Zweites Kapitel

Worin ein humoristischer Arzt nützliche Wahrheiten über die Behandlung kranker Personen vorträgt

Das Nahen des Arztes, welcher von dem Krankenzimmer herunter in den Garten kam, schnitt weitere Erörterungen vorläufig ab. - Der Doktor war ein überaus dicker Mann, der voll guter Einfälle steckte und diese mit der größten Trockenheit herauszubringen wußte. Clelia, die mit solchen Leuten eine natürliche Wahlverwandtschaft hatte, pflegte in seiner Gegenwart zu sprechen, als sei er nicht zugegen. Und so sagte sie auch jetzt, als der Arzt langsam über den Hof gewatschelt kam, ganz laut: »Da kommt der Doktor und wird uns nun sagen, daß es mit Oswald anfange, besser zu gehen. Das heißt, vierzehn Tage lang mag er allenfalls einen oder den anderen von uns eine Viertelstunde annehmen, vierzehn Tage darauf können die Besuche länger werden, und nach sechs Wochen werden wir hoffentlich so weit sein, daß der Rekonvaleszent in der Mittagssonne eine halbe Stunde spazierengehen darf. Dies nennen die Ärzte Herstellung.«

Wirklich hatte der Arzt noch bis gestern den Zustand des Kranken als bedenklich und der höchsten Schonung bedürftig dargestellt. Streng war jeder Verkehr zwischen ihm und der Außenwelt untersagt gewesen; niemand, weder die Frauen, noch selbst der Diakonus und sein neuer Vetter aus Österreich hatten ihn besuchen dürfen. Nur dem alten Jochem war er zur Obhut und Pflege von dem unnachsichtigen Arzte anvertraut worden, die jener denn auch in aller Treue ausgeübt hatte.

Ängstliche Sorge und Spannung, die in dem kleinen mit Gästen plötzlich so angefüllten Hause alle, besonders in den ersten Tagen der Krankheit, bewegte, konnte sich daher nur durch eifriges Fragen und Nachfragen und durch jede Liebesgefälligkeit, die von draußen nach dem Krankenzimmer hinein zu leisten war, geltend machen. Am unruhigsten war Clelia gewesen, welche ihren Vetter wahrhaft lieb hatte. Auch der Oberamtmann, der in seinem Wagen den Leidenden nach der Stadt befördert hatte, zeigte eine große Anhänglichkeit. Tief betroffen waren der Diakonus und seine Frau gewesen. Lisbeth hatte anfangs viel geweint. Dann fiel es den anderen auf, daß sie plötzlich die Gefaßteste, und wie es schien, Gleichgültigste von allen wurde. Diese Verwandelung geschah nach einer Unterredung, die sie mit dem Arzte gehabt hatte. - Sie wurde der Frau des Diakonus bei deren vermehrten Haussorgen sehr nützlich, und ein Geschäft hatte sie seit ihrem Eintritte in das Haus ausschließlich für sich in Anspruch genommen, die Bereitung alles dessen, was Oswald bedurfte. Ein zarter und stiller Verkehr waltete zwischen beiden, ungeachtet daß Lisbeth, wie sich von selbst versteht, unter dem strengsten Banne des ärztlichen Verbotes befangen war. Sie sandte ihm mit dem leichten und kühlenden Tranke, welchen er genießen durfte, jederzeit die schönsten Blumen, die sie im Garten fand. Er hielt diese sanften Boten in seiner Hand des Tages, und bei Nacht ruhten sie an seinem Herzen und von dieser Ruhestätte empfing Lisbeth sie am anderen Morgen wieder. - Wenn die Hausfrau sie nicht beschäftigte, pflegte sie im Hofe unter den Fenstern des Krankenzimmers zu sitzen. Dort verweilte sie, bis es völlig dunkel geworden war, ihre stille Mädchenarbeit verrichtend. Sie war gegen jedermann sanft und freundlich, ließ sich aber mit niemand ein, sondern blieb sehr für sich. Ein Vorfall hatte sich während jener Tage ereignet, der die Gäste etwas wider sie einnahm, den Oberamtmann sogar in Zorn versetzte.

Auf heute hatte der Arzt den Eintritt einer entscheidenden Krisis vorherverkündiget. Der Diakonus, Clelia und der Oberamtmann gingen ihm daher gespannt entgegen, während Lisbeth ruhig unter dem Fenster sitzen blieb. Der Arzt hatte die Worte Clelias gehört, wandte sich daher an diese, und sagte: »Gnädige Frau, ich darf Ihnen etwas kürzere Fristen versprechen. Unser Patient ist hergestellt, und wenn allerseits verehrte Anwesende heute und etwa morgen und etwannest übermorgen noch einige Rücksicht auf seinen Zustand nehmen, so wird er wohl überübermorgen ausgehen dürfen, als ein zwar noch etwas blasser aber doch durchaus geheilter Mann.«

»Wie?« riefen alle wie aus einem Munde. »Und Sie erklärten ihn noch gestern für nicht außer Gefahr?«

Der Arzt zog sein breites und fettes Gesicht in solche Falten, daß er wie ein Silen aussah und sagte: »Eine Notlüge, gnädige Frau und liebe Herren, eine Notlüge, ohne welche der rechtschaffenste Mann, absonderlich aber der Arzt, nicht durch dieses Jammertal kommt. Denn wollte der Arzt immer die Wahrheit sagen, so würfen sie ihn zum Hause hinaus.«

»O Sie Schelm! Gewiß haben Sie wieder einen Ihrer Streiche auslaufen lassen!« sagte der Diakonus lächelnd. Clelia drang in den Arzt, um den Zusammenhang zu erfahren, und er fuhr folgendermaßen fort. »Wenn man«, sagte er, »wie ich, eine Reihe von Jahren doktert, wenn man seine von vielen Rezepten nicht mehr abhangende Praxis hat, so beginnt man ohne Scheu einzugestehen, daß die Natur doch zuletzt der Geheime Medizinalrat oder Obermedizinalrat ist. Wir Ärzte sind nur schärfere Zeugen der Natur, hören feiner, was sie flüstert und wispert, als andere Menschen, sonst aber sind wir keine Hexenmeister. Der Natur, wenn sie leise sagt: ›Bitte! bitte!‹ die Bitte zu gewähren, alles fernzuhalten, was sie in ihrem Gange stört, das ist unsere ganze Kunst. Die Krankheiten werden meistenteils nur gefährlich durch Gelegenheitsursachen, welche das Walten der Natur stören. Auch dieser Blutsturz wäre bei der vortrefflichen Konstitution des Herrn Grafen wahrscheinlich ganz von selbst geheilt, das Blutgefäß, welches sich ergossen hatte, hätte sich mit Ruhe und höchstens etwas zusammenziehend Säuerlichem von Natur geschlossen. - Meine Weisheit hat nur darin bestanden, daß ich die der Natur feindliche Gelegenheitsursache entfernt zu halten wußte.«

»Ich sehe einmal wieder nicht, wohin dieses Kauffahrteischiff steuert«, sagte Clelia. »Welche Gelegenheitsursache meinen Sie?«

»Ihre und der übrigen verehrten Anwesenden Liebe, Freundlichkeit, Besorgnis und Teilnahme an meinem Patienten«, versetzte der Arzt trocken. »O meine geschätzten Freunde, Sie glauben nicht, wie viele Kranke dem Arzte durch Liebe und Teilnahme der Angehörigen zugrunde gerichtet werden! Zwar in den ersten Tagen läßt man den Leidenden wohl ruhig liegen und behandelt ihn vernünftig, aber späterhin, wenn es nun heißt, er bessere sich, oder er sei Rekonvaleszent, da beginnt ein wahrer Kultus des Krankenzimmers, in den Augen des gewissenhaften Arztes der schlimmste Teufelsdienst. Vergebens rufen die müden und zitternden Nerven: ›Laßt uns in Frieden!‹ Umsonst sehnt sich das in Unordnung gebrachte Blut nach Stille, fruchtlos ist es, daß die letzten Kohlen der Entzündung in sich verglimmen möchten - es hilft alles nichts, besucht wird, gefragt wird nach dem Befinden, unterhalten wird, vorgelesen wird, sogenannte kleine Freuden werden bereitet und voll Verzweiflung sieht man das Schlachtopfer der Liebe, was man gestern voll guter Hoffnung verließ, heute elend wieder. Deshalb sterben auch in Privathäusern verhältnismäßig mehr Menschen als in wohlbeaufsichtigten Lazaretten. Und darum pflege ich auf Kranke mit Umgebungen voll Liebe und Teilnahme, die ich nicht abhalten kann, von vorne herein doppelt soviel Zeit zu rechnen, als auf Kranke ohne liebevolle Umgebungen. Hier nun -«

»Es ist doch abscheulich, über die edelsten Empfindungen so zu spotten!« rief Clelia heftig.

»... sah ich einen ganzen Herd von Liebe und Teilnahme, als ich zum Grafen berufen wurde«, fuhr der Arzt, ohne sich erregen zu lassen, fort. - »Edle Empfindungen, über die mir nicht einfällt zu spotten, welche mir aber als Arzt nur als ebenso viele widrige Gelegenheitsursachen und Indikationen erscheinen mußten, daß der Patient, befragt, besprochen, unterhalten, durch Vorlesungen aufgeregt und durch kleine Freuden im entzündlichen Stadio verzögert, leicht seine paar Monate abliegen könne. Deshalb griff ich zu der Notlüge, daß er in großer Gefahr sei, dann folgte die einfache Gefahr, dann der bedenkliche Zustand, dann die langsame Hebung der Kräfte, und auf heute endlich wurde die Wirkung einer entscheidenden Krise versprochen. Er war aber nie, verehrte Anwesende, in großer Gefahr und kehrte nach den ersten zehn Tagen schon mächtig zu. Einem Kranken tut niemand not, als einer, der ihm zu den bestimmten Stunden die Arzenei reicht und allenfalls ein verschobenes Kissen zurechtlegt; und dann Langeweile, o du nicht genug zu preisende Göttin des Siechenbettes! Man sollte Hygieen gähnend darstellen, denn es ist nicht auszusagen, welche Riesenschritte die Besserung macht, wenn der Leidende weiter gar nichts zu tun hat als zu gähnen. Darum setzte ich unseren Grafen auf die wenig aufregende Gesellschaft seines alten Dieners und dann auf Langeweile und habe ihn durch diese beiden Potenzen in kurzer Zeit wieder auf die Füße gebracht und wenn ich ihn noch ferner besuche, so besuche ich ihn jetzt mehr als Freund denn als Arzt.«

»Schade«, rief Clelia nach dieser Erörterung spitz, »daß Sie sich nicht selbst als niederschlagendes Pulver verschreiben können. - So dürfen wir ihn denn also heute sehen?«

Der Arzt schaute rund im Kreise um und warf dabei auch seinen Blick in den Hof, wo Lisbeth noch immer saß. »Ich unterscheide«, sagte er nach einer Pause bedächtig. »Sie, gnädige Frau und der Herr Oberamtmann und der Pastor dürfen ihn ohne Schaden schon heute besuchen, mein Kind Lisbeth dort muß aber bis morgen warten.«

Er empfahl sich. Clelias muntere Seele war durch die letzte Rede des alten Silen doch etwas empfindlich gemacht; sie stand einige Augenblicke schweigend, nagte an ihrer schönen Lippe und rief dann: »Fancy!«

Fancy, die Kammerjungfer ließ sich hören und wurde gleich darauf sichtbar. »Fancy, bringe mir meine Crespine und setz' deinen Hut auf, wir wollen noch etwas spazierengehen«, sagte ihre junge Gebieterin.

»Dürfen wir Sie nicht zu unserem Freunde begleiten?« fragten der Diakonus und der Oberamtmann.

»Nein«, versetzte die schöne Empfindliche mit kurzem Ton, »zu den ganz unschädlichen Besuchern mag ich mich denn doch nicht gern zählen lassen.«

Sie verschwand mit Fancy. Die Männer gingen nach dem Krankenzimmer. Als der Diakonus bei Lisbeth vorbeiging, sagte er erstaunt und halb leise zu ihr: »Sie scheinen sich über des Doktors Nachricht wenig gefreut zu haben.«

»Ich wußte schon lange die Wahrheit«, versetzte Lisbeth mit niedergeschlagenen Augen. »Der Arzt hatte meine Angst gesehen und mir entdeckt, wie die Sache stand.«

»Und Sie konnten sich überwinden, Oswald nicht zu besuchen?«

»Warum nicht? Wenn er nur gesund wird! Kam ich und meine Sehnsucht da in Betracht?«


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