog damals das zusammen, was mir auf ewig durch große Klüfte getrennt schien; die ungewissesten Ahndungen in mir erhielten Form und Umriß, und strahlten Schimmer von sich, in denen ich tausend Nebengestalten erblickte, die ich bis dahin noch niemals wahrgenommen hatte. So ward mir nun das genannt, was ich immer hatte aussprechen wollen, ich empfing nun die schönsten Schätze der Erde, die meine Sehnsucht bis dahin vergeblich gesucht hatte; und wie hab ich dir seitdem, du göttliche Kraft der Phantasie und Dichtkunst, so alles zu danken! Wie hast du meinen Lebenslauf eben gemacht, der erst so verworren schien! Immer neue Quellen des Genusses und des Glückes hast du mich entdecken lassen, so daß sich mir jetzt nirgends eine dürre Wüste entgegenstreckt; alle Ströme der süßen, wollüstigen Begeisterung haben ihren Lauf durch mein irdisches Herz genommen, ich bin trunken worden, und habe die Himmlischen kennengelernt.«

Die Sonne ging unter und Ludwig verwunderte sich darüber, daß es schon Abend sein sollte; er fühlte keine Müdigkeit, er war auch noch weit von dem Ziele entfernt, das er vor der Nacht hatte erreichen wollen. Er stand still und begriff es nicht, wie es komme, daß sich der purpurrote Abend schon über die Wolken ausstreckte; daß so große Schatten fielen und die Nachtigall aus dem dichten Gebüsche ihr klagendes Lied begann. Er sah sich um; die Ruinen lagen weit zurück, ganz mit rotem Glanze übergossen, und er war jetzt zweifelhaft, ob er sich nicht von der geraden, ihm so wohlbekannten Straße entfernt habe.

Jetzt fiel ihm ein Bild aus seiner frühen Kindheit ein, das bis dahin noch nie wieder in seine Seele gekommen war; eine furchtbare weibliche Gestalt, die vor ihm über das einsame Feld hinschlich, ohne sich nach ihm umzusehn, und der er wider seinen Willen folgen mußte, die ihn in unbekannte Gegenden nach sich zog, und deren Gewalt er sich durchaus nicht erwehren könne. Ein leiser Schauer schlich über ihn hin, und doch war es ihm unmöglich, sich jener Gestalt deutlicher zu erinnern, oder sich mit der Seele in jenen Zustand zurückzufinden, in welchem dieses Bild zuerst in ihm aufgestiegen war. Er strebte nach, alle diese seltsamen Empfindungen in sich abzusondern, als er sich durch einen Zufall etwas genauer umsah und sich wirklich an einem Orte befand, den er bis dahin, sooft er auch dieses Weges gegangen war, noch nie gesehen hatte. »Bin ich bezaubert?« rief er aus, »oder haben mich meine Träume und Phantasien verrückt gemacht? Ist es die wunderbare Wirkung der Einsamkeit, daß ich mich selber nicht wiedererkenne, oder schweben Geister und Genien um mich her, die meine Sinnen gefangen halten? Wahrlich, wenn ich mich nicht aus mir selbst herausreißen so erwarte ich hier jenes Frauenbild, das mir in meiner Kindheit auf allen wüsten Plätzen vorschwebte.«

Er suchte alle Phantasien von sich zu entfernen, um sich im Wege wieder zurechtzufinden; aber seine Erinnerungen wurden immer verwirrter, die Blumen zu seinen Füßen wurden größer, das Abendrot wurde noch glühender und wunderseltsame Wolken hingen tief zur Erde hinunter, wie Vorhänge von einer geheimnisreichen Szene, die sich bald eröffnen würde. Es entstand ein klingendes Sumsen in dem hohen Grase und die Halmen neigten sich gegeneinander, als wenn sie ein Gespräch führten und ein leichter warmer Frühlingsregen plätscherte dazwischen, als wenn er alle schlummernde Harmonien in den Wäldern, in den Gebüschen, in den Blumen aufwecken wollte. Nun klang und tönte alles, tausend schöne Stimmen redeten durcheinander, Gesänge lockten sich und Töne schlangen sich um Töne, und in dem niedersinkenden Abendrote wiegten sich unzählige blaue Schmetterlinge, auf deren breiten Flügeln der Schein funkelte. Ludwig glaubte im Traume zu liegen, als sich plötzlich die schweren, dunkelroten Wolken wieder aufhoben, und eine weite unabsehlich weite Aussicht öffneten. Im Sonnenschein lag eine prächtige Ebene da und funkelte mit frischen Wäldern und betautem Buschwerk. In der Mitte strahlte ein Palast mit tausend und tausend Farben, wie aus lauter beweglichen Regenbogen und Gold und Edelsteinen zusammengesetzt; ein vorübergehender Fluß warf spielend die mannigfaltigen Schimmer zurück, und eine weiche rötliche Luft umfing das Zauberschloß. Da flogen fremde, niegesehene Vögel umher, und scherzten mit ihren roten und grünen Flügeln gegeneinander, größere Nachtigallen sangen mit lauteren Tönen durch die widerklingende Natur; Flammen schossen durch das grüne Gras hin, und flatterten bald hier, bald dort, und fuhren dann in Kreisen um das Schloß herum. Ludwig ging näher und hörte holdselige Stimmen folgendes singen:

»Wandersmann von unten
geh uns nicht vorüber,
weile in dem bunten
Zauberpalast lieber.

Hast du Sehnsucht sonst gekannt
nach den fernen Freuden,
oh, wirf ab die Leiden!
und betritt das längstgewünschte Land.«


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