Erläuterungen - (I)

Ut Pictura Poesis erit, usw. Horaz hat, wie es spruchreichen Autoren zu gehen pflegt, das Unglück gehabt, daß öfters Stellen aus seinen Schriften ausgehoben und (sehr wider seine Meinung) zu Apophthegmen oder Lehrsprüchen erhoben worden sind, die in dem Zusammenhang, aus welchem man sie herausgerissen hat, einen ganz andern, und zuweilen gerade den entgegengesetzten Sinn haben - von welcher Art das «Chorda semper oberrat eadem« und das «interdum quoque bonus dormitat Homerus« bekannte Beispiele sind. Eben so ist es auch mit dieser Stelle gegangen. Man hat das, was bloß Vergleichung in einem einzigen Punkt ist, zu einem allgemeinen Satz gemacht; und, diesem von allen Auslegern beförderten Wahn zufolge, paraphrasiert Batteux diesen halben Vers getrost: »Es ist mit der Poesie wie mit der Malerei beschaffen1). Es ist kein andrer Unterschied unter diesen beiden Künsten als dieser, daß die eine sich durch Farben und Striche ausdrückt, und die andre durch die Rede und Harmonie« usw. - So kann freilich jemand schwatzen, der weder Dichter noch Maler ist, und von beiden Künsten nur oben abgeschöpfte Kenntnisse hat, ohne je durch eignes Nachdenken in ihr Wesen eingedrungen zu sein: aber Horaz konnte so was nicht sagen, und hat es nicht gesagt. Nun setzt dieser, um den Pisonen zu sagen, »worin es mit einem Gedichte wie mit einem Gemälde seie« - hinzu:

- - quae, si propius stes,
te capiat magis, et quaedam si longius abstes;
haec amat obscurum, volet haec sub luce videri,
judicis argutum quae non formidat acumen.

Und wie versteht nun dies der französische Kunstrichter? - »Ich sehe nicht ein«, sagt er, »Wie das Gleichnis des Horaz paßt, ausgenommen, wenn man das Wort poesis für quaedam poesis, eine Stelle eines Gedichts, annimmt. Denn ich kenne kein Gedicht, welches, im Ganzen betrachtet, gemacht wäre, nur bloß von ferne, in einem halben Lichte, und ein einzigsmal gesehen zu werden« - Und in diesem Tone gehts nun noch zwei Seiten fort; er tappt immer, mit seinem Dacier in der Hand, um den Sinn des Autors herum, stößt alle Augenblicke an ihn an, und kann ihn doch nicht erhaschen, weil das unglückliche: Es ist mit der Poesie wie mit der Malerei, seinem Auge nun einmal eine schiefe Richtung gegeben hat, daß er Schwierigkeiten sieht, wo keine sind. Es ist unbegreiflich, wie jemand Horazens wahre Meinung hat verfehlen können, denn ich sehe nicht, wie er sie deutlicher hätte ausdrucken sollen. - Wir kennen, aus vielen andern Stellen, seine vorzügliche Liebe zum äußerst ausgearbeiteten und korrekten, zu dem was er anderswo caelatum novem Musis opus nennt - und davon ist hier die Rede: bloß in Rücksicht auf das Fehlerlose und Vollendete (Fini) vergleicht er gewisse Gedichte mit gewissen Gemälden. So wie es Gemälde gibt, die man in einer gewissen Entfernung oder bei schwachem Lichte sehen muß, wenn sie einen guten Effekt machen sollen - und wieder andre, deren Detail mit dem sorgfältigsten Fleiß so reinlich ausgearbeitet, und jeder Pinselstrich so sanft in den andern verschmelzt ist, daß man das Stück desto schöner findet, je näher und genauer man es betrachtet: so gibt es Gedichte, z. E. Theaterstücke, die bei der ersten Vorstellung oder Lesung - vielleicht durch das Interessante der Handlung, durch eine gute Verwicklung, einen raschen Gang, neue Situationen, stark gezeichnete Charakter und Leidenschaften u. dergl. sehr gefallen; aber, wenn man sie in der Nähe und bei vollem Lichte, d. i. genauer, mit kälterm Blute, im Detail, mit Aufmerksamkeit auf alle Requisiten eines vortrefflichen Gedichtes untersucht: so entdeckt man nach und nach eine Menge Fehler, die man das erste- oder zweitemal entweder gar nicht, oder nicht deutlich wahrnahm; und so verliert das Werk, je schärfer es untersucht wird. Ein anders hingegen hat beim ersten Anblick das Frappante nicht, wodurch jenes überraschte und hinriß; aber es zieht das Auge sanft an, und je genauer man es bis auf die kleinsten Teile des Details betrachtet, je schöner, untadelicher und vollendeter findet mans; und eine ganz natürliche Folge davon ist: daß, wenn Jenes einmal oder beim ersten Anblick gefällt, aber bei jedem Wiedersehen etwas verliert, man hingegen an Diesem sich nicht satt lesen kann, und immer neue Schönheiten entdeckt, die unter der Menge, beim ersten-, zweiten-, drittenmale usw. dem Auge noch entwischt waren. Mich deucht, dies ist der einzig mögliche Sinn, den Horazens Worte, im Zusammenhang genommen, zulassen: und die Vergleichung paßt - auf diese Art eben so gut, als der Satz, der dadurch erläutert werden sollte, eine auf die Erfahrung gegründete unleugbare Wahrheit ist.

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  1. Der bloße grammatische Sinn der Wörter hätte ihm schon seinen Irrtum zeigen sollen: denn pictura und poesis heißt hier, augenscheinlich, nicht Malerei und Poesie, sondern ein Gemälde und ein Gedicht; und dies macht einen großen Unterschied im Sinn der ganzen Stelle. Zurück

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