Ernste und feierliche Erklärungen zwischen der Baronesse und dem Oberamtmann
Die junge Dame Clelia hatte inzwischen die ermüdendsten Tage verlebt. Das Medizinieren unterhielt sie wohl anfangs, indessen war doch der Reiz der großen Arzeneiflasche, welche der alte Silen gefällig verschrieben hatte, bald abgebraucht. Sie fand, daß die Mixtur nach gar nichts schmecke und ließ sie, nachdem sie einige Eßlöffel voll zum Teil eingenommen hatte, ärgerlich zum Fenster hinauswerfen. Sie sagte, sie wolle die Naturkräfte walten lassen, die ganze ärztliche Kunst sei Scharlatanerie.
Es fiel ihr ein, daß sie einige Briefschulden abzutragen habe; Fancy mußte daher das mit gepreßtem braunem englischem Leder überzogene und mit Goldstäben gezierte Reiseschreibzeug auf den Tisch setzen, öffnen, die feinen roten, gelben und blauen Briefblättchen, die Stahlfedern mit silbernem Griff, die Oblaten von Mundlack mit Devisen und den bronzenen Briefbeschwerer herausnehmen. Als dieser geschmackvolle Apparat bereitgestellt war, erklärte Clelia, daß sie nicht wisse, was sie aus dem elenden Orte schreiben solle. Fancy packte still den bronzenen Briefbeschwerer, die farbigen Blättchen, die Oblaten und die Stahlfedern ein, schloß das Schreibzeug zu und stellte es wieder weg.
Gern wäre Clelia mit ihrem Vetter öfter zusammengekommen, aber es blieb bei kurzen, formellen Besuchen, denn ihre Gutmütigkeit konnte im Bewußtsein dessen, was geschehen sollte, eine befangene Stimmung nicht überwinden. Auch Oswald war einsilbig; er sehnte sich nach Lisbeth und entbehrte sie schmerzlich. Diese blieb mehrere Tage lang aus, und die Qual des Harrens gab der jungen Baronesse die übelste Laune, die sich plötzlich gegen das arme Kind wendete.
»Fancy«, sagte sie am dritten Tage, »wenn das Mädchen morgen nicht kommt, wenn ich noch länger hier herumgeführt werde, so fürchte ich bei der Unterredung von meiner Heftigkeit.«
»Es wäre nicht zu verwundern, wenn die gnädige Frau heftig würden, denn so lange auf sich warten zu lassen, ist unerlaubt«, erwiderte Fancy.
Die junge Dame bedachte sich und sagte: »Aber wenn mir recht ist, so habe ich ihr ja gar nicht ankündigen lassen, daß ich mit ihr reden wollte.«
»Nein, sie weiß nichts davon«, sagte Fancy.
»Nun, so darf ich ihr ja auch deshalb nicht zürnen!« rief Clelia zornig.
»Wenn Sie sonst nicht wollen, gnädige Frau, nein.«
Der Stramin, dieser Zeitvertreiber, wurde abermals zur Hand genommen. Clelia nähte eine halbe Dreifaltigkeitsblume, seufzte aber plötzlich, ließ den Stramin in den Schoß sinken und sagte gepreßt und schwer: »Edmund kann es nie verantworten, was er an mir getan hat.«
Fancy seufzte auch und sprach: »Ich hätte das nimmermehr von dem Herrn gedacht.«
»Jungfer«, sagte ihre Gebieterin mit einem strengen Tone, »ich verbitte mir alle Bemerkungen über meinen Gemahl.«
»O mein Gott!« rief Fancy und weinte, »nun sehen die gnädige Frau, was es zur Folge hat, wenn Herrschaften ihre Untergebenen durch zu große Güte verziehen. Ich erlaube mir schon Bemerkungen über den gnädigen Herrn.«
Sie schluchzte und konnte sich über ihren Fehler gar nicht zufriedengeben.
»Laß es doch nur gut sein, das Schluchzen!« rief Clelia ärgerlich. - »Ich habe mich jetzt ganz kurz entschlossen. Meine Gesundheit kann ich hier nicht zusetzen. Ich werde die Sache doch dem Oberamtmann überlassen.«
Fancy war die Beredsamkeit selbst, diesen Entschluß zu loben. »Ja«, sagte sie nach einer preisenden Rede über die doch stets so richtigen Gedanken der Herrin, »ja, der Herr Oberamtmann mag nur die Leutchen, die nicht zusammengehören, auseinander bringen. Für die gnädige Frau paßt das auch nicht, Sie haben zu so etwas Feinem und Verwickeltem keine Anlage, nicht ein Kind könnten Sie, wenn es eine dumme Unart auslassen will, davon abhalten, aber der Herr Oberamtmann ist darauf gewitzigt, o der hört das Gras wachsen und macht einen mit der feinen List nach seiner Pfeife tanzen, wie er will. Ich wette darauf, womit Sie sich in Gedanken schon drei Tage lang ängstigen, das hat er morgen in einem Viertelstündchen fertig; die Mamsell reist sacht ab, weint ein paar Tränen, trocknet sie auf der nächsten Station, den jungen Herrn Grafen wird er auch bald herum haben, denn er besitzt einen ganz außerordentlichen Verstand in dergleichen Sachen, und so klug Sie sind, gnädige Frau, darin stehen Sie ihm nach. - Nein, Ihre Gesundheit dürfen Sie nicht zusetzen und noch dazu umsonst, denn es würde Ihnen schwerlich glücken, aber der Herr Oberamtmann ist der Mann dazu. Gleich hole ich ihn her, damit Sie ihm Ihre veränderte Meinung sagen können.«
Die Baronesse hätte gern den unaufhaltsamen Fluß dieser Reden gehemmt, es war ihr aber nicht möglich, Fancys Zunge zum Schweigen zu bringen. Jetzt endlich konnte sie zum Worte kommen. Hochrot, und mit den kleinen Füßen stampfend, rief sie: »Nein! Nein! Nein! du sollst den Oberamtmann nicht holen, ich bin ebenso klug als er, Fancy bleib hier, Fancy! Fancy!« - Aber Fancy hörte nicht, sondern sprang fort. - »Gott!« rief Clelia fast weinend vor Verdruß, »es ist doch zu arg mit einer solchen Gans von Mädchen, die immer das Echo von einem macht, da bringt sie wahrhaftig den Aktenmenschen schon herauf; der Himmel sei ihm gnädig, wenn er sich über mich mokiert! Aber was sage ich ihm? denn nicht um die Welt lasse ich ihn sich einmischen.«
Der Oberamtmann betrat mit Fancy das Zimmer. Fancy hatte ihm wirklich gesagt, die gnädige Frau wisse sich durchaus keinen Rat, die Mesalliance zu hindern, und der erfahrene Geschäftsmann konnte seinen Triumph darüber nicht verbergen. Es wäre möglich gewesen, daß Clelia ihm dennoch die ganze Angelegenheit in seine Hände zurückgegeben hätte, aber dann mußte er sich respektvoll, ernst und zurückhaltend nehmen. Er kam jedoch schmunzelnd, mit einer gewissen Überlegenheit in Blick und Haltung, er nahm sich vor, einen Scherz aus der Sache zu machen, sie nicht zu wichtig zu nehmen. Es war der erste Scherz, den der arme Oberamtmann auf der Reise ausgehen ließ und Ort und Stunde konnten dazu nicht unglücklicher gewählt sein.
Sobald Clelia das Schmunzeln ihres Geschäftsfreundes und ehemaligen Nebenvormundes sah, sobald sie bemerkte, daß er ihr leichthin imponieren wolle, und gar, als sie mit weiblicher Ahnungsgabe seine Absicht, scherzen zu wollen, spürte, kehrte sie in den Besitz ihrer ganzen Festigkeit zurück, die wir an ihr zu bewundern schon mehrmals Gelegenheit gehabt haben.
Er trat ihr nahe und sagte lächelnd: »Nun, liebes Kind, muß der Ritter von der traurigen Gestalt dennoch vorrücken?« - Er wollte ihre Hand ergreifen. Clelia zog sie zurück und entfernte sich von ihm. Seine früheren Beziehungen zu ihr hatten ihm das Recht vertraulicher Anreden gegeben, und wie oft war von ihm dieses Recht geübt worden! Aber heute wollte Clelia nicht sein liebes Kind sein, heute verlangte sie die volle Courtoisie und Titulatur von ihm.
Er folgte ihr nach. - »Clelchen«, sagte er noch schmunzelnder, »es ist mir lieb, daß Sie einsehen, für dergleichen nicht zu passen. Nun, schämen Sie sich nur nicht; Don Quixote tritt vor den Riß.« - Abermals trachtete er nach ihrer Hand, die er zärtlich küssen wollte, denn Geschäftsmänner sind nie galanter, als wenn sie den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit in Verlegenheit sehen. Clelia riß jedoch beinahe ihre Hand zurück und rief mit scharfem Akzent: »Herr Oberamtmann, ich weiß durchaus nicht, was Sie bei mir und von mir wollen!«
Der Oberamtmann machte ein Gesicht, ähnlich dem, was er zu machen pflegte, wenn einer seiner Inkulpanten, von dem er behaglich das unumwundenste Geständnis erwartete, plötzlich sich auf ein entschiedenes Leugnen verlegte. - Er sah Clelia starr an, dann ging er im Zimmer auf und nieder. Hierauf nahm er den Stramin in die Hand, als ob dieser ihm einen Faden in dem Labyrinthe darleihen könne, dann öffnete er das Schreibzeug und blickte tiefsinnig das farbige Postpapier an, endlich stellte er seine Uhr, obgleich sie richtig ging. Nach diesen vorbereitenden Handlungen trat er vor Clelia und sagte mit dem tiefsten Ernste: »Gnädige Frau, ich bin kein Narr.«
Clelia versetzte nicht minder ernsthaft: »Und ich bin nicht Ihr liebes Kind und nicht Ihr Clelchen, Herr Oberamtmann.«
Die Feierlichkeit dieser gegenseitigen Äußerungen war so groß, daß Fancy ein Lachen verbeißen mußte. Es trat wieder ein langes Schweigen ein. Endlich unterbrach es der Oberamtmann und sagte: »Ich muß Sie ersuchen, bis morgen abend die Einwilligung der sogenannten Braut, welche wie ich höre, heute abend zurückkommen wird, herbeizuschaffen. Wofern Umstände dies verhindern sollten, so werden Sie entschuldigen, wenn ich das Versprechen Ihrer Mühwaltung in der Sache, als von Ihnen widerrufen betrachte und mich derselben unterziehe.« - Nach diesen Worten, die er gemessen und kalt vorgebracht hatte, empfahl er sich mit einer steifen Verbeugung.
Clelia kam an diesem Abende nicht zu Tische. Fancy suchte sie durch eine Vorlesung zu zerstreuen. Sie las ihr nämlich ein vierzehn Tage altes rheinisches Zeitungsblatt vor, welches auf dem Zimmer lag. Sie las es von Anfang bis zu Ende, erst las sie von den Verwickelungen im Orient, dann von den Kreuz- und Querzügen der Christinos und Karlisten, dann, wie liebenswürdig sich der und der da und da benommen, dann von der soundsovielsten großen ministeriellen Krisis in Frankreich, endlich von einigen deutschen Händeln. Hierauf ging sie zu den Anzeigen über, an deren Spitze die Verkündigung von Assisen in Elberfeld stand. Es folgten zu vermietende Wohnungen, brave Mädchen sagten, daß sie gut nähen und bügeln könnten und ein Anstreicher suchte einen gesitteten Jüngling für sein Geschäft. Später sehnte sich jemand nach einem entflogenen Kanarienvogel, einem anderen war dagegen ein brauner Dachshund zugelaufen. Dazwischen fuhren die Dampfschiffe regelmäßig alle Morgen, auch waren rein gehaltene Bleicharte zu haben, wobei aber ein zweifelsüchtiger Leser ein großes Fragezeichen mit Rotstift gesetzt hatte. Zuletzt wurde Harmoniemusik an verschiedenen Orten gemacht, und dazu der Saison angemessene Speise dargeboten.
Clelia widmete dieser ganzen Vorlesung wenig Aufmerksamkeit. Nur als sie von den Assisen hörte, mochten ihre Gedanken, welche sich noch immer ärgerlich bei dem Oberamtmann aufhielten, angeregt werden, weil sie ihn so oft sehnsüchtig davon hatte reden hören. Sie rief: »Nun dahin könnte man ihn ja gleich schicken, wenn er sich hier lästig machen will!«
Spät hörte man einen Wagen vorfahren. Lisbeth kehrte zurück.
Clelia befahl ihrer Jungfer, das Mädchen gegen die Mittagsstunde des folgenden Tages zu ihr zu rufen, »denn«, sagte sie, »wenn man jemand wider seinen Willen zu etwas bestimmen will, so darf man ihn nicht im Negligé empfangen.« Sie ging mit vieler Würde zu Bett und dachte in dieser Nacht, wenn sie erwachte, nicht einmal an ihren pflichtvergessenen Gemahl, sondern nur an die Aufgabe des folgenden Tages.