Fünftes Buch.
Erstes Kapitel.
(1129a) In Bezug auf die
Gerechtigkeit1)
und die Ungerechtigkeit ist zu untersuchen, mit was für Handlungen sie es zu tun hat,
was für eine Mitte die Gerechtigkeit ist, und wovon das Gerechte die Mitte
ist2). Bei dieser
Untersuchung wollen wir dasselbe Verfahren wie bei den vorhergehenden
beobachten3).
Wir sehen, daß jedermann mit dem Worte Gerechtigkeit einen Habitus bezeichnen will,
vermöge dessen man fähig und geneigt ist, gerecht zu handeln, und vermöge dessen man
gerecht handelt und das Gerechte will, und ebenso mit dem Worte Ungerechtigkeit einen Habitus,
vermöge dessen man ungerecht handelt und das Ungerechte will. Dieses gelte denn auch uns als
erste und allgemeinste Voraussetzung. Denn mit einem Habitus hat es eine andere Bewandtnis als mit
den Wissenschaften und Vermögen. Ein und dasselbe Vermögen und ein und dasselbe Wissen
umfaßt die
Gegensätze4);
ein Habitus aber, der es mit dem einen Glied des Gegensatzes zu tun hat, hat es nicht auch mit dem
anderen zu tun. Von der Gesundheit z. B. kann nicht Entgegengesetztes ausgehen, sondern nur
Gesundes. Wir sprechen von gesundem Gange, wenn Einer so geht, wie es ein gesunder Mensch tut.
Demgemäß wird ein Habitus bald aus dem entgegengesetzten Habitus, bald aus seinem Subjekt
erkannt. Weiß man was guter Stand der Gesundheit ist, so weiß man auch was schlechter
Stand der Gesundheit ist, und ebenso wird aus dem was Gesundheit schafft, die Gesundheit und aus
dieser jenes erkannt. Ist guter Stand der Gesundheit so viel als Festigkeit des Fleisches, so
muß ihr schlechter Stand Schwammigkeit des Fleisches, und was Gesundheit schafft das sein, was
dem Fleische Festigkeit gibt.
Wird das eine Glied eines Gegensatzes vieldeutig ausgesagt, so folgt meistens, daß auch das
andere so ausgesagt wird; ist z. B. das Wort
Recht5) vieldeutig,
so ist es auch das Wort Unrecht.
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Bisher sind die Tugenden behandelt worden, die sich auf die Affekte, die
fliehenden wie die strebenden, beziehen. Jetzt kommt diejenige an die Reihe, die es mit den
Handlungen zu tun hat, die Gerechtigkeit, nicht als ob nicht auch jene mit dem Handeln befaßt
wären, aber es kommt bei ihnen doch erst an zweiter Stelle in betracht, insofern es aus den
Affekten entspringt, während bei der Gerechtigkeit die äußere Handlung an erster
Stelle in betracht kommt und der Affekt und die Gesinnung nur insofern, als sie dieselbe erleichtern
oder erschweren. – Da hier eine dritte Haupttugend behandelt wird, und später, im
6. Buche, auch noch die einzig übrige, die Klugheit, so dürfte eine Bemerkung
über die verschiedene Stellung angebracht sein, die diesen Tugenden bei Aristoteles und bei
anderen Autoren, z. B. Cicero und Seneka, angewiesen wird. Bei den genannten
beiden sind sie die Hauptgenera der Tugenden, denen die anderen Tugenden je und je untergeordnet
sind. Die Klugheit ist die Verstandestugend, die die Vernunft über das rechte Handeln belehrt,
die anderen drei sind die Hauptgenera der Charaktertugenden. Die Gerechtigkeit ist die Tugend, die
die Vernunft bestimmt, in allem Handeln die Gleichheit zu beobachten; die Mäßigkeit und
der Starkmut bestimmen die Vernunft zum rechten Verhalten gegenüber der Lust und gegenüber
der Unlust. Aber dieser Auffassung der Haupttugenden als höchster Gattungen stehen zwei
Bedenken im Wege. Einmal, daß sie zu jeder Tugend gehören und so keinen Einteilungsgrund
der Tugenden abgeben können, sodann, daß die einzelnen Tugenden und Laster aus den
Objekten und nicht aus dem verschiedenen Verhalten der Vernunft abzuleiten sind. So erscheint denn
die Systematik des Aristoteles als besser, der die Tugenden wirklich nach den Objekten unterscheidet
und einteilt und den vier Haupttugenden insofern eine bevorzugte Stellung gibt, als er ihnen
innerhalb ihrer Gattung und Art bevorzugte Objekte zuweist, so daß das Charakteristische der
verschiedenartigen Tugenden bei ihnen besonders hervortritt. Die Klugheit ist ihm nicht die Lehrerin
jeder praktischen Erkenntnis ohne Unterschied, sondern sie gibt für jeden praktischen Fall die
rechte Vorschrift; die Gerechtigkeit beobachtet nicht jede Gleichheit, sondern jene wichtigere, die
anderen gegenüber beobachtet wird; die Mäßigkeit hat es nicht mit jeder Lust,
sondern mit der des Gefühls zu tun und der Starkmut nicht mit Unlust überhaupt, sondern
mit jener Unlust und Angst insbesondere, die Todesschrecken uns einflößen können. So
verhalten sich denn zu diesen vier Haupttugenden die andern Tugenden nicht wie die Arten zur
Gattung, sondern wie das Sekundäre zum Primären. Nach Thomas von Aquin, Kommentar
zur Ethik, II. Buch, 8. Lektion.
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Hier treten drei Momente hervor, die die Gerechtigkeit von den bisher
behandelten Tugenden unterscheiden: 1) sie hat es mit praxeiV,
Handlungen, nicht mit paJh, Affekten, zu tun; 2) sie ist eine Mitte
der Sachen und Werte, wie im Verfolg erklärt wird, nicht der Gemütsverfassung; 3) sie
ist keine Mitte zwischen zwei Lastern, wie ebenfalls weiter unten deutlich werden soll.
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Dasselbe Verfahren, einmal indem das Wahre nur allgemein und ohne den Anspruch
auf absolute Gültigkeit dargelegt wird, dann, weil von dem oti,
nicht von dem dioti ausgegangen wird. Vgl. I,
Kap. 2, Anm. 5.
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Das Gesicht sieht das Schwarze wie das Weiße, und die Medizin ist
Wissenschaft wie von der Gesundheit, so auch von der Krankheit.
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Das Recht, to dikaion, eigentlich das Gerechte. Ein
eigenes Wort für unser deutsches Recht, wie das lateinische ius, hat Aristoteles nicht.