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Ein Nävius, wiewohl aus allen
Händen verschwunden sitzt, so frisch als wär' er erst von gestern her, in allen Köpfen noch8). So heilig macht das bloße Altertum uns alle Dichterei! Man hört noch immer die Frage: ob Pacuv, ob Accius9) im Trauerspiel der größre Meister sei? Und immer fällt der Kenner Urteil aus: gelehrter war der gute Greis Pacuv, erhabner Accius. Ist von Komödien die Rede, stracks wird uns Afran zitiert10); Menander, spricht man, hätte seiner Stücke sich nicht zu schämen. Plautus heißt mit Recht Roms Epicharmus, oder kommt ihm doch sehr nah; an Weisheit trägt den Preis Cäcilius davon, Terenz an Kunst. 11) Die sind es also, die das mächtige Rom auswendig lernt, zu deren Stücken sichs hinzudrängt, kurz, bis diesen Tag sind dies die Dichter, die es hat und anerkennt. Ich gebe zu, daß auch der große Haufe zuweilen richtig sieht; doch öfters schief. | Naevius in manibus non
est, et mentibus haeret paene recens: adeo sanctum est vetus omne poema. <55> Ambigitur quoties uter utro sit prior, aufert Pacuvius docti famam senis, Accius alti: dicitur Afrani toga convenisse Menandro, Plautus ad exemplar Siculi properare Epicharmi, vincere Caecilius gravitate, Terentius arte. <60> Hos ediscit, et hos arto stipata theatro spectat Roma potens: habet hos numeratque poetas ad nostrum tempus, Livi scriptoris ab aevo. Interdum vulgus rectum videt; est ubi peccat. | |
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Wenn er die alten Dichter so erhebt, daß ihnen niemand weder vorzuziehen noch gleich zu achten sei, so irrt er sich: gesteht er aber, daß sie manchmal gar zu alt, fast immer hart, und oft genug nachlässig schreiben; wer dies eingesteht, spricht wie ein Mann von Sinn, und hälts mit mir und mit der Billigkeit12). Ich sage nicht, daß man die Dichterei des alten Livius13) (die aus der Schule des Orbils mir noch durch manche Ohrfeig' unvergeßlich ist) vertilgen solle. Nur, daß solche Verse von vielen schön, korrekt sogar, und fast den ausgefeilt'sten gleich gefunden werden, das wundert mich. Denn, wenn auch hier und da ein glänzend Wort hervorsticht, der und jener Vers ein wenig runder ist und besser klingt: ists billig, daß darum ein ganzes Werk verkäuflich werd' und lauten Beifall finde? | Si veteres ita miratur
laudatque poetas, <65> ut nihil anteferat, nihil illis comparet, errat. Si quaedam nimis antique, si pleraque dure dicere credit eos, ignave multa fatetur, et sapit, et mecum facit et Iove iudicat aequo. Non equidem insector, delendave carmina Livi <70> esse reor, memini quae plagosum mihi parvo Orbilium dictare; sed emendata videri, pulchraque, et exactis minimum distantia, miror. Inter quae verbum emicuit si forte decorum, et si versus paulo concinnior unus et alter, <75> iniuste totum ducit venditque poema. |
Was die Kunstrichter mit der Gravität, worin sie dem
Cäcilius, und mit der Kunst, worin sie dem
Terenz den Vorzug gaben, eigentlich gemeint, ist nicht so leicht zu sagen.
Weil diese Termini einander entgegengesetzt sind, so vermute ich:
daß gravitate auf den höhern Wert des Stoffes, und arte auf die feinere
Bearbeitung gehen soll: jener hatte mehr Kraft und Gewicht, dieser mehr Geschmack. Vielleicht
aber bezieht sich das vincere auf den Plautus, von welchem
unmittelbar vorher die Rede war; und dann wäre der Sinn ohne Zweifel:
Cäcilius hätte ihn an Anständigkeit und Sobrietät,
Terenz an Kunst der Komposition übertroffen. Übrigens ist
noch im Vorbeigehen zu erinnern, daß man diese Urteile nicht (wie öfters geschehen ist)
auf Horazens Rechnung setzen muß; er führt sie als Urteile der
Kunstrichter an, die das Publikum noch zu seiner Zeit nachzusprechen pflege; und er ist so weit
entfernt, sie zu unterschreiben, daß er sie vielmehr durch alles, was er über die Frage
von dern Vorzug der Alten vor den Neuern sagt, zu entkräften sucht.
Es entstehen natürlicher Weise dabei zwei Fragen, die zu beantworten sind. Die erste ist: verdienten diese alten Dichter die wenige Achtung, womit Horaz von ihnen spricht? Die andre wird sich geben, wenn wir die erste beantwortet haben werden.
Ich will hier zu Gunsten der Alten den Grund nicht geltend machen, der von der großen Achtung, worin sie im sechsten und siebenten Jahrhundert der Republik sich immerfort erhalten haben, hergenommen ist. Man weiß ungefähr, wie viel oder wenig dieser Grund wiegt. Indessen ist doch nicht zu vergessen: daß der Zeitraum zwischen der Usurpation des Sulla und den letzten bürgerlichen Kriegen, d. i. die Zeit, worin Cicero blühte, ganz eigentlich das schönste Alter der römischen Literatur war; daß sich in keinem andern mehr vortreffliche Köpfe, der Zahl und dem innern Gehalt nach, in Rom beisammen gefunden; und daß in keiner andern die griechische Literatur, als der Maßstab der römischen, mehr geschätzt und kultiviert worden. Der Schluß also: wenn die alten römischen Dichter in einer solchen Zeit, von solchen Männern, noch immer geschätzt, ihre Werke noch immer gern gehört, gelesen und alle Augenblicke im Munde geführt wurden so können sie so schlecht nicht gewesen sein; so müssen sie noch etwas mehr als bloße veniam (wie Horaz sagt) haben fodern dürfen dieser Schluß, sage ich, scheint auf einem sehr richtigen Vordersatze zu beruhen: und daß der Mittelsatz eine unleugbare Tatsache sei, wird niemand, dem Ciceros Werke geläufig sind, bezweifeln.
Aber wir haben nicht nötig, uns auf fremde Autorität (so viel Gewicht sie auch in dem vorliegenden Falle hat) zu berufen. Verschiedene Werke einiger dieser von Horaz so sehr herabgesetzten Schriftsteller sind bis auf uns gekommen. Wir können Ciceros günstiges Urteil von den Scherzen des römischen EpicharmusXV) mit eignen Sinnen bewähren; und die Plautini Sales, gegen welche sich Horaz in dem Briefe an die Pisonen so stark erklärt, haben seit der Wiederherstellung der Literatur bis auf diesen Tag so viele Liebhaber gefunden, als sie ehemals in Rom hatten. Auch diejenigen, deren Geschmack nicht selten von diesem Dichter (dessen Stücke größtenteils nur Sitten aus dem niedrigsten Leben darstellen) beleidigt wird, lassen seinem komischen Genie Gerechtigkeit widerfahren, ergötzen sich an seinem Witz, und lachen oft in ihrem einsamen Kabinette bei seinen Einfällen so laut, als ob sie mitten im alten römischen Parterre säßen. Noch jetzt sind die Lustspiele des Terenz die Delizien aller Leser von Geschmack, und die Reinheit und Zierlichkeit der Sprache, um derentwillen man ehemals sogar einem Lälius mit seinen Stücken Ehre zu erweisen glaubteXVI), ist vielleicht die geringste von den Grazien, die ihn dem Manne von feinem Gefühl, dem Menschenforscher, und jedem eleganti Formarum Spectatori, so vorzüglich lieb machen. Aber auch die ältern Dichter, von denen wir nur nach wenigen einzelnen Bruchstücken urteilen können, ein Ennius, ein Pacuvius, erscheinen selbst in diesen Bruchstücken in einem ganz andern Lichte, als worin sie uns hier vom Horaz gezeigt werden. Man sehe z. B. folgendes Gemälde einer ausgelernten Kokette
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Quasi in choro pila ludens datatim dat sese et communem facit; alium tenet, alii nutat, alibi manus est occupata, alii pervellit pedem; alii dat anulum spectandum, a labris alium invocat, cum alio cantat, et tamen alii dat digito litteras Sie spielt sich wie ein Ball aus Hand in Hand im Kreis der Jünglinge, und teilt sich unter alle: mit diesem schwatzt sie, jenem winkt sie zu, den dritten nimmt sie bei der Hand, und tritt dem vierten auf den Fuß; gibt ihren Ring dem fünften anzusehen, wirft dem sechsten ein Mäulchen zu, singt mit dem siebenten, und unterhält inzwischen mit dem achten sich in der Fingersprache |
Wer hätte dem alten Ennius dies Gemälde zugetrautXVII)? Oder welcher Dichter würde sich folgender Beschreibung eines Sturms, die uns Cicero aus dem Pacuvius erhalten hat, zu schämen habenXVIII)?
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Interea prope iam occidente sole inhorrescit mare, tenebrae conduplicantur, noctisque et nimbum occaecat nigror; flamma inter nubes coruscat, caelum sonitu contremit, grando mixta imbri largifluo subita Turbine praecipitans cadit, undique omnes venti erumpunt, saevi existunt turbines, fervet aestu pelagus |
Man braucht nur eine Klaue zu sehen, um zu wissen, ob sie einem Löwen zugehört. So groß auch noch die Mängel dieser alten Dichter sein mochten, war es billig, von ihren Vortrefflichkeiten zu schweigen? Und wenn man ihnen die Rohheit ihres Zeitalters, den Mangel an Kunst und Politur, kurz, den Nachteil, daß sie die ersten waren, die das Eis brechen mußten, vorrückt, sollte der Mut und Fleiß, womit sie es gebrochen haben, gering geachtet werden? Man kennt die Antwort Virgils, als sich jemand wunderte, den Dichter der Äneide über den Annalen des Ennius anzutreffen: ich suche Gold aus einem Misthaufen, sagte VirgilXIX). Horaz spricht nur von dem Misthaufen, und vergißt, wie viel Gold ein Virgil darin fand. Übrigens scheint er auch hierin Tadel zu verdienen, daß er den uralten Livius Andronikus und den Atta, mit Ennius, Accius, Nävius, diese mit Plautus, Cäcilius, Pacuvius, und die letztern mit Terenz und Afranius zusammenwirft: da doch, ungeachtet sie alle in dem Umfang eines Jahrhunderts gelebt haben, vierzig oder funfzig Jahre früher oder später bei Schriftstellern überhaupt, vorzüglich aber bei Dichtern, einen großen Unterschied machen, und z. B. schon der Abstand des Terenz vom Plautus (der nicht viel über dreißig Jahre älter war als Terenz ) in Rücksicht auf Geschmack, Urbanität und Schönheit der Sprache sehr auffallend ist. Den Terenz mit einem Ennius und Nävius, oder überhaupt mit den Autoren zu vermengen,
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die fast immer hart und oft nachlässig schreiben |
scheint, es sei nun selbst aus Nachlässigkeit, oder mit Vorsatz geschehen, unverzeihlich zu sein.
Meine Meinung ist nie gewesen, Horazen zu verteidigen, wo ihm was Menschliches begegnet sein mag. Aber hier ist es doch wohl der Frage wert, was etwa bei so starken Anscheinungen gegen seinen Geschmack, oder gegen seine Billigkeit zu seiner Rechtfertigung zu sagen sei?
Fürs erste, glaube ich, da er hier keine vollständige Würdigung der ältern Dichter schreiben wollte, sei es ihm gar wohl erlaubt gewesen, sie bloß von derjenigen Seite anzusehen, die seiner Behauptung, daß den Neuern gegen die Alten Unrecht geschehe, zum Behuf diente; zumal da das Publikum den letztern schon mehr als Gerechtigkeit widerfahren ließ. Sodann ist unleugbar, daß die meisten Dichter, die er nennt, mit den Fehlern, die er ihnen vorwirft, wirklich behaftet waren: ob aus Schuld ihrer Zeit, oder ob und wie viel sie selbst dabei schuldig waren, hatte er hier nicht nötig zu untersuchen; da es ihm nicht darum zu tun ist, diese Dichter die ihm nichts zu Leide getan hatten sondern nur die Liebhaber und Kenner zu beschämen, die (seiner Meinung nach) einen allzugroßen Wert auf sie legten, und mit einem der Kunst und dem Geschmack nachteiligen Eigensinn die Neuern verachteten, nicht weil sie schlecht, sondern weil sie nicht die Alten waren.
Endlich gereicht, wie ich glaube, auch dies zur Rechtfertigung unsers Dichters, daß die Alten,
von denen die Rede ist, fast alles, was sie Gutes hatten, den Griechen
schuldig waren; und daß also, außer dem Verdienst, den Anfang gemacht und die Bahn
gebrochen zu haben, wenig auf ihre eigne Rechnung kommt. Dies gilt auch von
Terenz, und von ihm ganz vorzüglich: da er sich ganz nach den
großen Mustern der neuen griechischen Komödie gebildet hatte, und seine Stücke
selbst für nichts anders als freie Übersetzungen oder zusammengesetzte Gemälde aus
mehrern griechischen ausgibt. Eben so braucht man nur einen Blick auf das Gemälde einer Kokette
vom Ennius zu werfen, um zu sehen, daß es irgend einem Griechen abgenommen ist. Das
nämliche gilt von allen ihren alten Tragödien, welche lauter Übersetzungen oder
Kopeien von griechischen Originalen waren. Horaz tut ihnen also im Grunde kein Unrecht, indem er von
ihren Schönheiten, die er als bloßen Raub betrachtete, schweigt, und nur dessen, was den
meisten unter ihnen eigentümlich war, ihres noch rohen Geschmacks, und ihrer
Nachlässigkeit in Sprache, Ausdruck und Versifikation gedenkt. Übrigens ist auch in
Betrachtung zu ziehen, daß die humoristische Heftigkeit, womit er diese ganze Materie
behandelt, eine Art von poetischer Fiktion ist, wodurch er seinen Vortrag
zu beleben und Augusten lächeln zu machen sucht; und daß er besser unten, da ihn die
Geschichte der römischen Poesie wieder auf die dramatischen Versuche der Römer bringt,
ihren tragischen Dichtern alle Gerechtigkeit widerfahren läßt.