Charmides, ein Sohn Glaukons (eines Bruders von Periktione, der Mutter Platons, und des im vorhergehenden Gespräche figurierenden jüngern Glaukons) war, sowohl was die persönlichen Eigenschaften als den Hang zur Demagogie betrift, ein ausgemachter Antipode seines Vetters. Er war (wie Xenofon sagt) ein Mann von ausgezeichnetem Werth und mit den Fähigkeiten und Kenntnissen, die zu einem tüchtigen Staatsmann erfoderlich sind, ungleich besser versehen, als alle, die sich damahls mit den Geschäften der Republik abgaben; aber er konnte sich nicht entschließen in den Volksversammlungen öffentlich aufzutreten, und sich um eine Stelle in der Staatsverwaltung zu bewerben. Ausser dem Nachtheil, der für das gemeine Wesen daraus entstand, daß es solcher Gestalt der guten Dienste eines der besten und tauglichsten Bürger entbehren mußte, mochte vermuthlich auch die Familie des Charmides, welche (wie Sokrates in dem vorhergehenden Gespräch andeutet) ziemlich herunter gekommen war, seinen Widerwillen gegen eine Laufbahn, die in Republiken zu Ansehen und Reichthum zu führen pflegt, aus Privatrücksichten sehr ungern sehen, und sich deswegen an den Sokrates, als einen Freund vom Hause, gewandt haben. Wie dem auch seyn mochte, genug, Sokrates fand sich bewogen einen Versuch zu machen, ob er ihn über diesen Punkt auf andere Gedanken bringen könne, und es entstand daraus (wenn anders Xenofon hier nicht wieder den Dichter gemacht hat) folgendes Gespräch1).
Sokrates. Sage mir, lieber Charmides, wenn Einer alles hätte, was erfordert wird um eine Siegeskrone in einem unsrer öffentlichen Kampfspiele zu erringen, und dadurch nicht nur sich selbst einen Nahmen zu machen, sondern auch seinem Vaterlande einen größern Glanz in der ganzen Hellas zu verschaffen, und dieser Mann wollte nicht kämpfen, was würdest Du von ihm sagen?
Charmides. Was anders, als daß er ein weichlicher feiger Mensch sey.
Sokrates. Und wenn nun Einer wäre, der, wenn er sich mit den Angelegenheiten der Republik beschäftigen wollte, dem Staat die wichtigsten Dienste thun und sich selbst Ruhm und allgemeine Achtung erwerben würde, wenn dieser Mann sich dazu nicht entschließen könnte, würde man nicht mit Recht eben das von ihm urtheilen, was Du von jenem?
Charmides. So scheint es. - Aber warum sagst Du das mir, Sokrates?
Sokrates. Weil ich zu sehen glaube, daß Du mit der entschiedensten Fähigkeit Dich scheuest an den öffentlichen Geschäften Theil zu nehmen, da Du Dich doch als Staatsbürger dazu verpflichtet halten solltest.
Charmides. Und was für Proben hast Du denn von meiner Fähigkeit, daß Du so von mir urtheilest?
Sokrates. Ich bedarf dazu keiner andern Proben, als derjenigen, die Du im Umgang mit unsern Staatsmännern ablegst. Wenn sie über die Geschäfte mit Dir sprechen, so sehe ich daß Du ihnen immer verständig rathest, und, wenn sie auf einem unrechten Wege sind, sie gehörig zu recht weisest.
Charmides. Seine Meinung in Privatgesellschaften sagen, und sie vor einer großen Versammlung ausfechten müssen, ist nicht Ebendasselbe.
Sokrates. Ich sollte meinen, wer rechnen kann, rechnet in einer großen Versammlung nicht schlechter als allein, und wer ohne Zuhörer am besten auf der Zither spielt, wird auch den Preis davon tragen, wenn er sich öffentlich hören läßt.
Charmides. Du wirst doch nicht in Abrede seyn wollen, daß Scham und Furcht unter die dem Menschen angebohrnen Regungen gehören, und daß wir in großen Versammlungen nicht so leicht Meister über sie werden können als in Privatgesellschaften.
Sokrates. Meine Absicht aber ist Dich zu überführen2), daß Du, dem der Respekt vor den Klügsten den Mund nicht verschließt, und dem die Stärksten keine Furcht einjagen, nur vor den Unverständigsten und Schwächsten zu reden keinen Muth hast. Oder wer sind denn eigentlich die Leute, vor denen Du Dich zu reden schämst? Sind es die Tuchscherer und Walker, oder die Schuster, oder die Zimmerleute, oder die Schmiede, oder die Landwirthe, oder die Handelsleute, oder die Höken auf dem Markte, deren ganze Weisheit darin besteht, was sie möglichst wohlfeil eingekauft haben, uns so theuer als möglich wieder zu verkaufen? Denn aus diesen allen besteht denn doch im Grunde die Volksgemeine.3) Und worin läge denn der Unterschied zwischen dem, was Du thust, und einem trefflichen Ringer oder Fechter, der sich fürchtete seine Geschicklichkeit vor Unwissenden sehen zu lassen? Du sprichst mit der größten Leichtsinnigkeit in Gegenwart der ersten Männer im Staat, unbekümmert darum, daß einige von ihnen Dich über die Achseln ansehen, und sprichst um vieles besser als alle unsre Volksredner von Profession; und vor Leuten, die sich nie auf politische Dinge gelegt haben und weit entfernt sind Dich zu verachten, scheuest Du Dich zu reden, aus Furcht von ihnen ausgelacht zu werden. (Ist das nicht widersinnisch?)
Charmides. Wie? Hast Du denn noch nie wahrgenommen, was doch oft genug geschieht, daß auch solche, die verständig gesprochen haben, in der Volksversammlung ausgelacht werden?
Sokrates. Thun das etwa die andern, mit denen Du den meisten Umgang hast, nicht auch? Wahrhaftig, ich kann mich nicht genug über Dich wundern, wie Du, der sich so wenig aus den Spöttereyen der bedeutendsten Männer macht und sie so gut abzufertigen weiß, Dir in den Kopf setzen kannst, Du seyest nicht im Stande, es mit einem Haufen gemeiner ungelehrter Leute aufzunehmen. Verkenne Dich selbst nicht so, mein Bester, und falle nicht in den Fehler, den so viele begehen, indem sie sich mit größtem Eifer bemühen, in andrer Leute Angelegenheiten klar zu sehen, und darüber versäumen, sich selbst recht zu erforschen. Weg also mit dieser Indolenz! Laß Dir vielmehr angelegen seyn, Dich mit Deinem eigenen Werth besser bekannt zu machen, und vernachläßige die Republik nicht, wenn es möglich ist, etwas dazu beyzutragen, daß es besser mit ihr werde. Steht es nur erst um das gemeine Wesen gut, so kann es nicht fehlen, daß nicht nur für die übrigen Bürger, sondern auch für Deine Freunde und Dich selbst nicht geringe Vortheile daraus erwachsen werden.4)