Die Rede ist in dieser ganzen Stelle [ab hier] mit keinem Gedanken von den Pflichten des Schauspielers, sondern bloß von dem was der Poet zu tun hat, um den Schauspieler, der seine Pflichten aufs beste erfüllt, nicht zu Schanden zu machen. Der Schauspieler kann mit der größten Wahrheit in die Lage der Person, die er vorstellt, hineingehen; sein Ton, seine Gebärde, können im höchsten Grade rührend, und dem, was er der Natur der Sache nach zu fühlen scheinen soll, angemessen sein; kurz, er könnte sich ganz in seinen Peleus oder Telephus verwandelt haben - aber wenn sein Schmerz oder seine Traurigkeit nun in Worte ausbrechen soll, und der Dichter läßt ihn Dinge sagen, die keinem Menschen in dieser Lage einfallen können, läßt ihn eine Sprache reden, die kein Mensch jemals in solchen Umständen gesprochen hat: so entsteht ein Widerspruch zwischen dem was der Zuschauer hört und dem was er sieht, der notwendig alle Wirkung des letztern unterbrechen und vernichten muß. Vermöge des allgemeinen Gangs der Natur, den Horaz beschreibt, erwarten wir von einem Menschen in dieser Lage, mit dieser Miene, dieser Gebärdung, kurz, mit allen diesen äußerlichen unfreiwilligen Zeichen des innern Gefühls, die vor dem Ausbruch der Leidenschaft in Worte vorhergehen - wahre Töne und Stimmen der Natur, die bis ins Innerste eindringen, alle Schleusen des sympathetischen Gefühls öffnen, und unser Herz von Mitleid überwallen, unsre Augen von Tränen glänzen machen. - Hören wir aber statt des wahren Telephus, den die Natur ganz gewiß zu unserm Herzen sprechen lehren würde, den Dichter, der nur auf unsre Imagination losstürmt, Bilder auf Bilder, Hyperbeln auf Hyperbeln häuft, oder gar mit der Wut eines Besessenen Bombast und Unsinn ausschäumt: so muß jeder Zuhörer, der nicht ganz an Menschensinn verkürzt ist, sogleich fühlen, daß kein Wort von dem allen, was der angebliche Telephus sagt, wahr ist; die Illusion hört auf; wir fühlen, statt sympathetischer Empfindungen, den Verdruß getäuschter Erwartung; und so wird der verunglückte Theaterheld seine Zuhörer unfehlbar, je nachdem der Dichter sich mehr oder weniger von der Natur entfernt hat, nur desto mehr gähnen, lachen, oder zürnen machen, jemehr sich der Schauspieler angreift, eine unnatürliche Rolle wahr zu spielen. - Sollte sich irgendwo in der Welt ein Parterre finden, das diese Behauptung durch sein Gefühl und Betragen - Lügen strafte: so wäre dies, sobald es mit dem Faktum seine erwiesene Richtigkeit hätte, ein psychologisches Problem, das zu einer akademischen Preisfrage gemacht zu werden verdiente. Weil indessen die Regel, welche Horaz an diesem Orte gibt, für sich allein noch sehr unzulänglich ist: so fügt er sogleich noch eine andre hinzu, ohne deren genaueste Beobachtung ein Telephus z. E., wenn er eben das sagte, was im Mund einer andern Person sehr rührend war, einen ganz widrigen Eindruck machen könnte - nämlich das Gesetz: daß der Dichter alle die Umstände und Bestimmungen, die zusammengenommen den Charakter einer Person ausmachen, immer vor Augen haben müsse. Was sich für jede besondere Person in jeder besondern Lage schickt, zu wissen, ist also die große Wissenschaft des Dichters. Aber wie viele Kenntnisse schließt diese Wissenschaft in sich! und welche Schärfe der Beurteilung, welch ein zartes, schnelles und sichres Gefühl setzt sie bei der Anwendung voraus!