Als er wieder auf seinem Zimmer war, sagte er: »Teure Nanette! große Seele! Jetzt erst erkenne ich ganz deinen Wert.« - Er nahm sein Stammbuch und machte auf dem Blatte, auf das sich Louise geschrieben hatte, ein großes Kreuz mit Tinte; denn für ihn war sie ja gestorben. Es war ein rührender, ein großer Moment; er legte Löschpapier dazwischen, damit das unglückliche Zeichen nicht die gegenüberstehende Seite verderbe, und so ein übles Omen hervorbringe; denn Nanette hatte sich vis à vis eingeschrieben.

Es gibt Stunden im Leben, in denen sich der Mensch an Empfindungen so erschöpft hat, daß er notwendig einschlafen muß. Fermer zog sich also aus, schickte den Stiefel zum Schuster und legte sich trübselig aufs Bett. Der Bediente hörte ihn schnarchen, als er vom Schuhmacher zurückkam.

Louise saß indes an ihrem Schreibtisch und fertigte folgenden Brief an ihre Vertraute aus, die nach einer benachbarten kleinen Stadt verreist war, um unter Onkeln und Tanten auf Picknicks und einigen bevorstehenden Hochzeiten den Frühling auf dem Lande zu genießen.

 

Liebe Seele!

Fermer und ich sind geschieden, es war eine entsetzliche Szene; ich mußte ihn mit Gewalt und mit Tränen zurückhalten, daß er nur nicht aus dem Fenster hinaus in den Kanal sprang. Ich hätte nie geglaubt, daß er einer so unendlichen Liebe fähig sei. - Meine Seele ist jetzt beunruhigt und ruhig zugleich; die Szene ist vorüber; aber er irrt jetzt vielleicht verzweifelt in den Wäldern umher, haßt die Menschen und sich, und schlägt kein Auge auf, um die Natur nicht gewahr zu werden, die er an meiner Seite so oft bewunderte. Wir Weiber sind doch schwache Geschöpfe, das kann ich nun wohl mit Recht sagen; denn der Herr Walther gefällt mir im Grunde doch besser, er ist schöner; mein Vater sagt, er sei reich. - Ich habe mich darein ergeben; kommen Sie doch ja zu meiner Hochzeit zurück.

 

»Wie schön ist der Frühling hier auf dem Lande«, schrieb die Freundin zurück; aber schade, daß ich noch fast gar nicht aus der Stadt gekommen bin, und es auch noch nicht habe möglich machen können, die Lektüre des Matthison anzufangen. Aber meine Lust zu tanzen kann ich hier recht befriedigen, denn es wird alle Abend getanzt und gewalzt, und der Sohn des Bürgermeisters hier ist ein exzellenter Tänzer und auch sonst ein artiger Mensch; er hat erstaunlich viel von Marquis Posa, dessen Rolle er auch fast ganz auswendig weiß. - Leben Sie wohl, bis wir uns fröhlicher wiedersehn.«

 

Fermer erhob sich gestärkt und getröstet vom Lager; die Dame gegenüber sah wieder aus dem Fenster, er ging im Zimmer auf und ab; bald sah er nach ihr; dann grüßte er; dann setzte er sich in einer schwermütigen Stellung dicht an das offene Fenster, damit sie ihn gewahr werden möchte; ja er gab sich selbst alle mögliche Mühe, um zu weinen, bildete es sich auch endlich ein und trocknete zu wiederholten Malen die Augen. - Als er durchs Schnupftuch nach dem Frauenzimmer hinübersah, bemerkte er, daß sie wieder lächle, und er schloß daher, ihre Seelen müßten ungemein sympathisieren.

Als sich die Dame zurückgezogen hatte, fiel es ihm ein, daß seine Mitbürger, nachdem er von der Akademie wieder zurückgekommen, wahrscheinlich irgend etwas von ihm erwarten würden. Er dachte an seine Geschichte, seine Empfindungen, an sein Herz, und er beschloß, alles in einem gutgesetzten Ritterromane wieder anzubringen; er sah sich schon gedruckt, rezensiert, in Kupfer gestochen. Auf einem feinen Bogen Papier schrieb er den Titel nieder, seinen Namen und inwendig: Erste Szene, denn es sollte dialogiert werden; dann durchdachte er die Materie und Einkleidung etwas genauer, trat bald vor den Spiegel, bald ans Fenster, und arbeitete so den größten Teil des Tages.

Er erhielt am folgenden Tage wieder einen schmeichelhaften Brief von Nanetten, die die Tochter eines Handwerkers war, aber immer große Gesinnungen äußerte, so, daß sie ihn selbst zuweilen beschämt hatte. »Ideal!« rief er aus, »du sollst wahrlich in dem Buche nicht vergessen werden« (er küßte den Brief), »nein, ich mache dich aus Dankbarkeit zur Hauptheldin, alle deine Briefe sollen mit kleinen unbedeutenden Abänderungen gedruckt werden; Welt und Nachwelt sollen sie ebenfalls genießen, und die weibliche Tugend bewundern.«

Er antwortete, er bekam Briefe, Louise feierte ihre Hochzeit, er schrieb an seinem Buche, er las andre Bücher, um sich zu bilden, ging spazieren, und rauchte einen neuen Pfeifenkopf braun; sah die Frau des Hauptmanns täglich; und als so ein Vierteljahr vergangen war, und Nanettens Briefe ausblieben: so gestand er es sich endlich, daß er in die Dame im Fenster gegenüber sterblich und unsterblich verliebt sei.

Eine neue wunderbare Situation! Sie war verheiratet; aber sie liebte ihren Mann gewiß nicht; der Hauptmann war gewiß ein roher gefühlloser Mensch; die Frau schmachtete wahrscheinlich nach Liebe und Büchern, und edelmütigen Gesprächen; sie lächelte immer wenn sie ihn sah - warum sollte er nicht den kühnen Schritt wagen, ihr seine Liebe zu gestehn?

Er wagte ihn - und da er kein andres Mittel sah, warf er einen großen Brief in ihr Zimmer hinein, als das Fenster an einem warmen Tage offengelassen war; dieser Brief enthielt alle seine Empfindungen, seine ewige Liebe, ganz genau beschrieben, so, daß man hätte blind sein müssen, um sie zu verkennen.

Er wollte nun den Erfolg seiner Erklärung abwarten; aber die Frau ließ sich seit der Zeit gar nicht mehr am Fenster sehn, und indem er noch in der höchsten Ungewißheit war, erhielt er ein Billet, das nichts Geringeres als eine Ausforderung vom Hauptmann enthielt, der durchaus auf eine blutige Art die Beleidigung seiner Frau rächen wollte.

Fermer vergaß seine Bücher, seine Nanette, seine neue Geliebte, alles, über diese unvermutete Ausforderung. Er schloß sich ein, er setzte sich nieder, er las das Billet noch einmal, und der Inhalt war um nichts besser; er weinte, er beklagte sein grausames Schicksal und sein frühzeitiges Ende, den Verlust seines Vaterlandes, die Vernichtung aller großen Plane. Er beschloß, die Ausforderung nicht anzunehmen, denn die Gesetze hätten dergleichen mörderliche Duelle verboten, ein junger Mensch könne wohl einmal in Versuchung fallen, verdiene aber deswegen nicht, daß er gleich umgebracht werde. Kurz, er hatte ungemein moralische Gedanken; er beschloß, in die Gattin des Hauptmanns nicht weiter verliebt zu sein; denn es sei wirklich unrecht, aber auch nicht sich der Gefahr auszusetzen, die Spitze eines Degens in den Leib zu bekommen.

»Aber bin ich nicht ein Feigling?« rief er aus, indem ihm Friedrich mit der gebissenen Wange in die Augen fiel; »soll sich ein deutscher Mann so betragen? - Was ist denn der Mut anders, als eben die Verachtung der Gefahr? Wahrlich, wenn es keine Gefahr gäbe, würden wir alle ohne Umstände mutig sein. Jetzt nimmt vielleicht die größte Periode meines Lebens ihren Anfang, und ich ziehe mich selber schändlicherweise zurück; nein, ich will dem Abenteuer, ich will meinem Feinde entgegengehn.«

Er betrachtete seinen Degen, den er bis dahin noch nicht genau angesehn hatte, dann las er die Beschreibung einiger fürchterlichen Zweikämpfe, und hatte es noch nie so lebhaft empfunden, wie viel an Leib und Leben diese deutschen Helden gewagt hatten.

Er sah sich als Sieger aus dieser blutigen Fehde kommen, ein ganz neues, interessantes Kapitel in seiner Lebensgeschichte, er hörte sich bewundern, er war mit sich selber ungemein zufrieden.

»Aber«, unterbrach er diese angenehmen Vorstellungen, ich könnte mir denken, daß mein Gegner auch der Held einer interessanten Lebensgeschichte wäre, in der ich gleichsam als Episode erschiene, als Nebenperson, die nur aufgefüttert ist, um den Ruhm dieses mir fremden Menschen zu verherrlichen; denn hätten jene alten Helden keine tapfern Männer umgebracht: so hätten wir auch von jenen Gefallenen keine weitläuftigen Sagen der Vorzeit. - Wer steht mir für den Sieg?«

Dadurch wurde seine Heiterkeit wieder niedergeschlagen; er beschloß, niemand etwas von seiner Gefahr zu vertrauen, um sein gutes oder böses Schicksal in bestmöglichster Ruhe abzuwarten.

Der Bediente trug das Abendessen auf, aber der Herr hatte allen Appetit verloren; seine Schwermut war so merklich, daß ihn selbst Johann fragte, ob ihm etwas fehle. Fermer seufzte, drehte den Kopf von der Seite und sagte: ihm fehle nichts.

Der Bediente kam wieder, und nahm das Abendessen fast ganz so wieder mit, wie er es aufgetragen hatte, das war ein unerhörter Fall; er konnte unmöglich seinen Herrn allein leiden lassen. Fermer ward durch die Treue seines Dieners gerührt, er fiel ihm schluchzend um den Hals. »Johann!« rief er aus, »ich gehe in meinen Tod, mit dem Anbruch des Tages bin ich nicht mehr.«

Johann entsetzte sich; denn er hatte noch rückstehenden Lohn zu fordern; er suchte seinem Herrn begreiflich zu machen, daß er nicht recht bei Sinnen sei, wie er aus diesen Reden und aus dem wenigen Appetite ganz deutlich abnehme. Fermer aber blieb in seiner tragischen Laune; behauptete, er könne nichts entdecken, aber sein Tod sei ihm nur allzugewiß.

Die Beredsamkeit Johanns stockte endlich, und der Herr nahm nun von seinem Diener den rührendsten Abschied. Einer hing am Halse des andern, beide weinten; die Edeln litten gewaltig.

Johann ging endlich zu Bette; in der grausenden Mitternacht schrieb Fermer diesen kurzen Brief an Nanette:

 

Gute!

Lebe wohl, ewig wohl - ich danke Dir dafür, was Du mir in diesem Leben warst; die Erinnerung will ich mit in die Ewigkeit hinübernehmen. - Es ist schwarze Nacht, und der aufgehende Tag wird noch schwärzer sein - mein Schicksal ruft mit eherner Glockenstimme, ich muß ihm folgen - lebe wohl.

 

Es wurde wirklich Tag, woran Fermer immer noch im stillen gezweifelt hatte; er nahm seinen Degen unter seinen Überrock und verließ die Stadt. Es war ihm schauerlich, daß noch alle Leute schliefen, und er allein so früh aufgestanden sei, um sich abschlachten zu lassen.

An dem bestimmten Orte sah er den Hauptmann mit entblößtem Degen stehn - aller Mut verließ ihn, er näherte sich zitternd und sank auf ein Knie nieder.

»Großmütiger Feind!« rief er demütig - »schonen Sie einen Jüngling, dessen Unbesonnenheit -«

Der Hauptmann gab ihm ein paar Schläge mit der Klinge, die ziemlich empfindlich waren. »Sei Er künftig kein Narr«, sagte er, »alles war nur ein Spaß - ich mich schlagen mit einem solchen Schlucker? - Er ist jetzt genug gestraft, ich und meine Frau haben schon im voraus über diese Posse gelacht.« - Er steckte den Degen ein.

Fermer dankte in den rührendsten Ausdrücken, er flog zur Stadt zurück; Johanns Freude, daß er seinen Herrn wiedersah, war unbeschreiblich; Fermer zahlte ihm seinen Lohn aus, und gab ihm noch überdies ein Geschenk, dann legte er sich zu Bette und schlief einen vortrefflichen gesunden Schlaf.

Als er aufstand, war er ungewöhnlich froh; er aß stärker als gewöhnlich, rauchte mehr Tabak als gewöhnlich, zog sich besser an als gewöhnlich. Es war, als wenn er allen Gütern dieses Lebens seine Antrittsvisite abstatten wollte. Nachmittags schrieb er folgenden Brief an Nanetten:

 

Teure Seele!

Die Gefahr ist vorüber - ich bin dem Leben zurückgegeben. Beinahe wär ich Dir auf mehr als eine Art entrissen worden, aber der Himmel hat sich unsrer Liebe angenommen, nun bin ich ganz, ganz wieder Dein; alle Hindernisse sind gehoben. - jauchze mit mir, die Vernichtung hat nun weiter keinen Teil an mir, ich war der Gefahr zu stark; mein brausendes Blut, meine Nervenstärke hat den Tod zurückgeschreckt. Der Mann müßte kein Mann sein, der nicht einmal das Schicksal besiegen könnte. - Ich will in der Einsamkeit nun ganz Dir leben, nur Gedanken an Dich sollen mich beschäftigen.

Adieu.

 

Er gab beide Briefe zugleich auf die Post, der erste sollte mit der reitenden, der andere mit der fahrenden abgehn, so, daß sie ohngefähr zu gleicher Zeit ankamen.

Er wollte zum Fenster hinaussehn, zog aber den Kopf schnell wieder zurück, denn die Frau des Hauptmanns sah aus dem gegenüberstehenden.

Fermer machte nun ganz ernsthaft den Plan, die Stadt zu verlassen, und sich reizender auf einem Dorfe, den Rest des Sommers einzumieten. Es kam ihm so schön vor, sich als ein unbekannter Menschenhasser unter den Bauern umherzutreiben, die Neugier der Leute zu spannen, und jeden zu verwünschen, der nur ein menschliches Gesicht habe. Das ganze Menschengeschlecht sah er als eine Rotte von Verrätern an. Louise, die Hauptmännin, der Hauptmann, hatten sich treulos gegen ihn erwiesen, und auch von Nanetten war seit lange kein Brief angekommen. Hinlängliche Gründe, um die Welt zu verfluchen; viele tun es oft aus noch geringem Ursachen.

Er fand eine Wohnung die ihm gefiel, und zog mit seinem Bedienten hin, das Dorf war nur eine halbe Meile von der Stadt entfernt. Johann mußte nun viel leiden, weil er das Unglück hatte, auch zu den Menschen zu gehören; bald war das Essen schlecht, bald wurde seinem Herrn die Zeit lang, bald schimpfte er, daß auf dem Dorfe kein Kaffeehaus sei, und kein vernünftiger Mensch zum Umgang, um die Einsamkeit erträglich zu machen.

Er lernte Lieschen, die Tochter des Küsters, kennen. Sie war ein derbes, gesundes Mädchen, dem Fermer, seiner Sporen wegen, ganz außerordentlich gefiel. Er besuchte den Vater, sprach mit der Tochter, fluchte auf die Menschen, schalt sie alle Bösewichter, und machte Lieschen zu seiner Vertrauten.

Sie lernte bald von ihm die Menschen verwünschen und die Einsamkeit der Gesellschaft vorziehn, beide waren daher jetzt unzertrennlich. Fermer verliebte sich, er ward wiedergeliebt, und da Lieschen in Büchern nicht sehr belesen war, so ging diese Liebe bald aus dem Sentimentalen in die natürliche über. Der Vater bemerkte ihre Vertraulichkeiten und ward ergrimmt; um ihn zufriedenzustellen, ließ sich Fermer mit Lieschen aufbieten und versprach, die Hochzeit in vierzehn Tagen zu feiern.

Plötzlich erschien Nanette im Dorfe; sie hatte Fermern in der Stadt vergebens gesucht; sie war ihrem Vater entlaufen, um bei ihm Trost zu finden. - Alle waren in Verzweiflung.

Nanette warf sich auf die Kniee und schrie und heulte. - »Ich bin Mutter!« rief sie pathetisch - (und es wäre unnötig gewesen, es zu sagen; denn jedermann bemerkte es). - »Ums Himmels willen Leopold! gib diesem Kinde einen Vater, oder ich muß es mit diesen Händen umbringen, so leid es mir auch tun sollte. - Laß die Bitten einer Mutter an dein Herz ergehn.«

Lieschen wollte schon aus dem ähnlichen Tone zu sprechen anfangen, als sich Nanette endlich besänftigen ließ, und großmütig, nachdem ihr Fermer einige hundert Taler verschrieben hatte, zurückstand. - Sie entdeckte jetzt, daß sie einen Liebhaber habe, der sie heiraten wolle, wenn sie nur einiges Vermögen aufzuweisen habe; er war auf der Universität Hofmeister eines jungen Amtmannssohns gewesen, und bekam jetzt eine Stelle an der Schule in Fermers Geburtsstadt.

Alle waren zufrieden; Fermer zog mit seiner Frau in die Stadt, und brachte ihr Geschmack an Büchern bei; sie lernte Louisen kennen, diese mit der Vertrauten, die indessen ihren Marquis Posa geheiratet hatte, nebst Nanetten und ihrem Mann, machten einen vertraulichen Zirkel aus, in dem man las und sprach und gähnte. -

Fermer ist seitdem Schriftsteller geworden und bietet den Buchhändlern folgende Manuskripte an:

Löwenhelm der Bärenstarke, Vaterlandssage, in 3 Bänden.

Die Eroberung von Teltow, ein brandenburgisch-vaterländisches Schauspiel, in 6 Aufzügen.

Die unsichtbaren Sichtbaren, eine Geschichte, die man kürzlich in den Obelisken gefunden, 4 Bände.

Rudolph vom Kellersporn, gemeinhin genannt der Abgrundspringer, in 2 Bänden.


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