Neunte Idylle

Lycidas und Möris

Einige Zeit nach der ersten Idylle, als Tityrus noch unbesorgt vor dem Einbruch der Soldaten weidete, fand es Vergil geraten, durch persönliche Gegenwart sein Erbgut zu sichern. Er vertraute außer Oktavians Befehl dem Schutze des Varus und Gallus. Umsonst; die übermütigen Soldaten achteten nichts; Mantua samt Andes wurde verteilt, und Vergil mußte, nicht ohne Lebensgefahr, entfliehen.

Die Erdichtung ist einfach und zweckmäßig. Möris, der Schaffner des Menalkas, bringt dem eingedrungenen Besitzer ein paar Böcklein nach Mantua. Sein Bekannter, Lycidas, ein Freund des Gesanges, aus der Gegend um Andes, trifft auf dem Wege mit ihm zusammen. Man spricht von dem Schicksale des Menalkas und singt Stellen aus seinen Gedichten. Diese abgerissenen Liederchen haben dieselbe Absicht, nämlich, zugleich für den Dichter und für den Bewunderer des Julius Cäsar Teilnahme zu erregen.

 
Lycidas.
            Wo willst, Möris, du hin? Wie der Weg dich führet, zur Stadt wohl?
 
Möris.
Lycidas, ach! das endlich erlebten wir, daß noch ein Fremdling,
Was wir nimmer gewähnt, als Eigener unseres Gütchens,
Redete: Dieses ist mein; zieht aus, ihr alten Besteller!
5  Jetzo gebeugt, voll Gram, da das Schicksal alles doch umkehrt,
Senden wir, was nicht wohl ihm gedeih', als Gab' ihm die Böcklein.
 
Lycidas.
Sicher doch hatt' ich gehört: von dorther, wo sich die Hügel
Mählich entziehn, und die Höh' in sanftere Windungen senken,
Bis zur Flut und den alten, am Haupt schon zerbrochenen Buchen,
10  Hab' euch alles geschützt durch Liederchen euer Menalkas.
 
Möris.
Wohl war's Sage; du hörtest recht. Doch unsre Gesänge
Gelten, o Lycidas, nur so viel vor Geschossen des Mavors,
Als chaonische1) Tauben, wie's heißt, vor dem kommenden Adler.
Hätte mich nicht, bestmöglich im Keim das Gezänk zu verhüten,
15  Vorgewarnt linksher von gehöhleter Eiche die Krähe,
Nicht dein Möris allhier, nicht lebete selber Menalkas.
 
Lycidas.
Ach, ist irgendein Mensch so frevlerisch? Weh uns, entrissen
Wäre beinah samt dir dein tröstendes Lied, o Menalkas?
Wer besäng' dann die Nymphen? o wer mit blühenden Kräutern
20  Streute die Erd' und zög' um den Quell her grüne Beschattung?
Oder auch welchen Gesang ich jüngst in der Stille dir abstahl,
Als du zu unserer Lust, Amaryllis, im Tanz dich einherschwangst:
»Tityrus, kurz ist der Weg; und ich spute mich; weide die Ziegen;
Treib dann die satten zur Tränk', o Tityrus; und wenn du treibest,
25  Jenem Bock zu begegnen, er stößt mit dem Horn, dich gehütet!«
 
Möris.
Ja dies, was er dem Varus noch unvollendet gesungen:
»Deinem Ruhm, o Varus, (nur bleib' uns Mantua übrig,
Mantua, ach, zu nahe dem unglücksel'gen Cremona)
Tragen dereinst mit Gesang hochauf zu den Sternen die Schwäne2)
 
Lycidas.
30  Mögen die Bienen vorbei am korsischen Taxus3) dir fliehen,
Mag des Cytisus'4) Weide den Küh'n ausdehnen die Euter:
Angestimmt, was du weißt. Auch mich ja haben zum Dichter
Musen geweiht; mir glückt der Gesang auch; mich auch begrüßen
Gar als Dichter die Hirten: allein ich glaube so leicht nicht.
35  Nimmer ja, scheint mir's, sang ich des Varius'5) oder des Cinna
Würdig, ich kreische, der Gans gleich, neben Gesängen der Schwäne.
 
Möris.
Eben, o Lycidas, bin ich dabei, und bedenke mich schweigend,
Ob ich zusammen es finde . . . Nicht ruhmlos ist der Gesang doch.
»Komm hierher, Galatea, was soll denn das Spiel in den Wellen?
40  Hier ist purpurner Lenz; bunt hier um die Borde der Bächlein
Streuete Blumen die Flur; hier ragt die silberne Pappel
Über der Grott', und es flechten geschmeidige Reben ein Laubdach.
Komm hierher; laß tobend zum Strand' aufschlagen die Brandung!«
 
Lycidas.
Was doch war's, das ich einst am heitern Abend dich einsam
45  Singen gehört? Wohl weiß ich den Ton, wenn die Worte nur folgten.
 
Möris.
»Daphnis, was spähst du am Himmel der Stern' ursprünglichen Aufgang?
Schau das Gestirn vortreten des dionäischen6) Cäsar:
Jenes Gestirn, durch welches die Saat sich freut des Ertrages,
Und schon Farbe gewinnt am sonnigen Hügel die Traube.
50  Birnen gepfropft, o Daphnis; dein Obst wird pflücken der Enkel.«
Alles entführt das Alter, den Geist mit. Oft noch gedenk ich's,
Wie als Bursch mit Gesang langweilige Tag' ich verbrachte:
Nun so mancher Gesang in Vergessenheit; selber die Stimme
Flieht schon den Möris; es schaute der Wolf den Möris zuerst wohl7),
55  Doch wird dies zur Genüge dir oft noch singen Menalkas.
 
Lycidas.
Vorwand nur, daß du mir in die Läng' hinhältst meine Sehnsucht.
Und nun schweiget dir rings der gebreitete Spiegel, er ruhet,
Siehe doch, jegliches Lüftchen des ungestümen Geräusches.
Auch ist hier ja die Hälfte des Weges uns; denn es erscheinet
60  Eben das Grabmal schon des Bianor8). Hier wo das Landvolk
Wucherndes Laub abschert, hier laß uns singen, o Möris.
Lege die Böcklein ab; in die Stadt gelangen wir doch noch.
Wenn wir jedoch, daß Regen die Nacht uns wölke, besorgt sind,
Können wir ja im Gesange (der Weg wird leichter) so fortgehn.
65  Daß im Gesange wir gehn, will ich der Last dich entheben.
 
Möris.
Weiter kein Wort, o Jüngling; und was nun dringt, sei beschleunigt.
Kehret er selber zurück, dann stimmen wir bessern Gesang an.


  1. Bei Dodona in Epirus, dem Sitze der alten Chaonier (von Chaon, einem Sohne des Priamus, benannt, der von Helenus auf der Jagd aus Versehen getötet wurde und dem zu Ehren er einen Teil seines Landgutes Chaonia nannte, vgl. Äneide II, 335), galten die Tauben als prophetische Vögel. Zurück
     
  2. Der Singschwan war am Mincius heimisch. Zurück
     
  3. Den Bienen waren die Taxusbäume nachteilig. Zurück
     
  4. S. zu 1, 78 Zurück
     
  5. Lucius Varius Rufus (gestorben vor dem Jahre 12 v. Chr.) war im Beginn des augusteischen Zeitalters der bedeutendste epische Dichter; seinen Dichterruhm begründete die Tragödie »Thyestes«, die neben Ovids »Medea« für die größte Leistung der römischen Literatur auf diesem Gebiete gehalten wurde. Das Stück wurde bei den Festspielen zur Feier des Sieges von Aktium 29 v. Chr. aufgeführt. Überliefert sind davon wie von seinen epischen Dichtungen (über den Tod Cäsars und einem Panegrikus auf Augustus) nur wenige Verse. – Helvius Cinna ist Verfasser eines Epos »Smyrna«, das den Mythus von der unnatürlichen Liebe der Myrra zu ihrem Vater Kinyras behandelt. Auch auf anderen Gebieten der Dichtkunst hat er sich versucht. Er war wie Varius ein Freund Vergils. Zurück
     
  6. Dione, Mutter der Venus, von welcher als Mutter des Äneas und Ahnfrau des julischen Geschlechtes Cäsar seine Herkunft ableitete. Zurück
     
  7. Die Alten glaubten, daß der plötzliche Anblick eines Wolfes, besonders wenn der Wolf den Menschen zuerst ansah, vor Schrecken stumm machte. Zurück
     
  8. Sohn des Tiberis und der Manto, einer der Erbauer Mantuas. Zurück


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