Ich unterstehe mich, eine Tragödie in Versen drucken zu lassen, und zwar zu einer solchen Zeit, da diese Art von Gedichten seit dreißig und mehr Jahren ganz ins Vergessen geraten und nur seit kurzem auf unserer Schaubühne sich wieder zu zeigen angefangen hat. Diese Verwegenheit ist in der Tat so groß, daß ich mich deswegen ausführlich entschuldigen muß. Ich weiß zwar, daß ein einziges herrliches Muster dieser in Verfall geratenen Art der Gedichte wohl eher ganze Nationen rege gemacht und ihnen einen Geschmack davon beigebracht. Der berühmte Cid des Corneille hat dieses in Frankreich, die Merope des Hrn. Maffei in Italien und Hrn. Addisons Cato in Engelland zur Genüge erwiesen. Allein, ich bin auch im Gegenteil versichert, daß Leute, die einer Sache nicht recht gewachsen sind, durch übel geratene Proben alles verderben und oftmals eine Art von Poesien in solche Verachtung bringen können, daß niemand mehr die Mühe nimmt, sie zu übertreffen oder dasjenige, was sie schlimm gemacht haben, wieder zu verbessern.
Eben deswegen habe ich mich seit drei Jahren, da ich in meiner Critischen Dichtkunst unsre Nation zu Hervorsuchung dieser Art großer Gedichte aufgemuntert und einige Anleitung dazu gegeben, nicht gewaget, selbst ans Licht zu treten oder andern mit meinem Exempel vorzugehen. Ich habe gewartet, ob sich nicht etwa ein geschickterer Poet unsres Vaterlandes hervortun und ein Werk unternehmen würde, welches ihm und Deutschland Ehre machen könnte. Es fehlt uns in der Tat an großen und erhabenen Geistern nicht, die zur tragischen Poesie gleichsam geboren zu sein scheinen. Es kommt nur auf die Wissenschaft der Regeln an; die aber nicht ohne alle Bemühung und Geduld gefasset werden können. Es gehört auch Gelegenheit dazu, die deutsche Schaubühne nach ihren bisherigen Fehlern und erforderlichen Tugenden kennenzulernen: Wie denn auch die Kenntnis des französischen, englischen und italienischen Theaters einigermaßen hierzu nötig ist. Und ohngeachtet ich Ursache habe zu glauben, daß es verschiedene unter unsern Dichtern gebe, die mit allen diesen Vorteilen reichlich versehen sind, wie ich denn selbst einige davon nennen könnte: So habe ich doch bisher vergeblich auf die Erfüllung meines Wunsches gehoffet.
Ehe ich mich aber erkläre, aus was für Ursachen ich mich endlich entschlossen habe, dieses Trauerspiel ans Licht zu stellen, muß ich mit wenigem melden, wie ich zuerst auf die theatralische Poesie gelenket worden und was mich endlich bewogen, selbst Hand anzulegen und einen Versuch darinnen zu tun. Es sind nunmehro 15 oder 16 Jahre, als ich zuerst LOHENSTEINS Trauerspiele lase und mir daraus einen sehr wunderlichen Begriff von der Tragödie machte. Ob ich gleich von vielen diesen Poeten himmelhoch erheben hörte, so konnte ich doch die Schönheit seiner Werke selber nicht finden oder gewahr werden. Ich ließ also diese Art der Poesie in ihren Würden und Unwürden beruhen: Weil ich mich nicht getrauete, mein Urteil davon zu sagen. Ich lase auch um eben die Zeit OPITZENS Antigone, die er aus dem Sophokles verdeutschet hat. Allein, ob mir wohl die andern Gedichte dieses Vaters unsrer Dichtkunst ungemein gefielen: So konnte ich doch die rauhen Verse dieser etwas gezwungenen Übersetzung nicht leiden; und daher kam es, daß ich auch an dem Inhalte dieser Tragödie keinen Geschmack fand. Ich blieb also im Absehen auf die theatralische Poesie in vollkommener Gleichgültigkeit oder Unwissenheit, bis ich etliche Jahre hernach den BOILEAU kennenlernte. Damals ward ich denn, teils durch die an den MOLIÈRE gerichtete Satire, teils durch den hin und her eingestreuten Ruhm oder Tadel theatralischer Stücke, begierig gemacht, selbige näher kennenzulernen.
Obwohl ich nun den Molière leicht genug zu lesen bekam, so war doch in meinem Vaterlande keine Gelegenheit, eine Komödie oder Tragödie spielen zu sehen: Als wozu mir dieses Lesen eine ungemeine Lust erwecket hatte. Ich mußte mir also diese Lust vergehen lassen, bis ich im Jahr 1724 nach Leipzig kam und daselbst Gelegenheit fand, die privilegierten Dresdenischen Hofkomödianten spielen zu sehen. Weil sich dieselben nur zur Meßzeit allhier einfanden, so versäumte ich fast kein einziges Stücke, so mir noch neu war. Dergestalt stillte ich zwar anfänglich mein Verlangen dadurch: Allein, ich ward auch die große Verwirrung bald gewahr, darin diese Schaubühne steckte. Lauter schwülstige und mit Harlekins Lustbarkeiten untermengte Haupt- und Staatsaktionen, lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebeswirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zoten waren dasjenige, so man daselbst zu sehen bekam. Das einzige gute Stücke, so man aufführete, war Der Streit zwischen Liebe und Ehre oder Roderich und Chimene, aber nur in ungebundener Rede übersetzt. Dieses gefiel mir nun, wie leicht zu erachten ist, vor allen andern und zeigte mir den großen Unterscheid zwischen einem ordentlichen Schauspiele und einer regellosen Vorstellung der seltsamsten Verwirrungen auf eine sehr empfindliche Weise.
Hier nahm ich nun Gelegenheit, mich mit dem damaligen Prinzipal der Komödie bekanntzumachen und zuweilen von der bessern Einrichtung seiner Schaubühne mit ihm zu sprechen. Ich fragte ihn sonderlich, warum man nicht Andr. Gryphii Trauerspiele, imgleichen seinen Horribilicribrifax u.d.m. aufführete? Die Antwort fiel, daß er die erstern auch sonst vorgestellet hätte: Allein, itzo ließe sichs nicht mehr tun. Man würde solche Stücke in Versen nicht mehr sehen wollen: Zumal sie gar zu ernsthaft wären und keine lustige Person in sich hätten. Ich riet ihm also, einmal ein neues Stücke in Versen zu versuchen, und versprach, selbsten einen Versuch darin zu tun. Da ich aber noch keine Regeln der Schauspiele verstund, ja nicht einmal wußte, ob es dergleichen gäbe: So übersetzte ich aus den Fontenellischen Schäfergedichten den Endimion, so wie ich denselben bei der ersten Auflage der Gespräche von mehr als einer Welt habe drucken lassen; machte aber hier und dar noch einige Zusätze von lustigen Szenen darzwischen, welche zusammen ein Zwischenspiel ausmachten, so mit der Haupthandlung gar nicht verbunden war. Ich verstund nemlich die Schaubühne so wenig als der Prinzipal der Komödie; und ohngeachtet es mich damals verdroß, daß er meine Übersetzung aufzuführen das Herz nicht hatte: So ist mirs doch itzo sehr lieb, daß solches nicht geschehen ist; zumal da Endimion sich mehr zu einer Oper als zu einer Komödie geschicket hätte.
Indessen gaben mir die schlechten Stücke, die ich spielen sahe, vielfältige Gelegenheit, auch ohne alle Kenntnis der Regeln, das unnatürliche Wesen derselben wahrzunehmen: Zugleich aber machte mich dieses begierig, mich um die Regeln der Schaubühne zu bekümmern. Ich konnte mir nemlich leicht einbilden, daß eine so weitläuftige Art der Gedichte unmöglich ohne dieselben bestehen könnte, da man es den allerkleinsten Poesien daran nicht hatte fehlen lassen. In allen unsern deutschen Anleitungen zur Poesie fand ich kein Wort davon; ausgenommen in ROTTHENS Deutscher Poesie, die 1688 hier in Leipzig herausgekommen. Alle übrige, auch sogar MENANTES in seinen Theatralischen Gedichten und der von ihm ans Licht gestellten Allerneusten Art zur galanten Poesie zu gelangen, hatten nur eine seichte Anleitung zur Oper gegeben. Doch da mir auch Rotthe noch kein Genügen tat, ob er gleich nicht übel davon gehandelt hat, und ich in ihm des ARISTOTELES Poetik gelobt fand: So ward ich begierig, dieselbe zu lesen; und es fiel mir zu allem Glücke DACIERS französische Übersetzung derselben in die Hände. Diese hielte außer dem Texte sehr ausführliche Anmerkungen in sich und gab mir also den längst gewünschten Unterricht in diesem Stücke. Es kamen mir nachmals CASAUBONUS' De satirica Graecorum poesi und Romanorum satira, RAPPOLTS Poetica Aristotelica, imgleichen HEINSIUS' De tragoediae constitutione, des Abts von AUBIGNAC ,Pratique du Théâtre und andre Schriften mehr in die Hand, die nur beiläufig von diesen Sachen handelten; dahin ich hauptsächlich den englischen Spectator und den St. Evremont rechnen muß. Und zu geschweigen, daß ich mir des CORNEILLE, RACINE, LA GRANGE, LA MOTTE, MOLIÈRE, VOLTAIRE u.a. Schauspiele nebst den ihnen vorgesetzten Vorreden und beigefügten kritischen Abhandlungen bekannt gemachet: So kam endlich noch des Abts BRUMOIS Théâtre des Grecs und des Italieners RICCOBONI Histoire du Théâtre Italien dazu, die mir noch mehr Licht in dieser Materie verschaffeten.
Je mehr ich nun durch die Lesung aller dieser Werke die wohleingerichteten Schaubühnen der Ausländer kennenlernte: Desto mehr schmerzte michs, die deutsche Bühne noch in solcher Verwirrung zu sehen. Indessen aber, daß mir das Licht nach und nach aufging: So geschah es, daß die Dresdenischen Hofkomödianten einen neuen Prinzipal bekamen, der nebst seiner geschickten Ehegattin, die gewiß in der Vorstellungskunst keiner Französin oder Engelländerin was nachgibt, mehr Lust und Vermögen hatte, das bisherige Chaos abzuschaffen und die deutsche Komödie auf den Fuß der französischen zu setzen. Den ersten Vorschub dazu tat so zu reden der Hochfürstl. Braunschweigische Hof, woselbst zu des höchstsel. Herzogs Anton Ulrichs Zeiten schon längst ein Versuch gemacht worden war, die Meisterstücke der Franzosen in deutsche Verse zu übersetzen und wirklich aufzuführen. Man gab ihnen die Abschriften vieler solchen Stücke; und ob sie gleich mit dem Régulus des PRADONS, eines nicht zum besten berüchtigten Poeten, den Anfang machten, den BRESSAND an obgedachtem Hofe schon vor vielen Jahren in ziemlich rauhe Verse übersetzt hatte: So gelung ihnen doch dieses Stücke durch die gute Vorstellung so gut, daß sie auch den Brutus, imgleichen den Alexander und Porus von eben diesem Übersetzer und bald darauf auch den Cid des Corneille aufführeten, der aber von einem weit geschickteren Poeten in viel reinere und angenehmere Verse übersetzt war als jene und also auch ungleich mehr Beifall fand als alle poetische Stücke, die man vorhin gesehen hatte.
Hierauf schlug ich, die angefangene Verbesserung unsrer Schaubühne, so viel mir möglich war, fortzusetzen und zu unterstützen, dem dermaligen Direktor derselben auch den von einem vornehmen Ratsgliede in Nürnberg übersetzten Cinna vor, der in der Sammlung seiner Gedichte, die unter dem Titel der christlichen Vesta und irdischen Flora herausgekommen, befindlich ist. Wie nun dieses Meisterstücke des Corneille durchgehends großen Beifall fand: So machte ich selbst endlich mit Übersetzung der Iphigenie aus dem Racine einen Versuch und spornte zugleich ein paar gute Freunde und geschickte Mitglieder der Deutschen Gesellschaft allhier an, dergleichen zu tun; da denn der eine den andern Teil des Cids oder Chimenens Trauerjahr, der andre aber die Bérénice aus dem Racine ins Deutsche brachte. Alle dreie wurden mit ziemlichem Beifalle aufgeführet, so daß man dergestalt schon acht regelmäßige Tragödien in Versen auf unserer Schaubühne sehen konnte. Ich schweige, was wir der geschickten Feder Hrn. Kochs, eines der geschicktesten Akteurs herin, zu danken haben, der uns ein paar Stücke von Titus Manlius selbst geliefert, den Verheirateten Philosophen aus dem Französischen übersetzet, die Sinilde aber aus des Hrn. Geh. Sekr. Königs Opera Sancio entlehnet und mit einiger Veränderung in eine Tragödie verwandelt hat.
Nachdem ich also beiläufig eine kurze Historie von der angefangenen Verbesserung der deutschen Schaubühne gegeben: So muß ich endlich auch auf meinen Cato kommen und überhaupt von der Einrichtung dieses Stückes Red und Antwort geben.
Cato von Utica ist zu allen Zeiten vor ein ganz besonderes Muster der stoischen Standhaftigkeit und der patriotischen Liebe zur Freiheit gehalten worden. Poeten, Redner, Geschichtschreiber und Weltweisen haben ihn in ihren Schriften um die Wette bewundert und gepriesen. Sogar unter dem unumschränkten Regimente der römischen Kaiser, welche alle Cäsars Nachfolger waren, konnten sich die größten Leute in Rom nicht enthalten, diesen eifrigen Verfechter einer freien Republik zu loben, der in dem ersten Unterdrücker derselben alle Fortpflanzer seiner Herrschaft und Regierung vor Tyrannen erkläret hatte. Virgil und Horaz haben dieses unter Augusts Regierung, Lucan und Seneca aber unter dem Claudius und Nero getan. Maternus, ein Poet, der nach dem Berichte des alten Gespräches von Rednern oder von den Ursachen der verfallenen Beredsamkeit eine Tragödie von dem Cato gemachet, muß auch etwa um diese Zeiten gelebet haben: Und sein Trauerspiel wird gewiß den Haß gegen das monarchische Regiment nicht undeutlich oder schwach ausgedrücket haben, weil seine guten Freunde es vor anzüglich und gefährlich hielten, wie aus dem angezogenen Gespräche gleich im Eingange erhellet.
Cato hat sich in Utica selbst ermordet. Diese außerordentliche Todesart hat sein Ende zu einer Tragödie überaus geschickt gemacht, und es ist also kein Wunder, daß die Poeten aller Nationen diese Begebenheit in solcher Absicht ergriffen und sie auf die Schaubühne zu bringen bemüht gewesen. Der obgedachte Maternus ist wohl der erste gewesen, der unter Catons Landsleuten solches versuchst hat: Nur ist es zu bedauren, daß dieses Trauerspiel verlorengegangen. Ohne Zweifel würden wir in demselben starke Überreste einer römischen, das ist edlen Liebe zur Freiheit und einen großen Haß wider die Tyrannei angetroffen haben, die durch den nahen Eindruck, den so viel ungerechte und grausame Kaiser erhabnen Gemütern damals machten, ziemlich lebhaft werden vorgestellet worden sein.