2.
Sokrates und Antifon.1)
Antifon. Ich glaubte sonst immer, wer filosofiere müsse glücklicher dadurch
werden: aber bey dir, mein guter Sokrates, zeigt sich das Gegentheil; dir scheint die Weisheit
ziemlich übel zu bekommen. Du lebst auf einem Fuß, daß, wenn ein Herr seine
Knechte nicht besser halten wollte, kein einziger es bey ihm ausdauern würde. Du issest und
trinkst das schlechteste was zu finden ist; dein kurzer Mantel da, ist nicht nur so armselig als
möglich, er macht sogar deine ganze Garderobe aus, und im Winter wie im Sommer behilfst du
dich ohne Unterkleid und gehst
baarfuß.2) Geld einnehmen
ist sonst jedermann etwas willkommenes, weil es uns die Mittel verschafft desto anständiger
und angenehmer zu leben: du allein hast kein Geld einzunehmen, und nimmst keines wenn es dir
angeboten wird. Wahrhaftig, wenn du, was bey allen andern Lehrmeistern der Fall ist, deine
Zöglinge dahin bringen kannst, daß sie es auch so machen wie du, so kannst du dich
keklich für den größten Meister in der Kunst ein armer Teufel zu
seyn,3) ausgeben.
Sokrates. Du, Antifon, würdest also, wie ich merke, lieber sterben wollen als
leben wie ich, so traurig und jämmerlich kommt dir meine Art zu leben vor? Laß
dann sehen, was du so unerträgliches an ihr findest! - Etwa das, daß wenn andere,
welche Geld für ihren Unterricht nehmen, sich die Schuldigkeit aufladen, das, wozu sie
gedungen sind, wie andre Taglöhner abzuarbeiten und ihren Lohn zu verdienen; ich hingegen,
weil ich keines nehme, nicht genöthigt bin, mich mit andern Personen zu unterhalten als die
ich mir selbst wähle? Oder verachtest du meine gewöhnliche Kost, weil sie weniger gesund
ist, und weniger Kräfte giebt als die Deinige? Oder weil meine Gerichte rarer und
theurer, folglich schwerer anzuschaffen sind? Oder weil dir die Deinigen besser schmecken,
als die Meinigen mir?4)
Weißt du nicht, daß wer recht guten Appetit hat nichts weniger als feine Schüsseln
bedarf, und wer dürstet gern mit jedem Getränke vorlieb nimmt? Was die Kleidung betrift,
so wirst du mir nicht läugnen, daß diejenigen, die ihre Kleider mit der Jahrszeit
wechseln, es der Kälte und der Hitze wegen thun, und daß man sich Schuhe umbindet, aus
Furcht die Füße zu verletzen und dadurch am Gehen gehindert zu werden. Hast du aber je
gesehen, daß ich Kälte halber zu Hause geblieben wäre? oder an einem heißen
Tage jemandem einen schattigten Platz streitig gemacht hätte? oder, weil die Füße
mich geschmerzt, nicht hätte gehen können wohin ich wollte? - Weißt du nicht,
daß Leute, die von Natur einen schwachen Körper haben, es in allem, worin sie sich
übten, viel Stärkern, aber ungeübten zuvor thun, und sich leichter in solche
Dinge schicken können? Meynst du also nicht, ich, der sich immer übte, alle Arten von
körperlichem Ungemach zu dulden, müsse dergleichen besser aushalten können als du,
der sich nie darin geübt hat? Daß ich aber weder meines Gaumens, noch des Schlafs, noch
andrer körperlichen Bedürfnisse Sklave bin, das kommt, glaube mir, hauptsächlich
daher, weil mir andere Dinge angenehmer sind, die nicht blos im Augenblick des Genusses
vergnügen, sondern auch gewisse Hoffnung geben, daß sie uns immer nützlich
seyn werden. Ueberdies weißt du, daß einer, der sich einbildet es gehe ihm nichts
von Statten, auch nichts mit Freuden unternimmt; da hingegen diejenigen, denen die Landwirthschaft,
oder die Reederey, oder was sie sonst treiben mögen, wohl gelingt, mit sich selbst
vergnügt sind, weil sie ihre Sachen gut gemacht zu haben
glauben.5) Meynst du aber, das
Vergnügen, das dergleichen Beschäftigungen gewähren, sey mit dem zu
vergleichen, das aus dem Bewußtseyn entspringt sich selbst und seine Freunde immer besser zu
machen? Dies ist immer meine Maxime gewesen, und wird es immer bleiben. Wenn es darauf ankommt
seinen Freunden oder der Republik nützlich zu seyn, wer wird mehr Muße haben, sich
dafür zu verwenden, einer, wie du mich hier siehst, oder einer der das Leben führt, das
du selig preisest. Wer taugt besser in den Krieg? Einer der ohne eine köstliche Tafel und die
ausgesuchtesten Bequemlichkeiten gar nicht leben kann, oder dem was da ist genügt? Wer wird
eine belagerte Stadt bälder übergeben, einer der mit dem geringsten, was man überall
findet, zufrieden ist, oder der eine Menge schwer zu befriedigender Bedürfnisse hat? Du,
Antifon, scheinst die Glückseligkeit in Ueppigkeit und großem Aufwand zu setzen; ich
hingegen bin überzeugt, daß nichts bedürfen etwas göttliches und
also das Beste ist, und die wenigsten Bedürfnisse haben, das was dem Göttlichen am
Besten am nächsten kommt.
-
Wer dieser Antifon, oder welcher von den vielen Antifonen, welche
Johnsius und Fabriz aus den Alten zusammengesucht haben, er gewesen sey, kann uns, da
es nichts dazu hilft seine Konversazion mit dem Sokrates verständlicher zu machen, völlig
gleichgültig seyn. Indessen ist kein Zweifel, daß es ein Sofist dieses Namens war,
wiewohl er unter den berühmten Sofisten dieser Zeit nicht genannt zu werden pflegt.
-
Acitwn. Gewöhnlich trugen damals Leute,
die nur einigermaßen wohlhabend waren, außer einer Art von kurzem Hemde,
upenduthV (interula) ein Unterkleid, welches Chiton
hieß, und über demselben eine Art von Oberkleid, oder Mantel, Himation
genannt, welcher nach Beschaffenheit der Umstände, länger oder kürzer, faltiger
oder enger war, und in letzterm Falle, zumahl wenn es schon ziemlich abgetragen war, auch Tribon
hieß, von welcher Art das Himation des guten Sokrates zu seyn scheint.
Küster führt zwar (NOT. AD ARISTOPH. NUBES 103.) mehrere
Beyspiele an, daß auch andere Ehrenmänner, als König Agesilaos, Focion, der
Redner Lykurg, u. m. öffentlich ohne Chiton und Schuhe erschienen seyen; aber das
waren zufällige Ausnahmen, die für den, der in diesen Zeiten immer so
erschien, nicht mehr beweisen, als daß eine Zeit war, wo alle Bewohner Griechenlands
bloß Schaf- und Ziegenfelle um die Schultern hangen hatten. Uebrigens ist diese Stelle
bemerkenswerth, weil sie zum Beweise dient, daß Aristofanes in seiner Darstellung des Kostums
und der äußerlichen Lebensweise seines Filosofen IN
NUBIBUS nichts übertrieben hat, und daß im Grunde nicht Antisthenes
sondern Sokrates selbst das wahre Haupt und Urbild der sogenannten Cyniker war,
welche, eben darum weil sie seinen Grundsatz von der Gottähnlichkeit dessen, der am
wenigsten bedarf zur kuria doxa ihrer Lebensweisheit machten, und in
der Ausübung sich pünktlich an sein Beyspiel hielten, als die eigentlichen Sokratiker
von der striktesten Observanz anzusehen sind, und gewissermaßen zu den übrigen
filosofischen Sekten, die den Sokrates auch zum Vater haben wollten, sich verhielten, wie die
Kapuziner zu den verschiedenen Zweigen der weitläufigen Familie des heiligen Vaters Franz von
Assisi. Das Ideal eines vollkommenen Cynikers, welches Lucian in einem seiner Dialogen so
meisterlich ausgemahlt hat, ist genau nach dem Sokrates, wie er sich in diesem Gespräch mit
Antifon selbst schildert, gezeichnet. Daß selbst unter den ächten Cynikern (denn von den
unächten ist hier die Rede nicht) der eine oder andere, auf den besagten Grundsatz (je weniger
Bedürfniß, desto näher der Gottheit) sich stützend, es hierin dem Meister
selbst zuvorthun wollte, beweiset nichts gegen meine Behauptung; es beweiset bloß,
daß ein Narr zuweilen eben dasselbe närrisch thut, was ein Weiser weislich
that. Plato soll daher (wie Aelian VAR.
HIST. XIV. 33. sagt) den Diogenes einen tollgewordenen Sokrates
genannt haben; nicht ganz mit Unrecht, wenn gleich von den ungereimten, unsinnigen und sogar
schändlichen Anekdoten, welche der Laertische Diogenes in die Lebensbeschreibung seines
Namensverwandten, ohne Auswahl und Urtheil, zusammen getragen hat, die meisten handgreifliche
Lügen sind.
-
KakodaimoniaV didaskaloV. Das, was sich ein
deutscher Leser bey der gemeinen, zwar nicht sehr edeln, aber doch auch in der englischen,
französischen und andern Sprachen häufig vorkommenden Redensart, armer Teufel,
denkt, ist dem Sinne sowohl als der Etymologie nach so ganz das, was die Griechen kakodämon
nennen, daß ich einen Lehrer der Kakodämonie nicht besser, als ich hier
gethan habe, dollmetschen zu können glaubte; zumahl da das nasenrümpfende
Hohnlächeln des Sofisten, das man sich zu dieser Spottrede hinzudenken muß, einen
Ausdruck dieser Art zu erfordern scheint.
-
Diese Fragen, auf diese fein spottende Art zugespizt, können zu Beyspielen
einer dem Sokrates sehr gewöhnlichen und eigenen Art von ironischer Indukzion dienen,
die durch die Feinheit der Wendung, ohne etwas von ihrem Salze zu verlieren, von der beleidigenden
Grobheit des spottenden Sofisten sehr stark zum Vortheil der Urbanität des erstern absticht.
-
Wiewohl ein so unverwerflicher Kenner wie Cicero das gemeine Urtheil der
alten Griechen von Xenofons Sprache, »XENOFONTIS VOCE MUSAS LOCUTAS
ESSE« (ORATOR, c. 19.) zu bestätigen scheint, so
ist (mit gehöriger Bescheidenheit und Unterscheidung, versteht sich) nicht zu
läugnen, daß das, was er in seiner immer sanften und zierlichen, aber auch (mit Cicero
zu reden) weichen und zuweilen etwas nervenlosen* Sprache sagt,
wörtlich in eine moderne Sprache übertragen, zuweilen ein wenig platt herauskommt.
Indessen kann ich doch nicht umhin zu glauben, daß nicht selten, wo dies der Fall zu seyn
scheint, der Fehler nicht so sehr an Xenofon, als an dem verwöhnten, wo nicht verdorbnen,
Geschmack der Leser, oder an einem Uebersetzer, der sich etwa durch anscheinende Leichtigkeit zum
eilen verführen ließ, oder dem sonst was menschliches begegnete, liegen
möchte. Wenn ich nicht sehr irre, so findet sich sowohl in der deutschen als
französischen Uebersetzung, deren ich bereits mit verdientem Lob erwähnt habe, hier ein
Beyspiel dieser Art. Hr. Weiske giebt diese Periode folgendermaßen: »Du
weißt, wer keinen guten Fortgang in seinen Geschäften spürt
(oi oiomenoi mhden eu prattein) empfindet keine Freude
(ouk eujrainontai) wer aber glaubt, daß ihm sein Ackerbau,
u. s. w. wohl von Statten geht, freuet sich und achtet sich für
glücklich« (wV eu prattonteV eujrainontai). Gegen solche
Sätze ist freylich nichts einzuwenden, als daß sie, wenn ich so sagen kann, gar zu
wahr sind. In Hrn. Levesquens Sprache klingt die Stelle etwas zierlicher, aber der
Sinn ist beynahe eben derselbe: »VOUS SAVEZ QU' ON NE PEUT EMBRASSER
GÂIMENT UNE ENTREPRISE, DONT ON N' ESPERE AUCUN SUCCÈS; MAIS QU' ON SE LIVRE AVEC JOIE
À LA NAVIGATION, ETC. QUAND ON NE CRAINT PAS DE PERDRE LE FRUIT DE SES PEINES.«
Das alles sagt denn mit vielen Worten - weder mehr noch weniger als - Niemand drischt gern leeres
Stroh. - Aber gerade der Umstand, daß auch mir diese Stelle beym ersten Anblick nichts mehr
als dies (welches fast gar zu wenig ist) zu sagen schien, machte mich auf die Wahl und Stellung der
Worte Xenofons aufmerksamer, und ich glaubte zu sehen, daß er zwar eben nichts tief
herausgegrabenes, aber doch auch nichts sogar gemeines habe sagen wollen, als man ihn sagen
läßt. Gewiß ist das Wort mhden hier eben so wenig
überflüssig, als oiesJai spüren oder hoffen
bedeutet; und (worauf es, wenn ich nicht irre, hauptsächlich ankommt) eu
prattein sagt etwas mehr als glücklich in seinem Unternehmen seyn, denn es wird (wie
ich aus Schneiders vortreflichem Griechisch-Deutschen Handlexikon lerne) wenigstens beym
Xenofon, mehrmahls dem eutucein (vom Glücke begünstigt
seyn) entgegengesetzt, und schließt den Begriff, seines Glückes eigener Schöpfer zu
seyn, sein Glück machen und verdienen, indem man das, was man zu thun hat,
recht thut, in sich. Auch Plato nahm eu prattein in diesem
Sinne, da er es statt cairein beym Grüßen
eingeführt haben wollte, als eine Formel, welche das Beste, was man einander wünschen
kann, die gemeinschaftliche gute Beschaffenheit und Stimmung des Leibes und der Seele bezeichne,
(wV koinon swmatoV te kai yuchV eu diakeimenwn sumbolon. ...
LUCIAN, PRO LAPSU ETC. VOL. I. P. 725. ED. REIZ.)
d. i. eine solche, worin Leib und Seele, jedes zu seinen eigenen Verrichtungen am
aufgelegtesten ist. Endlich bemerke ich noch, daß mir das Wörtchen
wV hier nicht wie oder als, sondern weil zu
bedeuten scheinen und daß ich bey ouk eujrainontai das Wort
prattonteV hinzudenke. Alles dies vorausgesetzt, giebt diese Periode auf
eine ganz ungezwungene Art den Sinn, den ich in meiner Uebersetzung ausgedrückt habe, und
hängt auch mit dem folgenden um so viel besser zusammen. Die Meinung ist nemlich: das reinste
Gefühl der Glückseligkeit entspringe aus einer mit gegründeter Hoffnung des guten
Erfolgs verbundenen Thätigkeit, und es sey um so viel größer und vollkommener, je
edler der Gegenstand und Zweck unsrer Selbstthätigkeit sey.
* Nervenlos möchte denn doch ein zu hartes Wort seyn, oder
höchstens nur bey Vergleichung seiner Dikzion mit der rhetorischen in gewissem Sinn
gelten können. Was an den plastischen Kunstwerken der Alten eine Schönheit ist,
möcht' es wohl auch an manchen Gattungen schriftstellerischer Werke seyn; und es könnte
bey diesen eben sowohl, wie bey Statuen und erhobenen Arbeiten der Fall seyn (und ist es auch
wirklich), daß es einem Musenwerke darum nicht immer an Kraft und Leben fehlt, weil Nerven,
Sennen und Muskeln nur schwach und kaum merklich daran angedeutet sind.