Sokrates. Sage mir, Aristipp, wenn dir ein paar junge Leute übergeben würden, um den einen zum regieren, den andern so, daß er weder Lust noch Vermögen zum regieren habe, zu erziehen, - wie wolltest du es anstellen? - Machen wir, wenn dirs recht ist, gleich mit der Nahrung als dem unentbehrlichsten, den Anfang.
Aristippos. (lächelnd) Die Nahrung möchte allerdings, da man ihrer zum Leben nicht wohl entbehren kann, der erste Punkt seyn.
Sokrates. Ohne Zweifel werden unsre beyden Zöglinge um Essenszeit zu Tische gehen wollen?
Aristippos. Man sollt' es denken.
Sokrates. Nun könnte aber gerade um diese Zeit ein dringendes Geschäfte abzuthun seyn: welchen von beyden wollten wir so gewöhnen, daß er lieber die Befriedigung seines Magens aufschieben möchte, als ein nöthiges Geschäft?
Aristippos. Freylich wohl den ersten, der zum Regieren erzogen werden soll, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, daß die Staatsgeschäfte unter seiner Regierung ungethan bleiben.
Sokrates. In diesem Fall hat es wohl mit dem Trinken dieselbe Bewandtniß? Er wird sich auch gewöhnen müssen, Durst leiden zu können?
Aristippos. Keine Frage!
Sokrates. Und wie ist es mit dem Schlafe? Welchen von beyden wollen wir so erziehen, daß er spät zu Bette gehen, früh aufstehen, und, wenn's nöthig ist, die ganze Nacht wach bleiben könne?
Aristippos. Immer noch den ersten, versteht sich.
Sokrates. Und der Afrodisischen Befriedigungen2) sich enthalten zu können, um auch von diesen sich nicht an pflichtmäßigen Geschäften verhindern zu lassen?
Aristippos. Eben denselben.
Sokrates. Ferner, keine Arbeiten noch Beschwerlichkeiten zu scheuen, sondern sie vielmehr freiwillig zu übernehmen, welchen von beyden wollen wir dazu anhalten?
Aristippos. Unläugbar den, der zum Regieren gebildet werden soll.
Sokrates. Und überhaupt alles zu lernen, was man wissen und können muß, um über seine Gegner Meister zu werden, welcher wird dessen wohl am meisten bedürfen?
Aristippos. Freylich der künftige Staatsmann; denn ohne diese Kenntnisse und Geschicklichkeiten würde ihm alles übrige zu nichts helfen.
Sokrates. Dünkt dich nicht, einer der so erzogen ist, werde von seinen Gegnern nicht so leicht gefangen werden können, wie andre Thiere? Denn unter diesen giebt es einige, die ihr Magen so kirre macht, daß sie, ihrer natürlichen Schüchternheit ungeachtet, dem Reiz der Lockspeise nicht widerstehen können, und dadurch gefangen werden; andere, denen man durch (betäubende) Getränke nachstellt; noch andere, wie z. B. die Wachteln und Repphühner, die, sobald sie von der Stimme eines Weibchens gelockt werden, in brünstiger Begierde herbey geflogen kommen, und, über der gehofften Lust alle Gefahr vergessend, sich ins Netz des Vogelstellers stürzen.
Aristippos. Dagegen ist nichts zu sagen.
Sokrates. Dünkt dich nicht auch, es gereiche einem Menschen zur Schande, sich von einem blinden Trieb wie die unverständigsten Thiere überwältigen zu lassen? Die Ehebrecher, zum Beyspiel, wissen, indem sie andern ins Gehege gehen, recht gut, daß sie Gefahr laufen, in die Strafe des Gesetzes zu fallen, und was für schreckliche und schmähliche Mißhandlungen ihrer warten, wenn sie ertappt werden; und doch ist weder Schaden noch Schande vermögend, den Ehebrecher zurückzuhalten, daß er sich nicht blindlings in die größte Gefahr stürze, um einen Trieb zu befriedigen, zu dessen Stillung ihm so viele gefahrlose Wege offen stehen. Muß ein solcher Mensch nicht ganz und gar von einem bösen Dämon besessen seyn?3)
Aristippos. So dünkt michs.
Mein zweyter Ausweg ist: anzunehmen, daß die angefochtene Stelle zwar nicht von Sokrates, aber doch von Xenofon herrühre, und dabey vorauszusetzen, daß seine aus Verschiedenheit der Denkart, Sitten und Lebensweise leicht erklärte, und mit Verachtung vermischte Abneigungen gegen den Filosofen für die Welt,
QUEM OMNIS DECUIT COLOR ET STATUS ET RES,
sich in die Darstellung eines ehmals wirklich zwischen ihm und ihrem
gemeinschaftlichen ehrwürdigen Freund vorgefallenen Gesprächs gemischt habe. Der
Unterschied zwischen Xenofon, der beynahe in allen Lagen und Verhältnissen des
öffentlichen und Privatlebens das Sokratische Ideal eines kalou kai
agaJou praktisch darstellte, und Aristipp, der sich eine eigene, nur für ihn selbst und
wenige, QUOS AEQUUS AMAVIT JUPITER, passende Filosofie der Grazien
gemacht hatte, war zu groß, als daß der erste (der überdieß um zwanzig
Jahre wenigstens älter war) den andern in einem freundlichem Lichte hätte sehen,
geschweige gar mit Schonung hätte behandeln können, wenn sich ihm eine so gute
Gelegenheit, wie hier, anbot, die Denkart und Lebensweise Aristipps mit der Sokratischen in einen
recht auffallenden Kontrast zu setzen. - In der Uebersetzung der letzten Worte
ouk hdh touto pantapasi kakodaimonwntoV estin; habe ich den ganzen
Nachdruck des Hauptworts auszudrücken gesucht, und hierin den eleganten französischen
Uebersetzer der Memorabilien, Levesque, zum Vorgänger gehabt -
L'ON DIROIT QU'ILS Y SONT POUSSÉS PAR UN MAUVAIS GENIE.
* TouV sunontaV. Sokrates machte nie den Lehrer
von Profession, was man damals sojisteuein nannte; er hatte also
auch, im gewöhnlichsten Sinne der Worts, keine Schüler, oder Lehrlinge; und
dies ist eben der Grund, warum Xenofon das Wort suneinai gebraucht, um
das Verhältniß zwischen Sokrates und den, die seinen Umgang vorzüglich suchten, zu
bezeichnen. Es ist daher immer noch besser gethan, sunonteV durch
Freunde als durch Schüler zu geben, wiewohl nicht alle, die von seinem Umgang zu
profitiren suchten, seine Freunde in der engern Bedeutung des Wortes waren.
** Sokrates starb im ersten Jahre der 95sten Olympiade, und Aristipp, dessen
Geburts- und Todesjahr unbekannt sind) lebte noch im 2ten Jahr der 109ten Olympiade (also noch
über 60 Jahre nach dem Tode des Sokrates) zu Athen, wohin er sich kurz vor der
Deportazion des jüngern Dionysios nach Korinth, vom Hofe des letztern zurückgezogen
hatte. Die feinen und mäßigen Wollüstlinge (deren Aristipp einer war) werden zwar
gewöhnlich sehr alt; aber 80 bis 90. Jahre sind auch ein ganz hübsches Alter; und
Aristipp müßte wenigstens 84. alt worden seyn, wenn er im Todesjahr des Sokrates
25 Jahre gelebt hätte. Da aber Hoffilosofen von 80. Jahren zu allen Zeiten seltene
Vögel waren, so bin ich geneigter zu glauben, daß Aristipp, als er mit dem alten
Sokrates lebte, wenig über 20 Jahre alt gewesen seyn dürfte.