<355> Ein Stück, das oft begehrt zu werden und
zu bleiben wünscht, soll weder weiter als
zum fünften Akt gedehnt, noch kürzer sein.
Auch soll kein Gott sich in die Handlung mischen,
Wofern der Knoten seine Zwischenkunft
<360> nicht unvermeidlich macht und – ihrer würdig ist:
noch soll der Dichter seine Szene (gegen
der großen Meister Beispiel) mit der vierten
Person
beladenIV). Ihre Stelle mag
der Chor vertreten, der von Anfang bis
<365> zu Ende seinen Anteil an der Handlung
behaupten muß: so, daß er niemals zwischen
   Neve minor, neu sit quinto productior actu
<190> fabula, quae posci vult et spectata reponi;
nec deus intersit, nisi dignus vindice nodus
inciderit, nec quarta loqui persona laboret.
Actoris partes chorus officiumque virile
den Akten etwas singe, das zum Zwecke
nichts taugt und sich auf das, was vorgeht, nicht
genau beziehet. Seine Rolle ist,
<370> den Guten hold zu sein, sie zu beraten,
im Zorne sie zurückzuhalten, und
im Kampf der Leidenschaft und Pflicht zu unterstützen.
Er preise uns die leicht besetzte Tafel
der Mäßigkeit, die heilsame Justiz,
<375> das Glück des Ruhestands bei offnen Toren.
Was ihm vertraut wird, wiss' er zu verschweigen;
auch wend' er öfters an die Götter sich
mit feierlichem Gebet, und fleh' um Rettung
der unterdrückten Unschuld, und des Stolzen Fall!
 
<380> Die Flöte, die den Chorgesang begleitet,
war anfangs nicht, wie jetzt, mit Erz verbunden24);
sie war noch dünn, und hatte wenig Löcher25),
defendat; neu quid medios intercinat actus,
<195> quod non proposito conducat et haereat apte.
Ille bonis faveatque, et consilietur amicis,
et regat iratos, et amet peccare timentes;
ille dapes laudet mensae brevis, ille salubrem
iustitiam legesque et apertis otia portis;
<200> ille tegat commissa, deosque precetur et oret,
ut redeat miseris, abeat fortuna superbis.
Tibia non, ut nunc, orichalco vincta tubaeque
und einen schwachen Ton, der damals doch
den Chorgesang hinlänglich unterstützte,
<385> weils überflüssig war, mit stärkerm Laut
die noch nicht dichten Sitze anzufüllen,
worin ein leicht zu zählend Volk, das noch
bescheiden war und fromm, in großer Zucht
beisammen saß. Allein, nachdem durch Siege
<390> der Staat erweitert, und die alten Mauern
zu enge worden, und nun auch an Festen
den ganzen langen Tag den Genius
mit Wein zu regalieren, Sitte ward:
da mußte wohl auch der Musik (wie allem)
<395> mehr Luft und Spielraum zugestanden werden.
Ein Volk von ungebildetem Geschmack,
das seiner Sorgen sich entladen hatte,
und nun, nach seiner Weise, sich was Rechtes
zugut tun wollte, Bauer, Städter, Pöbel
<400> und Adel, alles durcheinander
gemengt, war, wenn es nur belustigt wurde,
gleichgültig wie? Und also nahm sich auch
der Flötenspieler mehr heraus, und füllte
aemula, sed tenuis simplexque foramine pauco
aspirare et adesse choris erat utilis, atque
<205> nondum spissa nimis complere sedilia flatu,
quo sane populus numerabilis, utpote parvus,
et frugi castusque verecundusque coibat.
Postquam coepit agros extendere victor et urbem
latior amplecti murus, vinoque diurno
<210> placari Genius festis impune diebus,
accessit numerisque modisque licentia maior.
Indoctus quid enim saperet, liberque laborum
rusticus, urbano confusus, turpis honesto?
Sic priscae motumque et luxuriem addidit arti
<215> tibicen, traxitque vagus per pulpita vestem;
im schleppenden Talar, mit seinem üppigern
<405> Getön und freiern Tanz, die ganze Szene.
Gleichmäßig ließ, des alten Ernsts entbunden,
die Leier sich mit neuen Saiten hören26).
Natürlich wollte dann der Dichter, der den Chor
regierte, nicht allein zurückebleiben.
<410> Sein Chorgesang nahm einen höhern Schwung,
in einer ungewohnten Art von Sprache stürzte
sich seine schwärmende Beredsamkeit daher,
und seine tiefer Weisheit vollen
und Zukunft ahnenden Sentenzen glichen oft
<415> an Dunkelheit den Delphischen OrakelnV).
 
Noch mehr. Der Sänger, der am Bacchusfeste,
um einen schlechten Bock, mit Heldenspielen
zu streiten pflegte, kam bald auf den Einfall,
das ernste Stück27) mit etwas abzuwechseln,
<420> das, ohne völlig aus dem vor'gen Ton
zu kommen, muntern Scherz mit Ernst vermählte;
und so entstand ein neues Spiel, worin
sic etiam fidibus voces crevere severis,
et tulit eloquium insolitum facundia praeceps
utiliumque sagax rerum et divina futuri
sortilegis non discrepuit sententia Delphis.
<220> Carmine qui tragico vilem certavit ob hircum,
mox etiam agrestes Satyros nudavit, et asper
incolumi gravitate iocum temptavit, eo quod
illecebris erat et grata novitate morandus
halbnackte Satyrn, vom Silen geführt,
den Chor vertraten28). Denn es war dem Dichter bloß
<425> darum zu tun, ein rohes trunknes Volk,
das, nach vollbrachtem Gottesdienst, den Rest
des Feiertages sich erlust'gen wollte,
durch etwas Neues, seinen bäurischen
Geschmack Aufreizendes, zu seiner Bude
<430> herbeizulocken. Doch, auch diese Art
von freier Dichterei hat ihre Regeln, und
wiewohl der Laune des geschwätzigen
und immer lachenden Silenen-Chors
gar viel erlaubt ist, soll der Übergang
<435> vom Ernst zum Spaß sich doch mit Anstand machen;
und wenn ein Heros, oder Gott, der kaum
in königlichem Gold und Purpur sich
gezeigt, hernach im Satyrspiel von neuem
zum Vorschein kommt29): soll seine Sprache weder
<440> zum Staub und Schmutz der pöbelhaften Posse
heruntersinken, noch, aus Furcht am Boden
zu kriechen, in die Wolken sich versteigen.
Kurz, nie vergesse die Tragödie, was für sie
spectator functusque sacris et potus et exlex.
<225> Verum ita risores, ita commendare dicaces
conveniet Satyros, ita vertere seria ludo,
ne quicumque deus, quicumque adhibebitur heros,
regali conspectus in auro nuper et ostro,
migret in obscuras humili sermone tabernas,
<230> aut dum vitat humum, nubes et inania captet:
sich schickt; und, wenn sie auch bei losen Satyrn
<445> sich blicken läßt, so zeig' uns ihr Erröten
die züchtige Verwirrung einer ehrbarn Frau,
die öffentlich am Festtag tanzen muß!
 
Ich, wenn ich Satyrn schreiben sollte, würde mich
nicht bloß an Wörter des gemeinen Lebens halten;
<450> und, ohne drum dem Ton des Heldenspiels
zu nah zu kommen, würd' ich Mittel-Tinten
zu finden wissen, daß der Abstand
von einem Davus, einer frechen Pythias30),
die ihren alten Herrn um tausend Taler schneuzt,
<455> zum Pflegevater eines Gottes31), auch
in seiner Art zu reden merklich würde.
Aus lauter jedermann bekannten Wörtern
wollt' ich mir eine neue Sprache bilden, so,
daß jeder dächt', er könnt' es auch, und doch,
<460> wenn ers versucht' und viel geschwitzt und lange
Effutire leves indigna Tragoedia versus,
ut festis matrona moveri iussa diebus
intererit Satyris paulum pudibunda protervis.
Non ego inornata, et dominantia nomina solum
<235> verbaque, Pisones, Satyrorum scriptor amabo;
nec sic enitar tragico differre colori,
ut nihil intersit Davusne loquatur et audax
Pythias, emuncto lucrata Simone talentum,
an custos famulusque dei Silenus alumni.
<240> Ex noto fictum carmen sequar, ut sibi quivis
speret idem; sudet multum, frustraque laboret
sich dran zermartert hätte, doch zuletzt
es bleiben lassen müßte! – Lieben Freunde,
so viel kommt auf die Kunst des Mischens an!
So viel kann dem Gemeinsten bloß die Stellung
<465> und die Verbindung, Glanz und Würde geben32)!
 
Auch dafür wollt' ich, im Vorbeigehn, noch
die Faunen33), die man uns aus ihren Wäldern
so häufig auf die Bühne bringt, wohlmeinend
gewarnet haben: weder in so niedlichen
<470> und schmucken Versen ihre Artigkeit
zu zeigen, daß man junge, mitten
in Rom erzogne Herr'n zu hören glaubt,
noch zu Vermeidung dieses Übelstandes
mit Schmutz und groben Zoten um sich her
<475> zu werfen. Denn die Leute, die ein Pferd
und einen Vater, und was Eignes haben34),
ausus idem: tantum series iuncturaque pollet;
tantum de medio sumptis accedit honoris.
Silvis deducti caveant, me iudice, Fauni,
<245> ne, velut innati triviis ac paene forenses,
aut nimium teneris iuvenentur versibus umquam
aut immunda crepent ignominiosaque dicta.
erbauen sich an dieser Art von Witz
nicht sonderlich; und wenn den Käufern dürrer Erbsen
und Nüsse etwas wohlbehagt, so folgt
<480> nicht, daß auch jene dran Belieben finden, und
den Kranz dem Dichter zuerkennen werden.
 
Ein Silbenfuß, wo eine lange Silbe
auf eine kurze folget, wird ein Jambus
genannt. Ein schneller Fuß! Daher vermutlich,
<485> daß Verse von sechs Jamben Trimeter35)
zu heißen pflegen. Anfangs wurden sie
ganz rein gemacht, und einer wie der andre.
Allein schon lange nahm der Jamben-Vers,
um etwas langsamer und feierlicher
<490> zu gehn, den ruhigern Spondeus
gefällig auf; doch, daß er aus der zweiten
Offenduntur enim, quibus est equus et pater et res;
nec, si quid fricti ciceris probat et nucis emptor,
<250> aequis accipiunt animis, donantve corona.
Syllaba longa brevi subiecta vocatur iambus;
pes citus: unde etiam trimetris accrescere iussit
nomen iambeis, cum senos redderet ictus,
primus ad extremum similes sibi: non ita pridem,
<255> tardior ut paulo graviorque veniret ad aures,
spondeos stabiles in iura paterna recepit
und vierten Stelle nie verdrängt zu werden
sich vorbehielt36). So findet man ihn auch,
doch selten, in den hochberühmten Trimetern
<495> des alten Accius: allein die zentnerschweren Verse37),
die Vater Ennius auf unsre Bühne schleudert,
beschuld'gen ihn entweder, sichs zu leicht gemacht
und sehr geeilt zu haben, oder einer
nicht rühmlichen Unwissenheit der Kunst.
 
<500> Zwar freilich hat nicht jeder Richter Ohren
für übel modulierte Verse, und man hat
den römischen Dichtern über diesen Punkt
mehr nachgesehen, als uns Ehre macht.
Und soll ich nun, so milder Ohren wegen,
<505> mich aller Regel quitt und ledig glauben?
commodus et patiens; non ut de sede secunda
cederet aut quarta socialiter. Hic et in Acci
nobilibus trimetris apparet rarus, et Enni
<260> in scaenam missos magno cum pondere versus,
aut operae celeris nimium curaque carentis,
aut ignoratae premit artis crimine turpi.
Non quivis videt immodulata poemata iudex,
et data Romanis venia est indigna poetis.
<265> Idcircone vager, scribamque licenter? Ut omnes
Doch, wenn ich auch als ob die ganze Welt,
sobald ich fehle, mich beschreien würde
vor Fehlern mich gehütet habe, – gut!
so hab' ich immer nur gerechten Tadel
<510> vermieden, lange noch kein Lob verdient.
Dies zu begreifen, Freunde, leset, leset
bei Tag und Nacht der Griechen Meisterstücke38)!
 
Indessen haben eure Ahnen doch
die schönen Verse und die feinen Scherze
<515 > des Plautus hoch erhoben; gar zu duldsam
in beidem, um nicht etwas Härters noch
zu sagen! Wenn wir anders, ihr und ich,
ein frostiges Bon-Mot von einem guten
zu unterscheiden, und, wie Verse klingen müssen,
<520> durchs Ohr zu prüfen, oder wenigstens
doch an den Fingern abzuzählen wissenVI).
 
Für den Erfinder der Tragödie
visuros peccata putem mea tutus, et intra
spem veniae cautus, vitavi denique culpam,
non laudem merui. Vos exemplaria Graeca
nocturna versate manu, versate diurna.
<270> At nostri proavi Plautinos et numeros et
laudavere sales: nimium patienter utrosque,
ne dicam stulte, mirati; si modo ego et vos
scimus inurbanum lepido seponere dicto,
legitimumque sonum digitis callemus et aure.
<275> Ignotum tragicae genus invenisse Camenae
wird Thespis angesehn, der seine Stücke
auf Bauerkarren durch die Dörfer führte,
<525> und von Personen, die mit Hefen sich
geschminkt, absingen und agieren ließ.
Nach ihm war Äschylus der zweite, oder
vielmehr der wahre Vater dessen, was
den edeln Namen eines Heldenspiels
<530> mit Recht verdiente39). Er erfand die Maske
und den Kothurn, erweiterte den Schauplatz,
veredelte die Kleidung, und (was mehr ist)
den wahren Ton der tragischen Camöne,
die er zuerst erhaben sprechen lehrte.
 
<535> Ein wenig später tat sich auch die Alte
Komödie
hervor, nicht ohne vielen Beifall;
allein die Freiheit, die man zu Athen
ihr zugestanden, artete zuletzt
in eine Frechheit aus, die nicht zu dulden war,
<540> so daß die Polizei ins Mittel treten mußteVII).
dicitur, et plaustris vexisse poemata, Thespis,
quae canerent agerentque peruncti faecibus ora.
Post hunc personae pallaeque repertor honestae
Aeschylus, et modicis instravit pulpita tignis,
<280> et docuit magnumque loqui, nitique cothurno.
Successit vetus his comoedia, non sine multa
laude; sed in vitium libertas excidit, et vim
dignam lege regi: lex est accepta, chorusque
Des Lustspiels Chor, sobald der Stachel ihm
benommen war, verstummte – und verschwand.
turpiter obticuit, sublato iure nocendi.


  1. Orichalco vincta; diese Flöte war vermutlich eine Art von Hautbois. Zurück
     
  2. Die Flöten hatten anfangs nur vier Löcher. Antigenidas von Theben, der Meister des Alcibiades auf der Flöte, vermehrte ihre Anzahl (Theophrast. Histor. Plant. IV. 12), und vermutlich profitierte auch das Theater zu Athen, wo die Chöre mit Flöten begleitet wurden, von der größern Vollkommenheit, die dieser Virtuose seinem Instrumente gab. Zurück
     
  3. Auch die Lyra hatte anfangs nur 3 oder 4 Saiten. Terpander, ein berühmter Name unter den alten Musikern, vermehrte sie auf sieben, und Timotheus, ein Virtuos, der zu Platons Zeiten lebte, auf zehn. Zurück
     
  4. Die eigentliche Tragödie. Zurück
     
  5. Griechen und Römer liebten diese Art von bürlesken Nachspielen sehr, und die größten Dichter gaben sich damit ab. Der Cyclops des Euripides ist das einzige Stück dieser Art, das bis zu uns gekommen ist, und aus diesem kann man sich, was Horaz hier von dieser Gattung sagt, am besten erläutern. Zurück
     
  6. Wie z. B. Ulysses im Cyclops des Euripides. Zurück
     
  7. Pöbelhafte Personen, die gewöhnlich in den Komödien vorkommen. Zurück
     
  8. Silenus. Zurück
     
  9. Diese Stelle ist sehr merkwürdig. Sie enthält eine von den großen Mysterien der Kunst, welche Horaz ganz zuversichtlich ausschwatzen durfte, ohne Furcht, daß er den AmuhtoiV etwa verraten habe. Zurück
     
  10. Faunen und Satyrn werden hier vermengt, wiewohl ihr Unterschied bekannt ist. Die Faunen waren die Satyrn der Lateiner, nur daß ihre Gestalt mehr Menschliches und ihr Charakter mehr ländliche Einfalt und Hirtenmäßiges hat. Zurück
     
  11. Quibus est equus et pater et res, d. i. die Ritter, die Patrizier, und Leute von Vermögen. Das Komische und Beißende in dieser Art sich auszudrücken, kann dem, der es nicht selbst merkt, nicht wohl erklärt werden. Zurück
     
  12. Weil man in dieser Versart immer zwei Füße zusammenrechnete, welches eine Dipodia hieß. Denn, der Zahl der Füße nach, müßten sie Hexameter heißen; und vielleicht gab man ihnen jenen Namen bloß zum Unterschied von dem Homerischen Hexameter. Zurück
     
  13. Der Jambische Trimeter der Alten bestehet aus drei Dipodien, deren erste und zweite gemeiniglich folgendes Silben-Schema , die dritte beim Sophokles hat. Äschylus nähert sich dem ursprünglichen Trimeter noch mehr; aber ein Stück aus lauter reinen Jamben würde in der griechischen Sprache kaum möglich gewesen sein. Zurück
     
  14. In scaenam missos magno cum pondere versus, ein sehr komischer Ausdruck, der auch die Jamben des Euripides nicht selten trifft, worin die Spondeen oft mächtig gehäuft sind. Zurück
     
  15. Den Kommentar zu dieser Vermahnung gibt Horaz selbst V. 610. u. f. Zurück
     
  16. Ich gestehe, daß ich hier, aus Ehrfurcht gegen die Manes des göttlichen Äschylus, etwas mehr gesagt habe, als Horaz; indessen ists in animam Horatii: denn an seinem Respekt für den Äschylus zu zweifeln, würde beinahe eben so große Sünde sein, als den Dichter der Eumeniden und des Agamemnon so ohne Zeremonie mit Thespis in eine Kategorie zu werfen. Zurück


  1. Die erste und dritte der Regeln, welche Horaz von V. 355–65 der Übers. dem dramatischen Dichter vorschreibt, sind nicht, wie die vorgehenden, in der Natur der Sache so begründet, daß sie als notwendig und unerläßlich anzusehen sind, sondern beziehen sich bloß auf das Beispiel der Griechen, welchen die Römer hierin mit einer Art von religiöser Scheu Fuß vor Fuß nachtraten. Es ist kein zureichender Grund vorhanden, warum ein Drama von 1, 2, 3 und 4 Akten nicht eben so gut ein Meisterwerk sein könnte, als eines von fünfen, und unsre Neuern haben sich also mit gutem Fug und Recht, nach Maßgabe des Stoffes, den sie bearbeiteten, über die Autorität dieser und andrer solcher willkürlicher Regeln und Formen hinweggesetzt. Zurück
     
  2. Daß Batteux, oder vor ihm die meisten Ausleger, diese Stelle, die sie für einen Tadel der Chöre in den griechischen Tragödien angesehen haben, ganz falsch verstanden, braucht keines andern Beweises, als daß man sich die Mühe nehme, seine Übersetzung nebst der meinigen mit dem Original zu vergleichen. Horaz will hier eigentlich weder loben noch tadeln, sondern bloß historisch erzählen, wie es (wahrscheinlicher Weise) zugegangen, daß der Chor, der die Grundlage und Wurzel aller Arten von griechischen Schauspielen war, nach und nach das geworden sei, wozu ihn Äschylus und seine Nachfolger gemacht hatten. Indessen wird einem jeden, der mit den Alten etwas näher bekannt ist, in die Augen fallen, daß Horazens Bericht vom Ursprung und Fortgang der dramatischen Kunst und der verschiedenen Arten von Schauspielen, deren Erfinder die Griechen waren, weder exakt noch vollständig ist. Zurück
     
  3. Ich weiß nicht, ob irgend ein Gelehrter lebt, für dessen Ohr die Verse des Plautus und Terenz wirklich Verse sind; ich meines Orts bekenne, daß meine Ohren nicht dazu organisiert sind, Jamben, wo der Poet, so oft er will, und in jeder Zeile wenigstens drei- bis viermal, einen Spondeus, Daktylus, Anapäst, Tribrachys für einen Jambus brauchen darf, und wo eine Zeile bald aus 8 oder 12, bald aus 18, 20, 22 und mehr Silben (diejenigen, die zusammengezogen werden, nicht gerechnet) bestehen kann, – von Prose zu unterscheiden. Es ist wahr, wenn ich die Verse des Terenz als Prose lese, so finde ich überhaupt, daß sie das, was man in einer prosaischen Komposition Numerus nennt, in einem sehr vorzüglichen Grade haben: aber von Plautus kann ich dies auf keine Weise sagen; und mich dünkt vielmehr, es sei ihm gar nicht eingefallen, sich bei dergleichen Kleinigkeiten aufzuhalten; er hatte weder Lust noch Zeit dazu: denn er mußte eilen,

    – – um sein Geld im Beutel klingen
    zu hören, –

    wie Horaz in der Epistel an August sagt. – Wie konnten nun die Römer der vorgehenden Generationen jemals von den Numeris eines Poeten, der von einer schönen Versifizierung nicht einmal einen Begriff gehabt zu haben scheint, mit solchem Beifall sprechen? – Mit den Salibus Plautinis hat es beinahe dieselbe Bewandtnis. Welcher Mann von Geschmack kann z. B. aus Plautus Amphitruo nur drei Szenen hintereinander aushalten? Wie viel mußte weggeschnitten werden, bis aus einer Plautinischen Szene eine Molierische wurde! Welche mörderliche Weitläufigkeit! Wie viel frostige Späße! Wie viel Unanständigkeit und Ungeschliffenheit, auch wo wirklich etwas Pikantes an seinen Scherzen ist! – Unser Autor scheint mir also sehr wohl begründet zu sein, wenn er den Proavis seiner Pisonen eine gar zu milde Nachsicht über diese beiden Punkte Schuld gibt. Die Komödien des Plautus haben bei allem dem noch große Schönheiten, wiewohl sehr zu vermuten ist, daß er die meisten und besten den Griechen, als gute Beute, abgenommen: aber daß es ihm an Geschmack und feinerm Gefühl gefehlt habe, kann nur jemand leugnen, dem es selbst daran gebricht. Die Parteilichkeit solcher Römer, wie Varro und Cicero, für seine Sales und Numeros würde also immer etwas Unbegreifliches bleiben, wenn nicht zu glauben wäre: daß die außerordentlichen Talente des Roscius, von dern sie gewohnt waren diese Stücke spielen zu sehen, das meiste dabei getan. In dem Munde eines Roscius konnten freilich auch Plautinische Verse wohlklingend werden (s. die 15te Erläut. zum Briefe an August ). Übrigens ist nicht zu zweifeln, daß Horaz um so strenger gegen die nachlässigen Verse des Plautus werden mußte, wenn er an den Aristophanes dachte, dessen Jamben, Anapästen und Chöre, auch in Absicht der Versifikation, so schön gearbeitet sind, daß sie noch jetzt, da die Musik der griechischen Sprache größtenteils für uns verloren gegangen, jedes mit derselben nicht ganz unbekannte Ohr bezaubern. Zurück
     

  4. Horaz hat die wahre Ursache, warum der sogenannten alten Komödie zu Athen die unbeschränkte Freiheit, deren Aristophanes sich in seinen Rittern, Fröschen, Wolken, Vögeln u. a. so überschwenglich bedient hat, benommen wurde, nicht richtig genug angegeben. Diese Freiheit muß nicht etwa als ein Mißbrauch betrachtet werden, den die Regierung zu Athen eine Zeitlang bloß duldete; sie war vielmehr, wie der Ostrazismus, in der Verfassung dieses aristokratisch-demokratischen Staats in den Zeiten des Perikles gegründet. Es ist wider alle Wahrscheinlichkeit, sich einzubilden: der Magistrat zu Athen würde 40 oder 50 Jahre lang mehr als 370 Stücke dieser Art öffentlich autorisiert haben, wenn sie die Ungebundenheit dieser Komödie nicht der Republik im ganzen für zuträglich angesehen, und nicht geglaubt hätten, daß der Verdruß und Schaden, den einige wenige mit Unrecht mißhandelte Personen dabei leiden könnten, durch die Furcht, die den Bösen dadurch eingejagt wurde, reichlich vergütet werde. Der stärkste Beweis, daß die Athener diese Freiheit ihres Theaters für einen wichtigen Teil ihrer politischen Freiheit angesehen, ist, deucht mich: daß ein Aristophanes das ganze Volk, d. i. den Souverain selbst, so lächerlich machen durfte, als es ihm beliebte: weil sie, bei allem ihrem Leichtsinn und Übermut, doch gesunden Verstands genug hatten, um zu fühlen, daß es ihnen gut sei, sich zuweilen lachend die Wahrheit, und selbst die bitterste Wahrheit, sagen zu lassen. Auch ging dieses kostbare Stück ihrer Freiheit nicht eher als mit ihrer Verfassung verloren. Denn nicht der Magistrat der freien Republik, sondern die sogenannten dreißig Tyrannen, die mit Hülfe des Spartaners Lysander zu Ende der 93sten Olymp. sich der Regierung von Athen bemächtigten, waren es, die das Gesetz, dessen Horaz hier erwähnt, aus leicht zu erratenden Ursachen durchsetzten, und hierin freilich einen großen Teil der Stadt, nämlich einen jeden

    qui dignus erat describi, quod malus, aut fur,
    quod moechus foret aut sicarius, aut alioqui
    famosus, –
    a)

    auf ihrer Seite hatten. Der Despotismus der Oligarchie konnte sich mit einer Freiheit des Theaters, die keines Lasters und keiner Torheit schonte, sich weder durch Geburt, Reichtum und Würden, noch selbst durch Verdienste in Respekt setzen ließ, nicht vertragen. Je verdorbner die Sitten wurden, je geneigter fühlte man sich, einander zu ertragen, und je verhaßter wurde ein öffentlicher Zensor, dessen unhöfliche Geißel niemanden erlauben wollte, ungestraft ein Narr oder Schurke zu sein, wenn er Vergnügen oder Vorteil dabei fand. Die alte Komödie fiel also zu Athen mit der Demokratie. Die mittlere, die an ihre Stelle trat, gab sich, um wenigstens noch einen Schatten ihrer ehemaligen Vorrechte beizubehalten, größtenteils mit Parodien ab, worin den Poeten erlaubt war, sich unter einander so lächerlich zu machen, als sie wollten; sie travestierte die Helden und Heldinnen aus der Fabelzeit, aus der Iliade und Odyssee, und fand dabei immer Gelegenheit, satirische Züge anzubringen, die der Malignität der Zuschauer freie Hand ließen, sie nach eignem Belieben anzuwenden. So entstand endlich unter den macedonischen Königen nach und nach die neue Komödie (in welcher Menander und Philemon sich so viel Ruhm erwarben), die sich gänzlich auf Intriguen-Stücke und allgemeine Charakter, und auf eine so feine und elegante Art von Kritik der herrschenden Sitten und Mode-Torheiten einschränkte, daß niemand beleidigt werden konnte, wenn er sich selbst in einem Spiegel erblickte, worin man wenigstens nicht häßlicher aussah, als sein Nachbar. Die alte Komödie war die Lieblingsbelustigung eines von seinem Glücke und von ausschweifenden Hoffnungen trunknen, aber auf seine Freiheit und Rechte eifersüchtigen demokratischen Pöbels gewesen; die neue wurde der angenehmste Zeitvertreib eines herabgekommenen müßigen, aber äußerst verfeinerten Volkes, das die hochfliegenden Entwürfe seiner Vorfahren endlich aufgegeben hatte, und bei Schauspielen und Kurzweilen zu vergessen suchte, was es ehemals gewesen war. Zurück

  1. Satir. L. I. 4. Zurück


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