»Ich

Fragment einer Bildungsgeschichte

Mein sogenannter Vater, welcher den häuslichen Unfrieden, von dem ich die unschuldige Ursache war, nicht länger ertragen konnte, sagte zu meiner angeblichen Mutter: ›Desdemona, es muß geschieden sein. Ich habe es geduldet, daß du mir täglich einige dreißigmal sagtest, du seiest meine Gattin nicht aus Liebe zu mir, sondern aus Achtung für meinen seligen Vater, den Lügner, geworden; geduldet sechszehn Jahre und neun Monate lang, aber daß du diesen armen Wurm, den ich mir habe sauer genug werden lassen, beständig knuffst, wo du ihn siehst, verletzt mein Gefühl allzusehr. Lebe wohl, Desdemona, wir wollen einander nicht fluchen, wir wollen aneinander schreiben, aber miteinander leben können wir nicht länger.‹

Er lockte mich mit einem Zuckerplatz zu sich, steckte mich, da ich noch nicht gehen und stehen konnte, obgleich ich übrigens bereits klüger war als mancher Dreißiger, in seine linke Rocktasche und stürzte ab, während die verlassene Gattin sich im Gefühle weiblicher Würde an das Fortepiano setzte und: ›Nach so viel Leiden‹ u.s.w. sang.

Mein Vater stürzte die Dorfstraße hindurch, er stürzte auf die Straße nach Braunschweig. Ich bat ihn langsamer zu gehen, die heftige Bewegung mache mir Schmerzen, und wirklich zerschlug ich mir beinahe die Nase an seinem Beine, gegen welches die linke Rocktasche flog. Er aber hörte nicht auf mich, sondern stürzte immer heftiger fort, unter Tränen rufend: ›Du solltest ein Opfer jenes bösen Weibes werden, du sauer zubereiteter Wurm? Dem sei nicht also. Du bist das Produkt meiner tiefsten Studien, mein liebstes Kleinod, mein teuerster Schatz!‹ - Ich litt unaussprechlich bei den Ausbrüchen dieser heftigen Zärtlichkeit und bei den durch sie hervorgebrachten stürmischen Bewegungen der Rocktasche. Damals schöpfte ich die erste Erfahrung von dem Satze, daß die Menschen, wenn ihre Liebe recht heiß ist, dem Gegenstande derselben hundsübel machen können.

Zum Glück kam ein Postillion halben Weges mit einer leeren Extrachaise von Braunschweig retour gefahren; den bestach mein sogenannter Vater, der Schwager verriet für einen Spezies seine heiligsten Pflichten, nahm uns auf, kehrte um und setzte uns vor Braunschweig ab. Dort mietete mein Vater einen Hauderer, der uns über Scheppenstedt, Magdeburg, die Wallachei hindurch nach Thessalonich fuhr. In Scheppenstedt sollte gerade damals eine allgemeine deutsche Akademie errichtet werden, in Magdeburg war Landestrauer, weil die Klöße in dem Jahre nicht geraten wollten, in der Wallachei werden lauter Wallachen gezogen, bei Thessalonich kommt man schon in das Türkische.

Wenn ich nur nicht immer in der Rocktasche hätte sitzen müssen! Ich hatte den brennendsten Drang nach Selbständigkeit, nach unumschränkter Beobachtung, und mußte da immer zwischen Schinken und Semmel und Sauerbraten verächtlich zubringen, denn mein Vater pflegte auch sein Frühstück in die linke Rocktasche zu senken, und ich durfte nur so eben aus der Schlitze gucken. Ich sagte zu meinem Vater in jedem Nachtquartiere: ›Papa, die Tasche steht mir nicht mehr an, lassen Sie mich neben Ihnen sitzen.‹ Er aber gab mir dann jederzeit einen väterlichen Kuß und schlug mir meine Bitte ab, weil ich ihm, wie er sagte, außer der Tasche verlorengehen könne. Mein jugendlicher Frohsinn schwand in der Tasche, ich fühlte, daß ich mich selbst mündig sprechen müsse, und wartete auf die erste günstige Gelegenheit, diesen Entschluß auszuführen.

In Thessalonich machten wir Halt und bezahlten unsern Hauderer. Der Hauderer erhielt gute Rückfracht, nämlich einen gefühlvollen, liberalen Russen mit seinen vier frisch angekauften zirkassischen Sklavinnen. Bei Thessalonich geht wie gesagt, schon das Türkische an. Mein Vater wollte dort ein Mittel gegen die Emanzipation der Frauen ausfindig machen, und ich sollte Kadett bei den Janitscharen werden, sobald ich gehen und stehen könne. Wir hatten Empfehlungsbriefe nach der Türkei von Hannover mitgenommen. Indessen wendete das Schicksal alles gar anders.

Mein Vater (ich mag nicht immer das Beiwort: ›Sogenannt‹, hinzufügen, versteht sich also in Zukunft von selbst) ging viel spazieren, hauptsächlich um meinetwillen, um, so sagte er, mir früh Empfindung für die schöne Natur beizubringen, überlegte nur nicht, daß ich in der linken Rocktasche von der schönen Natur wenig zu sehen bekam und ihm daher in meiner Finsternis auf das Wort glauben mußte, wenn er stillstehend, oder zwischen seinen Beinen durchguckend, in welcher Positur die Landschaft immer am reizendsten aussieht, von der göttlichen Aussicht, von der blauen duftigen Ferne und dem goldenen Morgen- oder Abendrote laut schwärmte. Eine recht verkehrte Erziehung! Ich bat ihn flehentlich, er möge mich doch wenigstens in einen seiner Stiefeln stecken, wie die Samojeden ihre Kinder bei sich führen - er trug weite Schlappstiefeln mit seidenen Troddeln vorn - jedoch vergebens. Auch aus den Stiefeln fürchtete er mich zu verlieren. Meine Lage wurde allgemach unerträglich und ich weinte oft die linke Rocktasche ganz naß.

Eines Tages saß mein Vater mit dem Rücken gegen einen Ölbaum gelehnt, sah die Sonne untergehen und war außer sich über ihren purpurnen Widerschein im Meerbusen von Thessalonich. Sonst pflegte er bei allem Enthusiasmus die Hände in der Tasche zu halten, so daß kein Entrinnen gedenkbar war. Dieses Mal übermannte ihn aber seine Begeisterung, er schlug unter Interjektionen die Hände über dem Kopfe zusammen, und ich benutzte den Augenblick, um aus der Tasche zu schlüpfen. Da sah ich um mich, da atmete ich, da ward mir wohl nach langer Kerkerhaft. Ich kroch, ging, stolperte, lief ein wenig, wie es eben glücken wollte, während mein Vater seine Rede an Sonne und Meer fortsetzte. Ich war eben in der Furcht vor Schlägen auf dem Rückwege nach der Tasche - denn mein Vater züchtigte mich ungeachtet aller Liebe sehr oft in der empfindlichsten Art - als das Verhängnis mit mir die wunderlichen Spiele begann, welche sich so lange fortsetzen und mir die eigentümlichsten Erfahrungen geben sollten.

Plötzlich fühle ich mich nämlich von einem großen, dunkeln Etwas überschattet, höre einen Lärmen, wie wenn ein Baum knattert und fällt, fühle ein rauhes Gefieder und zwei scharfe Krallen an meinem Leibe, sehe mich pfeilschnell erfaßt, in die Lüfte geführt, wolkenhoch emporgetragen. Mit Entsetzen erkenne ich mein Los, und rufe mir zu: ›Du bist in den Fängen eines Lämmergeiers, du armer, deinem Vater so sauer gewordener Wurm! Warum, Unglücklicher, verließest du die Tasche?‹ - Die Lage des Kindes war schaudervoll! Über mir der goldgelbe Bauch und die korallenrot glühenden Augen des Ungeheuers, um mich Luft und Wolken oder Schwärme folgenden und krächzenden Gefieders, welches dem Geier seine Beute mißgönnt, tief, schwindlicht tief unten Land und Meer wechselnd als dunkele und blanke Streifen! - Der Geier fliegt und fliegt; er ist ein Geier, der auf Reisen geht und sich seinen Mundproviant hat mitnehmen wollen. Das Ungeheuer schreit beständig: ›Pfy! Pfy!‹ - Da rufe ich mit dem Witze der Verzweiflung: ›O, wenn du Pfy! schreien kannst, so rufe doch zuerst über dich Pfy! aus, abscheulicher Franz Moor der Lüfte; Pfy! über deine mehr als unredliche Handlungsweise! Nach der Naturgeschichte fällst du zuweilen ausnahmsweise Hirtenknaben an. Bin ich denn ein Hirtenknabe? Bin ich nicht das gebildete Kind gebildeter Eltern? Hast du nicht selbst Kinder, Barbar? Jammert dich der Vater nicht, der drunten mit dem Rücken gegen den Ölbaum gelehnt sitzt, vermutlich noch immer die Sonne sinken sieht, und an den Sohn in der Tasche glaubt?‹

Ich war, man sieht es hieraus, über meine Jahre gereift. Der Geier kehrte sich aber an meine Reden nicht, sondern flog und flog.

Ein Blitz, ein Knall, ein Fall! Aus unermeßlicher Höhe stürze ich hinab; mir vergeht Hören und Sehen. Als ich von meiner Betäubung erwache, liege ich weich gebettet, und ohne daß mich eines meiner Glieder schmerzt. Ich sehe mich auf dieser Lagerstätte um; sie ist ein Carbonaro-Mantel von blauem Tuch, ausgespannt zwischen zwei Tamarisken. Ein langer, bleicher Mann steht neben den Bäumen, die abgeschossene Perkussionsflinte in der Hand, der fürchterliche Geier liegt einige Schritte davon blutig am Boden, schlägt mit den Flügeln und zuckt und schnappt in letzten Zügen. Etwas weiterhin graset, abgezäumt, ein Reitpferd.

›I killed the vulture‹, sagte der großmütige Brite nachdenklich, hob mich vom Carbonaromantel herunter, hielt mir seine Hand zum Kusse hin und fuhr gleichgültig fort: ›You shall stand indebted for it all your life, Sir. Adieu.‹

Er zäumte sein Pferd auf, schlug den Carbonaro malerisch um die Schultern, bestieg den Klepper und ritt fort. ›Um Gottes willen, Mylord, habt Ihr mich darum gerettet, um mich in dieser Einöde dem Hunger, dem Durst, den wilden Tieren preiszugeben?‹ rief ich. ›Bei der Gnade des Himmels! nehmt mich auf der Kruppe Eures Pferdes mit.‹ - ›You would deprive me of my comfort‹, versetzte der großmütige Engländer kalt und ritt wirklich fort, so daß ich ihn bald aus dem Gesichte verloren hatte. - ›Elender‹, sagte ich dumpf, ›ist dieses die Großmut Albions? Du dachtest an dein Jagdvergnügen und nicht an das gebildete Kind gebildeter Eltern, an den sauer zubereiteten Wurm seines Vaters, als du schossest. Geh, falscher, heuchlerischer Brite, wir sind quitt! Bewaffne dich mit dem ganzen Stolze deines Englands, ich, ein deutscher Knabe, verwerfe dich.‹

Durch diesen Monolog fühlte sich meine Seele erhoben und gekräftigt. Ich empfand zugleich, was ich meiner Ehre gegen den verruchten Geier schuldig war, der noch immer schnappte und jappte, trat daher zu ihm und sagte: ›Ein anderes Mal sehen Sie besser zu, wen Sie vor sich haben, Federvieh! Die Naturgeschichte erlaubt Ihnen, ausnahmsweise auf Hirtenknaben zu stoßen, nicht aber auf gebildete Kinder gebildeter Eltern.‹ - Der Geier drehte seinen borstigen Schnabel matt nach mir um und verschied sodann, wie es mir vorkam, mit einiger Reue in den Augen.

Ich betrachtete mir die Gegend. Nichts als Felsen und Klippen, eine über der andern, und in der Ferne noch höhere Kuppen! Flechten, Moose und Heiden bedeckten den Stein, Alpenröslein zeigten die roten Kronen, wilder Lorbeer, Tamarisken, Johannisbrotstauden standen in leichten, dünnen, malerischen Gruppen umher. Ich war auf einer bedeutenden Höhe, denn die Luft zog scharf und kühl, allem Vermuten nach auf einem der berühmten griechischen Berge, denn der Geier war mit mir südwestlich geflogen, aber auf welchem? Ich befand mich in der peinigendsten Ungewißheit über diesen Punkt, weil ich einsah, daß es vor allen Dingen nötig sei, mich örtlich zurechtzufinden, um den richtigen Weg nach Thessalonich und der linken Rocktasche einzuschlagen, die mir bei den schweren Erfahrungen, welche ich in so kurzer Zeit über Geier und Engländer gemacht hatte, schon jetzt wie ein verlorenes Paradies vorkam.

Aber wie diese Kenntnis erlangen? Die Gegend schien so einsam, daß kein Tier, geschweige denn ein Mensch sich erblicken ließ. Ich wollte anfangs das Geschick befragen und an meinen Jackenknöpfen abzählen, ob ich auf dem Öta, Parnaß, Olymp, Pindus oder Helikon stehe? verwarf aber dieses Auskunftsmittel als zu kindisch und meiner nicht würdig.

Das Dunkel nahte sich, die Kuppen der Berge wurden violett, Hunger und Durst begannen mich zu peinigen, und ich stand noch immer allein da droben, ich und der tote Geier die einzigen lebenden Wesen in jener Einöde! Mich fror in meiner leichten türkischen Janitscharenkadettenuniform, die mir mein Vater schon hatte machen lassen! Sie bestand in weißen Pumphöschen, in einem auf europäische Art zugeschnittenen roten Collet mit gelben Litzen und in dem Turban, der damals noch nicht abgeschafft war. Ein kleiner blecherner Säbel klirrte an meiner Seite und einen Schnurrbart trug ich auch, vorläufig einen mit Kohle gezeichneten.

Um wenigstens meinen Durst zu löschen - denn gegen den Hunger gab es freilich nichts, als Stengel, Blätter und Alpenrosen - kroch ich zu einer Quelle, welche zwischen grünlichen Klippen hervorsprudelte und an diesem ihrem Ursprunge von einigen der schönsten Lorbeern überstanden war. Ich ahnete, daß es mit diesem Wasser eine eigene Bewandtnis haben müsse, denn Gewalt und Klarheit wohnten in ihm so nahe beieinander, daß es kein gewöhnlicher Spring sein konnte. Zischend und schäumend drang der Strahl unter dem moosigen bekräuterten Steine an das Licht, als koche er, und einen Schritt weiter floß schon das klarste beryllgrünste Naß ohne Unruhe, Schaumblasen, Wirbel in seinem Rinnsale.

Ich bückte mich zur Quelle und netzte meine Lippen, aber wie wurde mir da! In meinen Eingeweiden tat es ein Grimmen, in meinem Blute ein Wallen, in meinen Gliedern ein Glühen, in meinem Herzen ein Klopfen, in meinem Haupte ein Schwärmen! Die wundersamsten Phantastereien begannen mir vor den Sinnen umherzugehen. Meine rote Janitscharenkadettenuniform kam mir vor wie das rote Meer, meine weißen Pumphöschen leuchteten mir wie der Schnee der Alpen und mein kleiner blecherner Säbel gemahnte mich wie das Schwert des Alexander. Ich öffnete die Lippen, und sie sprachen unwillkürlich:

›Gesperret lange Zeit in eine Tasche,
Selbständigwerdenwollend ausgekrochen,
Nahm in die Krallen dich der Gei'r, der rasche,
Dem Albions Großmut drauf den Hals gebrochen,
Und als dir nun gesunken die Courage,
Fühlst du in Grimmen, Glühen, Wallen, Pochen
Dein Herz gelöset fluten gleich der Träne
Des Stocks im Lenz, am Born der Hippokrene!‹

Ja, ich hatte unversehens aus der Hippokrene getrunken und war sonach am Helikon! Meine Lippen öffneten sich abermals und skandierten unwillkürlich:

›Sauerbereiteter Wurm des gütigsten Vaters,
Für die Kadettenanstalt des größesten Sultans
Mit dem Säbel aus Blech bewaffneter Knabe,
Streife das rote Collet und die weißen battistnen
Höschen vom Leibe dir ab und glänze in reiner
Klassischer Nacktheit!‹


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