Erste Idylle

Meliböus und Tityrus

Nach der Schlacht bei Philippi verteilte Oktavianus an seine Soldaten die versprochenen Ländereien. Aber die wilde und rohe Schar überschritt bald ihr Gebiet und rückte die Grenze ihres Besitzes weiter hinaus; auf diese Weise verlor auch unser Dichter sein Landgut bei dem Dorfe Andes. Nur durch Fürsprache des Asinius Pollio, des Präfekten des Transpadanischen Galliens, erlangte Vergil von Oktavian sein Gut wieder. In diesem Gedicht drückt er seinen Dank gegen seinen Wohlthäter aus.

 
Meliböus
                Tityrus, unter dem Dach breitästiger Buche1) gelagert,
Sinnest mit Waldgesange den schmächtigen Halm zu begeistern2).
Wir, des Vaterbezirks anmutige Fluren verlassend,
Fliehen das Heimatland: Du, Tityrus, ruhig im Schatten,
5  Lehrest, wie schön Amaryllis, mit Hall antworten die Wälder.
 
Tityrus
O Meliböus, ein Gott3) hat hier uns Ruhe gewähret.
Denn mir wird jener ein Gott stets sein; seinen Altar wird
Oft ein jugendlich Lamm4) aus unserer Hürde besprengen.
Er hat meinen Küh'n, wie du schaust, zu weiden, mir selber,
10  Was ich wollte, zu spielen auf ländlichem Rohre, verstattet.
 
Meliböus
Nicht mißgönn' ich es dir; nur wundert's mich. Ganz ja erfüllet
So die Flur das Getümmel umher. Schau, selber bekümmert
Treib' ich die Ziegen hinweg; kaum, Tityrus, führ' ich die eine;
Dort im Haselgesträuch5) verließ die Zwillinge eben,
15  Auch die Hoffnung der Herd', die auf harter Klippe sie ausrang.
Oft hat uns dies Übel, wenn nicht das Herz so verkehrt war,
Wetterschlag6), ich erinnre mich wohl, in die Eichen verkündigt.
Doch sprich, wer ist der Gott, o Tityrus, den du mir nanntest?
 
Tityrus
Dorten die Stadt, die Roma man nennt, Meliböus, die wähnt' ich
20  Törichter gleich der unsrigen7) hier, zu welcher wir Hirten
Zarte Kinder der Schafe hinabzutreiben gewohnt sind.
So sind Hunden die Hündelein gleich, so Ziegen die Böcklein,
Dacht ich mir; so pflegt ich mit Kleinem Großes zu messen.
Doch so weit hob jene vor anderen Städten ihr Haupt auf,
25  Als vor dem zähen Gesproß des Schlingbaums8) ragt die Zypresse.
 
Meliböus
Was so Wichtiges denn hat Roma zu sehn dich bewogen?
 
Tityrus
Freiheit war es, die spät, doch endlich den Säumigen ansah,
Als schon weißeres Haar absank vom geschorenen Barte,
Doch ansah, und zuletzt nach längerem Zögern sich einfand,
30  Seit mich schon Amaryllis beherrscht, Galatea hinwegschied.
Denn, ich will es gestehn, als noch Galatea mich festhielt,
War nicht Hoffnung, der Freiheit zu nahn, noch Sorge für Spargut9),
Ob auch häufig aus meinem Geheg' ein Opfer hervorging,
Noch so fett für der Stadt Undank mein Käse gepreßt ward,
35  Nie ist schwer von Gelde die Hand mir nach Hause gekehret.
 
Meliböus
Wundert' ich doch, wie die Götter vergrämt, Amaryllis, du anriefst,
Und wem hangen du ließest die Frucht an jeglichem Obstbaum.
Tityrus weilete fern. Dich, Tityrus, riefen die Föhren,
Riefen die Quellen herbei, dich selbst auch diese Gesträuche.
 
Tityrus
40  Was zu tun? Nicht konnt' ich heraus ja gehn aus der Knechtschaft
Noch wo sonst erkennen so nah' obwaltende Götter.
Dort hab' ich den Jüngling gesehn, Meliböus, dem jährlich
An zwölf Tagen bei uns der Opferaltar dampft.
Dort erteilte zuerst mir Bittenden jener die Antwort:
45  Weidet, ihr Burschen, das Vieh wie zuvor; zieht Stiere zum Nachwuchs.
 
Meliböus
O glückseliger Alter, so bleiben wir deine Gefilde!
Groß genug auch für dich, wiewohl rings nacktes Gestein ist,
Und mit schlammiger Binse der Sumpf die Triften bedecket.
Nicht ungewohntere Weise beschwert nun kränkliche Mütter,
50  Noch verletzt heimtückisch die Seuche benachbarten Viehes.
O glückseliger Alter, hier zwischen vertraulichen Bächen
Und an heiligen Quellen erfrischt dich schattige Kühlung.
Dort der Zaun, der hinab an benachbarter Grenze des Feldes
Stets hybläische Bienen10) mit Weidenblüten bewirtet,
55  Tönt mit leisem Gesumme dich oft in gemächlichem Schlummer:
Hier am ragenden Fels11) singt hoch der scherende Winzer;
Rastlos girren indes Waldtauben12) mit heiserem Tone,
Welche so wert dir sind, und die Turtel von luftiger Ulme.
 
Tityrus
Eher demnach wird weiden der flüchtige Hirsch in den Lüften,
60  Und das entfliehende Meer auf dem Trockenen lassen die Fische;
Eher ja wird ausheimisch, nach ungewechselten Grenzen,
Trinken der Parther des Araris Flut, der Germane den Tigris13),
Als daß je sein Antlitz14) aus unserem Herzen entschwindet.
 
Meliböus
Doch wir wandern hinweg, ein Teil zu den dürstenden Afrern,
65  Andere Szythien zu und dem reißenden Strome des Oxus15),
Ja zu dem fern entlegnen Britannier außer dem Erdkreis!
Werd' ich je das Gefild', ach, künftig einmal, wo ich aufwuchs,
Und die ärmliche Hütte, mit Rasen bekleidetes Obdach,
Künftig die wenigen Ähren, mein Reich, anstaunend erblicken?
70  Diese so fleißige Brach' hat nun der verruchteste Krieger?
Diese Saat der Barbar16)? Wohin, ach, leitete Zwietracht
Uns unglückliches Volk! Für wen bestellten wir Äcker?
Jetzt, Meliböus, dir Birnen gepfropft17), jetzt Reben geordnet!
Geht, mein klägliches Vieh, so beglückt einst, gehet ihr Ziegen,
75  Niemals werd' ich hinfort, in umgrüneter Grotte gelagert,
Fernhin schweben euch sehn an buschiger Höhe des Felsens;
Nie auch tönt mein Gesang; nie schwärmet ihr, fröhlich des Pflegers,
Blühenden Zytisus18) euch und ittere Weiden zu rupfen.
 
Tityrus
Diese Nacht doch könntest du wohl hier neben mir ausruhn
80  Auf grünlaubiger Streu. Mild schmeckende Äpfel,
Weiche Kastanien19) auch und gepreßte Milch zur Genüge.
Schon auch steigt in der Ferne der Rauch aus ländlichen Hütten,
Und von den Höh'n des Gebirgs entsinken jetzt größere Schatten.


  1. Die Rotbuche (fagus silvatica) ist in Griechenland und Norditalien (faggio) heimisch. Zurück
     
  2. Schon bei Homer (Ilias XVIII, 525 f.) ergötzen sich die Hirten am Flötenspiel, wie heute noch in Griechenland. Zurück
     
  3. Oktavianus ist für den beglückten Hirten gleichsam ein Gott geworden. An die erst später erfolgte Versetzung des Augustus unter die Götter darf hier noch nicht gedacht werden. Zurück
     
  4. Der Arme opfert ein Ferkel, der mittelmäßig Begüterte ein Lamm, der Reiche ein Kalb. Zurück
     
  5. Gemeint ist der wildwachsende Haselstrauch. Zurück
     
  6. Blitzschlag in fruchttragende Bäume betrachtete der Aberglaube, der sich zu allen Zeiten bei Landleuten und Hirten findet, als unheilbringende Vorbedeutung, in Ölbäume Mißwachs, in Eichen Landesverweisung. Zurück
     
  7. D. i. Mantua, das in der Niederung liegt; dorthinab wurden die Jungen von der säugenden Mutter weggetrieben. Zurück
     
  8. Jedenfalls viburnum Lantana, da die Ruten dieses Strauches (unseres »Schneeballs«) wegen ihrer Zähigkeit in Italien sehr geschätzt waren. – Die hochstrebende Pyramidalzypresse, in italienischen Gärten gezogen, cipresso maschio (die männliche), die nicht hochstrebende (horizontale) Gattung wird in Italien die weibliche Zypresse, cipresso femina, genannt. Als hoher und schlankgewachsener Baum wird die Zypresse öfter erwähnt. Zurück
     
  9. Dem Sklaven war es gestattet, sich von seinen Ersparnissen die Freiheit von seinem Herrn zu erkaufen. Zurück
     
  10. Bezeichnung der vorzüglichen Güte des Honigs, insofern die Bienen so würzigen Honig tragen, wie die in den Thymianfeldern der sizilianischen Stadt Hybla. Zurück
     
  11. In der lombardischen Tiefebene gibt es keine hohen Felsen. – Der Winzer schneidet das dichte Laub aus, damit die Sonnenstrahlen auf die Trauben fallen können. Zurück
     
  12. Die Wald-, Holz- Ringeltaube (palumbes torquatus) ist die größte europäische Taube, 41 cm lang. Sie bewohnt Europa und Asien mit Ausschluß des hohen Nordens, nistet in Nadelwäldern, Gärten und Parkanlagen, sogar an Häusern; im Herbst zieht sie nach Afrika und kehrt im März zurück. – Die Turteltaube (turtur auritus) ist ein schönes, liebliches Tierchen von 28 cm Länge und bewohnt Europa, Asien, Afrika, findet sich namentlich in Sirmien, Bosnien und Serbien in unabsehbarer Menge, und man sieht sie dort im Spätsommer stets hundertweise auf den Straßenbäumen, Feld- und Gartenzäunen. Sie bewohnt namentlich Fichten- und Kiefernwälder, zieht im September nach Afrika und kommt im April wieder. Die alten Israeliten bedienten sich sehr oft der Turteltauben zu Opfern, und beim Tempel zu Jerusalem standen immer Leute, die solche Tauben zu verkaufen hatten (s. Evang. nach Lukas 2, 24). Zurück
     
  13. Der Arar (Saône) wird als der seit Cäsar den Römern bekannte Fluß Galliens zur Bezeichnung des Nordens gewählt, ebenso Germanien, d. i. das von den Alpen nördlich gelegene Land überhaupt. Daß Germanen auf dem linken Rheinufer sich niederließen, erzählt schon Cäsar. Zurück
     
  14. Nämlich des Oktavianus. Zurück
     
  15. Bedeutender Fluß des inneren Asiens, der nach Arrian (III, 29, 2) auf dem indischen Kaukasus entspringt, links parallel mit dem Iaxartes erst gegen Norden fließt, dann plötzlich die Nordgrenze von Baktriana und Margiana gegen Sogdiana bildet und sich nach Aufnahme mehrerer Nebenflüsse in den Aralsee ergießt; heute Amu-Darja oder Gihon. Zurück
     
  16. In den römischen Heeren dienten damals Leute aus den verschiedensten Völkern. Zurück
     
  17. Durch Aufpfropfen veredelter Zweige wird dem Baume feinere Frucht abgewonnen. Zurück
     
  18. Geißklee, von angenehmem Geruch und Geschmack der Blätter, deshalb von Bienen, Schafen, Ziegen und Rindern gesucht, wächst zu baumartigem Strauch. Die stark wuchernden Zweige wurden häufig geschnitten und lieferten reichliches und gutes Viehfutter. Zurück
     
  19. Die Zeit der Reife der Kastanien war im Oktober. Zurück


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