Etwa im Jahr 1712, und also vor zwanzig Jahren, hat sich Addison, ein englischer Staatssekretar und berühmter Poet, an eben diesen Helden gemacht und im Anfange des 1713ten Jahres seinen Cato wirklich aufführen lassen, wie ich aus dem Guardian ersehe. Es ist unbeschreiblich, mit was für einer Begierde dieses Trauerspiel von jedermann besuchet und wie wohl es von allen, die es gesehen, aufgenommen worden. Es kann sein, daß die Neigung der englischen Nation zu ihrer Freiheit und der ihr gleichsam angeborne Abscheu vor einem tyrannischen Regimente viel dazu beigetragen, daß die Vorstellung eines eben so gesinnten Römers ihnen so wohl gefallen. Allein, so viel ist auch gewiß, daß dieses Trauerspiel sehr viele wahrhafte Schönheiten in sich hält, die nicht nur Engelländern, sondern allen vernünftigen Zuschauern von der Welt gefallen müssen. Die Charaktere, Sitten und Gedanken der Personen sind überaus wohl beobachtet: Sonderlich ist Cato selbst als der redlichste Patriot, als der tugendhafteste Mann und vollkommenste Bürger einer freien Republik darinnen vorgestellet. Doch dieses Trauerspiel bedarf meines Lobes nicht, da es auch in einer ungebundenen französischen Übersetzung schon diesseits des Meeres überall Beifall gefunden hat.
Fast um eben die Zeit, oder doch nicht viel später, hat sich auch in Frankreich jemand an diese tragische Begebenheit gemacht und sie auf die Schaubühne gestellet. Dieses war Herr Deschamps, der mir nicht weiter als aus seinem Cato, der im Haag 1715 herausgekommen, bekannt ist. Es scheinet, dieser Poet habe des Hrn. Addisons Arbeit noch gar nicht gesehen gehabt oder vielleicht gar nichts davon gewußt, als er sein Trauerspiel unternommen: Denn beide haben nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander. Man findet eine ganz andre Fabel, andre Personen, andre Verwirrungen und eine andre Auflösung derselben darinnen als in der englischen Tragödie. Nur des Cato sein Charakter ist darin ebenso fürtrefflich beobachtet als in Addisons Cato immermehr geschehen: Wenn man nur den Tod selbst, ja die ganze letzte Handlung ausnimmt. Denn wie ich bald erinnern will, so hat die englische Tragödie hierin ihren besonderen Vorzug: Da hergegen die französische ihrer regelmäßigen Einrichtung nach der englischen weit vorzuziehen ist.
Wer da weiß, daß die afrikanische Königin Sophonisbe auch das Glück gehabt, von vier heutigen Nationen in Trauerspielen aufgeführet zu werden, nemlich von Italienern, Franzosen, Engelländern und Deutschen: Den wird es nicht wunder nehmen, daß Cato auch dieser Ehre würdig geschätzet worden. Nur ist es zu beklagen, daß sich unter uns Deutschen keine geschicktere Feder an diese Arbeit gemacht als eben die meinige. Eben diese Erkenntnis meiner Unfähigkeit aber hat auch verursachet, daß ich mich nicht unterfangen habe, eine ganz neue Fabel zum Tode Catonis auszusinnen. Zweene von meinen Vorgängern waren mir bekannt, und ich habe mir beider ihre Stücke zunutze gemacht, so daß man, wie dort von Terenz gesagt wird, auch von mir sagen kann:
|
Quae convenere in Andriam ex Perinthia, Fatetur transtulisse atque usum pro suis. |
Mein Trost aber ist gleichfalls, daß ich eben so wohl, als dort an einem andern Orte geschieht, mit dem Exempel andrer berühmter Poeten entschuldiget werden kann:
|
Habet bonorum exemplum: quo exemplo sibi Licere id facere, quod illi fecerunt, putat. |
Denn zu geschweigen, daß Terentius selbst vielmals aus dem Menander ganze Stücke, doch mit einiger Veränderung, entlehnet oder anders zusammengesetzet hat; so haben ja auch die größten französischen Tragödienschreiber, z.E. Corneille und Racine, sehr oft den Sophokles und Euripides der Griechen dergestalt gebraucht, daß sie selbige teils nachgeahmet, teils übersetzet, teils nach ihrem eigenen Kopfe in etlichen Stücken was verändert haben: Wie unter andern aus dem Ödipus und der Iphigenia zu ersehen ist.
Nun ist es zwar gewiß, daß man mir anfänglich eine bloße Übersetzung des englischen Cato zugemutet, wozu ich auch in reimlosen Versen den Anfang gemachet, wie neulich in den Beyträgen zur Critischen Historie der Deutschen Sprache eine Probe davon mitgeteilet worden. Allein, nachdem ich die ganze Einrichtung desselben nach theatralischen Regeln untersuchte, so fand ich, daß selbiger so regelmäßig bei weitem nicht war als die französischen Tragödien zu sein pflegen. Die Engelländer sind zwar in Gedanken und Ausdrückungen sehr glücklich; sie formieren gute Charaktere und wissen die Sitten der Menschen sehr gut nachzuahmen: Allein, was die ordentliche Einrichtung der Fabel anlangt, darin sind sie noch keine Meister, wie fast aus allen ihren Schauspielen erhellet. Nun wollte ich auf unsrer deutschen Schaubühne nicht gern ein neues Muster aufführen lassen, so den Feinden aller Regeln einen neuen Vorwand geben könnte zu sagen, daß ein Stücke auch ohne dieselben schön sein könne. Daher änderte ich meinen Vorsatz und beschloß, einen ganz andern Cato als den, den Addison gemacht hatte, zu verfertigen.
Es kam mir hier ungemein zustatten, daß die französische Arbeit des Hrn. Deschamp weit genauer den Regeln Aristotelis und andrer Kunstrichter gefolget war: Ja die kritische Vergleichung, so am Ende derselben befindlich ist, bekräftigte mich in meinen Gedanken von den Fehlern des englischen Cato. Zum 1) hat Addison gleichsam drei Fabeln in einer gemacht, davon eine jede vor sich alleine bestehen kann und nichts zu der Hauptfabel beiträgt, ja dieselbe oft dem Zuschauer oder Leser aus den Augen bringet. Das Hauptwerk ist dieses. Cato ist nebst wenigen Römern, und einiger numidischen Reuterei, in Utica von Feinden umschlossen. Cäsar schickt zu ihm und bietet ihm den Frieden an. Man schlägt ihn aus; Cäsar läßt seine Armee anrücken; Cato sieht kein Mittel, ihm zu widerstehen, und ersticht sich.
Diese Haupthandlung nun zu verlängern, sind zwei Nebenfabeln mit eingeschaltet. Die erste ist diese: Portius und Marcus, Catons Söhne, lieben die Lucia, eines römischen Ratsherrn Tochter. Portius, dem sein Bruder sein Geheimnis anvertrauet, verhält sich als ein rechtschaffener Mensch, ohne seiner eigenen Liebe Eintrag zu tun oder seinen Bruder zu verraten. Indessen wird Marcus ermordet, und Portius bekommt die Lucia.
Die andere ist folgende: Der junge Prinz Juba liebt Catons Tochter Marcia, die von dem Sempronius, einem römischen Ratsherrn, auch geliebet wird. Dieser ist ein Verräter und will den Cato ausliefern. Syphax, ein Numidier, will ihm darin behilflich sein; und die Soldaten empören sich schon: Cato besänftiget sie aber. Sempron verkleidet sich in des Juba Kleidung und will die Marcia entführen. Darüber wird er von dem Juba erstochen, der endlich die Marcia bekommt.
Diese beide Zwischenfabeln haben nun mit der Hauptsache, das ist dem Tode Catons, keine andere Verknüpfung, als daß sie zu einer Zeit und an einem Orte vorgehen. Sie gehören also gar nicht mit dazu und streiten wider die Einheit der Handlung, die in jedem Schauspiele sein muß: Zu geschweigen, daß es nicht sehr wahrscheinlich ist, daß man zu einer solchen Zeit, da alles in Lebensgefahr stund, auf viele Liebesverwirrungen werde gedacht haben. Auch die possierliche Verkleidung des Sempronius sieht viel zu komisch vor eine Tragödie aus. Cato selbst kommt in den ersten Handlungen selten in seiner rechten Größe zum Vorschein, außer da er den Aufruhr stillet und den Tod seines Sohnes Marcus beklaget. Die ganze übrige Zeit wird mit fremden Dingen, die ihn nicht viel angehen, zugebracht.
Zum 2) aber hangen auch die Auftritte der englischen Tragödie sehr schlecht aneinander; wovon Aubignac in seiner Pratique du Théâtre kann nachgesehen werden. Die Personen gehen ab und kommen wieder, ohne daß man weiß warum, und die Schaubühne bleibt oft leer, wenngleich noch keine Handlung aus ist. Endlich sind auch oft die Szenen gar nicht abgeteilet, wenngleich neue Personen auftreten oder alte abgehen, welches bei den Franzosen niemals geschieht, weil es eine Unordnung in dem äußerlichen Ansehen verursachet.
Endlich zum 3ten gefiel mirs im englischen Trauerspiele nicht, daß der sterbende Cato, dieser strenge Verfechter der Freiheit, der ganz andre Dinge im Kopfe hatte, noch in seinem Letzten ein paar Heiraten bestätigen muß. Das Hochzeitmachen hat in theatralischen Vorstellungen dergestalt überhandgenommen, daß ich es längst überdrüssig geworden bin. Die Alten haben es überaus selten angebracht, und ich habe es daher auch hier versuchen wollen, ob denn ein Trauerspiel nicht ohne die Vollziehung einer Heirat Aufmerksamkeit erlangen könne? Dieses ist mir denn eben nicht übel gelungen: Obgleich hier noch nicht halb soviel von der Liebe geredet worden als in des Racine Bérénice, wo es gleichfalls zu keiner Vermählung kömmt.
Fragt mich nun jemand: Warum ich nicht den ganzen französischen Cato übersetzt? So sind dieses meine Ursachen. So wahrscheinlich anfänglich die ganze Fabel eingerichtet ist und so groß Cato in den ersten Handlungen dargestellet wird: So schlecht kommt mir die letzte Handlung vor. Er läßt diesen großen Mann nicht als einen Weltweisen, sondern als einen Verzweifelnden sterben. Es entsteht ein Tumult in Utica, der von dem Pharnaz herrührt: Und da Cäsar eben daselbst zugegen ist, seine Soldaten aber außer der Stadt meinen, ihr Haupt sei in Gefahr, so dringen sie herein und hauen alles darnieder. Darüber nimmt sich Cato das Leben. Das heißt aber gar zu sehr wider die Wahrheit der Geschichte und wider den philosophischen Charakter des Cato gehandelt.
Hernach hatte man hier dem Cato gar keinen Sohn gegeben: Gleichwohl waren die Stellen im englischen Trauerspiele gar zu schön, wo er den einen Sohn tot vor sich siehet und den andern zur Feindschaft der Tyrannei ermahnet, als daß ich sie hätte weglassen sollen. Ich habe also den Portius beibehalten, ob ich ihm gleich ganz andre Szenen gegeben, als in den beiden Tragödien geschehen; den Marcus aber habe ich nur tot vor ihn bringen lassen, nachdem ihn Pharnaz erleget hatte. Dieses mußte ich geschehen lassen, weil ich keinen Sempronius oder Syphax mehr hatte, der in dem englischen Stücke befindlich war. Die letzte Handlung habe ich also fast ganz aus dem Addison beibehalten, außer daß ich die Personen geändert und die Heiraten des Portius und des Juba weggelassen habe. Den Cato hergegen habe ich ganz was anders aus dem Deschamps davor sagen lassen, ehe er stirbt.
Übrigens wird ein jeder wohl sehen, daß hier sowohl die Person der Arsene als ihre dem Pharnazes versprochene Ehe nur erdichtet worden. Herr Deschamps hat sich deswegen in seiner Vorrede sattsam gerechtfertiget: Weil dasjenige, was uns die Geschichte vom Tode Catons lehren, viel zu kurz gewesen wäre, eine ganze Tragödie auszufüllen. Es ist aber alles sehr wahrscheinlich eingerichtet, so daß niemand was Widersprechendes darin antreffen wird. Bei dieser Zwischenfabel nun, die sich so genau zur ganzen Hauptgeschichte schicket, hat man Gelegenheit, eine sehr lasterhafte Person gegen die Tugend des Cato zu stellen, um dieselbe desto mehr zu erheben: Wie etwa die Maler durch den Schatten das Licht desto mehr zu erhöhen wissen.
Ebenso verhält sichs mit der Person Cäsars. In der Tat ist selbiger nicht nach Utica gekommen, sondern es ist abermals nur erdichtet worden, um diese zween große Römer gegeneinander zu halten und den Unterscheid einer wahren und tugendhaften Größe von einer falschen zu bemerken, die aus einem glücklichen Laster entstehet, so zuweilen den Schein der Tugend annimmt. Die Auftritte, da Cato und Cäsar miteinander sprechen, haben daher nicht wenig beigetragen, daß ich die Einrichtung der französischen Fabel der englischen vorgezogen. Der Verfasser hat auch die Kunst gewußt, die Gegenwart Cäsars in Utica so wahrscheinlich zu machen, als es möglich gewesen: Indem er gedichtet, daß dieser Held nicht nur aus Begierde zum Frieden, sondern auch aus Liebe zu der vermeinten parthischen Königin sich in diese Gefahr gewaget. Was waget nemlich ein Verliebter nicht, um seinen Gegenstand zu sprechen! Oder vielmehr, was hatte Cäsar bei einem redlichen Cato vor Gefahr zu befürchten?
Endlich muß niemand denken, als wenn die Absicht dieses Trauerspieles diese wäre, den Cato als ein vollkommenes Tugendmuster anzupreisen, nein, den Selbstmord wollen wir niemals entschuldigen, geschweige denn loben. Aber eben dadurch ist Cato ein regelmäßiger Held zur Tragödie geworden, daß er sehr tugendhaft gewesen, doch so wie es Menschen zu sein pflegen; daß sie nemlich noch allezeit gewisse Fehler an sich haben, die sie unglücklich machen können. So will Aristoteles, daß man die tragischen Hauptpersonen bilden soll. Durch seine Tugend erwirbt sich Cato unter den Zuschauern Freunde. Man bewundert, man liebet und ehret ihn: Man wünscht ihm daher auch einen glücklichen Ausgang seiner Sachen. Allein, er treibet seine Liebe zur Freiheit zu hoch, so daß sie sich in einen Eigensinn verwandelt. Dazu kommt seine stoische Meinung von dem erlaubten Selbstmorde. Und also begeht er einen Fehler, wird unglücklich und stirbt: Wodurch er also das Mitleiden seiner Zuhörer erwecket, ja Schrecken und Erstaunen zuwege bringet. Man hat ihn selbst zuletzt noch einen Seufzer zu den Göttern tun lassen, um dieselben um ihre Barmherzigkeit anzuflehen, im Fall er irgend zuviel getan hätte. Dieses kann allerdings auch ein Weltweiser tun: Wie man denn von dem Aristoteles schreibt, daß er mit dem Seufzer verschieden sei: Ens entium miserere mei!
Wie ich nun in dem allen die Regeln der Alten von Trauerspielen aufs genaueste beobachtet zu haben glaube: Also habe ich das Vergnügen gehabt zu sehen, daß dieses Stück auch Gelehrten und Ungelehrten in der Aufführung gefallen und vielen von beiden Gattungen Tränen ausgepresset hat. Es ist wahr, daß die gute Vorstellung der theatralischen Hauptpersonen viel dazu beigetragen; darunter gewiß Cato, Portia und Cäsar die vornehmsten sind. Deswegen habe ich auch kein Bedenken getragen, nach dem Exempel der Franzosen und Engelländer, die Namen dieser und aller übrigen geschickten Personen hierbei bekanntzumachen. Ich überlasse es also verständigen Lesern, ob sie auch ohne die äußerliche Vorstellung bei eigener Aufmerksamkeit einige Bewegungen dabei empfinden werden.
Geschieht dieses, so bin ich zufrieden, daß ich zum wenigsten das Gute der französischen und englischen Stücke nicht verderbet habe. Denn überhaupt bekenne ich, daß alles, was an diesem meinem Cato zu loben sein wird, von dem Addison und Deschamps herrühret; alles Schlechte aber mir selber und meiner Unfähigkeit in der tragischen Poesie zuzuschreiben sei. Ich erkenne es also nunmehro selbst, wiewohl zu spät, daß ich lieber einen bloßen Übersetzer abgeben als mich selbst gewissermaßen zu einem tragischen Poeten hätte aufwerfen sollen.