Walther von der Vogelweide
Der Wahlstreit (1198)

  
1. Ich saz uf eime steine 1.  Ich saß auf einem Steine:
und dahte bein mit beine, Da deckt‘ ich Bein mit Beine,
dar uf sazt‘ ich den ellenbogen; Darauf der Ellenbogen stand;
ich hete in mine hant gesmogen Es schmiegte sich in meine Hand
daz kinne und ein min wange. Das Kinn und eine Wange.
Do dahte ich ömir vil ange, Da dacht‘ ich sorglich lange
wes man zer werlte sollte leben. Dem Weltlauf nach und ird’schem Heil;
Deheinen rat kond‘ ich gegeben, Doch wurde mir kein Rat zuteil,
wie man driu dinc erwurbe, Wie man drei Ding‘ erwürbe,
der keines niht verdurbe. Daß keines davon verdürbe.
Die zwei sind ehe und varnde guot, Die zwei sind Ehr‘ und zeitlich Gut,
daz dicke ein ander schaden tuot; Das oft einander schaden tut,
das dritte ist gotes hulde, Das dritte Gottes Segen,
der zweier übergulde. An dem ist mehr gelegen:
Die wolte ich gerne in einen schrin. Die hätt‘ ich gern in einem Schrein.
Ja leider des enmac niht sin, Ja leider mag es nimmer sein,
daz guot und werltlich ere Daß Gottes Gnade kehre
und gotes hulde mere Mit Reichtum und mit Ehre
zesamene in ein herze komen. Je wieder in dasselbe Herz.
Stig‘ unde wege sint in benomen: Sie finden Hemmung allerwärts:
Untriuwe ist in der saze, Untreu hält Hof und Leute,
gewalt vert uf der straze, Gewalt fährt aus auf Beute,
frid‘ unde reht sint sere wunt: So Fried‘ als Recht sind todeswund:
diu driiu enhabent geleites niht, diu Die dreie haben kein Geleit, die zwei
        zwei enwerden e gesunt.         denn werden erst gesund.
  
2.  Ich horte ein wazzer diezen 2. Ich hört‘ ein Wasser rauschen
Und sach die vische flizen; und ging den Fischen lauschen,
Ich sach, zwaz in der werlte was, ich sah die Dinge dieser Welt,
velt unde walt, loup, ror und gras; Wald, Laub und Rohr und Gras und Feld,
swaz kriuchet unde fliuget was kriechet oder flieget,
und bein zer erden biuget, was Bein zur Erde bieget,
daz sach ich unde sage iu daz: das sah ich, und ich sag‘ euch das:
der keinez lebet ane haz. Da lebt nicht eines ohne Haß.
Daz wilt und daz gewürme Das Wild und das Gewürme,
Die stritent starke stürme, die streiten starke Stürme,
samt tuont die vogel under in; so auch die Vögel unter sich;
wan daz sie habent einen sin: doch tun sie eins einmütiglich:
sie diuhten sich zu nihte, sie schaffen stark Gerichte,
si’n schüefen starc gerihte: sonst würden sie zu nichte;
sie kiesent künege unde reht, Sie wählen Kön’ge ordnen Recht
sie setzent herren unde kneht. Und unterscheiden Herrn und Knecht.
so we dir, tiuschiu zunge, So weh dir, deutschem Lande,
Wie stet din ordenunge, wie ziemet dir die Schande,
daz nu diu mugge ir künec hat, daß nun die Mücke hat ihr Haupt,
und daz din ere also zergat! und du der Ehren bist beraubt!
Bekera dich bekere! Bekehre dich! Vermehre
Die zirken sint ze here, nicht noch der Fürsten Ehre.
die armen künege dringent dich: Die armen Kön’ge drängen sich:
Phillippe setze en weisen uf und Philippen setz‘ den Waisen* auf, so
        heiz sie treten hinder sich! .        weichen sie und beugen sich.

* Hauptedelstein der deutschen Königskrone