Zehntes Kapitel.
Daher1) wirft sich
auch die Frage auf, ob die Glückseligkeit durch Lernen, Gewöhnung oder sonst eine
Übung erworben, oder durch eine göttliche Fügung oder auch durch Zufall dem Menschen
zu teil wird.
Man kann nun annehmen, daß wenn irgend etwas ein Geschenk der Götter an die Menschen ist,
dann die Glückseligkeit von Gott kommt, und zwar um so mehr, als sie von den menschlichen
Gütern das Beste ist.
Indessen gehört das wohl mehr zu einer anderen
Untersuchung2). Aber
selbst wenn sie nicht von den Göttern verliehen, sondern durch Tugend und ein gewisses Lernen
oder Üben erworben wird, scheint sie zu dem Göttlichsten zu gehören; denn der Preis
und das Ziel der Tugend muß doch das Beste und etwas Göttliches und Seliges sein. Dann
wäre sie auch für viele zugleich erreichbar, da sie allen, die in bezug auf die Tugend
nicht gleichsam verstümmelt sind, durch Schulung und sorgfältige Bemühung zu teil
werden könnte. Wenn es aber besser ist, daß der Mensch auf diese Weise glücklich
wird statt durch Zufall, so darf man annehmen, daß es sich auch wirklich so verhält, da
alles, was die Natur hervorbringt, immer so vollkommen angelegt ist, als es nur sein kann. Dasselbe
gilt von dem, was die Kunst und jede mit Einsicht wirkende Ursache, besonders die beste und
höchste, hervorbringt. Das Größte und Schönste aber dem Zufall zu
überlassen, wäre Irrtum und
Lästerung3).
Dasselbe geht aber auch aus unserer Begriffsbestimmung hervor, nach der die Glückseligkeit eine
gewisse tugendgemäße Tätigkeit der Seele ist. Soll das gelten, so können die
übrigen Güter teils von selbst der Tugend niemals fehlen, teils kommen sie für
dieselbe naturgemäß nur als brauchbare und hilfreiche Werkzeuge in betracht. Auch stimmt
dies mit dem anfänglich Gesagten, wo wir das Ziel der Staatskunst für das beste und
höchste erklärt haben. Der Staatskunst ist es um nichts so sehr zu tun, als darum, die
Bürger in den Besitz gewisser Eigenschaften zu setzen, sie nämlich tugendhaft zu machen
und fähig und willig, das Gute zu tun.
Daher nennen wir billigerweise weder einen Ochsen noch
(1100a) ein Pferd noch sonst ein Tier glückselig.
Denn kein Tiern ist des Anteils an einer solchen Tätigkeit fähig. Und aus demselben Grunde
ist auch kein Kind glückselig, weil es wegen seines Alters noch nicht in der gedachten Weise
tätig sein kann, und wenn Kinder hin und wieder doch so genannt werden, so geschieht es in der
Hoffnung, daß sie es erst werden. Denn zur Glückseligkeit gehört wie gesagt
vollendete Tugend und ein volles Leben. Im Leben tritt mancher Wechsel, mancher Zufall ein, und der
Glücklichste kann im Alter noch von schweren Unglücksfällen getroffen werden, wie in
den Heldengedichten von Priamus erzählt wird; wer aber solches Unglück erfahren und
elend geendet hat, den preist niemand glücklich.
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Weil die Ursache der Glückseligkeit anders bestimmt werden muß, je
nachdem man diese selbst in die Tugend oder in das äußere Wohlergehen
setzt.
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Je höher ein Ziel ist, desto höher muß die Ursache sein, durch
die man zu diesem Ziele geführt wird. So ist denn anzunehmen, daß der Mensch zu seinem
letzten Ziele mit Hilfe der höchsten Ursache, d. i. Gottes, gelangt. Diese Frage
gehört aber mehr in die Metaphysik. In dem gleichnamigen Werke, XII, 10, führt
Aristoteles aus, daß alles Gute in der Welt von Gott kommt, der in der Welt dieselbe Stellung
einnimmt wie der Feldherr im Heere und der Hausvater in der Familie. Man vergleiche auch de
gener. animal. II, 1, 731b 24, wo Aristoteles im Anschluß an Plato
folgendermaßen über die letzte Zweckbestimmung der Zeugung philosophiert:
»Da die Dinge teils ewig und göttlich sind (wie nach des Philosophen Ansicht die
inkorruptibeln und von Gott ähnlichen Wesen, den Sphärengeistern, bewegten
Himmelskörper), teils vergänglich, dem Gesetz des Werdens und Vergehens unterworfen, und
da das Schöne und das Göttliche (die Gottheit) seiner Natur entsprechend allezeit die
Ursache des Besseren in den vergänglichen Dingen ist, da ferner die nichtewigen Dinge mehr
oder minder gut sein und mehr oder minder am Guten teilhaben können – wiederum, da die
Seele etwas Besseres ist als der Körper, und das Beseelte als das Seelenlose, eben wegen der
Seele, und das Sein als das Nichtsein, und das Leben als das Nichtsleben, so ist es auf diese
Ursachen zurückzuführen, daß es im Bereich des sinnlich Belebten eine Zeugung gibt.
Da nämlich die Natur der Wesen, die da werden und wieder vergehen, keine Ewigkeit
zuläßt, so sind sie insoweit ewig, als sie es vermögen. Nun vermögen sie aber
der Zahl nach, d. h. als Einzelwesen, nicht, ewig zu sein – denn das Wesen der Dinge ist
nur in den Einzelwesen wirklich da, und wären diese so, so wären sie ewig –,
wohl aber vermögen sie, der Art nach ewig zu sein. Deswegen gibt es eine immer sich
wiederholende Geschlechtsfolge von Menschen, Tieren und Pflanzen. Da aber das Prinzip dieser Wesen
das Weibliche und das Männliche ist, so ist dieser Unterschied der Geschlechter der
geschlechtlichen Zeugung wegen da«. Man vergleiche Plato's Gastmahl 207f. Zu der Stelle
der Ethik, die wir kommentieren, vergleiche man ferner in eben unserer Ethik weiter unten
X, 9 Schluß. – Daß die Tugend (und
Tüchtigkeit) und somit auch das Lebensglück in gewisser Hinsicht auch göttlicher
Schickung oder Fügung, Jeia moira, zu danken ist, lehrt schon
Sokrates am Schlusse des Dialogs
Meno.
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Man sieht hieraus, daß Aristoteles die Natur und den Menschen für das
Werk einer schöpferischen Weisheit hält und Gott als Urheber der Dinge und insbesondere
der menschlichen Natur mit einem weisen Künstler vergleicht. Das liegt auch in dem ihm
geläufigen Spruch, daß die Kunst die Natur nachahmt, vgl. z. B. Physik,
II, 2. Denn dies setzt voraus, daß die Natur selbst das Werk einer höchsten Kunst
ist, die Leistung der besten Ursache, thV aristhV aitiaV, wie Aristoteles
sich ausdrückt. Auch von Plato im Timäus wird die Welt bekanntlich als Kunstwerk
des höchsten Meisters, des Demiurgen, beschrieben. An der vorliegenden Stelle der Ethik
interessiert noch der Umstand, daß die Anschauung, wonach gewissermaßen jeder nach
unserem deutschen Sprüchwort seines Glückes Schmied ist, zur unerläßlichen
Voraussetzung die menschliche Willensfreiheit hat, von der Aristoteles noch im folgenden
ausführlich handeln wird.